Helga Wittners Rettung

Helga Wittner wurde Anfang Mai zwangseingewiesen, ‘Wahnvorstellungen’ lautete die erste, ungenaue Diagnose. Sie würde sich auf fremde Planeten flüchten, stand im Bericht des diensthabenden Arztes.
Die Patientin wurde Dr. Axel Egger zugeteilt, welcher einige Gespräche mit ihr führte und sie durch diese kennen und schätzen lernte.
Der Auslöser für Helgas Reise auf einen Planeten namens ‘Omega’ war ihr Sohn Michael, der sich öffentlich entblößt hatte. Da er sich als großen Künstler sah, musste er es auch als Nacktmaler versuchen. Ein landesweiter Skandal war die Folge, und Helga, die die ständigen Eklats ihres Sohnes nicht länger ertragen konnte, war nach Omega geflüchtet, wo alles schön und gut war.

„Zurück zu Michael, Frau Wittner. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist Ihr Sohn dafür verantwortlich, dass Omega nicht mehr existiert.“
„So ist es, Herr Doktor. Vor zwei Tagen bin ich von hier aus, also aus der Anstalt, nach Omega geflogen. Dort oben hat Michael in meiner Sauna auf mich gewartet. Er war nackt, hat hämisch gelacht und gesagt, dass er bei mir auf Omega bleiben würde. Dann hat er wieder um Geld gebettelt.“
„Ich verstehe. Und dieser Schreck, Michael auch auf Omega ertragen zu müssen, hat Sie dazu bewogen, Ihren Planeten in der Sonne verglühen zu lassen?“
„Ja. Was hätte ich sonst machen sollen?“
„Ich hatte befürchtet, dass Sie dort keine Ruhe von ihm haben würden. Aus diesem Grund habe ich Ihnen mehrmals angeboten, mit mir hinter Pavillon 10 zu gehen.“
„Herr Doktor!“ rief die Vierundsiebzigjährige entrüstet. „Ich weiß, dass Sie es hier mit lauter Verrückten zu tun haben. Das ist aber kein Grund, eine attraktive, normale Frau verführen zu wollen!“
„Denken Sie etwa, ich möchte Sie verführen?“
„Was denn sonst?“
„Frau Wittner, ich bin homosexuell.“
„Was wollen Sie dann mit mir hinter dem Pavillon machen?“
„Ich wollte und will Sie einladen, mit mir auf meinen Planeten zu fliegen, ‘Epsilon’ heißt er und ist Sperrgebiet für Ihren Sohn. Und hinter Pavillon 10 liegt mein Cape Canaveral.“
„Auch Sie haben einen eigenen Planeten?“
„Natürlich habe ich einen solchen!“
„Moment mal!“, sagte Helga Wittner sichtlich verwirrt. „Sie sind Psychiater und haben einen eigenen Planeten? Und sogar ein Cape Canaveral?“
„Aber Frau Wittner, jeder Psychiater hat seinen Planeten und ein Raketenstartgelände. Unsere Oberärztin Frau Dr. Borner fliegt nach ‘Gamma’, und mein Assistent Herr Dr. Forster erholt sich auf ‘Delta-Phi’.“
„Wenn das so ist: auf zu Pavillon 10!“

Michael Timoschek
Erstveröffentlichung in der Schweizer Zeitschrift „Bierglaslyrik“, Ausgabe 28, März 2015

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg |Inventarnummer: 17156

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