(Meine) Sonne

Sie bemerkte heute, dass der Wind manchmal sehr wie das Meer klingt.
Das Wetter war willkürlich gewesen in letzter Zeit. Samstags noch war sie bis zur Hüfte in der Donau gestanden und hatte befürchtet, dass sie sich wohl einen Sonnenbrand zuziehen würde. Heute waren beinahe den ganzen Tag lang sämtliche Lichter in der Wohnung aufgedreht. Der Himmel war vollständig von schweren, dunklen Wolken bedeckt gewesen. Es schien ihr, als hätte der Himmel am Tag zuvor seine ganze Energie verbraucht. Als sei der Himmel so müde wie sie. Wolle wie sie bloß schlafen, schreien und loslassen. Und wie der Himmel schrie.

Ihr fiel auf, wie dunkel es war. Sie sah aus dem Fenster hinaus und fragte sich, ob es zu regnen beginnen würde. Im nächsten Moment antwortete der Himmel. Donnerte die Antwort laut und nass gegen die Fensterscheibe.
Die Sonne war nie hinter den Wolken hervorgekommen, doch kam sie zu ihr nach Hause. Zuerst mit Brille, durch die sie braune Augen anlächelten, frischem Haarschnitt und Jeansjacke. Dann mit elfengleich blondem Haar, einem hellblauen Blazer und allen Möbeln, die noch nicht nach Wien gezogen waren.
Sie sah zu, wie die Wohnung, die sie ihr Zuhause nennt, aufwachte und zu leben begann. Sie horchte und roch. Jeder Raum fand seinen Nutzen.

Ihr Fenster stand offen. Warme, feuchte Luft strömte in ihr Zimmer. Es roch süßlich. Ein Nachklang der Zigarette, die sie Stunden zuvor geraucht hatte. Sie trat ein, ignorierte gekonnt die Unordnung, die sich darin breitgemacht hatte. Ohne Sonne war es ihr schwergefallen, Licht auf sich selbst und ihre Umwelt fallen zu lassen. So hatte sie ihr Zimmer, solange es nur ein Raum, solange die Wohnung nur das, aber kein Zuhause war, und das Chaos darin weit möglichst gemieden. Sie betrat es nur, um ihr Feuerzeug zu holen. Als sie es verließ, hielt sie jedoch im Türrahmen inne.
Ihre Sonne kam auf sie zu. Sie sah zu ihr hin, sagte ihr, dass sie bei ihr stehen und ihre Augen schließen solle.

„Hörst du den Wind? Er klingt wie das Meer.“ Sie legte ihre Hand auf den Kopf ihrer Sonne, spürte die Wärme, die endlich durch ihren Körper floss.
Sie hörte das Meer vor ihrem Zimmer, sah den großen Baum vor ihrem inneren Auge. Wie er sich den Wogen der Luft hingab und seine Blätter tanzten. Als sie ihre Augen öffnete, wurde sie angestrahlt. Nicht von einem sterbenden Stern, sondern dem Leben selbst.
Sie holte eine Zigarette und folgte ihrer Sonne in die Nacht.

Emma Kreska

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 20125

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