Die schwarzen Schafe

Raimund stapft durch den Schnee. Fast bis zu den Knien sinkt er ein. Er denkt gar nicht, dass es mühsam ist voranzukommen, denn das ist es doch so oft in diesen Wintern, auf 1400 Metern Seehöhe, bei jetzt bis zu anderthalb Metern hohen Schneedecken und nächtens minus zwanzig Grad Celsius. Nun muss keine Feldarbeit verrichtet, aber die Geräte müssen gewartet werden und die Zäune repariert, zudem stehen manche Baumschlägerungen an. Raimund hält Schafe, die allesamt schwarz sind, einige Lämmer sind dabei, denen er das Fläschchen geben muss. Es ist auch im Winter genug Arbeit.
Im Frühling müssen die Felder vorbereitet werden, im Sommer wird geerntet – dann wird Raimund Knecht Ferdi zur Hand gehen, doch ist es so, dass es im Winter die Arbeit für zwei Menschen ist und im Sommer die für vier.

Es ist eine einsame Gegend, in der Raimunds Landwirtschaft liegt. Wandertouristen sind begeistert von ihrer Schönheit und Urwüchsigkeit. Ist man hier Bewohner, sieht man eher die Mühe. Der Schmerz in den Muskeln ist vorrangig gegenüber einer wundervollen Fernsicht.

Und was bleibt denn, was bleibt denn von mir?, überlegt Raimund, während er durch den tiefen, flockigen Schnee stapft. Am flüchtigsten sind diese meine Fußspuren, die erstarkende Sonne wird sie in wenigen Tagen auslöschen, falls sie nicht der Wind schon früher verwehen wird.

Bestelle ich meine Felder nicht mehr, werden sie von Unkraut und Gras überwuchert werden. Das dauert vielleicht drei Jahre, dann wird die Natur sich wieder durchgesetzt haben.
Und das Haus gebaut aus Stein und Holz? Es dauert länger, bis es zerstört ist, aber dennoch: Nach zehn Jahren kann man nicht mehr darin wohnen, dann wird der Stein brüchig und das Holz morsch – in zwanzig Jahren muss das Haus abgerissen werden.

„Von mir, von mir selbst, was bleibt von mir?“, fragt sich Raimund. Meine Frau heißt Annemarie, unsere Tochter Charlotte ist drei, und unser Sohn Ludwig ist fünfzehn Monate alt. Von mir bleiben meine Kinder. Was noch von mir bleibt, ist die Erinnerung, die Menschen an mich haben. Wenn sie nach meinem Tod sagen: „Ach, der Raimund, der war ein bisserl ein Ernster“, oder: „Weißt noch, der Raimund mit seinen Schafen?“ „Ja natürlich, wie könnte man den vergessen?“

Das schwarze Plüschschaf

Das schwarze Plüschschaf

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 19006

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Ein Gedanke zu „Die schwarzen Schafe

  1. Mag. Robert Müller

    Eine gute Frage: Was bleibt von einem? Die sollte sich öfter jemand stellen, vieloleicht gäbe es dann mehr "wertvolle" Menschen!

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