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Ein hochwissenschaftliches Experiment

Nachdem ich oft gefragt werde, ob bei gewissen Getränken tatsächlich die Wirkung eintritt, die ihnen zugeschrieben wird, habe ich mich zu einem hochwissenschaftlichen Experiment durchgerungen.
Als Proband stand mir mein guter Freund Pavel Shitlick zur Seite, dem ich an dieser Stelle besonderen Dank aussprechen möchte.
Pavel Shitlick ist 23 Jahre alt, von bester Gesundheit und slowakischer Vizemeister im Schlammtauchen. Darüber hinaus ist er Träger zahlreicher nationaler Auszeichnungen, wie der ‚Flachen Hand in Gold‘ und des ‚Rudelbocks in Silber‘. Er studiert animalische Heilkunde in Bratislava und hat mir Zugang zu seiner ‚Hütte für die Betätigung im Rudel‘ gewährt, in welcher ein Großteil dieses Experiments stattfand.
Dank gebührt an dieser Stelle auch Milorada Fucksalot.

 

Versuch 1

Annahme: Trinkst ein Gösser, wird er größer.
Ort: Pavel Shitlicks Hütte für die Betätigung im Rudel, Slowakei
Anwesende: Pavel Shitlick, Dr. w.c. Michael Timoschek
Verwendete Mittel: 12 0,5 Liter Dosen ‚Gösser Märzen‘

Proband Pavel Shitlicks Penis misst in erschlafftem Zustand 12,3 cm, in erigiertem Zustand 17,8 cm.
Proband Shitlick, ohne Hosen, lediglich mit Hemd und Socken bekleidet, trinkt eine Dose Bier der oben angeführten Marke. Sein Penis misst danach in erschlafftem Zustand 11,8 cm, erigiert 16,7 cm.
Nach dem Konsum von drei Dosen desselben Bieres ist keine Veränderung der Penislängen festzustellen.
Nach dem Konsum von 10 Dosen Bier übergibt Proband Shitlick sich. Sein Penis misst nun in erschlafftem Zustand 10,7 cm, eine Erektion stellt sich, trotz guten Zuredens, nicht zur Gänze ein, in semierigiertem Zustand misst der Penis 13,8 cm.
Nach dem Konsum von zwölf Dosen Bier, somit 6 Litern, fällt Proband Shitlick in Ohnmacht. Sein Penis misst in erschlafftem Zustand nun 7,4 cm. Eine Erektion stellt sich nicht mehr ein.

Fazit: Durch den Konsum von Bier der Marke ‚Gösser‘ wächst der Penis nicht.
Er beginnt vielmehr, sich um sich selbst zu krümmen, also sich einzuringeln.
Die Annahme ist falsch.

 

Versuch 2

Annahme: Trinkst ein Fanta, steht er wie ein Glander. (Umgangssprachlich für Geländer)
Ort: Pavel Shitlicks Hütte für die Betätigung im Rudel, Slowakei
Anwesende: Pavel Shitlick, Dr. w.c. Michael Timoschek
Verwendete Mittel: 2 1,5 Liter Flaschen ‚Fanta Orange‘

Als Vergleichsmaß herangezogen wird das aus Kiefernholz gefertigte Geländer der Veranda von Proband Shitlicks Hütte für die Betätigung im Rudel. Das Geländer wird an seinem westlichen Ende mit einem Gewicht von 100 kg in Form handelsüblicher Hanteln aus Stahl beschwert. Ich halte diese Masse für ausreichend. Das Geländer hält dieser Belastung stand.

Proband Pavel Shitlick trinkt 0,25 Liter der oben angeführten Marke. Durch das Blättern in der November-Ausgabe der amerikanischen Herrenzeitschrift ‚Hustler‘ stellt sich eine Erektion beim Probanden ein. Ein Gewicht von 10 kg wird an Proband Shitlicks erigiertem Penis befestigt. Der Penis neigt sich in Richtung des Bodens, das Gewicht fällt zu Boden.
Nach dem Konsum von 1,5 Litern der oben angeführten Marke wird ein Gewicht von 8 kg an Proband Shitlicks wieder erigiertem Penis befestigt. Wieder fällt das Gewicht zu Boden.
Nach dem Konsum der beiden Flaschen, somit 3 Litern der oben angeführten Marke, wiederholt sich das Zu-Boden-Fallen des Gewichtes von 8 kg.

Fazit: Proband Shitlicks Penis hielt zu keinem Zeitpunkt der Belastung stand. Durch den Konsum von ‚Fanta‘ erhöht sich die Standfestigkeit des Penis nicht.
Die Annahme ist falsch.

 

Versuch 3

Annahme: Trinkst ein Sprite, spritzt er weit.
Ort: Pavel Shitlicks Hütte für die Betätigung im Rudel, Slowakei
Anwesende: Pavel Shitlick, Dr. w.c. Michael Timoschek
Verwendete Mittel: 2 1,5 Liter Flaschen ‚Sprite‘

Proband Pavel Shitlick hat vor der Durchführung dieses Versuchs versichert, dank seiner hervorragenden körperlichen Verfassung drei Ejakulationen innerhalb von 90 Minuten hervorrufen zu können.
Ejakulation 1, ohne vorherige Einnahme des Getränks der oben angeführten Marke, ergibt eine Weite von 1,8 Meter. Diese Weite kann als Proband Shitlicks Standardweite hinsichtlich seiner Ejakulation angenommen werden, somit als Referenzweite.
Nach dem Konsum von 1,5 Litern der oben angeführten Marke ejakuliert Proband Shitlick auf eine Weite von 1,3 Metern. Es ist festzuhalten, dass die Menge an Ejakulat beim zweiten Austritt aus Proband Shitlicks erigiertem Penis bedeutend geringer ist als beim ersten Austritt.
Nach dem Konsum der gesamten Menge der oben angeführten Flüssigkeit, somit 3 Litern, erzielt Proband Shitlick, bei verschwindend geringer Menge an Ejakulat, eine Weite von 0,8 Metern. Es ist festzuhalten, dass Proband Shitlick bei dieser dritten Ejakulation erhebliche Schwierigkeiten hat, da sein Penis lediglich die Hälfte des Grades an Steifheit aufweist, die für das ordnungsgemäße Ejakulieren erforderlich ist. Proband Shitlick wendet außerdem bei dieser dritten Ejakulation eine spezielle rektale Technik der Masturbation an, die er laut eigenen Äußerungen selbst entwickelt hat.

Fazit: Die Weite der männlichen Ejakulation wird durch den Konsum der Flüssigkeit ‚Sprite‘ nicht vergrößert. Sie wird vielmehr verringert, und die Menge an Ejakulat nimmt ab.
Die Annahme ist falsch.

 

Versuch 4, a

Annahme: Trinkst du Sekt, wird er geschleckt.
Ort: Diskothek ‚Zur drallen Pomeranze‘, 0815 Blasendorf
Anwesende: Pavel Shitlick, Dr. w.c. Michael Timoschek, drei unbekannte Pomeranzen vom Land
Verwendete Mittel: 2 0,75 Liter Flaschen ‚Henkell Trocken‘

Proband Pavel Shitlick kommt mit einer der drei Pomeranzen vom Land ins Gespräch. Er erzählt ihr von sich und konsumiert zwei Gläser der oben angeführten Marke, somit 0,3 Liter. Als die Sprache auf Proband Shitlicks Aktivitäten im Rudel kommt, bezeichnet ihn die Pomeranze vom Land als abartig und geht weg.
Proband Shitlick trinkt zwei weitere Gläser, somit weitere 0,3 Liter, der oben angeführten Marke und kommt mit der zweiten Pomeranze vom Land ins Gespräch. Da die junge Frau vom Land nicht imstande ist, die Termini ‚oral‘ und ‚anal‘ der Realität entsprechend einzuordnen, bezeichnet sie Proband Shitlick als schlimmen Stinkefinger und geht weg.
Proband Shitlick konsumiert die ihm zur Verfügung stehende Menge der oben angeführten Flüssigkeit, somit 1,5 Liter, und kommt mit der dritten Pomeranze vom Land ins Gespräch. Proband Shitlick, merklich illuminiert, fordert unmissverständlich sofortigen Oralverkehr ein. Die Pomeranze vom Land verabreicht ihm an Oralverkehrs statt eine Maulschelle und geht weg. Proband Shitlick sucht die Toilette auf und bleibt für fünf Minuten in dieser, um mit gerötetem Kopf wiederzukehren.

Fazit: Der Sekt verhindert den Oralverkehr. Er bewirkt Ablehnung und Maulschellen.

 

Versuch 4, b

Annahme: Trinkst du Sekt, wird er geschleckt.
Ort: ‚Tante Paulas Bordell‘, 4711 Ständerdorf
Anwesende: Pavel Shitlick, Dr. w.c. Michael Timoschek, Milorada Fucksalot
Verwendete Mittel: 2 0,75 Liter Flaschen ‚Hochriegl Trocken‘

Proband Pavel Shitlick bestellt eine Flasche der oben angeführten Marke. Die in ‚Tante Paulas Bordell‘ verkehrende Milorada Fucksalot setzt sich an seine Seite. Sie leeren die Flasche gemeinsam, somit konsumiert Proband Shitlick die Hälfte der Flüssigkeit, 0,375 Liter, und sie werden handelseins.
Proband Shitlick befindet sich in der Zwangslage, eine weitere Flasche der oben angeführten Marke bestellen zu müssen, um mit Frau Fucksalot auf ein Zimmer gehen zu dürfen. Er borgt sich von mir 500 Euro und begibt sich mit Frau Fucksalot ins Separee.
Als er nach zwei Stunden wiederkehrt, erklärt er auf Nachfrage, dass er Oralverkehr gehabt habe.

Fazit: Der Fall ist somit klar. Sekt generiert Oralverkehr. Gegen Bezahlung, wohlgemerkt.
Die Annahme ist teilweise richtig.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: ü18 |Inventarnummer: 17063

 

An der Bar

Der Stammgast lehnt lässig an der Bar seiner Lieblingskneipe und versucht, die hübsche Frau, die er in diesem Lokal nie zuvor gesehen hat, dazu zu bewegen, die Nacht mit ihm zu verbringen.

Er schmeichelt ihr, erklärt ihr, dass an dieser Theke noch nie eine Frau gestanden hätte, deren Schönheit der ihren geglichen hätte. Er bietet ihr an, noch am selben Abend Gulasch für sie zu kochen. Bislang hätte sein Gulasch jeder Frau gemundet, er würde es nämlich in solcher Perfektion auf den Tisch bringen, dass es den Geschmack aller Menschen träfe. Es würde selbstverständlich kein Problem für ihn darstellen, wenn sie den Wunsch äußerte, bei ihm zu übernachten. Er lebte zwar mit seiner Mutter in einem Haus, doch der von ihm bewohnte Bereich wäre großzügig angelegt, sodass sie ungestört wären. Sollte ihr der Sinn nach erhöhtem Alkoholkonsum stehen, so würde ihn dies freuen, Schaumwein der besten Provenienz hätte er stets reichlich zu Hause, und darüber hinaus auch ein hervorragendes deutsches Auto, mit welchem er sie am nächsten Morgen gerne heimbringen würde, und wegen der Abgaswerte bräuchte sie sich keine Sorgen zu machen.

Die attraktive Frau steht in aufrechter Haltung an der Bar und versucht, ernst zu bleiben. Sie befindet sich zum ersten Mal in diesem Lokal. Vor drei Wochen ging sie eine Beziehung mit dem Barkeeper ein und wurde vor ihrem ersten Lokalbesuch über den Stammgast aufgeklärt, und auch über dessen tatsächliche Lebensumstände.

Sie erfährt, dass sie die schönste Frau ist, die der Stammgast in den letzten drei Tagen zu Gesicht bekommen hat. Es schmeichelt ihr, der Veganerin, auf ein Gulasch eingeladen zu werden. Dass dieses Gericht aus seinem Kochtopf den Geschmack der meisten Menschen trifft, erscheint ihr nicht verwunderlich – nicht umsonst ist die Firma, die die von ihrem Verehrer bevorzugten Konservendosen befüllt, so erfolgreich. Sie weiß, dass sie ohne Weiters bei ihm übernachten könnte. Die beiden müssten dem Liebesspiel bloß leise frönen, denn das Kinderzimmer, das er im winzigen Häuschen seiner Mutter noch immer bewohnt, liegt neben deren Schlafgemach. Die alte Frau schätzt Damenbesuch keineswegs, und es kam bereits einige Male vor, dass sie den weiblichen Frühstücksgästen ihres Sohnes eine Standpauke bezüglich unentgeltlicher Prostitution hielt.

Der jungen Frau, die nur wenig Alkohol trinkt, graut bei der Vorstellung, eine Flasche billigsten Sekt nach der anderen mit ihm zu leeren, doch lässt sie sich nichts anmerken. Als ihr auch noch angeboten wird, im kleinsten Modell aus dem Hause Opel nach Hause gefahren zu werden, beginnt sie zu lachen.

Der Stammgast blickt sie erschrocken an und will sich Hilfe suchend an den Barkeeper wenden, der den Monolog mitgehört hat. Doch dieser befindet sich mittlerweile in der Küche des Lokals, aus der schallendes Gelächter zu hören ist.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 17064

 

 

 

Martin Maipolds Weg

„Guten Tag, Herr Diplomingenieur. Mein Name ist Doktor Georg Holter.“
Martin Maipold erhob sich, um dem Mann, der soeben den Raum betreten hatte, die Hand zu geben.
„Maipold, grüß Gott. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.“
„Das ist meine Aufgabe. Aber bitte“, Holter wies auf den in englischem Stil gepolsterten braunen Ledersessel, „setzen Sie sich wieder.“

Martin ließ sich nieder, atmete zweimal tief durch und sah den Arzt mit einer Mischung aus Furcht und gespannter Erwartung an. Dieser nahm gegenüber Maipold Platz, in einem Fauteuil gleicher Machart, ein runder Tisch aus Acrylglas stand zwischen ihnen, darauf lag ein Stoß Papiertaschentücher.
Georg Holter trug schwarze Schuhe aus Rauleder, eine graue Anzughose und ein weißes Hemd ohne Krawatte, darüber einen weißen Kittel. Martin Maipolds dunkelgrüne Wollstutzen steckten in schwarzen Haferlschuhen, des Weiteren hatte er eine Lederhose und ein grün-weiß kariertes Hemd an.

„Nun, Herr Maipold, was führt Sie zu uns?“
Der Patient räusperte sich.
„Mir wurde gesagt, dass diese Einrichtung die beste ist.“
„Das freut mich zu hören. Es ist wirklich schön hier. Sie werden eine gute Zeit bei uns haben, glauben Sie mir.“
„Das hoffe ich. Eine Auszeit habe ich dringend nötig.“
„Erzählen Sie mir bitte, was vorgefallen ist.“
„Wo soll ich anfangen?“
„Wo Sie möchten. Wir haben genug Zeit, um herauszuarbeiten, wo der Kern Ihres Problems liegt.“
„Dann fange ich am Anfang an. Mein Name ist Martin Maipold, ich bin sechsundvierzig Jahre alt und von Beruf begeisterter Bauer.“
Holter hob die Augenbrauen, lächelte und sagte: „Das ist gut, dass Ihnen Ihre Arbeit Spaß macht. Das höre ich leider viel zu selten.“
„Das kann ich mir gut vorstellen. Viele Menschen sind unzufrieden mit ihren Jobs. Bei mir ist es anders, ich wollte von klein auf Bauer werden.“

Martin war durch eine Hausgeburt auf dem Hof seiner Familie zur Welt gebracht worden. Dieser lag am Rande einer kleinen Ortschaft im steirischen Hügelland und wurde von seinen Eltern geführt. Sie hatten Kühe, Schweine, Hühner, Haushasen und zwei Ziegen. Ein Hund zur Bewachung fehlte ebensowenig wie zwei Katzen, welche die Zahl der Mäuse gering hielten.
Sein Vater, Peter Maipold, hatte die Wirtschaft von seinen Eltern übernommen, seine Mutter, Aloisia, war die Tochter von Landwirten aus dem Nachbarort. Martin war ihr einziges Kind. Obwohl Peter und Aloisia sich weitere Kinder gewünscht hatten, war es ihnen nicht vergönnt, eine Schar eigene Kinder auf dem Hof herumtollen zu sehen.

„Hätten Sie gerne Geschwister gehabt?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich habe so etwas wie einen Bruder, bloß dass er kein leiblicher ist. Er heißt Alois Wurm und stammt vom Nachbarhof.“

Alois wurde drei Wochen nach Martin geboren und war ebenfalls ein Einzelkind. Obgleich die Wurms von beinahe allen Ortsansässigen gemieden wurden, so auch von den Maipolds, freundeten sich die beiden Buben schnell an und wuchsen zusammen auf wie echte Brüder. Vater Wurm war ein im ganzen Dorf bekannter Trinker und Schläger, der seine Wut gerne an jedem ausließ, der gerade in seiner Nähe war. Selbst vor seiner Ehefrau schreckte er nicht zurück, und schon gar nicht vor seinem Sohn. Diesen schlug er am häufigsten, da er schwach und außerdem stets verfügbar war, wenn seinem Vater der Sinn nach einer Tracht Prügel stand.

„So war es kein Wunder, dass Alois jede Gelegenheit genutzt hat, auf unseren Hof zu kommen.“
„Wurden Sie von Ihren Eltern auch geschlagen?“
„Ich kann mich nicht daran erinnern, je misshandelt worden zu sein.“

Martin war ein Kind der Liebe, und seine Eltern waren gut zu ihm. Ermahnungen und strenge Blicke reichten aus, um ihn in die Schranken zu weisen. In seinen ersten Lebensjahren waren solche oft vonnöten, denn die Tiere, die auf dem Hof lebten, übten eine starke Anziehungskraft auf das Kind aus. Es war ihm streng verboten, sich den großen Arten von Vieh zu nähern, mit den Hasen, dem Hund und den Katzen durfte er jedoch spielen. Nach einer Weile wurde ihm dies aber zu langweilig, und der Reiz des Verbotenen zu groß.
Martin stand oft vor dem engmaschigen Zaun des Hühnergeheges und beobachtete die Vögel beim Herumlaufen und beim Baden in der vom Scharren sandigen Erde. Eines Tages betrat er den Auslauf, um mit den Hühnern zu spielen. Die liefen davon und wollten sich nicht einfangen lassen, also erkor der Bub den farbenprächtigeren der beiden Hähne als Spielgefährten aus und trieb ihn kurzentschlossen in eine der Ecken des Zaunes. Der Hahn geriet in Panik und brachte Martin mit seinem Sporn eine lange und tiefe Wunde auf der Wange bei. Weinend lief der Junge zu seiner Mutter, die ihn sogleich ins Auto setzte und mit ihm zum Dorfarzt fuhr, welcher die Wunde reinigte, desinfizierte und vernähte.

„Wie hat Ihre Mutter auf die Missachtung ihres Verbots, mit den Hühnern zu spielen, reagiert?“
„Gar nicht. Die Hühner waren nicht explizit als tabu bezeichnet worden. Wahrscheinlich haben meine Eltern geglaubt, dass ich an den Vögeln ohnehin kein Interesse haben würde.“
„Wie ist es weitergegangen?“

In der Volksschule saß Martin neben Alois, seinem besten Freund, der zugleich sein einziger war. Sie hatten nicht viel mit den anderen Kindern in ihrer Klasse zu tun, weder im Unterricht noch privat. Sie waren sich selbst genug. Alois kam oft auf den Hof seines Kumpels, um dort zu Mittag zu essen und danach mit diesem gemeinsam die Hausaufgaben zu machen. Beide lernten leicht und schlossen die vierte Klasse mit guten Noten ab.

„Ich hatte damals oft das Gefühl, dass Alois die Zeit bei uns guttat. So konnte er seinem Vater entkommen.“
„Ich verstehe, was Sie meinen.“
„Da bin ich mir nicht so sicher.“
„Jetzt verstehe ich nicht mehr, was Sie meinen“, sagte der Psychiater lächelnd.
„Bei Alois ging es in derselben Tonart weiter, das mit den Schlägen. Aber ich konnte ihn nach der Volksschule nicht mehr vor diesem üblen Gesellen schützen, denn unsere schulischen Wege trennten sich.“

Martin besuchte das Gymnasium eines zehn Kilometer entfernten Dorfes, während Alois von seinem Vater auf die Hauptschule geschickt wurde. Mit Leichtigkeit hätte er die Mittelschule abgeschlossen, doch sein Erzeuger erachtete Bildung als unwichtig.
Nach dem Unterricht half Martin seinen Eltern bei der Arbeit und wuchs mehr und mehr in das Leben als Bauer hinein, welches er bald als das für ihn richtige erkannte. Er fütterte das Vieh, mistete die Ställe aus, und auch die großen Gärten für Gemüse und Obst lernte er zu bewirtschaften.
All das geschah jedoch ohne Druck oder gar Zwang vonseiten seiner Eltern. Oft wiesen sie ihren Sohn darauf hin, dass sie mit jeder Berufswahl einverstanden wären, die er treffen würde. Martin aber begann sich schnell als Bauer zu sehen und lernte fleißig in der Schule, denn er hatte vor, nach der Matura ein landwirtschaftliches Studium zu absolvieren.

„Alois wurde von seinem Vater gezwungen, eine Lehre zum Metzger zu machen. Darunter hat er sehr gelitten, denn er wollte auch maturieren“, seufzte Martin Maipold.
„Haben Sie sich in dieser Zeit oft gesehen?“
„Nicht wirklich oft. Nach den Hausübungen haben wir ja beide auf unseren Höfen geholfen. Ich freiwillig, Alois leider nicht. Der wurde so lange geprügelt, bis er sich fügte und die Arbeiten verrichtete, die sein Vater nicht machen wollte. Das war auch der Grund, warum bei ihm mit Mädchen nichts lief.“
„Was war der Grund?“
„Die Schläge, beziehungsweise deren sichtbare Spuren. Er hatte oft ein blaues Auge, und mit so etwas wollte ihn klarerweise keine haben.“

Bei Martin lief es in dieser Hinsichtnicht anders. In der vierten Klasse verliebte er sich in seine Sitznachbarin, doch Anna, so hieß sie, beachtete ihn nicht. Sie war die Tochter einer Zahnärztin und sah auf ihn herab, wie sie es bei allen machte, die in ihren Augen gesellschaftlich schlechter gestellt waren. Eines Tages, kurz vor dem Ende des Sommersemesters, fragte er sie, warum sie seine Avancen durch Nichtbeachtung ins Leere laufen ließ. Sie sagte, dass er nach Kuhstall roch und sie mit so einem Jungen nichts zu tun haben wollte. Tief verletzt, entwendete er am nächsten Morgen einen Flakon aus dem Badezimmer seiner Eltern. Bevor er das Haus verließ, sprühte er sich reichlich mit Parfum ein. Im Klassenzimmer fragte er Anna mit triumphierendem Blick, ob sie immer noch der Meinung war, neben einem wandelnden Stall sitzen zu müssen. Sie prustete los und meinte, dass er wie ihre Mutter roch.

„Haben Sie sich dann, nach den Sommerferien, besser mit Anna verstanden?“, fragte Holter.
„Ja. Nach den Ferien haben wir ein paarmal miteinander geredet und sind draufgekommen, dass wir in vielerlei Hinsicht gleich denken.“
„Und so sind Sie Freunde geworden?“
„Nicht nur das. Wir waren damals drei Jahre lang ein Paar.“

Er und Anna verstanden sich gut in dieser Zeit, doch dann wandte sie sich einem Jungen zu, der ihrer Klasse zugeteilt worden war. Erst verstand Martin die Welt nicht mehr, aber nach wenigen Tagen war die Sache für ihn abgehakt. Dabei half ihm einerseits Alois, mit dem er reden konnte, und andererseits die Arbeit auf dem Hof. Er übernahm immer größere Aufgaben. Oft ging er in die Ställe, bevor er sich auf den Weg zur Haltestelle des Schulbusses machte. Dass er nach Stall roch, kümmerte ihn nicht mehr, denn zu diesem Zeitpunkt sah er sich bereits als Bauer, und nicht als Maturant oder angehender Student.
Alois Wurm schloss seine Fleischerlehre ab und entsprach dem Willen seines Vaters. Er führte den Hof der Familie, ständig überwacht von seinem Erzeuger. Machte er etwas falsch, wenigstens in den Argusaugen dieses Mannes, wurde er mit Ohrfeigen bestraft. An den Abenden, wenn Alois Zeit hatte und auf den Hof der Maipolds kam, saßen die beiden Freunde oft vor dem Wohnhaus auf einer Bank, tranken Bier und redeten.

„Dann haben Sie die Matura abgelegt“, stellte der Psychiater fest, der offenbar rascher in Martins Lebensgeschichte vorankommen wollte.
„Ja, sogar mit ausgezeichnetem Erfolg.“
„Und dann sind Sie wahrscheinlich zum Bundesheer eingerückt.“
„Nein, das ist mir erspart geblieben. Ich bin nach Wien gegangen, um Landwirtschaft zu studieren.“
„Gut. Das Studium haben Sie abgeschlossen. Wann haben die Probleme angefangen?“
„Das war in meinem ersten Studienjahr.“
Der Arzt seufzte. „Herr Maipold, möchten Sie eine Pause machen?“
Martin sah ihn erstaunt an. „Nein, warum?“
Holter erkannte, dass Martin zum ersten Mal in seinem Leben dabei war, über das zu sprechen, was sich in diesem ereignet hatte, und über den Grund, aus dem er sich in die Klinik hatte einweisen lassen.

Durch die Intervention eines Cousins seiner Mutter blieb ihm der Dienst an der Waffe erspart. Er lernte Tanja kennen, die gerade mit ihrem Vater aufs Land gezogen war. Ihre Mutter hatte sich in Graz das Leben genommen, worauf ihr Vater das Haus verkaufte und mit ihr regelrecht aus dieser Stadt floh. Er war Steuerberater und eröffnete eine Kanzlei im Ort. Tanja jedoch gefiel es anfangs überhaupt nicht in dem kleinen Dorf. Sie hasste alles Ländliche und sonderte sich von allen Ortsansässigen ab. Ihre Abneigung brachte sie auch durch die Wahl ihrer Kleidung zum Ausdruck, die stets schwarz war, wie auch die Farbe ihrer Haare.
Dennoch brachte Martin es fertig, das Herz der jungen Frau zu erobern. Da er wusste, wo sie oft im Gras saß und in ihren Büchern las, änderte er einfach die Route, wenn er mit seinem Hund spazieren ging. Eines Tages setzte er sich zu ihr und begann ein Gespräch. Anfangs gab sie sich reserviert, doch bald fasste sie Vertrauen, und es dauerte nicht lange, bis sie ineinander verliebt waren.

„Sie haben sie also davon überzeugen können, dass Sie, obwohl ein Bauer, kein schlechter Mensch sind“, stellte Holter fest. „Das ist doch schön.“
„Ja“, sagte Martin knapp. Er sah für einige Sekunden aus dem Fenster des Raumes, flüsterte „Darf ich?“ und nahm ohne eine Antwort abzuwarten ein Taschentuch vom Tisch, um seine feucht gewordenen Augen zu trocknen.
„Was ist geschehen?“

Martin hatte es fertiggebracht, dass Tanja ihre Einstellung bezüglich des Landlebens änderte. Sie war oft auf seinem Hof, streichelte die Hasen und Ziegen, und freute sich, von Aloisia in die Zubereitung typisch ländlicher Gerichte eingewiesen zu werden, denn sie liebte es zu kochen.
Trotzdem war sie froh, mit Martin nach Wien ziehen zu können. Er schrieb sich an der Universität für Bodenkultur ein, sie an der medizinischen Fakultät. Eines Tages eröffnete sie ihm, dass sie sich unwohl fühlte, und zwar so, wie sich ihre Mutter jahrelang gefühlt hatte. Er bat sie, sich Hilfe zu suchen.

„Hat sich Ihre Freundin psychologisch oder ärztlich behandeln lassen?“
„Ja“, seufzte Martin. „Leider hat es bloß für kurze Zeit etwas gebracht.

An einem sonnigen Frühlingstag betrat Martin die gemeinsame Wohnung und fand seine Freundin tot auf, sie hatte sich erhängt.
In den ersten Wochen nach Tanjas Tod war er zu nichts fähig. Er lag lethargisch im Bett, aß kaum und an den Abenden trank er sich in den Schlaf. Er meldete sich von den noch ausstehenden Prüfungen ab und verbrachte den Sommer zu Hause bei seinen Eltern. Die Arbeit auf dem Hof, die er so liebte, vermochte ihn jedoch ebensowenig aus dem Loch zu reißen, in dem er gefangen war, wie die Gespräche mit seinem besten Freund, der ihn besuchte, wann immer er die Zeit dazu hatte.

„Haben Sie damals erwogen, sich auch umzubringen?“
„Anfangs schon. Ich wollte Tanja folgen, bei ihr sein. Doch das hätten meine Eltern nicht verkraftet. Also habe ich mir auf andere Art und Weise Trost verschafft.“
„Mit Alkohol.“
„Ja, ich habe getrunken. Was ich damit sagen will: Ich habe bis vor wenigen Tagen getrunken. So lange, bis es nicht mehr ging.“

Nach den Sommerferien fuhr Martin nach Wien und nahm sein Studium wieder auf.
Den Alkohol erkor er zum geeigneten Mittel, um den Schmerz loszuwerden, der seit Tanjas Tod in ihm loderte. Er war jedoch kein gewöhnlicher Trinker, keiner von der Sorte, die von früh bis spät trinken. Diese sah er in Wien zuhauf, und sie ekelten ihn an. Tagsüber brauchte er Beschäftigung, um von seiner Trauer abgelenkt zu sein, doch an den Abenden, nach den Vorlesungen, fiel er zurück in sein Loch und trank so lange, bis er nichts mehr fühlte.

„Sie wissen, was man sagt, Herr Doktor: Bei Tage ist es kinderleicht, die Dinge nüchtern und unsentimental zu sehen. Nachts ist das eine ganz andere Geschichte.“
„Ich kenne dieses Zitat, Herr Maipold. Und ich glaube, wir wissen beide, welche Auswirkungen der Alkohol auf dessen Schöpfer gehabt hat.“

Da Martin selbst an den Wochenenden das Trinken am Tage ablehnte, war er gezwungen, an den Abenden umso mehr Alkohol zu konsumieren, um die für ihn erforderliche Menge aufzunehmen. Er überlegte, wie er dies bewerkstelligen könnte, ohne öffentlich als saufender Student auffällig zu werden, und auch ohne zu viel Geld für seine Zechen, üblicherweise setzten sich diese aus Bier, Wein und Schnaps zusammen, ausgeben zu müssen. Ein Kommilitone lud ihn in das Haus einer Studentenverbindung ein. Dort wurde viel getrunken, und nach wenigen Besuchen stellte Martin einen Antrag auf Mitgliedschaft. Er musste nicht viel für das Trinken bezahlen und traf auf Gleichgesinnte.

„Ich verstehe“, meinte Holter und musterte die linke Wange seines Patienten.
Dieser verstand, welche Annahme der eingehenden Betrachtung zugrunde lag, und sagte schnell: „Nein, nein, Herr Doktor. Das war eine nichtschlagende Verbindung. Den Schmiss, den Sie zu erkennen glauben, habe ich von unserem Hahn verpasst bekommen.“
Der Arzt lachte und ging nicht weiter darauf ein.

Martin schloss sein Studium bloß zwei Semester über der Mindestzeit ab, und das obwohl er sich beinahe jeden Abend besinnungslos trank.
In den Jahren seines Studiums legte sich die Trauer über den Verlust Tanjas, doch konnte er keine andere Frau für sich gewinnen. Es blieb bei, letztlich flüchtigen und kurzlebigen, Liebeleien, denn sobald eine Frau das wahre Ausmaß seines Alkoholkonsums erkannte, lief sie ihm davon.

„Und nach Ihrem Studium haben Sie den Hof der Eltern übernommen?“
„Ja.“
„Und der Alkohol? Haben Sie weiterhin so viel getrunken?“
„So viel nicht gerade. Noch viel mehr“, antwortete Martin leise.

Sein Vater überschrieb ihm das Gehöft, und Martin trank weiter. Er sorgte gut für die Tiere und führte seinen Betrieb ertragreich, doch seine Abende gehörten dem Alkohol, welchem er in immer höherem Ausmaß frönte. Alois Wurm leistete ihm bei diesen Gelagen oft und gerne Gesellschaft. Dessen Vater war aus unerfindlichen Gründen in einen Silo gestürzt und darin erstickt, somit besaß auch Alois einen eigenen Hof. Beide hatten sie keine Frau, und sie wollten auch keine. Die Gefahr, dass eine solche dem alkoholschwangeren Treiben an den Abenden Einhalt geboten hätte, erschien ihnen einfach zu groß. Wollten sie sich in weiblicher Gesellschaft entspannen, fuhren sie nach Graz und kehrten in bestimmte Bars in gewissen Bezirken ein, in welchen Frauen verkehrten.

„Sie haben Ihr Leben Ihren Trinkgewohnheiten angepasst“, stellte der Psychiater fest.
„Stimmt, das habe ich.“
„Was haben Ihre Eltern dazu gesagt?“
„Sie haben versucht, mir ins Gewissen zu reden, doch nach einer Weile haben sie es aufgegeben und meine Trinkerei akzeptiert.“
„Was hat Sie bewogen, zu uns zu kommen, um einen Entzug zu machen?“
„Zwei Menschen und eine Krankheit.“

Anna, die Frau, mit der Martin in seinen Jugendtagen liiert gewesen war, war nach ihrer Scheidung und dem plötzlichen Tod ihrer Mutter zurück in ihr Heimatdorf gezogen und stand eines Abends vor seiner Haustüre. Sie redeten die ganze Nacht und beschlossen, es ein zweites Mal miteinander zu versuchen, nun als Erwachsene. Anna hatte ihre Tablettensucht überwunden und versprach Martin, ihm bei einem Entzug zur Seite zu stehen.
Am Tag darauf hatte Alois einen Unfall. Er fiel betrunken von einer Leiter und brach sich dabei drei Rippen und den linken Arm. Martin besuchte ihn gemeinsam mit Anna, und nach einem langen Gespräch entschloss sich auch sein bester Freund zu einer Entziehungskur.
Hatte Martin erst Angst vor einem Leben ohne den Alkohol, der viele Jahre integraler Bestandteil seines Lebens gewesen war, so verflog diese, als er von seinem Hausarzt erfuhr, dass seine Leber durch das Trinken mittelschweren Schaden genommen hatte.

„Herr Maipold, Sie haben die richtige Entscheidung getroffen“, sagte der Arzt.
„Ja, das habe ich wohl. Allzu lange hätte es nicht mehr gedauert, und meine Leber wäre schwer geschädigt, hat mir der Dorfarzt gesagt.“
„Hat Ihr Freund Alois bereits mit seinem Entzug begonnen?“
„Nein, noch nicht. Sein anonymes Erstgespräch mit Ihnen, Herr Doktor, findet morgen um vierzehn Uhr statt.“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 17065

 

 

 

Drei Gäste, zwei noch da

Der Gast stand an der Bar, er stand seitlich, hatte seinen linken Ellenbogen auf die steinerne Oberfläche der Bar gelegt und seinen linken Fuß lässig auf den Umlauf aus Messing, welcher die Bar in geringer Höhe umfasste. Die Form der Bar nahm die der Kolonnaden des Petersplatzes auf, die in der Ewigen Stadt den Blick des Menschen geradezu zwingend auf die Fassade des Petersdomes lenken, die Hauptkirche der Christenheit. Die Höhe der Bar war so bemessen, dass ein Mensch bequem an ihr stehen oder lehnen, auf ihr Nahrung zu sich nehmen oder auch schlafen konnte. Der Umlauf aus Messing war, was seine Höhe anlangte, ebenfalls wohldimensioniert, sowohl sitzend als auch stehend fanden die Füße eine Auflage, gleich wie groß oder klein der Mensch, dem sie gehörten, gewachsen war.

„Ich kann noch nicht glauben, dass er nicht mehr unter uns weilt“, eröffnete der Gast das Gespräch.
Sein Gegenüber, das er angesprochen hatte, stand etwa einen Meter von ihm entfernt in der selben Körperhaltung, allerdings spiegelverkehrt, den rechten Ellenbogen auf die Bar und den rechten Fuß auf den Umlauf aus Messing gelegt.
„Was ist geschehen?“, gab der Angesprochene zurück.
„Nun … Er ist gegangen.“
Die Kellnerin, die hinter der Bar ihren Dienst versah, stellte zwei Gläser Rotwein sowie zwei Gläser Wasser vor die beiden Gäste und sagte: „Sehr zum Wohle, die Herren!“
Die beiden prosteten sich durch Anheben ihrer Weingläser und Führen ebendieser in die Richtung des jeweils anderen zu, die Gläser berührten einander nicht, und nahmen einen Schluck Rotwein, gefolgt von einem Schluck Wasser.

„Wie meinen Sie das?“
„Ich denke, er wollte nicht mehr kämpfen“, gab der ältere der beiden Gäste zurück.
Etwa zehn Jahre trennten die beiden voneinander.
Der jüngere Gast steckte sich eine Zigarette an, inhalierte und blies den Rauch an die zu tief hängende rote Lampe hinter der Bar, die ebenso gut in einem Boudoir, dem Zimmer eines Stundenhotels oder dem Séparée eines Bordells hätte hängen können. Dennoch fügte sie sich bestens in die Gesamterscheinung der Bar, sie gab warmes, weiches Licht ab und war entweder in Murano geblasen worden oder ein Relikt aus lange vergangenen Wiener Zeiten.
„Kämpfen? Was meinen Sie mit kämpfen?“
„Sie haben ihn doch oft gesehen. Haben oft mit ihm gesprochen, hier an der Bar.“

Der Jüngere wischte mit der Kante seiner Hand Reste der Asche seiner Zigarette von der steinernen Oberfläche der Bar, als ob er ein Gefühl wegwischen, vertreiben wollte. Etwa das Gefühl des Nicht-erkannt-Habens des Kampfes, den der ehemalige Gast, der nun nicht mehr kommen würde, laut Aussage des Älteren geführt hatte. Er wischte die Reste der Asche in den Spalt zwischen der steinernen Oberfläche der Bar und der hölzernen Umrandung, durch den sie auf den Boden rieselten. Dieser Spalt verhinderte, dass auf der Bar verschüttete Flüssigkeit sich allzu weit verlaufen konnte und diente somit dem Zweck, die für gewöhnlich kostspielige Kleidung der Gäste an der Bar nach Möglichkeit unbenetzt zu halten.
„Ich habe nichts von einem Kampf, wie Sie es ausdrücken, bemerkt. Weder habe ich ihm einen solchen angesehen noch hat er ihn mit einem Wort erwähnt, weder im Gespräch noch in den Texten, die er verfasst hat.“

Der jüngere der beiden Gäste richtete seinen Blick auf die Rosen, die in einer Weinflasche, die nun freilich Wasser enthielt, auf der Bar standen, neben einem hölzernen Steher, einem von zweien, die den Oberbau der Bar stützten, in welchem sich Gläser nebst Flaschen voll Wein und Spirituosen befanden. Die Rosen waren einige Tage alt, oder ihr Wasser war nicht ausgetauscht worden, jedenfalls war der Prozess ihrer Vertrocknung über sein Anfangsstadium hinaus vorangeschritten, sodass sie eher als Memento-mori-Motive durchgehen konnten denn als Zeichen und Boten der Schönheit und der Liebe. Der Jüngere fand diesen Umstand durchaus passend. Er passte zum Tod eines Gastes, mit dem er oft an der Bar beisammen gestanden und etliche Gläser geleert hatte.

„Ich kann nicht verstehen, dass er nie etwas gesagt hat.“
„Mein junger Freund“, gab der Ältere zurück, „Ihnen fehlt es an der Menschenkenntnis.“
„Glauben Sie das wirklich?“
„Ja. Aber machen Sie sich keine Sorgen. In Ihrem Alter, also vor gut zehn Jahren, hätte auch ich nur sehr schwer erkannt, was mit ihm los war. Wahrscheinlich hätte ich es, ebenso wie Sie, gar nicht erkannt.“
Diese Worte waren dem Jüngeren ein Trost, wenngleich ein schwacher. Er blickte in den Spiegel an der Wand. Dieser war länglich und wurde von zwei kugelförmigen Lampen illuminiert. Deren runde Fassungen wurden von der hölzernen Oberkante des Spiegelrahmens aufgenommen. Er betrachtete sein Antlitz im Spiegel und stellte wenig überrascht fest, dass sich ein ratloser und auch trauriger Ausdruck auf dieses gelegt hatte. Er war sich zeit seines Lebens sicher gewesen, über eine gute Menschenkenntnis zu verfügen, doch nun, an diesem Abend, war er eines Besseren belehrt worden.

„Welcher Art war sein Kampf?“, fragte er den älteren Gast. „War es ein Kampf, den er in seinem Inneren, mit sich selbst, führte, oder hat er gegen eine körperliche Erkrankung angekämpft?“
Der Ältere wiegte den Kopf hin und her, als überlegte er, was er auf die Frage antworten sollte. Er nahm einen Schluck Wasser, dann einen vom Rotwein, danach wieder einen vom Wasser und führte seinen Zeigefinger schnell über die steinerne Oberfläche der Bar. Es war eine offenkundig unbewusste Handlung, die einen Trennstrich symbolisierte, wie der Jüngere der Antwort des Älteren entnahm.
„Mein junger Freund, er hatte an zwei Fronten zu kämpfen. Er war seit Jahren schwer krank.“
„Das hat man ihm aber nicht angesehen“, warf der Jüngere ein.
„Doch“, gab der Ältere zurück. „Man hat es ihm sehr wohl sehr deutlich angesehen. Also, ich habe es ihm angesehen. Sie dürfen nicht außer Acht lassen, dass ich ihn an lediglich zwei Abenden jede Woche gesehen habe.“
„Und?“
„Nun, Sie sind jeden Nachmittag, Abend und jede Nacht hier an der Bar. Wenn man einen Menschen jeden Tag zu Gesicht bekommt, fallen einem Veränderungen dieses Menschen weit weniger deutlich auf, als wenn man diesen Menschen nur selten sieht.“

Der Jüngere wickelte eine Strähne seines langen Haupthaares um den Zeigefinger, er war einige Sekunden in Gedanken versunken und stimmte seinem Gegenüber zu.
„Ich habe in meinem Telefon ein Foto gespeichert, das Sie mit ihm zusammen zeigt. Es ist etwa drei Jahre alt. Ich zeige es Ihnen, und dann werden Sie verstehen, was ich meine.“
Der Ältere hielt dem Jüngeren das Foto vor Augen und dieser verstand nun.
„Um Himmels willen!“, entfuhr es ihm.
Das drei Jahre alte Foto zeigte ihm neben dem Gast, der nun nicht mehr kommen konnte. Sie waren gut gelaunt gewesen, lachten und hatten offensichtlich bereits einige Gläser geleert gehabt. Der Gast war von gesunder Farbe im Gesicht und pausbackig, ganz so, wie der Jüngere ihn kennengelernt hatte. Die Rose in der Weinflasche, die ebenfalls mit auf das Foto gedurft hatte, war frisch und stand in vollem Saft, sie war gleichsam ein weißgrünes Symbol des Lebens und der Freude.
„Und nun rufen Sie sich in Erinnerung, wie er vor zwei Wochen ausgesehen hat, als Sie ihn, wie ich annehme, zum letzten Mal gesehen haben.“

Der Jüngere hatte keine Mühe, der Aufforderung nachzukommen. Er verglich das Aussehen des Gastes auf dem Foto mit jenem an dem Abend, wo er ihn zum letzten Mal gesehen hatte, entschuldigte sich und suchte die Toilette auf. Er stand vor dem Spiegel über dem kleinen Waschbecken und betrachtete sich. Er fühlte Tränen in seine Augen steigen, dann sah er sie aus diesen und über seine Wangen rinnen und wischte sie mit dem Handrücken weg. Gedanken schossen ihm durch den Kopf, Gedanken an seine Unaufmerksamkeit, der er es zuschrieb, dass er den offensichtlichen körperlichen Verfall des Gastes nicht erkannt hatte. Gedanken an Gleichgültigkeit, von der er fürchtete, dass sie ihm innewohnte. Wäre dem nicht so, dachte er, hätte er den Verfall schmerzlich spüren müssen. Er wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, trocknete es mit einem Einweghandtuch und nahm seinen Platz an der Bar wieder ein. Er hoffte, dass der ältere Gast nicht bemerken würde, dass er auf der Toilette geweint hatte.

„Ich hätte es bemerken müssen! Doch ich oberflächliches Individuum habe nicht darauf geachtet.“
„Machen Sie sich keine Vorwürfe“, riet ihm der Ältere.
„Ich mache mir aber welche. Ich stehe da mit einem, man kann fast sagen: Freund, jeden Abend an der Bar und gebe mich damit zufrieden, dass er sagt, es geht ihm gut.“
„Sie dürfen sich nicht selbst an den Pranger stellen, mein junger Freund. Er hat schließlich jedem, der ihn nach seinem Befinden gefragt hat, gesagt, dass es ihm gut gehe.“
„Und warum hat er nicht gesagt, was wirklich mit ihm los war?“
„Ich denke, er wollte die Menschen in seinem Umfeld nicht mit dem Umstand belasten, dass er unheilbar krank war.“
„Woher wissen sie, dass er unheilbar krank war?“
„Seine Frau hat mich eingeweiht. Sie hat mir geraten, mich mit der Tatsache abzufinden, dass er in absehbarer Zeit sterben würde.“
„Warum haben Sie mir nie davon erzählt?“
„Ich wollte Sie nicht belasten.“
„Aber wenigstens er hätte doch etwas sagen können. Ich meine, eine unheilbare Krankheit ist etwas, für das man nichts kann. Und folglich braucht man sich auch nicht für sie zu schämen.“
„Ich denke, dass er sich doch geschämt hat“, gab der Ältere zurück.

Der jüngere Gast richtete seinen Blick unwillkürlich auf einen der beiden stummen Diener in den Ecken des Raumes. Die Kleiderständer waren aus gebogenem braunen Holz gefertigt, und an diesem Abend hing das leichte Leinensakko des jüngeren Gastes einsam auf dem Haken. Dort, wo der Gast üblicherweise seine Sommerjacke aufgehängt hatte, gähnte Leere. Der Jüngere fühlte erneut Tränen in sich hochsteigen und unterdrückte diese, indem er seinen Blick nach links oben, in das Nirwana der Decke des Raumes richtete und sich zwang, an etwas zu denken, das nichts mit dem Gast zu tun hatte.
„Er war stets ein vitaler Mann gewesen. Er konnte den eigenen Verfall einfach nicht in dem Ausmaß hinnehmen, das nötig gewesen wäre, um über seine Krankheit zu sprechen. Allerdings hat er andeutungsweise sehr wohl anklingen lassen, dass der Tod in sein Leben Einzug gehalten hat.“
Der Jüngere sah sein Gegenüber ungläubig an und schüttelte den Kopf.
„Mir gegenüber hat er nie so etwas zum Ausdruck gebracht.“
„Verzeihen Sie“, sagte der Ältere, „aber in diesem Punkt muss ich Ihnen widersprechen.“
„Wie meinen Sie das?“, fragte der Jüngere, immer noch einen ungläubigen Ausdruck im Blick.
„Sie erinnern sich bestimmt an die Diskussion zum Thema Sterbehilfe, die wir vor etwa einem halben Jahr hier an der Bar geführt haben.“

Der Jüngere nickte. Er erinnerte sich nur zu gut an diesen Abend und an die Diskussion, die sie geführt hatten. Es war einer der Dispute gewesen, wie sie sich ab und zu an der Bar entwickelten, in deren Verlauf die Disputanten, auch aus Gründen des Alkoholkonsums, immer starrköpfiger auf ihren Ansichten zum jeweiligen Thema beharrten, unzugänglich intelligenten Einwürfen der meist völlig nüchternen Kellnerinnen hinter der Bar, und in der Folge schärfer, persönlich angriffiger sowie lauter argumentierten oder zumindest ihre jeweiligen Sichtweisen kundtaten. Der Gast hatte an diesem Disput teilgenommen, sich jedoch sehr ruhig verhalten. Er hatte klar und mit gedämpfter Stimme argumentiert, beinahe wie ein selbstmordgefährdeter Mensch, der seinem Arzt von seinem Vorhaben berichtet. Der Gast hatte die Position vertreten, dass ein Mensch, der seit langer Zeit schon hatte sterben wollen, das Recht hätte, diesen Wunsch erfüllt zu bekommen. Allerdings hatte er einschränkend angeführt, dass ein derartiger Wunsch nur dann zu Recht erfüllt ist, wenn dieser Mensch an einer unheilbaren Krankheit leidet und seine Angelegenheiten in Ordnung gebracht hat.

„Sie erinnern sich, mein junger Freund, dass der Gast das Recht auf den eigenen Tod vehement eingefordert hat, jedoch im selben Atemzug Kurzschlusshandlungen abgelehnt hat.“
„Ja, das stimmt. Er hat gesagt, dass ein Selbstmord im Affekt keine Lösung ist.“
„Sehen Sie? Damit hat er sich selbst vor einer solchen Tat im Affekt bewahrt.“
„Was deuten Sie gerade an, mein älterer Freund? Er hat sich doch nicht etwas das Leben genommen?“
Der Ausdruck des Schreckens lag in des Jüngeren Augen. Die beiden Gäste orderten zwei weitere Gläser Rotwein, von der selben Sorte, doch dieses Mal von besserer Qualität, und der Ältere wies die Kellnerin an, beide Gläser auf seine Rechnung zu setzen. Ihm war nicht entgangen, wie sehr die Neuigkeiten dieses Abends den Jüngeren mitgenommen hatten, und er wollte ihm eine kleine Freude bereiten. Der Jüngere bedankte sich, und dieses Mal stießen ihre Gläser sanft aneinander.

„Ja, er hat sich das Leben genommen. Seine Krankheit war schlimmer geworden und das Grauen unerträglich.“
„Das ist so furchtbar! Ich kann das alles gar nicht glauben.“
„Und doch ist es so.“
„Ich hätte ihm eine solche Tat niemals zugetraut.“
„Ich war mir sicher, dass er es tun würde. Nach unserer Diskussion über Sterbehilfe, nachdem ich seine Argumente gehört hatte, war mir klar, dass er es tun würde.“
„Wie hat er es gemacht?“
„Er hat sich in seinem Badezimmer eingeschlossen und in die Badewanne gelegt.“
„Also der Schnitt in die Pulsadern?“, fragte der Jüngere und fühlte Grauen in sich hochsteigen.
„Nein. Er hat die Tür und das Fenster mit Klebeband abgedichtet, eine Flasche Rotwein getrunken und eine Gasflasche aufgedreht.“
„Wer hat ihn gefunden? Doch nicht seine Frau?“
„Nein, die war zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Schwester auf Urlaub.“
„Gott sei Dank!“
„Er hat ein zeitverzögertes E-Mail an die Polizei geschickt. Die hat ihn gefunden.“
„Hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen?“, fragte der jüngere Gast, und wieder bemächtigte sich Grauen seiner.
„Ja. Er hat sich bei seiner Frau entschuldigt und noch einigen wenigen Menschen letzte Grüße ausgerichtet. Sie, mein junger Freund, sind unter diesen Menschen.“
Der Jüngere konnte die Tränen, die in seine Augen schossen, nicht zurückhalten.
„Mein Gott! Warum nur?“, schluchzte er. „Warum nur?“

Der Ältere legte einen Arm um seine Schulter, um ihn zu trösten.
„Seine Frau hat mir gesagt, dass sie es hat kommen sehen. Sie ist zwar sehr traurig, doch freut sie sich auch für ihn, dass er jetzt dort ist, wo es ihm gut geht.“
„Und ich habe so oft mit ihm gesprochen, ihm so oft in die Augen geschaut und nichts bemerkt.“
„Wenn Sie sich Vorwürfe machen, leiden Sie nur unnötig. Das wird ihn nicht zurückbringen.“
Der jüngere sah den älteren Gast aus verweinten Augen an.
„Hätte ich etwas für ihn tun können?“
„Ja. Und das haben Sie auch getan.“
„Was habe ich getan?“
„Sie haben mit ihm gesprochen und ihm, zumindest hier an der Bar und für einige Stunden jeden Abend, das Gefühl der Normalität gegeben.“
„Wirklich?“
„Ja, das haben Sie. Und dafür war er Ihnen dankbar. Sehr dankbar.“
„Woher wollen Sie das wissen?“
„Er hat Sie in seinem Abschiedsbrief, seinem letzten Werk, erwähnt und Ihnen Grüße ausgerichtet.“

Wieder weinte der Jüngere.
„Hätte ich es denn verhindern können? Irgendwie verhindern?“
„Nein. Ganz sicher nicht.“
„Aber ich hätte es ahnen müssen!“
„Nicht müssen. Können, das ja.“
„Aber ich war zu oberflächlich.“
„Sie hätten zwischen seinen Zeilen lesen und seine unausgesprochenen Worte hören können.“
„Aber ich habe seine Werke gelesen und ihm zugehört.“
„Suchen Sie die Schuld nicht bei sich! Sein Freitod war immerhin seine eigene Entscheidung.“
„Künftig werde ich aufmerksamer lesen und zuhören.“
„So können Sie vielleicht den Tod eines Menschen verhindern, der die Schwelle vom Gedanken zum feststehenden Plan noch nicht hinter sich gelassen hat.“
Der jüngere Gast beglich seine Rechnung und verließ traurig das Lokal.
Der ältere Gast trank ein weiteres Glas Rotwein und verließ dann das Lokal.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 17040

 

Immer der Wirt

Als ich vor ein paar Tagen aufwachte, fühlte ich sofort, dass etwas anders war.
Mein Blick war getrübt, meine Zunge fühlte sich an, als wäre sie in altes Nutriafell gehüllt, und die Reste meines Gehirns, die noch zu denken in der Lage waren, schienen in wogenden Bewegungen an mein Stirnbein zu schwappen. Da wurde mir klar, dass ich an einer postrauschalen Bewusstseinstrübung litt.
Ich beschloss daher, mit dem ungesunden Zeug aufzuhören, wollte mich vorher aber beraten lassen. Also wankte ich zu meiner Mutter, um ihr von meinem durchaus löblichen Vorhaben zu erzählen.

Meine Frau Mama hat mir in der Vergangenheit nämlich oftmals gute Ratschläge erteilt. An diesem Tag jedoch erhielt ich keinen Rat von ihr, dafür aber verbale Schläge: „Michael! Wie viel hast du gestern gesoffen? Um Himmels willen, du bist ja ein Alkoholik-“ In diesem Augenblick verlor ich auf wundersame Weise mein Hörvermögen und verließ die Küche, bevor ich Mutter meinen großen Plan unterbreiten konnte.
Im Nebenraum erlangte ich mein Gehör wieder und hörte meinen Vater sagen: „Warum regst du dich auf? So sieht er jeden Vormittag aus.“

Ich flüchtete ins Nachbarhaus zu meiner Großmutter. „Oma“, setzte ich an, doch sie unterbrach mich. „Michael, ich habe gestern Nacht zufällig gesehen, wie du deine Haustüre aufsperren wolltest.“ Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Ich setzte meinen unschuldigsten Blick auf und fragte leise: „Und?“ „Nach fünf Minuten hast du es geschafft!“
Die dieser Feststellung folgende Standpauke ließ mich erkennen, dass meine Großmutter mir ausgerechnet den Rat geben würde, den ich keinesfalls hören wollte, nämlich den langsamen Tod des abendlichen Verdurstens zu wählen.

Es ging mir wirklich schlecht, also schlich ich mich in den Keller ihres Hauses und trank eine Flasche Bier. Dann stand ich mit der leeren Flasche in der Hand da und stellte fest, dass meine andere Hand unbeschäftigt war.
Schnell schaffte ich Abhilfe, und drei Minuten später stellte ich zwei leere Flaschen in die Kiste zurück. Ich fühlte mich besser und rief eine Bekannte an, mit welcher ich eine sogenannte schlampige Beziehung führte.
„Heute ist mir klargeworden, dass ich aufhören muss, Heidrun“, sagte ich. Sie schnaubte bloß, und aus dem Klang der stets zahlreichen Ringe auf ihren Fingern schloss ich, dass sie ihren perfekt manikürten Mittelfinger ans Telefon hielt. „Das sagst du jedes Mal, Michael, und dennoch schläfst du beinahe jede Nacht auf der Theke ein, und ich muss Erwin mit nach Hause nehmen!“

Nun ging es mir wieder schlecht, und ich legte mich ins Bett. Am Abend dieses Tages betrat ich mein Stammlokal und sagte zum Wirt: „Stief, ich habe beschlossen, mit dem Zeug aufzuhören, aber ich brauche deinen Rat.“ „Ach Michael“, sagte Stief, „das sagst du jeden Abend. Hier hast du dein Bier, und schon ist die Welt wieder in Ordnung. Nach dem dritten Bier wirst du glücklich sein und doch kein Nichtraucher werden wollen.“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 17039

Tu felix Austria, arde!

„Jetzt reicht es mir, und zwar endgültig!“, rief Frieda Ponisch in den Raum und schlug die Wohnungstüre zu. Sie streifte ihre Schuhe ab und ging ins Wohnzimmer, wo ihr Ehemann Otto auf dem Sofa saß. Nach einem Begrüßungskuss, den sie auf seine Wange hauchte, ließ sie sich seufzend in einen der beiden Polstersessel fallen.
„Was ist passiert?“, fragte Otto und legte das Buch, in dem er gelesen hatte, auf den Couchtisch.
„Was passiert ist, willst du wissen? Ich sage dir, was passiert ist: Die Rotzlöffel haben heute das Maß vollgemacht!“
Mit Rotzlöffel meinte sie Egon Gruber und Manuel Berger, beide sechzehn Jahre alt und in der Klasse, deren Vorständin Frieda war und die sie in Biologie unterrichtete.
Nun seufzte auch Otto Ponisch. Er war es allmählich leid, die Übellaunigkeit seiner Frau ertragen zu müssen. Mindestens zweimal in der Woche kam sie aufgebracht nach Hause, und das seit drei Jahren, weil die beiden Buben ihr wieder einen Streich gespielt hatten.
„Jetzt sag schon: Was haben sie angestellt?“
„Heute waren sie nachgerade hyperaktiv. Das heißt, dass sie gleich zwei Missetaten begangen haben. Zuerst haben sie zwei Erstklässler drangsaliert. Und dann haben sie ein Video in Umlauf gebracht, in dem ich zu sehen bin. Ich sage dir: Nun ist es genug! Das gibt Krieg!“

Ihr Mann, Psychologe von Beruf, hob die Augenbrauen und sagte mit ruhiger Stimme: „Immer der Reihe nach, Frieda. Was haben sie den Erstklässlern angetan?“
„Du kennst doch die Herrentoiletten im Gymnasium, oder?“
„Ja, die kenne ich.“
„Also: Der Gruber und sein kongenialer Komplize Berger haben auf der Toilette darauf gewartet, dass sich zwei kleine Buben vor die Pissoirs stellen, um Wasser zu lassen. Und als die zwei bedauernswerten Wichte genau das gemacht haben, da sind die beiden verwöhnten Burschen hinter sie getreten und haben sie gepackt und zueinander gedreht!“
Otto Ponisch gab sich alle Mühe, nicht loszuprusten, jedoch vergeblich.
Irritiert blickte seine Frau ihn an und ätzte: „Ja, ja, dir gefällt das natürlich. Das war mir klar. Wahrscheinlich finden das alle Männer witzig.“
Er wollte auf ihre Worte eingehen, doch mehr als ein einleitendes „Nun“ brachte er nicht heraus. Der Rest ging im Gelächter unter.
„Du musst an die armen kleinen Buben denken! Die sind weinend und mit nassen Hosen durch den Gang gelaufen und haben nach ihren Müttern gerufen. Sie haben heute sicher den Schock ihres Lebens erlitten.“
„Also ich weiß nicht. Es wird ihnen schon noch Schlimmeres widerfahren, denke ich. Was hast du denn zu deinen beiden Quälgeistern gesagt?“
„Ich habe ihnen gesagt, dass das der letzte Streich war, den ich ihnen durchgehen lasse.“
„Ach ja? Und als Zugabe haben sie dich gleich nochmal geärgert, quasi um einen starken Abgang zu haben“, stellte er süffisant fest.
„Ja, das haben sie. Aber die Sache mit dem Video haben sie vorbereitet gehabt. So was braucht Zeit, vor allem dann, wenn man eine gewisse Qualität abliefern will.“
„Hast du den Film dabei?“
„Natürlich. Er ist auf der Pinnwand der Facebook-Gruppe der Klasse, und wahrscheinlich wurde er schon hunderte Male geteilt!“

Otto holte seinen Laptop aus dem Arbeitszimmer, schaltete ihn ein und reichte ihn seiner Frau, die sich einloggte und das Video anklickte.
„‘Friede Klonisch – wie sie wirklich ist’. Ein interessanter Titel“, sagte sie. „Das Video ist in drei Abschnitte gegliedert.“
„Nun lerne ich Frau Klonisch endlich so kennen, wie sie wirklich ist“, witzelte er.
„Der Vater von Gruber ist Videoproduzent. Ich bin mir sicher, dass sie dieses Machwerk in seiner Firma fabriziert haben. Aber sieh selbst.“ Sie reichte ihm das Notebook.
Das Video zeigte eine Frau, die an einem Tisch voller leerer Flaschen saß. Sie war offenkundig völlig betrunken, denn sie lallte und übergab sich letztendlich.
„Ich frage mich, wie sie es geschafft haben, mein Gesicht über das dieser Frau zu legen.“
„Psst! Lass mich schauen!“
Der zweite Teil zeigte Frieda im Klassenzimmer. Auf dem Lehrerpult hinter ihr stand ein ausgestopfter Uhu mit ausgebreiteten Flügeln. Sie stand vor der Klasse und hielt gestikulierend einen Vortrag. Im Video kamen allerdings bloß unflätige Worte aus ihrem Mund. Das Referat handelte von wenig befriedigendem ehelichem Beischlaf.

Als Otto Ponisch die seiner Frau in den Mund gelegten Worte vernahm, grinste er. Er klickte auf Pause und sagte: „Die Burschen sind gut. So etwas zu fabrizieren ist verdammt schwer. Sie haben dich im Unterricht mit ihren Handys gefilmt, was noch keine große Leistung ist. Aber das Schreiben einer Rede, deren Worte exakt zu deinen Mundbewegungen passen – also das ist wirklich hochkreativ.“
„Warte, bis du den dritten Teil gesehen hast. Dann weißt du, warum ich den Falotten den Krieg erklären werde.“
Otto klickte auf Play. Der letzte Teil zeigte eine nackte Frau beim autoerotischen Vollzug. Auch hier hatten Berger und Gruber Friedas Gesicht auf das der eigentlichen Darstellerin montiert. Als besonderes Detail hatten sie ein Foto von Otto, das sie von seiner Homepage heruntergeladen hatten, an die Wand des Studios, in dem die Szene vonstattenging, gezaubert. Aus beiden Seiten seines Kopfes ragten die Äste eines Hirschgeweihs, und das Foto war von einem geschnitzten Holzrahmen umgeben – Otto somit als Jagdtrophäe dargestellt.
Die Frau im Film äußerste schwer atmend und immer wieder heftig stöhnend ihre Zufriedenheit mit zwei Dingen. Zum einen mit der Tatsache, ihren Mann endlich um die Ecke gebracht und beerbt zu haben, zum anderen mit ihrem nunmehr erfüllten Liebesleben.
Im Abspann waren die Namen von zwei Regisseuren zu lesen: Oskar Pillermann und Radoslav Kuraz.

Otto Ponisch klappte den Laptop zu und lachte. Dann sagte er: „Okay, ein Lausbubenstreich, und weiter? Natürlich ist es eine Frechheit, so etwas ins Internet zu stellen, aber jeder, der dich kennt, weiß, dass das gefaked ist.“
„Das gibt Krieg!“, schnaubte sie und setzte ihre sturste Miene auf.
„Und wie soll dieser Krieg aussehen? Und wie ausgehen?“
„Na, die beiden Lausbuben müssen von der Schule fliegen!“
„Das würde ich nicht tun, Frieda.“
„Und warum nicht?“
„Was soll dann aus ihnen werden? So maturieren sie in zwei Jahren. Dir kann das doch egal sein.“
„Warum soll mir das egal sein?“
„Weil du in einem Monat in Pension gehst, Frieda.“
„Aber irgendwie müssen sie doch bestraft werden! Und so ein Rauswurf wäre ihnen sicherlich eine Lehre.“
„Wo soll das hinführen? Die Gefahr, dass sie dann auf die schiefe Bahn geraten, ist sehr groß. Wohlstandsverwahrlost sind sie ohnehin schon.“
„Ich kann den beiden aber nicht mehr gegenüberstehen, ohne dass sie bestraft worden sind. Das würde ich nicht aushalten!“
„Und wenn du den österreichischen Weg wählst?“, fragte Otto nachdenklich.
„Ohrfeigen?“
„Nein, Burnout.“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary |Inventarnummer: 17038

Martin Sehn sucht

So lange er denken kann, hat Martin Sehn Probleme mit Frauen, und seit seinem siebzehnten Lebensjahr auch mit dem Alkohol.
Heute ist er siebenunddreißig Jahre alt. Er hat eine Frau gesucht, aber noch keine gefunden. Wie zum bösen Ausgleich hat ihn der Alkohol gefunden, obwohl Martin ihn gar nicht gesucht hatte.

Bereits in der Volksschule hatte sich gezeigt, dass Martin Probleme im richtigen Umgang mit Mädchen hat. Seine Klassenlehrerin hatte ihn neben Karin Maier gesetzt, ein hübsches und freundliches Mädchen. Sie hatte ihm sofort gefallen. Anstatt sich jedoch mit ihr nach der Schule zu treffen, um gemeinsam Hausaufgaben zu machen, hatte er sie immer nur angestarrt. Jedesmal wenn es ihr reichte, von der Seite angestarrt zu werden, und sie ihren Unmut darüber zum Ausdruck brachte, war das Einzige, was er zu entgegnen wusste, eine Veräppelung Karins. Er machte sich über ihren Haarschnitt, ihre Nase und sogar über ihr angebliches Übergewicht lustig. Bald hatte sie die Nase voll von ihm und bat die Lehrerin, sie doch neben ein Mädchen zu setzen.
Diese hatte durchaus Verständnis für diesen Wunsch und befahl Peter Mierz, den Platz neben Martin Sehn einzunehmen.
Die beiden freundeten sich rasch an, hatten sie doch denselben Leitspruch: Mädchen sind blöd! Auch Peter Mierz hatte keinen Schlag bei den Mädchen in der Klasse, somit galten er und Martin bald als die ewigen Querulanten.

Nachdem Martin Sehn die Volksschule mit Ach und Krach hinter sich gebracht hatte, musste er auf Geheiß seiner Eltern die Hauptschule besuchen – für ein Gymnasium hätte es bei ihm einfach nicht gereicht. Peter Mierz hingegen durfte in ein solches eintreten, und die beiden Freunde und Leidensgenossen verloren einander für einige Jahre aus den Augen.

In der zweiten Klasse fasste Martin Sehn Mut. Der Grund dafür hieß Petra Siegel. Sie war neu in der Schule und gefiel ihm auf Anhieb. Sie hatte lange blonde Haare, braune Augen und eine Fehlstellung der Schneidezähne, welche sie in seinen Augen ebenso einzigartig wie liebenswert machte. Das Mädchen war nicht auf den Kopf gefallen und nutzte geschickt die Tatsache aus, dass Martin diese Klasse zum zweiten Mal besuchen musste.
Petra nahm sein Angebot, die Hausaufgaben gemeinsam zu erledigen, sofort an. In Wahrheit war es so, dass er die gestellten Aufgaben in kurzer Zeit löste, denn er hatte den Lehrstoff bereits im Jahr zuvor lernen müssen, und sie diese einfach abschrieb. Davon abgesehen hielt sie nicht allzu viel von Martin, was sie dadurch zum Ausdruck brachte, dass sie sämtliche Avancen seinerseits ins Leere laufen ließ. Nicht einmal an seinem Geburtstag, beim Überreichen eines kleinen Geschenks, küsste sie ihn auf die Wange, und Händchenhalten kam schon gar nicht infrage.

Gegen Ende des zweiten Hauptschuljahres stellte er sie diesbezüglich zur Rede. Sie versprach, im nächsten Jahr mit ihm Händchen zu halten, doch der Zufall wollte es, dass Arnold Fischer in die Klasse kam, der eigentlich schon in der vierten Hauptschulklasse hätte sitzen sollen. Er machte nun die Hausaufgaben für Petra Siegel.

Mit dem Alkohol kam Peter Sehn das erste Mal im Alter von vierzehn Jahren in Berührung. Sein Großvater, ein passionierter Jäger und schwerer Trinker, hatte ein volles Schnapsglas auf dem Tisch stehen lassen. Martin zögerte nicht lange und leerte das Glas nach der Art seines Ahnen in einem Zuge. Der Korn brannte in seiner Kehle und dann seine Speiseröhre hinunter, doch als er den Magen erreichte und sich dort auszubreiten begann, war alles anders. Ein Gefühl von wohliger Wärme durchströmte Martins Körper. Er fühlte zwar ein wenig Benommenheit, doch ermöglichte ihm diese, einen milden Blick auf die Fährnisse seines Alltags zu richten. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass der Alkohol eine gute und wohl auch hilfreiche Sache sein musste.

Nachdem er die Hauptschule abgeschlossen hatte, begann er eine Schmiedelehre. Sein Lehrherr tolerierte den Konsum von zwei Flaschen Bier täglich, schließlich mussten seine Lehrlinge schwere Arbeit in heißen Räumen verrichten.
Mit den anderen Lehrlingen kam Martin gut aus, ohne jedoch echte Freundschaft mit ihnen zu schließen. Seinen Eltern blieb nicht verborgen, dass er oft mit einer Bierfahne aus der Schmiede nach Hause kam, doch da sein Lehrherr nur das Beste über ihn zu berichten wusste, nahmen sie diesen Umstand kommentarlos hin.

Ein Mädchen brachte Martin nicht nach Hause. Eines Tages, im dritten Lehrjahr, als die Bezahlung besser war als in den Jahren davor, überredeten ihn die anderen Lehrlinge, am Samstagabend mit in die Stadt zu fahren, um Frauen kennenzulernen. Martin lernte tatsächlich eine Frau kennen. Sie hieß Shin und kam aus China. Ihre gemeinsam verbrachte Zeit dauerte zwar nur exakt sechzig Minuten, doch reichten die aus, ihn erkennen zu lassen, wie leicht ein Mann mit ein bisschen Geld in der Tasche Erfolg bei den Frauen haben kann.
Nachdem Martins Lehrlingsentgelt nicht allzu üppig war, konnte er es sich lediglich einmal im Monat leisten, eine Frau auf diese Art und Weise kennenzulernen.
Den Rest seines Geldes wandte er für den Ankauf alkoholhaltiger Getränke an den Freitagen und Samstagen auf. Sein Großvater hatte für diesen speziellen Hang seines Enkels durchaus Verständnis und griff ihm finanziell nach Kräften unter die Arme.

Nach seiner Gesellenprüfung begann Martin Sehns langsamer aber stetiger Abstieg.
Er sehnte sich nach einer Frau, nach der Wärme und Geborgenheit, die ihm eine solche würde bieten können, aber gleichzeitig sehnte er sich nach der vergänglichen Wärme und der trügerischen Geborgenheit, die ihm die Flasche immer öfter bot. Nachdem sich beides gegenseitig ausschloss, entschied er sich für die Flasche.
Sie war billig, jederzeit verfügbar und willig, wenn ihn nach ihr gelüstete, außerdem hatte er von ihr keine Widerrede zu befürchten.

Martin Sehn ging keiner geregelten Arbeit nach. Ab und zu half er seinem Freund Peter Mierz aus Dankbarkeit dafür, dass dieser ihm durch seine Beziehungen den Militärdienst erspart hatte. Geld nahm er dafür nicht, er lebte bequem vom Erbe seines Großvaters.
Peter Mierz hatte das Gymnasium abgeschlossen und den Hof seiner Familie übernommen. Da auch sein Erfolg bei Frauen ausgeblieben war, genoss er es, ab und an mit Martin in die Stadt zu fahren, um welche kennenzulernen. Der Trinkerei seines Freundes stand er ablehnend gegenüber. Er selbst trank höchstens eine Flasche Wein pro Woche, doch ihre Freundschaft hielt und besteht bis heute.

Martin verbrachte seine Tage auf folgende Weise: Er erwachte um elf Uhr, bereitete sich ein Mittagsmahl zu und dann trank er. Er fing mit Bier an, das er den Nachmittag über konsumierte, am Abend trank er Wein und vor dem Schlafengehen Korn.
Seine Eltern hatten den Kontakt zu ihm, ihrem einzigen Kind, abgebrochen. Martin wurde zum Gespött des Dorfes. Er ging keiner Arbeit nach, lebte von seinem Erbe und war ein haltloser Säufer. So sahen ihn die Leute, und so sprachen sie auch über ihn.
Im Grunde seines Herzens war und ist er ein freundlicher, großzügiger Mann. Jeder im Dorf hätte ihn um Hilfe fragen können – er hätte geholfen und würde es noch immer tun.

Er gab einige Kontaktanzeigen auf, doch die Frauen, die sich auf diese meldeten, waren wenig angetan von seiner Lebensführung. Martin hatte bereits in den Erstgesprächen nicht damit hinter dem Berg gehalten, dass er trank.
Eine einzige Frau, Greta Ponisch, hatte sich auf eine Beziehung mit ihm eingelassen. Sie gab vor, kein Problem mit Alkoholikern zu haben, denn sie wäre von Natur aus tolerant veranlagt.
Wie sich bald herausstellte, stimmte das, zum Teil wenigstens. Tolerant war sie allemal, auch wenn sich ihre Toleranz lediglich auf den Füllstand der vor ihr stehenden Gläser beschränkte. Die durften ruhig bis zum Rand gefüllt sein.
Anfangs kamen sie gut miteinander aus, dies vor allem aus einem Grund: Sie waren meist zu betrunken, um ein ernsthaftes Gespräch miteinander zu führen. Hätten sie ein solches geführt, wären sie schnell dahintergekommen, dass sie lediglich durch das Laster der Trunksucht miteinander verbunden waren.

Sie hatten nichts gemein. Greta Ponisch war sechs Jahre älter als Martin Sehn und hochverschuldet. Ihr Mann, ebenfalls ein Alkoholiker der übelsten Sorte, hatte sie im Stich gelassen. Erst hatte er Kredite aufgenommen und seine Frau mit Versprechungen auf eine rosige Zukunft, welche diese in ihrer Trunkenheit nur allzu gern geglaubt hatte, dazu gebracht, als Bürgin zu fungieren. Dann hatte er sich das von den Banken bewilligte Geld auszahlen lassen und es mit Alkohol und Frauen von schlechtem Ruf durchgebracht. Nachdem alles aufgebraucht war, hatte er sich auf dem Dachboden einen Strick um den Hals gelegt. Greta sah in Martin einen Rettungsanker, ein Tau, das sie aus ihrer misslichen Lage hätte befreien sollen.

Anfangs lief es gut. Sie wachten gegen Mittag auf und starteten mit Bier in den Tag. Danach saßen sie auf der Veranda, spielten Karten, und Greta lauschte gebannt Martins Erzählungen. Er erzählte ihr von seiner Lehrzeit, seinem Großvater und wurde nicht müde ihr zu sagen, wie glücklich er war, endlich eine zu ihm passende Frau gefunden zu haben. Sie glaubte ihm nur allzu gern, doch jedesmal wenn er anklingen ließ, dass er es für an der Zeit hielt, mit dem Trinken Schluss zu machen und eine Familie zu gründen, schenkte sie ihm ein weiteres Glas ein.
Eine Sommergrippe warf ihn für drei Wochen aufs Bett. Während dieser Zeit durfte er nicht trinken, denn der Dorfarzt hatte ihm Antibiotika verschrieben. Greta Ponisch indes trank weiter.
Nach diesen drei Wochen war er völlig ausgenüchtert und vom Alkohol entwöhnt. Währenddessen hatte er erkannt, mit welcher Frau er sich eingelassen hatte. Er führte ein ernstes Gespräch mit ihr, welches in einem bösen Streit endete. Am nächsten Tag warf er sie aus dem Haus.

Peter Mierz beglückwünschte ihn zu dieser Tat und hoffte insgeheim, dass das unschöne Ende dieser Beziehung der Weckruf für seinen Freund gewesen wäre, den Alkohol bleiben zu lassen.
In der Tat brachte Martin es fertig, weitere drei Wochen nüchtern zu bleiben. In dieser Zeit dachte er jedoch oft über seine nunmehrige Einsamkeit nach und griff doch wieder zur Flasche. Er war es leid geworden, in die Stadt zu fahren, um Frauen in Nachtlokalen zu treffen, also verlegte er sich auf das Frequentieren der drei Gasthäuser des Dorfes.
In allen wurde er freundlich aufgenommen, denn aufgrund seiner im Ort bekannten Trinkfestigkeit galt er von vornherein als guter Gast. Allerdings war Martins Beweggrund, die Wirtshäuser aufzusuchen, mitnichten das Trinken großer Mengen – die konnte er ebensogut zu Hause zu sich nehmen, ohne fürchten zu müssen, sich lächerlich zu machen oder gar Lokalverbote zu erhalten. Er besuchte die Spelunken, um Frauen kennenzulernen.

Hierbei tat er sich schwer. Ihm fehlte es an Erfahrung, und er war sich dessen bewusst. Um sich Mut zu machen, trank er vor den Lokalbesuchen jeweils ein paar Gläser Korn. Kam er dann mit Frauen ins Gespräch, so war deren erster Eindruck stets der in ihre Nasen dringende widerliche Geruch von Schnaps. Dies sagten sie ihm in deutlichen Worten, was dazu führte, dass er seinen Mut verlor.
Als er Peter Mierz davon erzählte, erbot sich dieser, Martin zu begleiten und ihm die Frauen vorzustellen, bei welchen sein Freund seiner Meinung nach würde landen können.
Es dauerte nicht lange und die beiden hatten den zweifelhaften Ruf eines Duo Infernale. Peter bekam Wind davon und verzichtete fortan darauf, Martin zu begleiten. Bald gab auch dieser auf.

Als er dreiunddreißig Jahre alt war, war Martin Sehns Sucht so weit vorangeschritten, dass er ein körperliches und seelisches Wrack war. Letzteres, weil seine Gedanken einzig um ein Thema kreisten – Alkohol. Ersteres, weil sich körperliche Verfallserscheinungen zeigten, die nicht einmal der ihn ständig umgebende Dunst von Fusel zum Verschwinden bringen konnte. Die Schmerzen wurden einfach zu stark, und eines Tages klappte er zusammen. Peter fand ihn reglos auf dem Küchenboden und alarmierte die Rettung.
Im Krankenhaus wurde eine akute Entzündung der Bauchspeicheldrüse diagnostiziert und Martin in künstlichen Tiefschlaf versetzt. Als er nach vier Wochen aus dem Koma geholt wurde, führte der behandelnde Arzt ein ernstes Gespräch mit ihm. Martin gab sich einsichtig und stimmte einem stationären Alkoholentzug zu. Er wurde in eine dafür geeignete Klinik verlegt und musste sich erst einmal an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen. Die Monate in der Klinik empfand er keineswegs als Qual oder Strafe, er nahm sie vielmehr als Hilfe wahr, um in ein neues Leben zu finden.

Er hatte erkannt, dass er ein großes Problem hatte, und auch, dass er damit nicht alleine war. Männer und Frauen unterschiedlichen Alters und aus allen Gesellschaftsschichten ließen sich dort helfen. Martin nahm an Einzeltherapiestunden ebenso teil wie an Gruppensitzungen und sportlichen Aktivitäten. Nach drei Monaten wurde er entlassen, als für den Moment geheilter, doch lebenslang gefährdeter Alkoholiker.
Peter Mierz fuhr ihn nach Hause, wo Martin als erste Handlung alle alkoholischen Getränke wegschüttete.

Es war noch genug Geld von seinem Erbe übrig, also ließ er sich in einem Nebengebäude eine Schmiede einrichten und übte zum ersten Mal in seinem Leben seinen erlernten Beruf aus. Er wurde Kunstschmied.
Es dauerte einige Zeit, bis er wieder sämtliche handwerklichen Fähigkeiten erlangt hatte, die sein Lehrherr ihm beigebracht hatte, doch danach wurde er zu einem gefragten Handwerker.

Seine Eltern nahmen wieder Kontakt zu ihm auf, und allmählich wurde er zu einem im Ort geachteten Mann. Wann immer über ihn gesprochen wird, findet die Tatsache, dass er dem Alkohol verfallen war und beinahe an ihm gestorben wäre, Erwähnung, doch ist es so, dass ein Mann mit Ecken und Kanten seinen Mitmenschen im Allgemeinen mehr gilt als ein aalglatter.
Vom Alkohol hat er sich seit seinem Aufenthalt in der Klinik ferngehalten, wohl wissend, dass ein einziger Tropfen ihn zurück in die Hölle der Trunksucht befördern könnte.

Eine Frau hat er, wie auch sein Freund Peter Mierz, noch nicht gefunden. Er hat jedoch die Hoffnung nicht aufgegeben. Im Bezirksanzeiger steht unter der Rubrik Vermischtes / Kontakte seit ein paar Monaten folgender Text zu lesen: ‘Sehn sucht! Erfolgreicher Kunstschmied, 37, 180 cm, sucht Frau im Alter von 35 bis 37 Jahren zum gemeinsamen Altwerden. Strikte Antialkoholikerin erwünscht!’

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 17037

Der Traum im Lärm

Ich schlafe unruhig, ganz so, als wäre meine Unterlage plötzlich hart geworden, hart wie Stein oder Holz. Mein unruhiger Schlaf wird wohl vom Lärm verursacht, der mich umgibt.
Diesen Lärm näher zu definieren ist mir nicht möglich, denn obwohl ich nicht wirklich tief schlafen kann, befinde ich mich in einer Art leichten Schlummers.
Ich träume gerade von meiner Freundin, die mich letzte Woche erst betrogen und dann verlassen hat. Es ist eigentlich ein Albtraum, den ich habe, doch plötzlich – Lärm, der mich aus dem Traum reißt.
Ich versuche mich von diesem nicht stören zu lassen und denke intensiv an die schöne Zeit, die ich gerade mit meiner Freundin habe, an die Spaziergänge und Schäferstündchen, und an das geplante gemeinsame Abendessen in zwei Tagen.

Eine Hand fasst meine Schulter zärtlich an, und eine vertraute Frauenstimme flüstert mir ins Ohr: „Michael, wach auf.“

Doch ich will nicht aufwachen. Ich habe mich für zwei Monate von der Arbeit freistellen lassen, um Zeit mit meiner Freundin verbringen zu können. Ich konzentriere mich auf den Urlaub, den wir gemeinsam verbringen werden. Zwei Wochen auf den Seychellen; ich habe meine Freundin eingeladen – Ehrensache.
Nächste Woche wollen wir einkaufen gehen. Meine Freundin braucht ein paar neue Bikinis, und auch ich sollte mich endlich von meinen Badehosen trennen, die mittlerweile verwaschen und ausgebleicht sind.
Der Lärm wird lauter. Ich überlege, aus meinem Halbschlaf hochzufahren und die Quelle des Lärms ausfindig zu machen, doch da ich gerade Pläne für unsere Zukunft schmiede, unterlasse ich das.
Ich werde meiner Freundin auf den Seychellen einen Heiratsantrag machen. Ich bin sicher, sie haben dort einen Standesbeamten und einen Priester. Dann können wir, wie schön, gleich dort am Strand heiraten. Ich bin sicher, dass sie Kinder von mir will. Wir könnten in das Haus meiner Eltern ziehen, das ist groß genug für eine zweite Familie.

Wieder werde ich an der Schulter angefasst. Doch jetzt ist die Stimme der Frau, der die Hand gehört, nicht so liebevoll wie zuvor. „Michael, ich störe dich nur ungern, aber ich muss in zwanzig Minuten abrechnen. Möchtest du ein einundzwanzigstes Glas Bier, oder soll ich dir die Rechnung bringen?“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten |Inventarnummer: 17036

 

Die Küche liegt auf der Straße

An einem warmen Nachmittag im Mai des Jahres 2014 ging Peter Gruber den Wiener Donaukanal entlang, um sich die Kunstwerke dort anzusehen. Er hielt zwar nicht viel von Graffiti, doch die Unermüdlichkeit, mit welcher die Sprayer alte Werke übermalten, um neue auf der dann einfarbigen Grundierung zu erschaffen, faszinierte ihn.
‘Was ist ein Bankraub gegen die Gründung einer Bank’, las er auf einem Plakat, das jemand achtlos auf ein Graffito geklebt hatte. Peter schmunzelte, hatte er doch mit der Unersättlichkeit der Banken seine Erfahrungen machen müssen. Selbst als er kein Geld mehr besessen hatte, war er von ihnen verfolgt worden, sowohl gerichtlich als auch persönlich, hatte ihm doch eine Bank tatsächlich einen Geldeintreiber nach Hause geschickt.

Gruber genoss diesen Tag. Er saß auf einer Bank und sah den Schiffen beim Vorbeifahren zu, er beobachtete die Möwen und Kormorane, die sich auf der Wasseroberfläche niederließen, sobald sich diese wieder beruhigt hatte, und auch die Menschen, die in großer Zahl an ihm vorbeischlenderten.
Da er nichts Besseres zu tun hatte, tat er es ihnen gleich und spazierte den Kanal entlang. Die Graffiti wurden weniger, und schließlich gab es keine mehr zu bewundern, also richtete Peter seine Aufmerksamkeit auf den sandigen Streifen neben dem asphaltierten Weg.

Es dauerte nicht lange, und er entdeckte eine Gabel, die jemand achtlos weggeworfen hatte. Sie war zwar aus Metall gefertigt, doch äußerst unsauber gearbeitet. Die Zinken waren stumpf und ihre Kanten nicht abgerundet, doch war sie des Weggeworfenwerdens nicht wert. Peter legte die Gabel in seinen Rucksack, den er beim Spazierengehen stets auf dem Rücken trug.
Er fragte sich, was wohl in Menschen vorgehen mochte, die Gabeln auf Wege warfen, die auch von Kindern und Hunden begangen wurden. Eine alte Frau hatte ihn beobachtet und lobte ihn dafür, dass er die Gabel an sich genommen hatte. Er gehörte offenbar nicht der modernen Wegwerfgesellschaft an.

Peter schlenderte weiter und wurde zum ersten Mal in seinem Leben Zeuge eines erbitterten Luftkampfes. Zwei Nebelkrähen, die wohl auf einem der Bäume neben dem Kanal nisteten, hatten offenbar eine gut genährte Taube als ihre Abendmahlzeit auserkoren und machten Jagd auf den kleineren Vogel. Sie stießen immer wieder auf die Taube herab, die ihre Rettung in der Flucht suchte, denn Gelegenheiten in Deckung zu gehen gab es an dieser Stelle keine. Das Ende der Taube schrieb Peter eher einem Unfall zu denn der gewieften Jagdtechnik der Krähen. In offenbar großer Panik schätzte die Taube nämlich sowohl ihre eigene Fluggeschwindigkeit als auch die Distanz zu einem Brückenpfeiler falsch ein und flog gegen diesen.
Peter eilte zu dem verletzten Vogel, hob ihn hoch und wollte gerade ein paar beruhigende Worte sprechen, als dieser sein Leben aushauchte. Er blickte um sich, und da ihn niemand beobachtete, legte er die Taube in seinen Rucksack.

Peter Grubers Jagdfieber war erwacht. Er hatte eine Gabel und eine fette Taube. In Gedanken fertigte er eine Liste von Dingen an, die er nun noch brauchte. Ein Grillrost stand auf dieser Liste an erster Stelle.
Da das Grillen am Donaukanal verboten war, war er gezwungen, sich zur Donauinsel zu begeben. Auf dem Weg dorthin war er ein weiteres Mal vom Glück begünstigt. In einem verrufenen Viertel fand er eine Geldbörse auf dem Gehsteig. Er öffnete sie, und da er in ihrem Inneren keinen Hinweis auf den Besitzer finden konnte, nahm er die einhundertzwanzig Euro, die darin waren, an sich.

Auf der Donauinsel bot sich Peter ein ähnliches Bild wie beim Donaukanal. Viele Menschen spazierten, ließen ihre Hunde frei laufen und einige spielten sogar Fußball. Es gab etliche Grillplätze, die gut besucht waren, und noch mehr Grillende, die ihre zumeist runden Grills selbst mitgebracht hatten. Auf den Rost eines solchen Kugelgrills hatte er es abgesehen. Ein Blick zum Himmel machte ihn sicher, dass das Glück an diesem Tag auf seiner Seite war. Dunkle Wolken am Horizont verhießen Regen, was bedeutete, dass die grillenden Menschen die Insel bald fluchtartig verlassen würden. Er brauchte also bloß abzuwarten, um zu seinem Rost zu kommen.

Den zweiten Posten auf seiner Liste, Grillkohle, würden sie vermutlich ebenfalls zurücklassen, und zwar in einem Papiersack, was bedeutete, dass er genug Material, nämlich Papier, zum Anzünden haben würde.
Nun brauchte er noch ein Messer, um die Taube ausnehmen zu können, ein Feuerzeug oder Streichhölzer und ein paar Gewürze.
Peter Gruber ging zu den Daubeln, fest mit dem Ufer verbundene schwimmende Fischerhütten, und suchte in deren Umgebung das Unterholz nach den noch benötigten Dingen ab. Ein oranges Stanleymesser, das er in der Nähe der dritten Daubel fand, erschien ihm für seine Zwecke ausreichend, zumal die Klinge beinahe neuwertig war. Er entfernte den von Rost befallenen ersten Teil der Abbrechklinge ab und steckte das Messer in die Seitentasche seines Rucksacks.

Kurz dachte er daran, in eine der Hütten einzusteigen, um sich Gewürze zu beschaffen, doch verwarf der diesen Gedanken rasch wieder. Er war zwar arm, aber kein Dieb, und schon gar kein Einbrecher. Er beschloss, mit den Gewürzen bis zum Schluss zu warten. Er hatte zwar das Geld aus der gefundenen Börse bei sich, doch wollte er nicht in einen Supermarkt gehen und Gewürze kaufen – dies hätte Peters Sammlungsergebnis für diesen Tag zu stark beeinflusst.
Er wanderte eine Stunde auf der Donauinsel umher, fand ein Feuerzeug, das zwar wenig Gas in sich hatte, aber noch brauchbar war. Dann setzte ein starker Platzregen ein, und wie von ihm vorausgesehen, verließen die Grillenden die Insel.
Peter fand einen Sack Grillkohle, der noch genügend Brennmaterial für das Grillen der Taube beinhaltete, und einen runden Rost, der auf einigen aufgeschichteten Ziegelsteinen lag.
Zufrieden mit diesem Tag machte er sich auf den Weg in sein Zuhause. Den Rost trug er in seiner linken Hand, den Rest im Rucksack.

Zu Hause erwartete ihn seine Frau, bei und von der er lebte, bereits. Sie stand im Vorzimmer ihrer geräumigen Wohnung und hielt einen großen schwarzen Müllsack geöffnet in ihren Händen.
Seufzend leerte Peter Gruber den Inhalt seines Rucksacks in den Müllsack und warf den Grillrost ebenfalls hinein.
Mit der Information ausgestattet, dass es sich bei ihm um einen unverbesserlichen Geizkragen handelte und er endlich sowohl seinen Therapeuten als auch das Arbeitsamt aufsuchen sollte, folgte er seiner Frau ins Esszimmer, auf dessen Tisch bereits ein dampfender Kalbsbraten stand.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen |Inventarnummer: 17020

 

Dorfgeflüster

Es war eine kalte, neblige Novembernacht, die Greta Schinagl sich ausgesucht hatte, um auf den Kugelberg zu gehen. Dorthin war sie schon immer gegangen, wenn Probleme sie belastet hatten. Die Ruhe, die der Wald ausstrahlte, hatte ihr viele Male dabei geholfen, ihre Gedanken zu ordnen und Lösungen zu finden.
Greta ging durch den Wald und dachte an ihre Tochter Maria, die von allen Mitzi genannt wurde. Diese hatte ihr nur Stunden vor dem Spaziergang eröffnet, dass sie Hans Maier, ihren Verlobten, verlassen und an Peter Meisters Seite wechseln würde.

Greta war bestimmt keine konservative Frau, die eine solche Nachricht aus der Bahn geworfen hätte, doch war Hans Maier nicht Mitzis erster Verlobter gewesen. Zuvor hatte sie Martin Schuster, Alois Möstl und Walter Mierz ihre Verlobungsringe zurückgegeben. Das ganze Dorf wusste über Mitzis Umtriebigkeit in Liebesangelegenheiten Bescheid, und das belastete Greta, die stets um Diskretion bemüht war.
Hinter vorgehaltener Hand wurde Mitzi der Liederlichkeit bezichtigt, auch wenn es natürlich so war, dass sich etliche junge Männer Hoffnungen machten, mit dem attraktiven Fräulein zusammenzukommen.

Als Greta Schinagl sich einer alten Buche näherte, an deren Stamm gelehnt sie gerne verweilte, fühlte sie, dass etwas anders war als sonst. Sie war nicht alleine im Wald. Sie hörte das Brechen von Zweigen auf dem Waldboden und bald sah sie eine kleine Frau auf sich zukommen. Eine Wolke gab den Vollmond frei und sie erkannte, dass es sich bei der Frau um Waltraud Klinger handelte.
Diese war im Dorf als eine Frau bekannt, die über magische Kräfte verfügte. Sie hatte mit ihrer Zauberkunst schon vielen Menschen geholfen, doch hatten die Leute auch Angst vor ihr. Sie fürchteten nämlich, dass Waltraud ihre Magie gegen sie einsetzen könnte, wenngleich die friedliebende Hexe nie in Streitigkeiten verwickelt war.

„Kalt ist es heute“, stellte Waltraud fest.
„Ja, Waltraud, das ist es“, pflichtete ihr Greta bei und seufzte.
„Mitzi hat wohl wieder einen Neuen. Oder bist du aus einem anderen Grund in den Wald gegangen?“
„Ich weiß nicht, was mit meiner Tochter los ist!“, rief Greta.
„Ich könnte dir helfen.“
„Wie denn? Bei Mitzi ist doch Hopfen und Malz verloren!“
„Ich habe einen neuen Zauberspruch formuliert, der deine Tochter auf den rechten Weg zurückbringen wird. Allerdings verlange ich eine Gegenleistung.“
„Ich habe nicht viel Geld, Waltraud, aber was ich dir geben kann, sollst du erhalten.“

Die Hexe winkte ab, Geld interessierte sie nicht. Sie flüsterte in Gretas Ohr, was ihr Hexenlohn werden sollte.
„Nein!“, entfuhr es Greta. „Das Rezept für meine Haferkekse ist ein uraltes Familiengeheimnis. Ich kann es dir einfach nicht geben.“
„Das ist sehr schade, vor allem für deine Tochter.“
„Wofür brauchst du es denn? Du bist doch eine Hexe. Dir muss es doch ein Leichtes sein, dieses Gebäck auf den Tisch zu zaubern.“
„Das mag schon sein, doch hexe ich niemals für mich selbst. Ich finde, dass sich das nicht gehört.“
„Kann ich dir etwas anderes geben?“
„Nein, Greta. Ich will das Rezept. Das kann doch nicht zu viel verlangt sein – als Gegenleistung dafür, dass Mitzi endlich ein normales Leben führt.“

Greta Schinagl überlegte zwei Minuten, und schließlich willigte sie ein.
Waltraud murmelte den Zauberspruch, während Mitzis Mutter das Rezept auf ein Blatt Papier schrieb, das sie in ihrer Jackentasche gefunden hatte.
Zwei Tage später besuchte Mitzi ihre Mutter.
„Mama, ich habe beschlossen, Hans doch zu heiraten. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich geritten hat, ihn zu verlassen.“
Greta lachte innerlich. Sie wusste sehr wohl, was der Grund für den Sinneswandel ihrer Tochter war.
„Es freut mich sehr, dass du Hans nicht verlässt, Mitzi. Er ist ein netter Mann, und ihr werdet bestimmt glücklich.“

Die Nachricht machte rasch die Runde im Dorf, und von einem Tag auf den anderen wurde nicht mehr schlecht über Mitzi Schinagl geredet.
In Dörfern ist es oft so, dass ein Mensch schnell die Gunst der anderen verliert, doch wenn sich eine Kleinigkeit ändert, wenn er den Vorstellungen der anderen plötzlich entspricht, ist er wieder wohlgelitten – obwohl er derselbe Mensch ist.

Drei Wochen nach der Hochzeit von Mitzi und Hans pochte es an Greta Schinagls Haustüre.
Die Hexe stand davor und rief: „Du hast mich betrogen!“
„Ich habe dich nicht betrogen, Waltraud“, antwortete Greta.
„Doch, das hast du! Die Haferkekse wollen mir einfach nicht gelingen. Du hast mir bestimmt eine Zutat verschwiegen!“
Sie hielt Greta das Rezept vor die Nase. Greta las, was sie geschrieben hatte.
„Es tut mir leid, Waltraud. Ich habe das Rezept so aufgeschrieben, wie meine Großmutter es mir damals überliefert hat.“
„Ich glaube dir nicht!“, rief die Hexe. „Aus diesem Grund sehe ich mich gezwungen, die Wandlung deiner Tochter zum Guten hin rückgängig zu machen.“
„Nein, Waltraud, das darfst du nicht tun! Was soll dann aus dem armen Kind werden?“
„Das ist mir gleichgültig, Greta!“

Die Hexe lief davon, und Greta lag die ganze Nacht wach im Bett. Die Sorge um die Zukunft ihrer Tochter ließ sie keinen Schlaf finden.
Waltraud Klinger machte ihre Ankündigung nicht wahr – wenigstens nicht auf die Art und Weise, die Mitzi in alte Verhaltensmuster hätte zurückfallen lassen.
Mitzi erwachte am nächsten Morgen und lief, nachdem sie ihr Spiegelbild gesehen hatte, zu ihrer Mutter.
„Um Himmels willen! Was ist mit dir geschehen, mein Kind?“, stieß Greta entsetzt hervor, als sie ihre Tochter sah.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Mama“, gab Mitzi sarkastisch zurück. „Mir war eben danach, mir über Nacht einen Buckel wachsen zu lassen. Auch die beiden Warzen auf meiner Nase stehen mir gut, findest du nicht?“
Dann brach sie in Tränen aus.

Greta ergriff ihre Hand.
„Das ist meine Schuld, Mitzi.“
„Was hast du getan, Mama?“
Greta erzählte ihr von dem Abend im Wald.
„Hast du Waltraud denn das richtige Rezept gegeben?“
„Ja, Mitzi, das habe ich. Ich weiß nicht, warum sie es nicht fertigbringt, danach zu backen.“
„Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte Mitzi verzweifelt. „So, wie ich aussehe, werde ich zum Gespött des Dorfes!“
„Ich verspreche dir, dass ich eine Lösung finden werde“, sagte Greta Schinagl und verließ das Haus.

Atemlos pochte sie an Waltraud Klingers Türe.
Die Hexe öffnete und sagte: „Gefällt dir deine Tochter, so wie sie nun aussieht?“
„Waltraud“, rief Greta, „ich habe dich nicht betrogen!“
Doch die Hexe hatte kein Interesse daran, das Gespräch weiterzuführen.
„In zwei Tagen kannst du wiederkommen, Greta! Dann sehen wir weiter.“

Mitzis verändertes Aussehen blieb niemandem im Dorf verborgen. Gerüchte machten bald die Runde. Die junge Frau wäre ihrem Verlobten untreu gewesen, und der Fluch die Strafe dafür. Ein anderes besagte, Mitzis Schwiegermutter hätte die Verwandlung bewirkt, um ihr eine Lektion zu erteilen – wofür, das sagte die Person, die das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, nicht dazu.
Zwei Tage später stand Greta Schinagl erneut vor Waltraud Klingers Haustüre.
„Waltraud, bist du nun bereit zu reden?“
„Komm herein, Greta.“

Sie nahmen am Küchentisch Platz, auf welchem die Hexe die Zutaten für die Haferkekse vorbereitet hatte.
„Es wird wohl das Beste sein, wenn du sie vor meinen Augen zubereitest, Greta. Ich werde mir einprägen, was du machst und wie du es machst, und dann backe ich die Kekse vor deinen Augen.“
„Einverstanden“, sagte Greta und machte sich an die Arbeit.
Nachdem die Kekse ausgekühlt waren, kosteten die beiden Frauen davon.
„Sie schmecken so, wie deine Haferkekse immer geschmeckt haben“, stellte Waltraud fest. „Nun backe ich welche.“
Greta sah der Hexe dabei zu, ohne ein Wort zu sagen.
Waltrauds Kekse schmeckten grauenhaft.
„Also, Greta, welchen Fehler habe ich gemacht?“
„Handwerklich hast du alles richtig gemacht, Waltraud.“
„Woran liegt es dann?“
„Du hast die Haferkekse ohne Liebe zubereitet. Alles was man macht, muss man mit Liebe machen. Versuch es noch einmal.“

Die Hexe machte sich erneut ans Werk, und siehe da, diese Kekse schmeckten vorzüglich.
„Wirst du nun den Fluch von Mitzi nehmen?“
„Ja, das werde ich.“
Sie sprach eine magische Formel, und Mitzi war wieder so schön wie sie zuvor gewesen war.
Erneut machten Gerüchte die Runde, doch dieses Mal sorgte Greta Schinagl dafür, dass sie schnell verstummten.

Beinahe alle Dorfbewohner waren im großen Bierzelt auf der Festwiese versammelt, als Greta die Bühne erklomm und folgende Worte an die Anwesenden richtete: „Liebe Mitbürger! Ich weiß, dass ihr euch fragt, was es mit Mitzis Verwandlung und Rückverwandlung auf sich hat. Nun, ich kann euch versichern, dass alles in Ordnung ist.
Ich war erstaunt, wie sehr ihr euch für meine Tochter interessiert habt, und dafür danke ich euch. Nein, bitte seid nicht betreten und senkt eure Blicke nicht! Ich meine das ehrlich. Da habe ich gefühlt, wie viel Liebe in euch steckt. So viel Liebe, wie ihr auf das Erfinden von Gerüchten verwendet habt, habe ich selten erlebt.
Vielen Dank dafür! Ich bin mir nicht sicher, ob sich das gehört, doch habe ich eine Bitte an euch: Legt in Zukunft einfach die selbe Liebe in alles, was ihr macht, also in reale Dinge! Danke!“

Das hatte gesessen. Über Mitzi wurde nicht mehr gesprochen, und auch andere Dorfbewohner und deren Taten wurden nicht mehr zu Zielen des Argwohns, des Spottes oder gar der Lüge.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen |Inventarnummer: 17019