Kategorie-Archiv: Michael Timoschek

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Drei Gäste, zwei noch da

Der Gast stand an der Bar, er stand seitlich, hatte seinen linken Ellenbogen auf die steinerne Oberfläche der Bar gelegt und seinen linken Fuß lässig auf den Umlauf aus Messing, welcher die Bar in geringer Höhe umfasste. Die Form der Bar nahm die der Kolonnaden des Petersplatzes auf, die in der Ewigen Stadt den Blick des Menschen geradezu zwingend auf die Fassade des Petersdomes lenken, die Hauptkirche der Christenheit. Die Höhe der Bar war so bemessen, dass ein Mensch bequem an ihr stehen oder lehnen, auf ihr Nahrung zu sich nehmen oder auch schlafen konnte. Der Umlauf aus Messing war, was seine Höhe anlangte, ebenfalls wohldimensioniert, sowohl sitzend als auch stehend fanden die Füße eine Auflage, gleich wie groß oder klein der Mensch, dem sie gehörten, gewachsen war.

„Ich kann noch nicht glauben, dass er nicht mehr unter uns weilt“, eröffnete der Gast das Gespräch.
Sein Gegenüber, das er angesprochen hatte, stand etwa einen Meter von ihm entfernt in der selben Körperhaltung, allerdings spiegelverkehrt, den rechten Ellenbogen auf die Bar und den rechten Fuß auf den Umlauf aus Messing gelegt.
„Was ist geschehen?“, gab der Angesprochene zurück.
„Nun ... Er ist gegangen.“
Die Kellnerin, die hinter der Bar ihren Dienst versah, stellte zwei Gläser Rotwein sowie zwei Gläser Wasser vor die beiden Gäste und sagte: „Sehr zum Wohle, die Herren!“
Die beiden prosteten sich durch Anheben ihrer Weingläser und Führen ebendieser in die Richtung des jeweils anderen zu, die Gläser berührten einander nicht, und nahmen einen Schluck Rotwein, gefolgt von einem Schluck Wasser.

„Wie meinen Sie das?“
„Ich denke, er wollte nicht mehr kämpfen“, gab der ältere der beiden Gäste zurück.
Etwa zehn Jahre trennten die beiden voneinander.
Der jüngere Gast steckte sich eine Zigarette an, inhalierte und blies den Rauch an die zu tief hängende rote Lampe hinter der Bar, die ebenso gut in einem Boudoir, dem Zimmer eines Stundenhotels oder dem Séparée eines Bordells hätte hängen können. Dennoch fügte sie sich bestens in die Gesamterscheinung der Bar, sie gab warmes, weiches Licht ab und war entweder in Murano geblasen worden oder ein Relikt aus lange vergangenen Wiener Zeiten.
„Kämpfen? Was meinen Sie mit kämpfen?“
„Sie haben ihn doch oft gesehen. Haben oft mit ihm gesprochen, hier an der Bar.“

Der Jüngere wischte mit der Kante seiner Hand Reste der Asche seiner Zigarette von der steinernen Oberfläche der Bar, als ob er ein Gefühl wegwischen, vertreiben wollte. Etwa das Gefühl des Nicht-erkannt-Habens des Kampfes, den der ehemalige Gast, der nun nicht mehr kommen würde, laut Aussage des Älteren geführt hatte. Er wischte die Reste der Asche in den Spalt zwischen der steinernen Oberfläche der Bar und der hölzernen Umrandung, durch den sie auf den Boden rieselten. Dieser Spalt verhinderte, dass auf der Bar verschüttete Flüssigkeit sich allzu weit verlaufen konnte und diente somit dem Zweck, die für gewöhnlich kostspielige Kleidung der Gäste an der Bar nach Möglichkeit unbenetzt zu halten.
„Ich habe nichts von einem Kampf, wie Sie es ausdrücken, bemerkt. Weder habe ich ihm einen solchen angesehen noch hat er ihn mit einem Wort erwähnt, weder im Gespräch noch in den Texten, die er verfasst hat.“

Der jüngere der beiden Gäste richtete seinen Blick auf die Rosen, die in einer Weinflasche, die nun freilich Wasser enthielt, auf der Bar standen, neben einem hölzernen Steher, einem von zweien, die den Oberbau der Bar stützten, in welchem sich Gläser nebst Flaschen voll Wein und Spirituosen befanden. Die Rosen waren einige Tage alt, oder ihr Wasser war nicht ausgetauscht worden, jedenfalls war der Prozess ihrer Vertrocknung über sein Anfangsstadium hinaus vorangeschritten, sodass sie eher als Memento-mori-Motive durchgehen konnten denn als Zeichen und Boten der Schönheit und der Liebe. Der Jüngere fand diesen Umstand durchaus passend. Er passte zum Tod eines Gastes, mit dem er oft an der Bar beisammen gestanden und etliche Gläser geleert hatte.

„Ich kann nicht verstehen, dass er nie etwas gesagt hat.“
„Mein junger Freund“, gab der Ältere zurück, „Ihnen fehlt es an der Menschenkenntnis.“
„Glauben Sie das wirklich?“
„Ja. Aber machen Sie sich keine Sorgen. In Ihrem Alter, also vor gut zehn Jahren, hätte auch ich nur sehr schwer erkannt, was mit ihm los war. Wahrscheinlich hätte ich es, ebenso wie Sie, gar nicht erkannt.“
Diese Worte waren dem Jüngeren ein Trost, wenngleich ein schwacher. Er blickte in den Spiegel an der Wand. Dieser war länglich und wurde von zwei kugelförmigen Lampen illuminiert. Deren runde Fassungen wurden von der hölzernen Oberkante des Spiegelrahmens aufgenommen. Er betrachtete sein Antlitz im Spiegel und stellte wenig überrascht fest, dass sich ein ratloser und auch trauriger Ausdruck auf dieses gelegt hatte. Er war sich zeit seines Lebens sicher gewesen, über eine gute Menschenkenntnis zu verfügen, doch nun, an diesem Abend, war er eines Besseren belehrt worden.

„Welcher Art war sein Kampf?“, fragte er den älteren Gast. „War es ein Kampf, den er in seinem Inneren, mit sich selbst, führte, oder hat er gegen eine körperliche Erkrankung angekämpft?“
Der Ältere wiegte den Kopf hin und her, als überlegte er, was er auf die Frage antworten sollte. Er nahm einen Schluck Wasser, dann einen vom Rotwein, danach wieder einen vom Wasser und führte seinen Zeigefinger schnell über die steinerne Oberfläche der Bar. Es war eine offenkundig unbewusste Handlung, die einen Trennstrich symbolisierte, wie der Jüngere der Antwort des Älteren entnahm.
„Mein junger Freund, er hatte an zwei Fronten zu kämpfen. Er war seit Jahren schwer krank.“
„Das hat man ihm aber nicht angesehen“, warf der Jüngere ein.
„Doch“, gab der Ältere zurück. „Man hat es ihm sehr wohl sehr deutlich angesehen. Also, ich habe es ihm angesehen. Sie dürfen nicht außer Acht lassen, dass ich ihn an lediglich zwei Abenden jede Woche gesehen habe.“
„Und?“
„Nun, Sie sind jeden Nachmittag, Abend und jede Nacht hier an der Bar. Wenn man einen Menschen jeden Tag zu Gesicht bekommt, fallen einem Veränderungen dieses Menschen weit weniger deutlich auf, als wenn man diesen Menschen nur selten sieht.“

Der Jüngere wickelte eine Strähne seines langen Haupthaares um den Zeigefinger, er war einige Sekunden in Gedanken versunken und stimmte seinem Gegenüber zu.
„Ich habe in meinem Telefon ein Foto gespeichert, das Sie mit ihm zusammen zeigt. Es ist etwa drei Jahre alt. Ich zeige es Ihnen, und dann werden Sie verstehen, was ich meine.“
Der Ältere hielt dem Jüngeren das Foto vor Augen und dieser verstand nun.
„Um Himmels willen!“, entfuhr es ihm.
Das drei Jahre alte Foto zeigte ihm neben dem Gast, der nun nicht mehr kommen konnte. Sie waren gut gelaunt gewesen, lachten und hatten offensichtlich bereits einige Gläser geleert gehabt. Der Gast war von gesunder Farbe im Gesicht und pausbackig, ganz so, wie der Jüngere ihn kennengelernt hatte. Die Rose in der Weinflasche, die ebenfalls mit auf das Foto gedurft hatte, war frisch und stand in vollem Saft, sie war gleichsam ein weißgrünes Symbol des Lebens und der Freude.
„Und nun rufen Sie sich in Erinnerung, wie er vor zwei Wochen ausgesehen hat, als Sie ihn, wie ich annehme, zum letzten Mal gesehen haben.“

Der Jüngere hatte keine Mühe, der Aufforderung nachzukommen. Er verglich das Aussehen des Gastes auf dem Foto mit jenem an dem Abend, wo er ihn zum letzten Mal gesehen hatte, entschuldigte sich und suchte die Toilette auf. Er stand vor dem Spiegel über dem kleinen Waschbecken und betrachtete sich. Er fühlte Tränen in seine Augen steigen, dann sah er sie aus diesen und über seine Wangen rinnen und wischte sie mit dem Handrücken weg. Gedanken schossen ihm durch den Kopf, Gedanken an seine Unaufmerksamkeit, der er es zuschrieb, dass er den offensichtlichen körperlichen Verfall des Gastes nicht erkannt hatte. Gedanken an Gleichgültigkeit, von der er fürchtete, dass sie ihm innewohnte. Wäre dem nicht so, dachte er, hätte er den Verfall schmerzlich spüren müssen. Er wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, trocknete es mit einem Einweghandtuch und nahm seinen Platz an der Bar wieder ein. Er hoffte, dass der ältere Gast nicht bemerken würde, dass er auf der Toilette geweint hatte.

„Ich hätte es bemerken müssen! Doch ich oberflächliches Individuum habe nicht darauf geachtet.“
„Machen Sie sich keine Vorwürfe“, riet ihm der Ältere.
„Ich mache mir aber welche. Ich stehe da mit einem, man kann fast sagen: Freund, jeden Abend an der Bar und gebe mich damit zufrieden, dass er sagt, es geht ihm gut.“
„Sie dürfen sich nicht selbst an den Pranger stellen, mein junger Freund. Er hat schließlich jedem, der ihn nach seinem Befinden gefragt hat, gesagt, dass es ihm gut gehe.“
„Und warum hat er nicht gesagt, was wirklich mit ihm los war?“
„Ich denke, er wollte die Menschen in seinem Umfeld nicht mit dem Umstand belasten, dass er unheilbar krank war.“
„Woher wissen sie, dass er unheilbar krank war?“
„Seine Frau hat mich eingeweiht. Sie hat mir geraten, mich mit der Tatsache abzufinden, dass er in absehbarer Zeit sterben würde.“
„Warum haben Sie mir nie davon erzählt?“
„Ich wollte Sie nicht belasten.“
„Aber wenigstens er hätte doch etwas sagen können. Ich meine, eine unheilbare Krankheit ist etwas, für das man nichts kann. Und folglich braucht man sich auch nicht für sie zu schämen.“
„Ich denke, dass er sich doch geschämt hat“, gab der Ältere zurück.

Der jüngere Gast richtete seinen Blick unwillkürlich auf einen der beiden stummen Diener in den Ecken des Raumes. Die Kleiderständer waren aus gebogenem braunen Holz gefertigt, und an diesem Abend hing das leichte Leinensakko des jüngeren Gastes einsam auf dem Haken. Dort, wo der Gast üblicherweise seine Sommerjacke aufgehängt hatte, gähnte Leere. Der Jüngere fühlte erneut Tränen in sich hochsteigen und unterdrückte diese, indem er seinen Blick nach links oben, in das Nirwana der Decke des Raumes richtete und sich zwang, an etwas zu denken, das nichts mit dem Gast zu tun hatte.
„Er war stets ein vitaler Mann gewesen. Er konnte den eigenen Verfall einfach nicht in dem Ausmaß hinnehmen, das nötig gewesen wäre, um über seine Krankheit zu sprechen. Allerdings hat er andeutungsweise sehr wohl anklingen lassen, dass der Tod in sein Leben Einzug gehalten hat.“
Der Jüngere sah sein Gegenüber ungläubig an und schüttelte den Kopf.
„Mir gegenüber hat er nie so etwas zum Ausdruck gebracht.“
„Verzeihen Sie“, sagte der Ältere, „aber in diesem Punkt muss ich Ihnen widersprechen.“
„Wie meinen Sie das?“, fragte der Jüngere, immer noch einen ungläubigen Ausdruck im Blick.
„Sie erinnern sich bestimmt an die Diskussion zum Thema Sterbehilfe, die wir vor etwa einem halben Jahr hier an der Bar geführt haben.“

Der Jüngere nickte. Er erinnerte sich nur zu gut an diesen Abend und an die Diskussion, die sie geführt hatten. Es war einer der Dispute gewesen, wie sie sich ab und zu an der Bar entwickelten, in deren Verlauf die Disputanten, auch aus Gründen des Alkoholkonsums, immer starrköpfiger auf ihren Ansichten zum jeweiligen Thema beharrten, unzugänglich intelligenten Einwürfen der meist völlig nüchternen Kellnerinnen hinter der Bar, und in der Folge schärfer, persönlich angriffiger sowie lauter argumentierten oder zumindest ihre jeweiligen Sichtweisen kundtaten. Der Gast hatte an diesem Disput teilgenommen, sich jedoch sehr ruhig verhalten. Er hatte klar und mit gedämpfter Stimme argumentiert, beinahe wie ein selbstmordgefährdeter Mensch, der seinem Arzt von seinem Vorhaben berichtet. Der Gast hatte die Position vertreten, dass ein Mensch, der seit langer Zeit schon hatte sterben wollen, das Recht hätte, diesen Wunsch erfüllt zu bekommen. Allerdings hatte er einschränkend angeführt, dass ein derartiger Wunsch nur dann zu Recht erfüllt ist, wenn dieser Mensch an einer unheilbaren Krankheit leidet und seine Angelegenheiten in Ordnung gebracht hat.

„Sie erinnern sich, mein junger Freund, dass der Gast das Recht auf den eigenen Tod vehement eingefordert hat, jedoch im selben Atemzug Kurzschlusshandlungen abgelehnt hat.“
„Ja, das stimmt. Er hat gesagt, dass ein Selbstmord im Affekt keine Lösung ist.“
„Sehen Sie? Damit hat er sich selbst vor einer solchen Tat im Affekt bewahrt.“
„Was deuten Sie gerade an, mein älterer Freund? Er hat sich doch nicht etwas das Leben genommen?“
Der Ausdruck des Schreckens lag in des Jüngeren Augen. Die beiden Gäste orderten zwei weitere Gläser Rotwein, von der selben Sorte, doch dieses Mal von besserer Qualität, und der Ältere wies die Kellnerin an, beide Gläser auf seine Rechnung zu setzen. Ihm war nicht entgangen, wie sehr die Neuigkeiten dieses Abends den Jüngeren mitgenommen hatten, und er wollte ihm eine kleine Freude bereiten. Der Jüngere bedankte sich, und dieses Mal stießen ihre Gläser sanft aneinander.

„Ja, er hat sich das Leben genommen. Seine Krankheit war schlimmer geworden und das Grauen unerträglich.“
„Das ist so furchtbar! Ich kann das alles gar nicht glauben.“
„Und doch ist es so.“
„Ich hätte ihm eine solche Tat niemals zugetraut.“
„Ich war mir sicher, dass er es tun würde. Nach unserer Diskussion über Sterbehilfe, nachdem ich seine Argumente gehört hatte, war mir klar, dass er es tun würde.“
„Wie hat er es gemacht?“
„Er hat sich in seinem Badezimmer eingeschlossen und in die Badewanne gelegt.“
„Also der Schnitt in die Pulsadern?“, fragte der Jüngere und fühlte Grauen in sich hochsteigen.
„Nein. Er hat die Tür und das Fenster mit Klebeband abgedichtet, eine Flasche Rotwein getrunken und eine Gasflasche aufgedreht.“
„Wer hat ihn gefunden? Doch nicht seine Frau?“
„Nein, die war zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Schwester auf Urlaub.“
„Gott sei Dank!“
„Er hat ein zeitverzögertes E-Mail an die Polizei geschickt. Die hat ihn gefunden.“
„Hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen?“, fragte der jüngere Gast, und wieder bemächtigte sich Grauen seiner.
„Ja. Er hat sich bei seiner Frau entschuldigt und noch einigen wenigen Menschen letzte Grüße ausgerichtet. Sie, mein junger Freund, sind unter diesen Menschen.“
Der Jüngere konnte die Tränen, die in seine Augen schossen, nicht zurückhalten.
„Mein Gott! Warum nur?“, schluchzte er. „Warum nur?“

Der Ältere legte einen Arm um seine Schulter, um ihn zu trösten.
„Seine Frau hat mir gesagt, dass sie es hat kommen sehen. Sie ist zwar sehr traurig, doch freut sie sich auch für ihn, dass er jetzt dort ist, wo es ihm gut geht.“
„Und ich habe so oft mit ihm gesprochen, ihm so oft in die Augen geschaut und nichts bemerkt.“
„Wenn Sie sich Vorwürfe machen, leiden Sie nur unnötig. Das wird ihn nicht zurückbringen.“
Der jüngere sah den älteren Gast aus verweinten Augen an.
„Hätte ich etwas für ihn tun können?“
„Ja. Und das haben Sie auch getan.“
„Was habe ich getan?“
„Sie haben mit ihm gesprochen und ihm, zumindest hier an der Bar und für einige Stunden jeden Abend, das Gefühl der Normalität gegeben.“
„Wirklich?“
„Ja, das haben Sie. Und dafür war er Ihnen dankbar. Sehr dankbar.“
„Woher wollen Sie das wissen?“
„Er hat Sie in seinem Abschiedsbrief, seinem letzten Werk, erwähnt und Ihnen Grüße ausgerichtet.“

Wieder weinte der Jüngere.
„Hätte ich es denn verhindern können? Irgendwie verhindern?“
„Nein. Ganz sicher nicht.“
„Aber ich hätte es ahnen müssen!“
„Nicht müssen. Können, das ja.“
„Aber ich war zu oberflächlich.“
„Sie hätten zwischen seinen Zeilen lesen und seine unausgesprochenen Worte hören können.“
„Aber ich habe seine Werke gelesen und ihm zugehört.“
„Suchen Sie die Schuld nicht bei sich! Sein Freitod war immerhin seine eigene Entscheidung.“
„Künftig werde ich aufmerksamer lesen und zuhören.“
„So können Sie vielleicht den Tod eines Menschen verhindern, der die Schwelle vom Gedanken zum feststehenden Plan noch nicht hinter sich gelassen hat.“
Der jüngere Gast beglich seine Rechnung und verließ traurig das Lokal.
Der ältere Gast trank ein weiteres Glas Rotwein und verließ dann das Lokal.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 17040

 

Immer der Wirt

Als ich vor ein paar Tagen aufwachte, fühlte ich sofort, dass etwas anders war.
Mein Blick war getrübt, meine Zunge fühlte sich an, als wäre sie in altes Nutriafell gehüllt, und die Reste meines Gehirns, die noch zu denken in der Lage waren, schienen in wogenden Bewegungen an mein Stirnbein zu schwappen. Da wurde mir klar, dass ich an einer postrauschalen Bewusstseinstrübung litt.
Ich beschloss daher, mit dem ungesunden Zeug aufzuhören, wollte mich vorher aber beraten lassen. Also wankte ich zu meiner Mutter, um ihr von meinem durchaus löblichen Vorhaben zu erzählen.

Meine Frau Mama hat mir in der Vergangenheit nämlich oftmals gute Ratschläge erteilt. An diesem Tag jedoch erhielt ich keinen Rat von ihr, dafür aber verbale Schläge: „Michael! Wie viel hast du gestern gesoffen? Um Himmels willen, du bist ja ein Alkoholik-“ In diesem Augenblick verlor ich auf wundersame Weise mein Hörvermögen und verließ die Küche, bevor ich Mutter meinen großen Plan unterbreiten konnte.
Im Nebenraum erlangte ich mein Gehör wieder und hörte meinen Vater sagen: „Warum regst du dich auf? So sieht er jeden Vormittag aus.“

Ich flüchtete ins Nachbarhaus zu meiner Großmutter. „Oma“, setzte ich an, doch sie unterbrach mich. „Michael, ich habe gestern Nacht zufällig gesehen, wie du deine Haustüre aufsperren wolltest.“ Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Ich setzte meinen unschuldigsten Blick auf und fragte leise: „Und?“ „Nach fünf Minuten hast du es geschafft!“
Die dieser Feststellung folgende Standpauke ließ mich erkennen, dass meine Großmutter mir ausgerechnet den Rat geben würde, den ich keinesfalls hören wollte, nämlich den langsamen Tod des abendlichen Verdurstens zu wählen.

Es ging mir wirklich schlecht, also schlich ich mich in den Keller ihres Hauses und trank eine Flasche Bier. Dann stand ich mit der leeren Flasche in der Hand da und stellte fest, dass meine andere Hand unbeschäftigt war.
Schnell schaffte ich Abhilfe, und drei Minuten später stellte ich zwei leere Flaschen in die Kiste zurück. Ich fühlte mich besser und rief eine Bekannte an, mit welcher ich eine sogenannte schlampige Beziehung führte.
„Heute ist mir klargeworden, dass ich aufhören muss, Heidrun“, sagte ich. Sie schnaubte bloß, und aus dem Klang der stets zahlreichen Ringe auf ihren Fingern schloss ich, dass sie ihren perfekt manikürten Mittelfinger ans Telefon hielt. „Das sagst du jedes Mal, Michael, und dennoch schläfst du beinahe jede Nacht auf der Theke ein, und ich muss Erwin mit nach Hause nehmen!“

Nun ging es mir wieder schlecht, und ich legte mich ins Bett. Am Abend dieses Tages betrat ich mein Stammlokal und sagte zum Wirt: „Stief, ich habe beschlossen, mit dem Zeug aufzuhören, aber ich brauche deinen Rat.“ „Ach Michael“, sagte Stief, „das sagst du jeden Abend. Hier hast du dein Bier, und schon ist die Welt wieder in Ordnung. Nach dem dritten Bier wirst du glücklich sein und doch kein Nichtraucher werden wollen.“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 17039

Tu felix Austria, arde!

„Jetzt reicht es mir, und zwar endgültig!“, rief Frieda Ponisch in den Raum und schlug die Wohnungstüre zu. Sie streifte ihre Schuhe ab und ging ins Wohnzimmer, wo ihr Ehemann Otto auf dem Sofa saß. Nach einem Begrüßungskuss, den sie auf seine Wange hauchte, ließ sie sich seufzend in einen der beiden Polstersessel fallen.
„Was ist passiert?“, fragte Otto und legte das Buch, in dem er gelesen hatte, auf den Couchtisch.
„Was passiert ist, willst du wissen? Ich sage dir, was passiert ist: Die Rotzlöffel haben heute das Maß vollgemacht!“
Mit Rotzlöffel meinte sie Egon Gruber und Manuel Berger, beide sechzehn Jahre alt und in der Klasse, deren Vorständin Frieda war und die sie in Biologie unterrichtete.
Nun seufzte auch Otto Ponisch. Er war es allmählich leid, die Übellaunigkeit seiner Frau ertragen zu müssen. Mindestens zweimal in der Woche kam sie aufgebracht nach Hause, und das seit drei Jahren, weil die beiden Buben ihr wieder einen Streich gespielt hatten.
„Jetzt sag schon: Was haben sie angestellt?“
„Heute waren sie nachgerade hyperaktiv. Das heißt, dass sie gleich zwei Missetaten begangen haben. Zuerst haben sie zwei Erstklässler drangsaliert. Und dann haben sie ein Video in Umlauf gebracht, in dem ich zu sehen bin. Ich sage dir: Nun ist es genug! Das gibt Krieg!“

Ihr Mann, Psychologe von Beruf, hob die Augenbrauen und sagte mit ruhiger Stimme: „Immer der Reihe nach, Frieda. Was haben sie den Erstklässlern angetan?“
„Du kennst doch die Herrentoiletten im Gymnasium, oder?“
„Ja, die kenne ich.“
„Also: Der Gruber und sein kongenialer Komplize Berger haben auf der Toilette darauf gewartet, dass sich zwei kleine Buben vor die Pissoirs stellen, um Wasser zu lassen. Und als die zwei bedauernswerten Wichte genau das gemacht haben, da sind die beiden verwöhnten Burschen hinter sie getreten und haben sie gepackt und zueinander gedreht!“
Otto Ponisch gab sich alle Mühe, nicht loszuprusten, jedoch vergeblich.
Irritiert blickte seine Frau ihn an und ätzte: „Ja, ja, dir gefällt das natürlich. Das war mir klar. Wahrscheinlich finden das alle Männer witzig.“
Er wollte auf ihre Worte eingehen, doch mehr als ein einleitendes „Nun“ brachte er nicht heraus. Der Rest ging im Gelächter unter.
„Du musst an die armen kleinen Buben denken! Die sind weinend und mit nassen Hosen durch den Gang gelaufen und haben nach ihren Müttern gerufen. Sie haben heute sicher den Schock ihres Lebens erlitten.“
„Also ich weiß nicht. Es wird ihnen schon noch Schlimmeres widerfahren, denke ich. Was hast du denn zu deinen beiden Quälgeistern gesagt?“
„Ich habe ihnen gesagt, dass das der letzte Streich war, den ich ihnen durchgehen lasse.“
„Ach ja? Und als Zugabe haben sie dich gleich nochmal geärgert, quasi um einen starken Abgang zu haben“, stellte er süffisant fest.
„Ja, das haben sie. Aber die Sache mit dem Video haben sie vorbereitet gehabt. So was braucht Zeit, vor allem dann, wenn man eine gewisse Qualität abliefern will.“
„Hast du den Film dabei?“
„Natürlich. Er ist auf der Pinnwand der Facebook-Gruppe der Klasse, und wahrscheinlich wurde er schon hunderte Male geteilt!“

Otto holte seinen Laptop aus dem Arbeitszimmer, schaltete ihn ein und reichte ihn seiner Frau, die sich einloggte und das Video anklickte.
„‘Friede Klonisch - wie sie wirklich ist’. Ein interessanter Titel“, sagte sie. „Das Video ist in drei Abschnitte gegliedert.“
„Nun lerne ich Frau Klonisch endlich so kennen, wie sie wirklich ist“, witzelte er.
„Der Vater von Gruber ist Videoproduzent. Ich bin mir sicher, dass sie dieses Machwerk in seiner Firma fabriziert haben. Aber sieh selbst.“ Sie reichte ihm das Notebook.
Das Video zeigte eine Frau, die an einem Tisch voller leerer Flaschen saß. Sie war offenkundig völlig betrunken, denn sie lallte und übergab sich letztendlich.
„Ich frage mich, wie sie es geschafft haben, mein Gesicht über das dieser Frau zu legen.“
„Psst! Lass mich schauen!“
Der zweite Teil zeigte Frieda im Klassenzimmer. Auf dem Lehrerpult hinter ihr stand ein ausgestopfter Uhu mit ausgebreiteten Flügeln. Sie stand vor der Klasse und hielt gestikulierend einen Vortrag. Im Video kamen allerdings bloß unflätige Worte aus ihrem Mund. Das Referat handelte von wenig befriedigendem ehelichem Beischlaf.

Als Otto Ponisch die seiner Frau in den Mund gelegten Worte vernahm, grinste er. Er klickte auf Pause und sagte: „Die Burschen sind gut. So etwas zu fabrizieren ist verdammt schwer. Sie haben dich im Unterricht mit ihren Handys gefilmt, was noch keine große Leistung ist. Aber das Schreiben einer Rede, deren Worte exakt zu deinen Mundbewegungen passen - also das ist wirklich hochkreativ.“
„Warte, bis du den dritten Teil gesehen hast. Dann weißt du, warum ich den Falotten den Krieg erklären werde.“
Otto klickte auf Play. Der letzte Teil zeigte eine nackte Frau beim autoerotischen Vollzug. Auch hier hatten Berger und Gruber Friedas Gesicht auf das der eigentlichen Darstellerin montiert. Als besonderes Detail hatten sie ein Foto von Otto, das sie von seiner Homepage heruntergeladen hatten, an die Wand des Studios, in dem die Szene vonstattenging, gezaubert. Aus beiden Seiten seines Kopfes ragten die Äste eines Hirschgeweihs, und das Foto war von einem geschnitzten Holzrahmen umgeben - Otto somit als Jagdtrophäe dargestellt.
Die Frau im Film äußerste schwer atmend und immer wieder heftig stöhnend ihre Zufriedenheit mit zwei Dingen. Zum einen mit der Tatsache, ihren Mann endlich um die Ecke gebracht und beerbt zu haben, zum anderen mit ihrem nunmehr erfüllten Liebesleben.
Im Abspann waren die Namen von zwei Regisseuren zu lesen: Oskar Pillermann und Radoslav Kuraz.

Otto Ponisch klappte den Laptop zu und lachte. Dann sagte er: „Okay, ein Lausbubenstreich, und weiter? Natürlich ist es eine Frechheit, so etwas ins Internet zu stellen, aber jeder, der dich kennt, weiß, dass das gefaked ist.“
„Das gibt Krieg!“, schnaubte sie und setzte ihre sturste Miene auf.
„Und wie soll dieser Krieg aussehen? Und wie ausgehen?“
„Na, die beiden Lausbuben müssen von der Schule fliegen!“
„Das würde ich nicht tun, Frieda.“
„Und warum nicht?“
„Was soll dann aus ihnen werden? So maturieren sie in zwei Jahren. Dir kann das doch egal sein.“
„Warum soll mir das egal sein?“
„Weil du in einem Monat in Pension gehst, Frieda.“
„Aber irgendwie müssen sie doch bestraft werden! Und so ein Rauswurf wäre ihnen sicherlich eine Lehre.“
„Wo soll das hinführen? Die Gefahr, dass sie dann auf die schiefe Bahn geraten, ist sehr groß. Wohlstandsverwahrlost sind sie ohnehin schon.“
„Ich kann den beiden aber nicht mehr gegenüberstehen, ohne dass sie bestraft worden sind. Das würde ich nicht aushalten!“
„Und wenn du den österreichischen Weg wählst?“, fragte Otto nachdenklich.
„Ohrfeigen?“
„Nein, Burnout.“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary |Inventarnummer: 17038

Martin Sehn sucht

So lange er denken kann, hat Martin Sehn Probleme mit Frauen, und seit seinem siebzehnten Lebensjahr auch mit dem Alkohol.
Heute ist er siebenunddreißig Jahre alt. Er hat eine Frau gesucht, aber noch keine gefunden. Wie zum bösen Ausgleich hat ihn der Alkohol gefunden, obwohl Martin ihn gar nicht gesucht hatte.

Bereits in der Volksschule hatte sich gezeigt, dass Martin Probleme im richtigen Umgang mit Mädchen hat. Seine Klassenlehrerin hatte ihn neben Karin Maier gesetzt, ein hübsches und freundliches Mädchen. Sie hatte ihm sofort gefallen. Anstatt sich jedoch mit ihr nach der Schule zu treffen, um gemeinsam Hausaufgaben zu machen, hatte er sie immer nur angestarrt. Jedesmal wenn es ihr reichte, von der Seite angestarrt zu werden, und sie ihren Unmut darüber zum Ausdruck brachte, war das Einzige, was er zu entgegnen wusste, eine Veräppelung Karins. Er machte sich über ihren Haarschnitt, ihre Nase und sogar über ihr angebliches Übergewicht lustig. Bald hatte sie die Nase voll von ihm und bat die Lehrerin, sie doch neben ein Mädchen zu setzen.
Diese hatte durchaus Verständnis für diesen Wunsch und befahl Peter Mierz, den Platz neben Martin Sehn einzunehmen.
Die beiden freundeten sich rasch an, hatten sie doch denselben Leitspruch: Mädchen sind blöd! Auch Peter Mierz hatte keinen Schlag bei den Mädchen in der Klasse, somit galten er und Martin bald als die ewigen Querulanten.

Nachdem Martin Sehn die Volksschule mit Ach und Krach hinter sich gebracht hatte, musste er auf Geheiß seiner Eltern die Hauptschule besuchen - für ein Gymnasium hätte es bei ihm einfach nicht gereicht. Peter Mierz hingegen durfte in ein solches eintreten, und die beiden Freunde und Leidensgenossen verloren einander für einige Jahre aus den Augen.

In der zweiten Klasse fasste Martin Sehn Mut. Der Grund dafür hieß Petra Siegel. Sie war neu in der Schule und gefiel ihm auf Anhieb. Sie hatte lange blonde Haare, braune Augen und eine Fehlstellung der Schneidezähne, welche sie in seinen Augen ebenso einzigartig wie liebenswert machte. Das Mädchen war nicht auf den Kopf gefallen und nutzte geschickt die Tatsache aus, dass Martin diese Klasse zum zweiten Mal besuchen musste.
Petra nahm sein Angebot, die Hausaufgaben gemeinsam zu erledigen, sofort an. In Wahrheit war es so, dass er die gestellten Aufgaben in kurzer Zeit löste, denn er hatte den Lehrstoff bereits im Jahr zuvor lernen müssen, und sie diese einfach abschrieb. Davon abgesehen hielt sie nicht allzu viel von Martin, was sie dadurch zum Ausdruck brachte, dass sie sämtliche Avancen seinerseits ins Leere laufen ließ. Nicht einmal an seinem Geburtstag, beim Überreichen eines kleinen Geschenks, küsste sie ihn auf die Wange, und Händchenhalten kam schon gar nicht infrage.

Gegen Ende des zweiten Hauptschuljahres stellte er sie diesbezüglich zur Rede. Sie versprach, im nächsten Jahr mit ihm Händchen zu halten, doch der Zufall wollte es, dass Arnold Fischer in die Klasse kam, der eigentlich schon in der vierten Hauptschulklasse hätte sitzen sollen. Er machte nun die Hausaufgaben für Petra Siegel.

Mit dem Alkohol kam Peter Sehn das erste Mal im Alter von vierzehn Jahren in Berührung. Sein Großvater, ein passionierter Jäger und schwerer Trinker, hatte ein volles Schnapsglas auf dem Tisch stehen lassen. Martin zögerte nicht lange und leerte das Glas nach der Art seines Ahnen in einem Zuge. Der Korn brannte in seiner Kehle und dann seine Speiseröhre hinunter, doch als er den Magen erreichte und sich dort auszubreiten begann, war alles anders. Ein Gefühl von wohliger Wärme durchströmte Martins Körper. Er fühlte zwar ein wenig Benommenheit, doch ermöglichte ihm diese, einen milden Blick auf die Fährnisse seines Alltags zu richten. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass der Alkohol eine gute und wohl auch hilfreiche Sache sein musste.

Nachdem er die Hauptschule abgeschlossen hatte, begann er eine Schmiedelehre. Sein Lehrherr tolerierte den Konsum von zwei Flaschen Bier täglich, schließlich mussten seine Lehrlinge schwere Arbeit in heißen Räumen verrichten.
Mit den anderen Lehrlingen kam Martin gut aus, ohne jedoch echte Freundschaft mit ihnen zu schließen. Seinen Eltern blieb nicht verborgen, dass er oft mit einer Bierfahne aus der Schmiede nach Hause kam, doch da sein Lehrherr nur das Beste über ihn zu berichten wusste, nahmen sie diesen Umstand kommentarlos hin.

Ein Mädchen brachte Martin nicht nach Hause. Eines Tages, im dritten Lehrjahr, als die Bezahlung besser war als in den Jahren davor, überredeten ihn die anderen Lehrlinge, am Samstagabend mit in die Stadt zu fahren, um Frauen kennenzulernen. Martin lernte tatsächlich eine Frau kennen. Sie hieß Shin und kam aus China. Ihre gemeinsam verbrachte Zeit dauerte zwar nur exakt sechzig Minuten, doch reichten die aus, ihn erkennen zu lassen, wie leicht ein Mann mit ein bisschen Geld in der Tasche Erfolg bei den Frauen haben kann.
Nachdem Martins Lehrlingsentgelt nicht allzu üppig war, konnte er es sich lediglich einmal im Monat leisten, eine Frau auf diese Art und Weise kennenzulernen.
Den Rest seines Geldes wandte er für den Ankauf alkoholhaltiger Getränke an den Freitagen und Samstagen auf. Sein Großvater hatte für diesen speziellen Hang seines Enkels durchaus Verständnis und griff ihm finanziell nach Kräften unter die Arme.

Nach seiner Gesellenprüfung begann Martin Sehns langsamer aber stetiger Abstieg.
Er sehnte sich nach einer Frau, nach der Wärme und Geborgenheit, die ihm eine solche würde bieten können, aber gleichzeitig sehnte er sich nach der vergänglichen Wärme und der trügerischen Geborgenheit, die ihm die Flasche immer öfter bot. Nachdem sich beides gegenseitig ausschloss, entschied er sich für die Flasche.
Sie war billig, jederzeit verfügbar und willig, wenn ihn nach ihr gelüstete, außerdem hatte er von ihr keine Widerrede zu befürchten.

Martin Sehn ging keiner geregelten Arbeit nach. Ab und zu half er seinem Freund Peter Mierz aus Dankbarkeit dafür, dass dieser ihm durch seine Beziehungen den Militärdienst erspart hatte. Geld nahm er dafür nicht, er lebte bequem vom Erbe seines Großvaters.
Peter Mierz hatte das Gymnasium abgeschlossen und den Hof seiner Familie übernommen. Da auch sein Erfolg bei Frauen ausgeblieben war, genoss er es, ab und an mit Martin in die Stadt zu fahren, um welche kennenzulernen. Der Trinkerei seines Freundes stand er ablehnend gegenüber. Er selbst trank höchstens eine Flasche Wein pro Woche, doch ihre Freundschaft hielt und besteht bis heute.

Martin verbrachte seine Tage auf folgende Weise: Er erwachte um elf Uhr, bereitete sich ein Mittagsmahl zu und dann trank er. Er fing mit Bier an, das er den Nachmittag über konsumierte, am Abend trank er Wein und vor dem Schlafengehen Korn.
Seine Eltern hatten den Kontakt zu ihm, ihrem einzigen Kind, abgebrochen. Martin wurde zum Gespött des Dorfes. Er ging keiner Arbeit nach, lebte von seinem Erbe und war ein haltloser Säufer. So sahen ihn die Leute, und so sprachen sie auch über ihn.
Im Grunde seines Herzens war und ist er ein freundlicher, großzügiger Mann. Jeder im Dorf hätte ihn um Hilfe fragen können - er hätte geholfen und würde es noch immer tun.

Er gab einige Kontaktanzeigen auf, doch die Frauen, die sich auf diese meldeten, waren wenig angetan von seiner Lebensführung. Martin hatte bereits in den Erstgesprächen nicht damit hinter dem Berg gehalten, dass er trank.
Eine einzige Frau, Greta Ponisch, hatte sich auf eine Beziehung mit ihm eingelassen. Sie gab vor, kein Problem mit Alkoholikern zu haben, denn sie wäre von Natur aus tolerant veranlagt.
Wie sich bald herausstellte, stimmte das, zum Teil wenigstens. Tolerant war sie allemal, auch wenn sich ihre Toleranz lediglich auf den Füllstand der vor ihr stehenden Gläser beschränkte. Die durften ruhig bis zum Rand gefüllt sein.
Anfangs kamen sie gut miteinander aus, dies vor allem aus einem Grund: Sie waren meist zu betrunken, um ein ernsthaftes Gespräch miteinander zu führen. Hätten sie ein solches geführt, wären sie schnell dahintergekommen, dass sie lediglich durch das Laster der Trunksucht miteinander verbunden waren.

Sie hatten nichts gemein. Greta Ponisch war sechs Jahre älter als Martin Sehn und hochverschuldet. Ihr Mann, ebenfalls ein Alkoholiker der übelsten Sorte, hatte sie im Stich gelassen. Erst hatte er Kredite aufgenommen und seine Frau mit Versprechungen auf eine rosige Zukunft, welche diese in ihrer Trunkenheit nur allzu gern geglaubt hatte, dazu gebracht, als Bürgin zu fungieren. Dann hatte er sich das von den Banken bewilligte Geld auszahlen lassen und es mit Alkohol und Frauen von schlechtem Ruf durchgebracht. Nachdem alles aufgebraucht war, hatte er sich auf dem Dachboden einen Strick um den Hals gelegt. Greta sah in Martin einen Rettungsanker, ein Tau, das sie aus ihrer misslichen Lage hätte befreien sollen.

Anfangs lief es gut. Sie wachten gegen Mittag auf und starteten mit Bier in den Tag. Danach saßen sie auf der Veranda, spielten Karten, und Greta lauschte gebannt Martins Erzählungen. Er erzählte ihr von seiner Lehrzeit, seinem Großvater und wurde nicht müde ihr zu sagen, wie glücklich er war, endlich eine zu ihm passende Frau gefunden zu haben. Sie glaubte ihm nur allzu gern, doch jedesmal wenn er anklingen ließ, dass er es für an der Zeit hielt, mit dem Trinken Schluss zu machen und eine Familie zu gründen, schenkte sie ihm ein weiteres Glas ein.
Eine Sommergrippe warf ihn für drei Wochen aufs Bett. Während dieser Zeit durfte er nicht trinken, denn der Dorfarzt hatte ihm Antibiotika verschrieben. Greta Ponisch indes trank weiter.
Nach diesen drei Wochen war er völlig ausgenüchtert und vom Alkohol entwöhnt. Währenddessen hatte er erkannt, mit welcher Frau er sich eingelassen hatte. Er führte ein ernstes Gespräch mit ihr, welches in einem bösen Streit endete. Am nächsten Tag warf er sie aus dem Haus.

Peter Mierz beglückwünschte ihn zu dieser Tat und hoffte insgeheim, dass das unschöne Ende dieser Beziehung der Weckruf für seinen Freund gewesen wäre, den Alkohol bleiben zu lassen.
In der Tat brachte Martin es fertig, weitere drei Wochen nüchtern zu bleiben. In dieser Zeit dachte er jedoch oft über seine nunmehrige Einsamkeit nach und griff doch wieder zur Flasche. Er war es leid geworden, in die Stadt zu fahren, um Frauen in Nachtlokalen zu treffen, also verlegte er sich auf das Frequentieren der drei Gasthäuser des Dorfes.
In allen wurde er freundlich aufgenommen, denn aufgrund seiner im Ort bekannten Trinkfestigkeit galt er von vornherein als guter Gast. Allerdings war Martins Beweggrund, die Wirtshäuser aufzusuchen, mitnichten das Trinken großer Mengen - die konnte er ebensogut zu Hause zu sich nehmen, ohne fürchten zu müssen, sich lächerlich zu machen oder gar Lokalverbote zu erhalten. Er besuchte die Spelunken, um Frauen kennenzulernen.

Hierbei tat er sich schwer. Ihm fehlte es an Erfahrung, und er war sich dessen bewusst. Um sich Mut zu machen, trank er vor den Lokalbesuchen jeweils ein paar Gläser Korn. Kam er dann mit Frauen ins Gespräch, so war deren erster Eindruck stets der in ihre Nasen dringende widerliche Geruch von Schnaps. Dies sagten sie ihm in deutlichen Worten, was dazu führte, dass er seinen Mut verlor.
Als er Peter Mierz davon erzählte, erbot sich dieser, Martin zu begleiten und ihm die Frauen vorzustellen, bei welchen sein Freund seiner Meinung nach würde landen können.
Es dauerte nicht lange und die beiden hatten den zweifelhaften Ruf eines Duo Infernale. Peter bekam Wind davon und verzichtete fortan darauf, Martin zu begleiten. Bald gab auch dieser auf.

Als er dreiunddreißig Jahre alt war, war Martin Sehns Sucht so weit vorangeschritten, dass er ein körperliches und seelisches Wrack war. Letzteres, weil seine Gedanken einzig um ein Thema kreisten - Alkohol. Ersteres, weil sich körperliche Verfallserscheinungen zeigten, die nicht einmal der ihn ständig umgebende Dunst von Fusel zum Verschwinden bringen konnte. Die Schmerzen wurden einfach zu stark, und eines Tages klappte er zusammen. Peter fand ihn reglos auf dem Küchenboden und alarmierte die Rettung.
Im Krankenhaus wurde eine akute Entzündung der Bauchspeicheldrüse diagnostiziert und Martin in künstlichen Tiefschlaf versetzt. Als er nach vier Wochen aus dem Koma geholt wurde, führte der behandelnde Arzt ein ernstes Gespräch mit ihm. Martin gab sich einsichtig und stimmte einem stationären Alkoholentzug zu. Er wurde in eine dafür geeignete Klinik verlegt und musste sich erst einmal an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen. Die Monate in der Klinik empfand er keineswegs als Qual oder Strafe, er nahm sie vielmehr als Hilfe wahr, um in ein neues Leben zu finden.

Er hatte erkannt, dass er ein großes Problem hatte, und auch, dass er damit nicht alleine war. Männer und Frauen unterschiedlichen Alters und aus allen Gesellschaftsschichten ließen sich dort helfen. Martin nahm an Einzeltherapiestunden ebenso teil wie an Gruppensitzungen und sportlichen Aktivitäten. Nach drei Monaten wurde er entlassen, als für den Moment geheilter, doch lebenslang gefährdeter Alkoholiker.
Peter Mierz fuhr ihn nach Hause, wo Martin als erste Handlung alle alkoholischen Getränke wegschüttete.

Es war noch genug Geld von seinem Erbe übrig, also ließ er sich in einem Nebengebäude eine Schmiede einrichten und übte zum ersten Mal in seinem Leben seinen erlernten Beruf aus. Er wurde Kunstschmied.
Es dauerte einige Zeit, bis er wieder sämtliche handwerklichen Fähigkeiten erlangt hatte, die sein Lehrherr ihm beigebracht hatte, doch danach wurde er zu einem gefragten Handwerker.

Seine Eltern nahmen wieder Kontakt zu ihm auf, und allmählich wurde er zu einem im Ort geachteten Mann. Wann immer über ihn gesprochen wird, findet die Tatsache, dass er dem Alkohol verfallen war und beinahe an ihm gestorben wäre, Erwähnung, doch ist es so, dass ein Mann mit Ecken und Kanten seinen Mitmenschen im Allgemeinen mehr gilt als ein aalglatter.
Vom Alkohol hat er sich seit seinem Aufenthalt in der Klinik ferngehalten, wohl wissend, dass ein einziger Tropfen ihn zurück in die Hölle der Trunksucht befördern könnte.

Eine Frau hat er, wie auch sein Freund Peter Mierz, noch nicht gefunden. Er hat jedoch die Hoffnung nicht aufgegeben. Im Bezirksanzeiger steht unter der Rubrik Vermischtes / Kontakte seit ein paar Monaten folgender Text zu lesen: ‘Sehn sucht! Erfolgreicher Kunstschmied, 37, 180 cm, sucht Frau im Alter von 35 bis 37 Jahren zum gemeinsamen Altwerden. Strikte Antialkoholikerin erwünscht!’

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 17037

Der Traum im Lärm

Ich schlafe unruhig, ganz so, als wäre meine Unterlage plötzlich hart geworden, hart wie Stein oder Holz. Mein unruhiger Schlaf wird wohl vom Lärm verursacht, der mich umgibt.
Diesen Lärm näher zu definieren ist mir nicht möglich, denn obwohl ich nicht wirklich tief schlafen kann, befinde ich mich in einer Art leichten Schlummers.
Ich träume gerade von meiner Freundin, die mich letzte Woche erst betrogen und dann verlassen hat. Es ist eigentlich ein Albtraum, den ich habe, doch plötzlich - Lärm, der mich aus dem Traum reißt.
Ich versuche mich von diesem nicht stören zu lassen und denke intensiv an die schöne Zeit, die ich gerade mit meiner Freundin habe, an die Spaziergänge und Schäferstündchen, und an das geplante gemeinsame Abendessen in zwei Tagen.

Eine Hand fasst meine Schulter zärtlich an, und eine vertraute Frauenstimme flüstert mir ins Ohr: „Michael, wach auf.“

Doch ich will nicht aufwachen. Ich habe mich für zwei Monate von der Arbeit freistellen lassen, um Zeit mit meiner Freundin verbringen zu können. Ich konzentriere mich auf den Urlaub, den wir gemeinsam verbringen werden. Zwei Wochen auf den Seychellen; ich habe meine Freundin eingeladen - Ehrensache.
Nächste Woche wollen wir einkaufen gehen. Meine Freundin braucht ein paar neue Bikinis, und auch ich sollte mich endlich von meinen Badehosen trennen, die mittlerweile verwaschen und ausgebleicht sind.
Der Lärm wird lauter. Ich überlege, aus meinem Halbschlaf hochzufahren und die Quelle des Lärms ausfindig zu machen, doch da ich gerade Pläne für unsere Zukunft schmiede, unterlasse ich das.
Ich werde meiner Freundin auf den Seychellen einen Heiratsantrag machen. Ich bin sicher, sie haben dort einen Standesbeamten und einen Priester. Dann können wir, wie schön, gleich dort am Strand heiraten. Ich bin sicher, dass sie Kinder von mir will. Wir könnten in das Haus meiner Eltern ziehen, das ist groß genug für eine zweite Familie.

Wieder werde ich an der Schulter angefasst. Doch jetzt ist die Stimme der Frau, der die Hand gehört, nicht so liebevoll wie zuvor. „Michael, ich störe dich nur ungern, aber ich muss in zwanzig Minuten abrechnen. Möchtest du ein einundzwanzigstes Glas Bier, oder soll ich dir die Rechnung bringen?“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten |Inventarnummer: 17036

 

Die Küche liegt auf der Straße

An einem warmen Nachmittag im Mai des Jahres 2014 ging Peter Gruber den Wiener Donaukanal entlang, um sich die Kunstwerke dort anzusehen. Er hielt zwar nicht viel von Graffiti, doch die Unermüdlichkeit, mit welcher die Sprayer alte Werke übermalten, um neue auf der dann einfarbigen Grundierung zu erschaffen, faszinierte ihn.
‘Was ist ein Bankraub gegen die Gründung einer Bank’, las er auf einem Plakat, das jemand achtlos auf ein Graffito geklebt hatte. Peter schmunzelte, hatte er doch mit der Unersättlichkeit der Banken seine Erfahrungen machen müssen. Selbst als er kein Geld mehr besessen hatte, war er von ihnen verfolgt worden, sowohl gerichtlich als auch persönlich, hatte ihm doch eine Bank tatsächlich einen Geldeintreiber nach Hause geschickt.

Gruber genoss diesen Tag. Er saß auf einer Bank und sah den Schiffen beim Vorbeifahren zu, er beobachtete die Möwen und Kormorane, die sich auf der Wasseroberfläche niederließen, sobald sich diese wieder beruhigt hatte, und auch die Menschen, die in großer Zahl an ihm vorbeischlenderten.
Da er nichts Besseres zu tun hatte, tat er es ihnen gleich und spazierte den Kanal entlang. Die Graffiti wurden weniger, und schließlich gab es keine mehr zu bewundern, also richtete Peter seine Aufmerksamkeit auf den sandigen Streifen neben dem asphaltierten Weg.

Es dauerte nicht lange, und er entdeckte eine Gabel, die jemand achtlos weggeworfen hatte. Sie war zwar aus Metall gefertigt, doch äußerst unsauber gearbeitet. Die Zinken waren stumpf und ihre Kanten nicht abgerundet, doch war sie des Weggeworfenwerdens nicht wert. Peter legte die Gabel in seinen Rucksack, den er beim Spazierengehen stets auf dem Rücken trug.
Er fragte sich, was wohl in Menschen vorgehen mochte, die Gabeln auf Wege warfen, die auch von Kindern und Hunden begangen wurden. Eine alte Frau hatte ihn beobachtet und lobte ihn dafür, dass er die Gabel an sich genommen hatte. Er gehörte offenbar nicht der modernen Wegwerfgesellschaft an.

Peter schlenderte weiter und wurde zum ersten Mal in seinem Leben Zeuge eines erbitterten Luftkampfes. Zwei Nebelkrähen, die wohl auf einem der Bäume neben dem Kanal nisteten, hatten offenbar eine gut genährte Taube als ihre Abendmahlzeit auserkoren und machten Jagd auf den kleineren Vogel. Sie stießen immer wieder auf die Taube herab, die ihre Rettung in der Flucht suchte, denn Gelegenheiten in Deckung zu gehen gab es an dieser Stelle keine. Das Ende der Taube schrieb Peter eher einem Unfall zu denn der gewieften Jagdtechnik der Krähen. In offenbar großer Panik schätzte die Taube nämlich sowohl ihre eigene Fluggeschwindigkeit als auch die Distanz zu einem Brückenpfeiler falsch ein und flog gegen diesen.
Peter eilte zu dem verletzten Vogel, hob ihn hoch und wollte gerade ein paar beruhigende Worte sprechen, als dieser sein Leben aushauchte. Er blickte um sich, und da ihn niemand beobachtete, legte er die Taube in seinen Rucksack.

Peter Grubers Jagdfieber war erwacht. Er hatte eine Gabel und eine fette Taube. In Gedanken fertigte er eine Liste von Dingen an, die er nun noch brauchte. Ein Grillrost stand auf dieser Liste an erster Stelle.
Da das Grillen am Donaukanal verboten war, war er gezwungen, sich zur Donauinsel zu begeben. Auf dem Weg dorthin war er ein weiteres Mal vom Glück begünstigt. In einem verrufenen Viertel fand er eine Geldbörse auf dem Gehsteig. Er öffnete sie, und da er in ihrem Inneren keinen Hinweis auf den Besitzer finden konnte, nahm er die einhundertzwanzig Euro, die darin waren, an sich.

Auf der Donauinsel bot sich Peter ein ähnliches Bild wie beim Donaukanal. Viele Menschen spazierten, ließen ihre Hunde frei laufen und einige spielten sogar Fußball. Es gab etliche Grillplätze, die gut besucht waren, und noch mehr Grillende, die ihre zumeist runden Grills selbst mitgebracht hatten. Auf den Rost eines solchen Kugelgrills hatte er es abgesehen. Ein Blick zum Himmel machte ihn sicher, dass das Glück an diesem Tag auf seiner Seite war. Dunkle Wolken am Horizont verhießen Regen, was bedeutete, dass die grillenden Menschen die Insel bald fluchtartig verlassen würden. Er brauchte also bloß abzuwarten, um zu seinem Rost zu kommen.

Den zweiten Posten auf seiner Liste, Grillkohle, würden sie vermutlich ebenfalls zurücklassen, und zwar in einem Papiersack, was bedeutete, dass er genug Material, nämlich Papier, zum Anzünden haben würde.
Nun brauchte er noch ein Messer, um die Taube ausnehmen zu können, ein Feuerzeug oder Streichhölzer und ein paar Gewürze.
Peter Gruber ging zu den Daubeln, fest mit dem Ufer verbundene schwimmende Fischerhütten, und suchte in deren Umgebung das Unterholz nach den noch benötigten Dingen ab. Ein oranges Stanleymesser, das er in der Nähe der dritten Daubel fand, erschien ihm für seine Zwecke ausreichend, zumal die Klinge beinahe neuwertig war. Er entfernte den von Rost befallenen ersten Teil der Abbrechklinge ab und steckte das Messer in die Seitentasche seines Rucksacks.

Kurz dachte er daran, in eine der Hütten einzusteigen, um sich Gewürze zu beschaffen, doch verwarf der diesen Gedanken rasch wieder. Er war zwar arm, aber kein Dieb, und schon gar kein Einbrecher. Er beschloss, mit den Gewürzen bis zum Schluss zu warten. Er hatte zwar das Geld aus der gefundenen Börse bei sich, doch wollte er nicht in einen Supermarkt gehen und Gewürze kaufen - dies hätte Peters Sammlungsergebnis für diesen Tag zu stark beeinflusst.
Er wanderte eine Stunde auf der Donauinsel umher, fand ein Feuerzeug, das zwar wenig Gas in sich hatte, aber noch brauchbar war. Dann setzte ein starker Platzregen ein, und wie von ihm vorausgesehen, verließen die Grillenden die Insel.
Peter fand einen Sack Grillkohle, der noch genügend Brennmaterial für das Grillen der Taube beinhaltete, und einen runden Rost, der auf einigen aufgeschichteten Ziegelsteinen lag.
Zufrieden mit diesem Tag machte er sich auf den Weg in sein Zuhause. Den Rost trug er in seiner linken Hand, den Rest im Rucksack.

Zu Hause erwartete ihn seine Frau, bei und von der er lebte, bereits. Sie stand im Vorzimmer ihrer geräumigen Wohnung und hielt einen großen schwarzen Müllsack geöffnet in ihren Händen.
Seufzend leerte Peter Gruber den Inhalt seines Rucksacks in den Müllsack und warf den Grillrost ebenfalls hinein.
Mit der Information ausgestattet, dass es sich bei ihm um einen unverbesserlichen Geizkragen handelte und er endlich sowohl seinen Therapeuten als auch das Arbeitsamt aufsuchen sollte, folgte er seiner Frau ins Esszimmer, auf dessen Tisch bereits ein dampfender Kalbsbraten stand.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen |Inventarnummer: 17020

 

Dorfgeflüster

Es war eine kalte, neblige Novembernacht, die Greta Schinagl sich ausgesucht hatte, um auf den Kugelberg zu gehen. Dorthin war sie schon immer gegangen, wenn Probleme sie belastet hatten. Die Ruhe, die der Wald ausstrahlte, hatte ihr viele Male dabei geholfen, ihre Gedanken zu ordnen und Lösungen zu finden.
Greta ging durch den Wald und dachte an ihre Tochter Maria, die von allen Mitzi genannt wurde. Diese hatte ihr nur Stunden vor dem Spaziergang eröffnet, dass sie Hans Maier, ihren Verlobten, verlassen und an Peter Meisters Seite wechseln würde.

Greta war bestimmt keine konservative Frau, die eine solche Nachricht aus der Bahn geworfen hätte, doch war Hans Maier nicht Mitzis erster Verlobter gewesen. Zuvor hatte sie Martin Schuster, Alois Möstl und Walter Mierz ihre Verlobungsringe zurückgegeben. Das ganze Dorf wusste über Mitzis Umtriebigkeit in Liebesangelegenheiten Bescheid, und das belastete Greta, die stets um Diskretion bemüht war.
Hinter vorgehaltener Hand wurde Mitzi der Liederlichkeit bezichtigt, auch wenn es natürlich so war, dass sich etliche junge Männer Hoffnungen machten, mit dem attraktiven Fräulein zusammenzukommen.

Als Greta Schinagl sich einer alten Buche näherte, an deren Stamm gelehnt sie gerne verweilte, fühlte sie, dass etwas anders war als sonst. Sie war nicht alleine im Wald. Sie hörte das Brechen von Zweigen auf dem Waldboden und bald sah sie eine kleine Frau auf sich zukommen. Eine Wolke gab den Vollmond frei und sie erkannte, dass es sich bei der Frau um Waltraud Klinger handelte.
Diese war im Dorf als eine Frau bekannt, die über magische Kräfte verfügte. Sie hatte mit ihrer Zauberkunst schon vielen Menschen geholfen, doch hatten die Leute auch Angst vor ihr. Sie fürchteten nämlich, dass Waltraud ihre Magie gegen sie einsetzen könnte, wenngleich die friedliebende Hexe nie in Streitigkeiten verwickelt war.

„Kalt ist es heute“, stellte Waltraud fest.
„Ja, Waltraud, das ist es“, pflichtete ihr Greta bei und seufzte.
„Mitzi hat wohl wieder einen Neuen. Oder bist du aus einem anderen Grund in den Wald gegangen?“
„Ich weiß nicht, was mit meiner Tochter los ist!“, rief Greta.
„Ich könnte dir helfen.“
„Wie denn? Bei Mitzi ist doch Hopfen und Malz verloren!“
„Ich habe einen neuen Zauberspruch formuliert, der deine Tochter auf den rechten Weg zurückbringen wird. Allerdings verlange ich eine Gegenleistung.“
„Ich habe nicht viel Geld, Waltraud, aber was ich dir geben kann, sollst du erhalten.“

Die Hexe winkte ab, Geld interessierte sie nicht. Sie flüsterte in Gretas Ohr, was ihr Hexenlohn werden sollte.
„Nein!“, entfuhr es Greta. „Das Rezept für meine Haferkekse ist ein uraltes Familiengeheimnis. Ich kann es dir einfach nicht geben.“
„Das ist sehr schade, vor allem für deine Tochter.“
„Wofür brauchst du es denn? Du bist doch eine Hexe. Dir muss es doch ein Leichtes sein, dieses Gebäck auf den Tisch zu zaubern.“
„Das mag schon sein, doch hexe ich niemals für mich selbst. Ich finde, dass sich das nicht gehört.“
„Kann ich dir etwas anderes geben?“
„Nein, Greta. Ich will das Rezept. Das kann doch nicht zu viel verlangt sein - als Gegenleistung dafür, dass Mitzi endlich ein normales Leben führt.“

Greta Schinagl überlegte zwei Minuten, und schließlich willigte sie ein.
Waltraud murmelte den Zauberspruch, während Mitzis Mutter das Rezept auf ein Blatt Papier schrieb, das sie in ihrer Jackentasche gefunden hatte.
Zwei Tage später besuchte Mitzi ihre Mutter.
„Mama, ich habe beschlossen, Hans doch zu heiraten. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich geritten hat, ihn zu verlassen.“
Greta lachte innerlich. Sie wusste sehr wohl, was der Grund für den Sinneswandel ihrer Tochter war.
„Es freut mich sehr, dass du Hans nicht verlässt, Mitzi. Er ist ein netter Mann, und ihr werdet bestimmt glücklich.“

Die Nachricht machte rasch die Runde im Dorf, und von einem Tag auf den anderen wurde nicht mehr schlecht über Mitzi Schinagl geredet.
In Dörfern ist es oft so, dass ein Mensch schnell die Gunst der anderen verliert, doch wenn sich eine Kleinigkeit ändert, wenn er den Vorstellungen der anderen plötzlich entspricht, ist er wieder wohlgelitten - obwohl er derselbe Mensch ist.

Drei Wochen nach der Hochzeit von Mitzi und Hans pochte es an Greta Schinagls Haustüre.
Die Hexe stand davor und rief: „Du hast mich betrogen!“
„Ich habe dich nicht betrogen, Waltraud“, antwortete Greta.
„Doch, das hast du! Die Haferkekse wollen mir einfach nicht gelingen. Du hast mir bestimmt eine Zutat verschwiegen!“
Sie hielt Greta das Rezept vor die Nase. Greta las, was sie geschrieben hatte.
„Es tut mir leid, Waltraud. Ich habe das Rezept so aufgeschrieben, wie meine Großmutter es mir damals überliefert hat.“
„Ich glaube dir nicht!“, rief die Hexe. „Aus diesem Grund sehe ich mich gezwungen, die Wandlung deiner Tochter zum Guten hin rückgängig zu machen.“
„Nein, Waltraud, das darfst du nicht tun! Was soll dann aus dem armen Kind werden?“
„Das ist mir gleichgültig, Greta!“

Die Hexe lief davon, und Greta lag die ganze Nacht wach im Bett. Die Sorge um die Zukunft ihrer Tochter ließ sie keinen Schlaf finden.
Waltraud Klinger machte ihre Ankündigung nicht wahr - wenigstens nicht auf die Art und Weise, die Mitzi in alte Verhaltensmuster hätte zurückfallen lassen.
Mitzi erwachte am nächsten Morgen und lief, nachdem sie ihr Spiegelbild gesehen hatte, zu ihrer Mutter.
„Um Himmels willen! Was ist mit dir geschehen, mein Kind?“, stieß Greta entsetzt hervor, als sie ihre Tochter sah.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Mama“, gab Mitzi sarkastisch zurück. „Mir war eben danach, mir über Nacht einen Buckel wachsen zu lassen. Auch die beiden Warzen auf meiner Nase stehen mir gut, findest du nicht?“
Dann brach sie in Tränen aus.

Greta ergriff ihre Hand.
„Das ist meine Schuld, Mitzi.“
„Was hast du getan, Mama?“
Greta erzählte ihr von dem Abend im Wald.
„Hast du Waltraud denn das richtige Rezept gegeben?“
„Ja, Mitzi, das habe ich. Ich weiß nicht, warum sie es nicht fertigbringt, danach zu backen.“
„Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte Mitzi verzweifelt. „So, wie ich aussehe, werde ich zum Gespött des Dorfes!“
„Ich verspreche dir, dass ich eine Lösung finden werde“, sagte Greta Schinagl und verließ das Haus.

Atemlos pochte sie an Waltraud Klingers Türe.
Die Hexe öffnete und sagte: „Gefällt dir deine Tochter, so wie sie nun aussieht?“
„Waltraud“, rief Greta, „ich habe dich nicht betrogen!“
Doch die Hexe hatte kein Interesse daran, das Gespräch weiterzuführen.
„In zwei Tagen kannst du wiederkommen, Greta! Dann sehen wir weiter.“

Mitzis verändertes Aussehen blieb niemandem im Dorf verborgen. Gerüchte machten bald die Runde. Die junge Frau wäre ihrem Verlobten untreu gewesen, und der Fluch die Strafe dafür. Ein anderes besagte, Mitzis Schwiegermutter hätte die Verwandlung bewirkt, um ihr eine Lektion zu erteilen - wofür, das sagte die Person, die das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, nicht dazu.
Zwei Tage später stand Greta Schinagl erneut vor Waltraud Klingers Haustüre.
„Waltraud, bist du nun bereit zu reden?“
„Komm herein, Greta.“

Sie nahmen am Küchentisch Platz, auf welchem die Hexe die Zutaten für die Haferkekse vorbereitet hatte.
„Es wird wohl das Beste sein, wenn du sie vor meinen Augen zubereitest, Greta. Ich werde mir einprägen, was du machst und wie du es machst, und dann backe ich die Kekse vor deinen Augen.“
„Einverstanden“, sagte Greta und machte sich an die Arbeit.
Nachdem die Kekse ausgekühlt waren, kosteten die beiden Frauen davon.
„Sie schmecken so, wie deine Haferkekse immer geschmeckt haben“, stellte Waltraud fest. „Nun backe ich welche.“
Greta sah der Hexe dabei zu, ohne ein Wort zu sagen.
Waltrauds Kekse schmeckten grauenhaft.
„Also, Greta, welchen Fehler habe ich gemacht?“
„Handwerklich hast du alles richtig gemacht, Waltraud.“
„Woran liegt es dann?“
„Du hast die Haferkekse ohne Liebe zubereitet. Alles was man macht, muss man mit Liebe machen. Versuch es noch einmal.“

Die Hexe machte sich erneut ans Werk, und siehe da, diese Kekse schmeckten vorzüglich.
„Wirst du nun den Fluch von Mitzi nehmen?“
„Ja, das werde ich.“
Sie sprach eine magische Formel, und Mitzi war wieder so schön wie sie zuvor gewesen war.
Erneut machten Gerüchte die Runde, doch dieses Mal sorgte Greta Schinagl dafür, dass sie schnell verstummten.

Beinahe alle Dorfbewohner waren im großen Bierzelt auf der Festwiese versammelt, als Greta die Bühne erklomm und folgende Worte an die Anwesenden richtete: „Liebe Mitbürger! Ich weiß, dass ihr euch fragt, was es mit Mitzis Verwandlung und Rückverwandlung auf sich hat. Nun, ich kann euch versichern, dass alles in Ordnung ist.
Ich war erstaunt, wie sehr ihr euch für meine Tochter interessiert habt, und dafür danke ich euch. Nein, bitte seid nicht betreten und senkt eure Blicke nicht! Ich meine das ehrlich. Da habe ich gefühlt, wie viel Liebe in euch steckt. So viel Liebe, wie ihr auf das Erfinden von Gerüchten verwendet habt, habe ich selten erlebt.
Vielen Dank dafür! Ich bin mir nicht sicher, ob sich das gehört, doch habe ich eine Bitte an euch: Legt in Zukunft einfach die selbe Liebe in alles, was ihr macht, also in reale Dinge! Danke!“

Das hatte gesessen. Über Mitzi wurde nicht mehr gesprochen, und auch andere Dorfbewohner und deren Taten wurden nicht mehr zu Zielen des Argwohns, des Spottes oder gar der Lüge.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen |Inventarnummer: 17019

Die neuen Welten der Maria Knehs

Am fünfzehnten April des Jahres 2013 hatte Maria Knehs endgültig genug von dieser Welt. An diesem Tag, exakt zwei Wochen vor ihrem sechzigsten Geburtstag, war ihr Hund gestorben.
»Frau Knehs«, sagte der Tierarzt, »Ihr Spitz hat Krebs. Es ist für Benni das Beste, wenn ich ihn einschläfere. So ersparen wir ihm Schmerzen.«
›Mach nur!‹, dachte sie, zu sprechen war sie nicht in der Lage. ›Wenigstens muss mein Benni nicht leiden, so wie ich. Ach, ich wünschte, ich könnte für immer woanders leben.‹
Mit ›woanders‹ meinte sie keineswegs einen anderen Ort als den kleinen im steirischen Hügelland, in dem sie zur Welt und aus dem sie nie wirklich herausgekommen war. Sie meinte eine andere Welt, einen anderen Planeten gar.

Sie ließ ihren toten Hund in der Praxis des Veterinärs und fuhr zu ihrem kleinen Haus am Rande der Ortschaft. Dort angekommen, rief sie ihre Tochter Monika an, die in Graz lebte.
»Moni, der Benni ist tot. Er wurde eingeschläfert«, weinte sie in den Hörer. »Wann fliegen wir wieder? Ich denke, dieses Mal bleibe ich oben.«
Monika Knehs seufzte. »Das tut mir leid für dich, Mama«, sagte sie halblaut. »Ich kann im Augenblick nicht mit dir reden. Manfred ist gerade eingeschlafen und du weißt ja, was für ein Theater er macht, wenn ich ihn wecke.«

Manfred war Monikas elfjähriger Sohn, der geistig behindert zur Welt gekommen war und der es überhaupt nicht schätzte, bei etwas gestört zu werden, egal, was er gerade machte. Sie hatte sich drei Monate nach seiner Geburt von seinem Vater getrennt, da dieser seinen Sohn weder akzeptieren konnte noch wollte. Nachdem erwiesen war, dass die Behinderung des Kindes schwer ausfallen würde, machte der Mann Monika Vorwürfe, sie wäre schuld an diesem Unglück. Bald jedoch ließ er das bleiben und ging dazu über, ihr Ohrfeigen zu verabreichen, worauf sich Maria Knehs gezwungen sah einzuschreiten.
Ihre Tochter hatte sie weinend angerufen und um Hilfe gebeten. Maria stieg sogleich in ihren Kleinwagen und fuhr zu ihrem hochschwangeren Kind. Mit tatkräftiger Unterstützung der als ruppig bekannten Grazer Polizei wies sie den Unhold aus der Wohnung und blieb drei Tage lang bei Monika.

Diese Zeit belastete Maria Knehs sehr. Zum einen, weil sie in all die Vorkommnisse eingeweiht wurde, die sich zwischen Monika und diesem Mann zugetragen hatten, zum anderen hatte sich Michael, ihr Sohn, soeben ein weiteres Mal auffällig verhalten.
Während Monika, die um drei Jahre jünger war als ihr Bruder, ihre Arbeit als Krankenschwester vorbildlich verrichtete, war Michael ein problematischer Fall. Er betrachtete sich nämlich als Künstler und führte ein entsprechendes Leben. Er hatte keine Arbeit, kein Geld und keine Frau. Er trank, schlief bei Freunden auf dem Sofa und bat seine Mutter in regelmäßigen Abständen um Geld.

»Es ist zum Verzweifeln mit dem Buben!«, sagte sie oft. »Klar, er hatte nie ein männliches Vorbild, weil er ohne Vater aufwachsen musste. Aber irgendwann muss er doch vernünftig werden! Nur Skulptur, Malerei und Alkohol ist zu wenig!«
Gustav Knehs, Marias Ehemann, war kurze Zeit nach Monikas Geburt bei einem schweren Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Daraufhin hatte sie ihre beiden Kinder alleine großgezogen. Da ihr Mann eine gute Lebensversicherung abgeschlossen hatte und ihre Eltern ihr eine hübsche Summe hinterlassen hatten, konnte sie es sich leisten, ihren Job als Volksschullehrerin aufzugeben, um sich ganz ihrem Nachwuchs zu widmen.

Jedenfalls war Michael auffällig geworden. Wieder einmal. Er hatte sich als Nacktkünstler versucht und unbekleidet eine Aktion auf dem Grazer Hauptplatz zelebriert, als dort gerade einige Klosterschwestern friedlich gegen die Kriege und für Gott demonstrierten. Es kostete Maria viele Worte und einige Scheine, ihren Sohn aus den Fängen der Polizisten freizukaufen. Eine Entschuldigung bei den Ordensfrauen war auch vonnöten. Die versprachen, für Michael zu beten.
»Frau Knehs, ich muss Sie aber bitten, sich keine allzu großen Hoffnungen zu machen«, sagte die Äbtissin. »Ich fürchte nämlich, dass Michaels Zug schon zu weit gefahren ist, als dass Gebete ihn noch aufhalten könnten. Meiner Ansicht nach kann bloß noch die Schulmedizin Ihrem Sohn die Hilfe geben, die er offensichtlich benötigt.«
Daraufhin konnte sie ihren Sohn überreden, seine Tabletten wieder zu nehmen, und bald legte sich sein Wahnsinn.
›Er ist ja ein guter Junge‹, dachte sie oft. ›Er scheint halt nicht für diesen Planeten geschaffen zu sein. Er müsste auf einem anderen leben dürfen, dann wäre er sicherlich ein anerkannter Künstler, von mir aus auch nackt.‹

Zu dieser Zeit dachte Maria Knehs oft über ihr Leben nach. Sie hatte, das Wort ›eigentlich‹ kam ihr dabei häufig in den Sinn, alles richtig gemacht, oder wenigstens nichts allzu falsch. Sie war eine hübsch anzusehende, einigermaßen gut situierte Frau, die zwei erwachsene Kinder hatte. Eines von diesen war sogar, und das wurde ihr von sämtlichen Bewohnern des Dorfes bestätigt, wohlgeraten. Sie war gutherzig, großzügig und ihren Mitmenschen gegenüber stets freundlich und zuvorkommend. Schlechte Manieren waren ihr nämlich ein Graus. Dass ausgerechnet ihr Erstgeborener solche gerne und oft an den Tag legte, erfüllte sie mit Trauer. Nie hatte sie sich etwas zuschulden kommen lassen, von der Sache mit Willibald einmal abgesehen.

Willibald Grampert war ein übel beleumundeter Geselle, ein echter Nichtsnutz. Ein Tischler, gemacht aus dem schlechtesten Holz, das war er. Nicht nur, dass er seinen Lehrbuben ihre Ausbildungszeit ganz und gar vergällte durch Tritte, Schläge und unflätiges Geschrei, er hatte auch den Hang dazu, Frauen nicht eben gut zu behandeln. Grampert war ein im ganzen Ort verhasster Mann, doch wagte niemand, etwas gegen ihn zu sagen, war er doch der Ortsparteiobmann der Rechten.
Eines Tages erfuhr Maria Knehs, dass er sich mit Jennifer Wildbolz eingelassen hatte. Sie, die fünfzehnjährige Tochter des Betreibers mehrerer Solarien, hatte sich den dreiundvierzigjährigen Tischler angelacht. Maria dachte zwei Tage lang über dieses Gespann nach, dann informierte sie den Landesparteichef der Rechten, der ein widerlicher Ingenieur mit Schmissen im Gesicht war, persönlich über die Vorlieben seines Ortsobmannes. Willibald Grampert beendete die Mesalliance und wurde, auch was seine politische Gesinnung anging, katholisch.

Es waren die Umstände und die Zustände, auf die sie keinen Einfluss hätte nehmen können, die Maria Knehs verzweifeln ließen. Die Menschen reagieren in solchen Situation auf unterschiedliche Arten. Manche flüchten sich in den Rausch, andere in die Nervenheilanstalt und ein paar scheiden gar aus dem Leben. Nicht so Maria.
Wurde ihr die Verzweiflung unerträglich, stellte sie sich einfach vor, auf einem anderen Planeten zu leben. Und zwar auf einem, wo alles gut war. ›Omega‹ hieß dieser, doch wusste seine Erdenkerin nicht, wie sie auf diesen Namen gekommen war.
Auf Omega schien, wenn es nicht gerade Nacht war, stets die Sonne, und obwohl es ein von blühenden Bäumen und Sträuchern bestandener Planet war, regnete es dort nie. Kein Wölkchen trübte das Blau des Himmels. Es gab viele Tiere, doch befanden sich unter ihnen keine Beutegreifer allzu brutaler Wesensart. Maria bewohnte ein weiß gekalktes geräumiges Haus, dessen Zimmer schlicht, aber schön möbliert waren. Es gab einen großen Schwimmteich, eine Sauna und einen Pferdestall, doch Zaun gab es keinen. Ein solcher wäre auch gar nicht notwendig gewesen, denn es musste niemand davon abgehalten werden, ihren Rückzugsort zu betreten.

Auf Omega war Maria Knehs alleine.
Er war ein Planet des Glücks für sie. Keine Kriege wurden dort geführt, keine Verbrechen begangen, und die Kunst war Kunst im besten Sinne. Ihre Tage auf Omega brachte sie mit Lesen und Kochen zu, und wenn sie informiert und satt war, dann steigerte sie ihr ohnehin vollständiges Glück um noch ein kleines bisschen, indem sie es auf dem Rücken ihres Schimmels in sich sog.
Wann immer es ihr auf der Erde zu viel wurde, flog sie auf Omega. Bereits in der ersten Minute nach ihrer Ankunft dort fielen alle Sorgen von ihr ab, Rindenbrocken gleich, die von einem Baumstamm fallen.
Auch am letzten Tag, den sie auf Omega verbrachte, der gleichzeitig der letzte der Existenz dieses imaginären Planeten war, verhielt es sich so.
›Nun stehe ich wieder auf deinem Boden, mein Omega!‹, dachte sie. Sie entkleidete sich und öffnete die Türe ihrer Sauna.

Diesen Besuch hatte sie auch bitter nötig, denn Michael hatte wieder einmal einen Skandal provoziert, oder besser gesagt: eine ganze Reihe von Skandalen.
Irgendwie hatte Michael es fertiggebracht, als Künstler durchzugehen. Sogar in der Zeitung war er ein paarmal erwähnt worden, wenngleich diese Aufmerksamkeit eher seinem Hang zur Nacktheit geschuldet war als seiner Kunst.
Jedenfalls, alles begann mit einem Kunstwerk, das er erschaffen hatte. In einem riesigen Aquarium, voll mit Formaldehyd, wurde ein Bullenhai von einem Schwarm Karpfen mit Piranhazähnen attackiert. ›Die große Rache der Karpfen‹ hieß das Werk, das den ersten Eklat auslöste. ›Der Nacktkünstler als exemplarischer Wahnsinniger‹, so betitelte ein Magazin einen Artikel, in welchem Michaels Fischwerk analysiert wurde.

Maria Knehs las diesen Artikel und wagte zwei Tage lang nicht, ihr Haus zu verlassen, so groß war ihre Furcht vor hämischen Kommentaren der Leute im Dorf. Also flog sie auf ihren Planeten.
Nur zwei Wochen nach diesem Vorfall wurde der Künstler Michael Knehs weit über die Grenzen der Steiermark hinaus bekannt und berüchtigt.
Das Grazer Frauenkloster hatte ihn beauftragt, eine Skulptur für den Klostergarten zu erschaffen. Die Nonnen, die seine Nacktaktion keineswegs vergessen hatten, hatten ihm mit diesem Auftrag unter die Arme greifen wollen. Es kam der Tag der Enthüllung. Eine Klosterschwester fiel sofort in Ohnmacht, den anderen trieb es die Schamesröte ins Gesicht beim Anblick dessen, was sich da vor ihnen entphallte.

Maria Knehs bat ihren Sohn, doch wieder seine Pillen zu schlucken, doch dieser lehnte mit der Begründung ab, dass ein Drogenfreak, und ein solcher wäre er mittlerweile, keine herkömmlichen Medikamente bräuchte. Dann forderte er Geld von ihr.
»Ich weiß nicht, wie ich Michael noch helfen kann!«, sagte sie zu ihrer Tochter.
»Vergiss ihn. Der wird nicht mehr«, lautete deren Antwort.
Auf Omega fand Maria Trost.
Als Michael öffentlich ankündigte, die Paarung eines Ebers mit einem Stier filmisch dokumentieren zu wollen, wobei er den Eber an des Stiers Kehrseite platzieren wollte, war das Maß voll und des Künstlers Belohnung die Zwangseinweisung in die Grazer Irrenanstalt.

Maria Knehs besuchte ihren Sohn dort mehrere Male, konnte sich jedoch kaum mit ihm unterhalten, so sediert war er von den schweren Medikamenten.
Nach ihrem letzten Besuch beschloss sie, dass es an der Zeit war, eine ganze Woche auf Omega zuzubringen.
Sie öffnete also die Saunatüre auf ihrem perfekten Planeten. ›Das wird mir guttun‹, dachte sie noch. Dann schrie sie laut auf. In ihrer Sauna saß Michael, nackt, grinsend und die ausgestreckte rechte Hand vor ihr Gesicht haltend, offensichtlich in Erwartung einer gewissen Summe an Bargeld. Dann sprach er auch noch.
»Hallo, Mama. Schön hast du es hier! Ich denke, ich werde für eine Weile« - weiter kam er nicht.
Maria Knehs packte ihren verrückten Sohn an der Hand und flog mit ihm zur Erde zurück. Über der Klapsmühle ließ sie ihn los. Er fand den Weg an den Ort seiner Bestimmung, sie den zurück in ihr Haus.

Omega, ihren Planeten, ließ Maria in der Sonne verglühen. Eine gleißende Explosion von Licht, und alles war vorbei.
»Monika, mein imaginärer Planet ist verglüht!«, schluchzte sie ins Telefon.
»Das macht nichts, Mama«, beruhigte Monika Knehs ihre Mutter. »Dann kommst du mit auf Epsilon. Alleine wird es mir dort allmählich langweilig.«

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques |Inventarnummer: 17018

 

Mahlzeit

Gestern hatte ich meinen Lieblingsmenschen bei mir zu Hause. Ich hatte diesen Menschen zum Abendessen eingeladen.
Ich darf sagen, dass ich zeit meines Lebens Freude am Kochen gehabt habe. Es hat mich entspannt, das Kochen. Und dieses gestrige Abendessen sollte die Krönung meiner Leistungen hinsichtlich der Zubereitung köstlicher Abendmahle werden, und es wurde fürwahr die Krönung.

Mein Lieblingsmensch kam pünktlich, und wir nahmen einen Aperitif im Stehen ein, an meiner Bar in meinem geräumigen Wohnzimmer.
In diesen Aperitif tat ich eine Prise Paracetamol und auch eine geringe Menge vom besten bolivianischen Kokain, das beste, und leider auch teuerste, Kokain, das ich in meinem Leben genossen habe.

Ich kann sagen, dass ich für dieses Abendessen weder Kosten, was die hochpreisigen Zutaten anlangt, noch Mühen hinsichtlich der Beschaffung ebendieser Ingredienzien gescheut habe. Und darauf, also auch auf mich, bin ich fürwahr stolz. Jawohl. Heute bin ich zum ersten Mal in fünfunddreißig Jahren stolz auf mich, und dieses Gefühl des Stolzes werde ich für die restliche Lebenszeit, die mir verbleibt, auskosten. Also für die nächsten zwei Stunden.

Ich muss erwähnen, dass ich dem Aperitif, den wir aus meinen guten Lobmeyr-Gläsern genossen haben, auch eine geringe Menge des Giftes des Inlandtaipans zugesetzt habe, jedoch wirklich sehr wenig davon, denn die Wirkung dieses Stoffes, nämlich das Blut stocken, es verklumpen zu lassen, wollte ich keinesfalls erzielen. Ich wollte lediglich sicherstellen, dass der Geschmack des Aperitifs nicht unter dem Fehlen einer essenziell wichtigen Substanz leidet.
Die Gegenmittel, die ich zuvor, in vielfältiger Art und reichlicher Menge, eingenommen hatte, taten mir gut.

Nach dem Aperitif wechselten wir in meinen Speisesaal, an dessen Wänden ich meine durchaus beeindruckende Sammlung geladener Schrotflinten hängen habe, und ich bereitete uns ein Carpaccio.
Die Blaubandkraken für das Carpaccio zu beschaffen, hatte sich als ähnlich schwierig erwiesen wie die Beschaffung des Inlandtaipans für den Aperitif. Der Blaubandkrake mundete meinem Lieblingsmenschen sehr, mir im Übrigen ebenfalls, auch die marinierten Stückchen vom Weißen Knollenblätterpilz harmonierten mit dem Aroma des Kopffüßers.

Wir aßen von meinen guten Tellern aus Meissener Porzellan und mit meinem silbernen Besteck. Als Servietten wählte ich frisch abgezogene Haut der Gila-Krustenechse, als optischen Kontrast zum weißen Tischtuch aus Leinen feinster Mailänder Provenienz.

Nach dem Carpaccio vom Blaubandkraken reichte ich eine klare Suppe, die ich aus Schierling und gerösteten schwarzen Tollkirschen gekocht hatte, eine am Gaumen sich wunderbar entwickelnde Kombination. Ich bot meinem Lieblingsmenschen an, eine Einlage in die Suppenteller zu legen, ich hatte Knödel aus der Leber eines Eisbären vorbereitet, doch schlug mein liebes Gegenüber dieses Angebot aus, da mein Lieblingsmensch offensichtlich gesundheitliche Schwierigkeiten hatte, welche sich durch dicke Schweißperlen auf seiner Stirn bemerkbar machten, ebenso durch vernehmliche und übel riechende Winde.
Ich für meinen Teil hatte derartige Schwierigkeiten nicht, obwohl ich festhalten muss, dass die Raumtemperatur in meinem Speisesaal mir durchaus auch Ungemach in Form dicker Schweißperlen bereitete.

Nach einer kurzen Essenspause, in der wir eine selbstgedrehte Zigarette mit bestem marokkanischem Haschisch rauchten, servierte ich Steaks, scharf angebraten, also innen noch beinahe roh, aus den feinsten Stücken des Komodowarans, also aus dessen Zahnfleisch und Zunge. Meinem Gast mundeten die Steaks sehr, ebenso die gedünsteten Blätter der Engelstrompete, die ich als Beilage reichte.
Als Snack, also als kleinen Zwischengang, reichte ich scharf angebratene Schwänze des Gelben Mittelmeerskorpions, wobei ich beim Bratvorgang besonders darauf Acht geben musste, die zarten Reservoire, welche die Essenz der Tiere enthalten, nicht zu zerstören, denn wir nahmen lediglich die Flüssigkeit in diesen Reservoiren zu uns, die Stacheln an den Enden der Skorpionschwänze benutzten wir als Zahnstocher; sie erwiesen sich für diese Art des Gebrauchs als bestens geeignet.

Meinem Lieblingsmenschen schien es wieder besser zu gehen, und so war ich bereit, den nächsten Gang aufzutischen.
Es handelte sich bei diesem um ein leichtes Gulasch vom Schnabeltier, zu welchem ich Knödel aus Semmeln und Eisenhut reichte, denn Eisenhut fügt sich geschmacklich besser in die Kombination aus Schnabeltiergulasch und Semmelknödel, als gewöhnliche Petersilie dies je zu tun vermöchte.

Als Dessert reichte ich Marmorkuchen, jedoch kreativ zubereitet, also nicht nach Großmutters altbekanntem Rezept, vielmehr zielgerichtet verfeinert. Der gelbliche Teil des Marmorkuchens verdankte seine Farbe Hühnereiern mit einer Prise Schwefel, der dunkle Teil einem Brei aus Spinnen, um präzise zu sein Schwarzen Witwen, welchen ich Stücke aus der Leber des Kugelfisches beigemengt hatte, den ich im Tropenhaus des Tiergartens Schönbrunn besorgt, also schlicht gestohlen hatte, indem ich ihn einfach aus dem Wasser geholt hatte.
Die Schwarzen Witwen habe ich fein passiert, um zu verhindern, dass ihre Chitinpanzer sich als störende Objekte in den Zahnzwischenräumen meines Lieblingsmenschen und in meinen eigenen einlagern.

Nach dem Dessert begann es meinem Lieblingsmenschen sehr schlecht zu gehen. Er erbrach Blut auf mein schönes Tischtuch aus Mailand, und plötzlich verstarb er. Er lag mit seinem Oberkörper auf meinem Esstisch und schadete mit seinem nutzlosen Herumliegen der Optik meines schönen Speisesaals.
Ich musste ihn beseitigen und brachte ihn in den Schweinestall. Nachdem meine Säue ihn restlos aufgefressen hatten, starben die armen Schweine.
Nicht wissend, was ich mit den toten Schweinen anstellen sollte, brachte ich sie der Küche der nächsten Volksschule. Als Geschenk, versteht sich.
Kinder sollen ja widerstandsfähig sein. Oder werden.

Und ich für meinen Teil habe jetzt genug. Fünfunddreißig Jahre sind doch ausreichend. Die Reste der Gegenmittel habe ich vernichtet und die Reste des gestrigen Abendessens ins Backrohr geschoben. Ich habe Lust auf eine schmackhafte und wirkungsvolle Quiche. Mahlzeit!

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen |Inventarnummer: 17017

 

Die Morgen danach

Am Morgen des vierzehnten November 2014 erwachte Peter in seinem Einzelbett und wusste gleich, dass etwas anders war als sonst.
Die Sonne schien durch das Fenster. Ihre Strahlen waren ganz anders als in den Tagen davor. Diese Tage waren nebelig und trostlos, schon morgens war klar, dass sie das werden würden. Durch die wabernden grauen Nebelschwaden vermochte die Sonne lediglich in Form von vereinzelten hellgrauen Strahlen zu dringen.

Dieser Morgen jedoch war freundlich. Peter, der es gewohnt war, beim Aufwachen in Ruhe gelassen zu werden, spürte, dass ihm in seinem Bett weniger Platz als gewöhnlich zur Verfügung stand. Schlaftrunken murmelte er einen Morgengruß, erhielt aber keine Antwort.
Dass er bestimmt nicht alleine im Bett lag, merkte er an der Hand, die auf seiner linken Schulter lag. Er drehte seinen Kopf aber nicht zur Seite um zu sehen, wem die Hand gehörte, es war ihm egal. Er genoss den Moment der Wärme, die die Hand abgab. Er machte sich nicht allzu viel aus körperlicher Nähe, suchte selten nach ihr. Wenn es sich jedoch ergab, dass er am Morgen in Gesellschaft war, so nahm er diesen Umstand als die Bestätigung hin, dass seine Verführungskünste wieder einmal eine dankbare Empfängerin gefunden hatten.

Peter war dreiundvierzig Jahre alt. Nach dem Studium der Betriebswirtschaft hatte er in einer großen, international tätigen Bank angefangen und war schnell aufgestiegen, allerdings nur bis in eine bestimmte Ebene der Hierarchie. Eines Tages, nach einer Besprechung, legte ihm der Vorstand für Internationale Geschäfte die Hand auf die Schulter und flüsterte ihm ins Ohr. Wenn Peter seine Aufgaben als Controller bei zwei gewissen heiklen Auslandsgeschäften weniger genau ausführte, ließe sich durchaus etwas machen, erfuhr er. Eine andere Abteilung, die Verdreifachung seiner Bezüge und ein Dienstwagen wurden ihm diskret offeriert. Daraufhin drückte er beide Augen zu, die Geschäfte wurden abgeschlossen, und Peter war ein gemachter Mann.

Er lebte in einer luxuriös eingerichteten Wohnung, trug die teuersten Anzüge, und konnte dennoch keine Frau dazu überreden, bei ihm zu bleiben. Dies lag an der Art seiner Brautwerbung. Als ein Mann, der sich alles kaufen konnte, ging er davon aus, dass dies auch auf den Bereich des weiblichen Geschlechts zutreffen müsste. Wenn er also eine seiner berühmten, und bald auch berüchtigten, Austernpartys gab, und ihm eine Frau ins Auge gestochen war, zögerte er nicht lange, sie darüber in Kenntnis zu setzen, was sie sich als seine Frau alles würde leisten können.

Zwei Frauen hatten sich darauf eingelassen. Die erste, Christina, verließ ihn nach nur drei Monaten, und auch die zweite, Ludmila, suchte bald fluchtartig das Weite, ohne mit Peter vor den Traualtar getreten zu sein. Er war kein Mann fürs Leben, das hatten die beiden schnell herausgefunden. Er arbeitete bis siebzehn Uhr und wollte dann bloß noch seine Ruhe. Dabei ging er sogar so weit, ein zweites Schlafzimmer in seiner Wohnung einzurichten, für die Frau an seiner Seite. An lediglich einem Abend in der Woche standen ihm die Sinne nach Intimität, und nach diesen fünfzehn Minuten verließ er das Schlafgemach, um sich in sein Einzelbett zu legen.

Da keine Frau bei ihm bleiben wollte, obgleich sein Vermögen stetig anwuchs, verlegte sich Peter auf das Bestellen per Telefon. Ein Vorstandskollege hatte ihm eine Telefonnummer gegeben, unter welcher man Frauen ordern konnte.
Diese Hinwendung zur käuflichen Liebe war der Wendepunkt, was Peters Verhältnis zur körperlichen Nähe anlangte. Fürchtend um die teuren Gegenstände, die überall in seiner Wohnung standen und herumlagen, sah er sich gezwungen, die bestellten Damen, die nur für die ganze Nacht gebucht werden konnten, zu beaufsichtigen. Diesbezüglich wählte er die einfachste Methode, nämlich das Schlafen an der Dame Seite. Da sich viele dieser Damen nach ein wenig Wärme sehnten, lagen sie eng an Peter geschmiegt, und so kam es, dass er sich allmählich daran gewöhnte, eine Hand oder gleich einen ganzen Körper beim Aufwachen zu spüren.

Als Bankmanager begriff er diese amourösen Episoden als simples Geschäft. Die Frau kam, er bezahlte sie, und nachdem auch der Morgen gekommen war, ging sie wieder. So lebte Peter als reicher und in erotischen Angelegenheiten zufriedener Mann. Im Vorstandssessel seiner Bank saß er bequem und fest, so fest, dass selbst die ambitioniertesten Versuche übelwollender Konkurrenten, ihn aus diesem zu hebeln, ohne Erfolg blieben.
Diese herkulische Anstrengung konnte nur ein einziger Mensch bewältigen, nämlich Peter selbst.

Am siebzehnten Juli 2011 hatte er schließlich damit begonnen, diese Aufgabe zu erledigen. Ein bankinternes Dokument hatte ihm aufgezeigt, dass ein Konto des größten Stahlproduzenten des Landes mit einer wahren Unsumme an Schwarzgeld gefüllt war. In den folgenden Monaten bediente sich Peter mit beiden Händen reichlich aus diesem ebenso unerschöpflichen wie fremden Topf. Eine hübsche Segelyacht, einen Porsche und einen Kokoschka später war der Spuk vorbei, und Peter stand vor Gericht, vertreten von den besten Anwälten des Landes.

Am Morgen des vierzehnten November 2014 konnte sich der noch schlaftrunkene Peter trotz aller Anstrengungen nicht an den Namen der Person erinnern, deren Hand auf seiner linken Schulter lag. Er wusste, dass er diesen Namen am Abend zuvor etliche Male ausgesprochen hatte, doch wollte er ihm nicht einfallen.
So drehte er seinen Kopf zur Seite, um die Hand zu betrachten. Er erschrak. Hatte er perfekt manikürte Damenfinger erwartet, so bot sich ihm nun ein Bild der Armseligkeit. Die Finger waren wulstig und an den Seiten mit Schwielen übersät, die Nägel viel zu lang, schmutzig, und einer war sogar eingerissen.
Peter wandte sich um, um zu sehen, wer neben ihm lag.
Er sah eine breite, behaarte Brust und einen Bauch, der Unmengen von Bier und Steaks in sich aufgenommen haben musste. Nun wusste Peter, dass er neben Walter lag. Walter war sein Arbeitskollege in der Spenglerei, und auch nach Dienstschluss teilten sie sich eine Zelle.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um |Inventarnummer: 17009