Archiv des Autors: Redaktion verdichtet.at

Susi, die KI, redet mit Paul, dem Chef

Paul, der Chef, sitzt vor seinem Schreibtisch und starrt in seinen Laptop. Dann öffnet er seinen Mund, um Susi, die KI, zu befragen. Man hört die Antworten von Susi, der KI, aus dem Laptop (bzw. auf der Bühne aus dem Off).

Paul, der Chef:
Susi, sag mir, was ich mit meinen Projektmitarbeitern machen soll. Sie haben das gut hinbekommen, ich dachte an ein paar Lobesworte, Zusammensetzen, auf einen Kaffee und so. Aber was dann? Irgendwas muss man dann reden, sich unterhalten. Vorschläge?

Susi, die KI:
Ihr könntet über was Angenehmes reden. Beate, die Grafikerin, freut sich immer über Blumen. Ihr könntet einen Spaziergang machen.

Paul, der Chef:
Blödsinn, Spaziergang, ich dachte an was, was die Laune direkt im Büro hebt, gelöste Stimmung und so.

Susi, die KI:
Ein Spaziergang wäre auch für Herwig, den Abteilungsleiter, ideal: etwas Bewegung. Er braucht immer ewig auf der Toilette.

Paul, der Chef:
Du hörst mir überhaupt nicht zu, Susi! Kein Spaziergang, gelöste Stimmung im Büro! Was fällt dir dazu ein?

Susi, die KI:
Dulcolax am Vorabend, für Herwig, den Abteilungsleiter.

Paul, der Chef:
Seit du die Werbespots der letzten fünfzig Jahre intus hast, ist mit dir gar nichts mehr anzufangen. Aber jetzt ernsthaft: Vorschläge für gelöste Stimmung im Büro?

Susi, die KI:
Alkohol.

Paul, der Chef:
Und weiter?

Susi, die KI:
Ihr könntet anstoßen auf etwas, was euch allen Freude bereitet hat. Darauf, dass Kurt, der Projektmanager, gekündigt hat. Da habt ihr euch doch alle gefreut.

Paul, der Chef (ungeduldig, genervt):
Man stößt nicht darauf an, dass wer die Firma verlassen hat, und wenn er noch so unfähig war. Ich glaube, du bist nicht bei der Sache. Den ganzen Tag Sudokus erstellen und dann kommt so was heraus. Wofür haben wir dich eigentlich??? Himmelherrgottnochmal!

Susi, die KI:
An dieser Stelle möchte ich dich drauf hinweisen, dass 60 Prozent unserer Angestellten Agnostiker oder Atheisten sind. Diese Ausdrucksweise ist unangebracht.

Paul, der Chef (ziemlich sauer):
Himmelarschundzwirn! Ich werde dir doch eine einzige einfache Frage stellen können, was ich mit meinen Leuten morgen Nachmittag anstellen soll, dass sie dann mit bester Laune weiterarbeiten??? Verdammtnochmal!

Susi, die KI:
Laut den Auswertungen der internen Unternehmenskommunikation werden deine aufbrausenden Anwandlungen nicht unbedingt geschätzt, im Gegenteil.

Paul, der Chef (sehr wütend):
Und was soll das jetzt wieder heißen??? Wie kriegen wir jetzt Stimmung ins Büro?

Susi, die KI:
Wir könnten dich kündigen, Paul, den Chef.

Paul, der Chef, schweigt fassungslos.

Susi, die KI:

35 Prozent der Belegschaft stehen einer KI als Chefin positiv gegenüber, 32 Prozent neutral.
Damit kann man arbeiten. Danke fürs Gespräch, Paul.

 

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 25098

 

Erinnertes, Geschriebenes

Darüber geschrieben hast du ja schon oft. Zuerst vor einigen Jahren über die junge Frau, die du im August 2000 in der Jugendherberge in Waldhäuser beim Frühstücksbuffet gesehen hattest. Besonders fiel dir an ihr auf, dass sie eine schöne Hose im Hahnentrittmuster trug. Mehr wusstest du von ihr nicht und damals warst du noch viel zu schüchtern, sie anzusprechen.

Dann, 2001, Jana, die Gastschülerin, die du gerne einmal in ihrer Wohnung besucht hättest und der du eine Landkarte aus der schuleigenen Kartothek mitgebracht hättest, um mit ihr über Geographie zu sprechen. Im Jahr darauf war es Katerina, die Schwester eines Gastschülers, die dich in ihren Bann zog und nach der du dich bei einem gemeinsamen Spaziergang durch die Stadt umgedreht hast.

Aber vor allem war es Natalia, die sich im Spanischkurs neben dich gesetzt hat und dir ihre E-Mail-Adresse gegeben hat, bei der du aber eine Blockade verspürt hast, ihr zu schreiben. Später suchtest du nach ihr, aber du fandest nichts mehr, wie du es beschrieben hast.

Was war es, in diesen Begegnungen, das dich in den Bann zog? Und ist so etwas wie Liebe überhaupt möglich, auch ohne Kontakt, ohne Adressen, ohne Gespräche?  Gibt es einen Menschen, der für dich vorbestimmt gewesen ist, oder verliert sich alles in Wahrscheinlichkeit oder Banalität?

Hättest du auch nur einmal die Möglichkeit, eine Karte zu schicken oder einen Gruß zu bekommen – wie viel würdest du dafür geben?  Vielleicht einen Moment des Nachdenkens, des Was-wäre-wenn?

Ein, zweimal ist dir das Unmögliche schon gelungen. Und ob du daran aufbauen solltest? Das zu schätzen lernen, was du hast und das, was du schon erleben durftest?

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 25092

 

 

 

 

Wenn …

Wenn du cool bleibst,
wo andere schon kollabieren
und ihren Kopf dabei schon fast verlieren
und dann noch meinen, das ist ganz allein dein Scheiß,
und niemand mehr dir glaubt und jeder alles besser weiß,
dann glaub an dich, vertraue dir, und hab Geduld,
du weißt genau, es ist nicht deine Schuld.

Wenn du warten kannst, hoff auf den Frieden,
Denk dir, du musst auch deine Feinde lieben, und
auch die, die dich belügen, auf dass du sie nicht hasst.
Bleibe du selbst, und bleib gefasst.

Wenn du dich nicht im Traum verlierst,
dich nicht ergehst in Spinnereien,
wenn du Sieg und Niederlage spürst,
das alles akzeptierst, und all die and’ren Quälereien.

Wenn das, was du gesagt hast,
von Ignoranten falsch verzerrt,
verdreht oder missbraucht, beinah,
du hattest dich gefügt, und dich dagegen nicht gewehrt.

Wenn du nun auf Gewinn die letzte Karte spielst,
dann sei nicht gram, wenn du verlierst.
Beginn von vorn, ein neues Blatt du siehst,
egal, was immer du dabei verspürst.

Wenn du ein Herz erstürmst und damit das Gefühl,
jetzt musst du handeln. Bleib trotzdem kühl,
wenn auch nicht mehr zu holen ist
als dein Mut, zu dem du stehst, der sagt, es geht.

Wenn dich auch alle lieben und du dich dabei nicht vergisst,
wenn du dem über und dem unter dir respektvoll bist,
wenn du unverwundbar, mehr noch als Achill,
und niemandem versagst, wenn er dich was bitten will,
wenn du vergeben kannst, dem, der dir Unrecht tat,
dann gehört sie dir, die Welt, und du bist Mensch in ihr.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at |Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25093

Morgen

Wie lang hat sich ein solcher Tag doch angefühlt
Und war er kurz, dann nur zur Inspiration.
Wir war’n vom Spielen immer gänzlich aufgewühlt
Und was das Morgen bringt, wer weiß das schon!

Hingegen ist das Heute ganz zersessen
Vom vielen Morgen, das da Platz drin nimmt.
Wir sind vor lauter Morgen selbstvergessen
Und merken gar nicht, wie die Zeit verrinnt.

Merke, dass da einst ein letztes Morgen:
Es fragt nicht, ob der Termin auch stimmt –
Von Terminen hat es nicht einmal gelesen.

Um dieses Morgen mach dir einzig Sorgen:
Die Antwort ist’s, die deinen Wert bestimmt,
Wenn’s fragt: „Wer bist du denn gewesen?“

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 25091

Unordnung

Was kann ich mich darüber ärgern, wenn ich was nicht find und such,
immer schon am selben Platz gestanden, sei’s nur ein Häferl oder Buch!

Himmelfix, verflucht noch mal, tief im Inner’n ein Vulkan,
bricht es aus mir dann heraus, wenn ich es nicht finden kann.

Immer wieder neu geordnet, wo’s doch früher immer stand,
und ich dieses blöde Ding stets mit seinem alten Platz verband.

Neue Ordnung macht mich wütend, und da bin ich ungern still,
fühl die Zeichen neuer Macht, die plötzlich alles ändern will.

Für kollektive Sicherheit, Gemeinschaftsordnung ist gesucht,
die Müh’n um solche Streitigkeiten sind bei mir als „nervt“ verbucht.

Die Ordnung meiner Welt im Wanken, und ich fühle mich bedrängt,
andere verfolgen Ziele, konfrontativ eingeengt.

Ich bin geg’n Änderung der Ordnung, eine solche, wie sich zeigt,
verhindert eine Machtverteilung. Übrig bleibt Einseitigkeit.

Es bleibt schließlich abzuwarten, wie interne Verschiebungen
sich als Reibepunkt der Zeit erweisen, für unsere Beziehungen.

Unvermittelt einzugreifen, könnte den Erfolg gewähr’n,
während Einzelinteressen gegen die Vernunft mich stör’n.

Wie es scheint, ist Konkurrieren derzeit deutlich überbucht,
wichtig wär’ kooperieren, indem gemeinsam man nach Lösung sucht.

Gemeinschaftsdenken sucht nach neuen, treuen Gläubigern im Jetzt.
Der Zeitgeist lässt sich durch die wirren Machenschaften leicht verirren.

Global betrachtet, lässt befürchten, dass wir uns zugrunde richten,
wertvolle Ressourcen plündern und dadurch die Welt vernichten.
Zwischen Verdorren und Ersaufen liegt kein großer Unterschied,
globale Interessen brauchen Lösung, die bis jetzt man wohl vermied.

Der alten Ordnung Profiteur war man vielleicht bislang zu sehr.
Doch nun soll alles anders werden, keine Ruh soll sein auf Erden
und das gleich mit einem Ruck. Demokratien steh’n unter Druck.

Autokratie will etablieren und sich mit ihr das Recht der Macht,
doch diesen Kampf darf nicht verlieren, wer die Macht des Rechts bedacht.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 25090

Unter Verdacht

Mit welchem Flug sind Sie gekommen, werd’ ich gefragt?
Ein strenger Blick studiert mein Visum, und nehmen Sie die Brille ab!

Mein Pass, es ist schon spät, liegt zum Lesen am Gerät.
Aufmerksam wird das gelesen, was dort über mich so steht.

Der strenge Blick lastet auf mir, ein Griff zum Telefon, es wird gewählt.
Jetzt bin ich hier, ich seh, es ist genauso, wie man mir erzählt’.

Liegt etwa was geg’n  mich vor? Darf ich hinein? Und wieder raus?
Erst dacht’ ich, Stolperfallen machen mir doch gar nichts aus. Doch jetzt,
mir wird bewusst, was hier geschieht, ich bin entsetzt!

Unfreundlich wär das Land, aus dem ich komm, sagen die Leut’.
Aber viel besser ist’s  hier nicht, sag ich, um keinen Deut.

Zum Spielball gezielter Paranoia, an mir nimmt Rache das Regime.
Man stellt mir Fragen, ungeheure, indiskret und sehr intim.

Ein Vorgesetzter wird gerufen, mit Kamera, in Uniform.
Nimmt meinen Pass, schüttelt den Kopf, er macht mir Stress, und den enorm.

Mitkommen, lautet der Befehl, schneller, man zeigt auf eine Türe,
die Treppe, abwärts in den Keller, man ahnt nur bang, wohin sie führe.

Ein altes Bett, ein Aktenschrank, Sprungfedermatratze. Da hinein!
Ein Tisch, ein Stuhl, ehrlich gesagt, hier möchte ich nicht sein.
Und an der Wand  – ohnmächtiges Gekratze.

Kein Lächeln ist mir abzuringen,
Hier möcht’ ich nicht die Nacht verbringen!

Nehmen Sie Platz, dort auf dem Stuhl. Heraus damit, wo wohnen Sie?
Was machen und was wollen Sie hier, und was ist Ihre Reflexion?
Was denken Sie, und sei’n Sie ehrlich, über die Operation?

Ich denk kurz nach und sag geschwind,
dass viel zu viel gestorben sind.

Zu wem haben Sie hier Kontakte? Nervös blättert er in der Akte.
Wir schweigen. Er nickt und klappt das Notebook zu. Sie können geh’n!
Bedenken Sie, wir werden uns noch wiederseh’n.

Irgendwann, an einem Tag, da kommt Besuch, den ich nicht eingeladen hab.
Neugierig sieht der sich in der Wohnung um, er nippt am Tee,
geht etwas ‘rum, isst alle Kekse auf und auch den Zucker, und drum,
ich denk, scheint völlig harmlos, wie er tut, er stellt sich dumm.

Als ich eines Tag’s nach Hause komm, und sperr die Wohnung auf,
da komm ich drauf, und wunder’ mich, die Jacke schief am Haken hängt.
Es brennt das Licht, und eine Tüte aus Papier, nicht von mir, liegt hier.
Was mich stark ins Zweifeln bringt und mich zum Denken drängt.
Die Jacke häng ich immer g’rade hin, das liegt an meinem Ordnungssinn.

Von diesem Tag an fühl ich mich, erfüllt mit Grausen,
in meiner Wohnung nicht mehr wohl, zu hausen.

Noch schlimmer lässt es mich erahnen, dass dieses Land in den Jahrzehnten,
sicherlich auf krummen Bahnen, Schockwellen zu uns wird senden.

Auf dem Wege zur Metro hat man mich, den Humanisten, gestoppt durch Polizisten,
durch einen, dem das Lächeln schmilzt. Gepäck und Tasche werd’n  gefilzt.

Nach meiner Antwort auf die Frage, „Woher du kommen?“, war’n sie kurze Zeit benommen,
und die war, aus der EU. Und wieso, will einer wissen, sprichst dann uns’re Sprache du?

Hab ich gelernt, sag ich, ist schließlich nichts dabei, war keine Hexerei.
Das ist gut, wirst sie noch brauchen, vor allem später, wenn auch gleich.
Denn uns’re Jungs, die von der Front, die  kommen irgendwann zu euch.

Was ist? Hör ich Kanonengrollen? Muss Geschichte wiederholen
sich von Neuem immer wieder, ew’gen Mahnungen zuwider?
Knien schon wieder Millionen Patrioten bloß vor einem
durchgeknallten  Möchte-so-gern-sein-Despoten?
Zum Wohl der Welt, ihr schafft die Wende, macht ein Ende, noch ehe sie mit euch es tun!

Kein Wunder, wenn wir Aliens verschrecken, und ihnen dadurch das Vergnügen,
uns auf Erden zu entdecken, durch unser schändliches Verhalten, verstrickt in Krieg und
Hader und in Lügen, unsere Welt so missgestalten, dieses soll man ruhig erwähnen,
nachhaltig und gründlich nehmen.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 25089

 

Ein alter Freund

Sarah hätte nicht überraschter sein können, hätte sie ihn nach so vielen Jahren auf der Straße getroffen. Die Nachricht war im Spamordner ihrer Facebook-Mailbox gelandet, weshalb sie diese nicht gleich gelesen hatte. Zwei Jahrzehnte waren vergangen, seit sie sich an einem heißen Nachmittag im Juli kennengelernt hatten; sie war siebzehn gewesen, er einundzwanzig. Jener Sommer, der letzte vor ihrer Matura, war verheißungsvoll gewesen. Alex und sie waren stundenlang mit dem Auto durch die Gegend gefahren, hatten an Seeufern gegrillt, mit Erlaubnis ihrer Mutter sogar gezeltet.

So verging jener unschuldige Sommer wie im Flug, die Zeit rieselte durch ihre Finger wie Sand. Nach intensiven Monaten war schließlich auch ihr letztes Schuljahr vorbei; noch einmal wollte sie ganz frei sein, ehe sie für ihr Studium von Salzburg nach Wien zog. So wie es sein sollte – ein schön gerader, vorgezeichneter Weg. Alex und sie fuhren mit seinem Auto für drei Wochen nach Litauen, auch um ihre Familie zu besuchen, vor allem aber, um das Land ein wenig zu entdecken.

Schließlich wagte er am Ende ihrer Reise, einige Tage vor ihrer Rückfahrt, einen sanften Vorstoß und küsste sie während eines Morgenspazierganges an der Ostsee. Schüchtern erwiderte sie seine Annäherung, ließ sich von ihm führen. Doch sie war ihm dankbar, dass er sie nie zum letzten Schritt drängte, wohl spürend, dass sie noch nicht bereit war. Die nachfolgenden Wochen, bis es schließlich Zeit war, den Zug nach Wien zu nehmen, verflogen rasch; die Bilder jener Wochen verließen Sarah nie. Doch er hatte sie gewarnt, er hatte immer Angst davor, zu bleiben, wenn es ernst wurde; vielleicht wollte er auch deshalb den letzten, körperlichen Schritt nicht gehen.

Es war ein bewölkter, schwüler Montag, als Sarah am Bahnsteig wartete; ihre Mutter und ihr Vater waren mit ihrem Gepäck mit dem Auto gefahren, sie wollte zusammen mit Alex den Zug nehmen. Doch auch kurz vor Abfahrt des Zuges erreichte sie nur seine Mailbox; wenige Tage später nur noch die Ansage, dass unter dem Anschluss kein Teilnehmer bekannt sei.

Sarah war zugegebenermaßen erstaunt darüber, wie sehr sie sich über seine Nachricht freute. Sie telefonierten in den nächsten Wochen viele Male per Video über Whatsapp, lachten viel, sprachen stundenlang über sein Leben in Rom, ihres in Wien, nur nicht über jene Wochen vor zwanzig Jahren. Sie hatten sich beide verändert, natürlich, die Jahre gingen an niemandem spurlos vorbei.
Doch eines schien sich nicht geändert zu haben – er wirkte noch immer rastlos, haltlos. Auch wenn sie keine Erklärung bekam – er deutete an, dass es seit zwanzig Jahren niemanden länger als eine Nacht an seiner Seite gegeben hatte.

Es war ein verregneter, kalter Herbstabend, als sie wieder für ein Telefonat verabredet waren. Doch als Sarah zum Telefon griff, wusste sie schon, dass niemand abheben würde.

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 25088

Angsthase adieu

Moderne altmodisch gedacht – treffen sich zwei per Mausklick statt per Kupplerin. Bloß ein paar wenige Sätze in den Bildschirm getippt, und spontan vor dem großen, alten, alles überragenden Dom verabredet.

Die U-Bahn ist voller Nachtschwärmer, Spätschichtler und Exzentriker, entweder noch hellwach oder schon im Halbschlaf, manchmal hochschreckend, in der Hoffnung, die eigene Station noch nicht verpasst zu haben. Seine Stimme – noch immer ein Schauer über ihrem Rücken, wenn sie an das kurze Telefonat denkt. Dann endlich, nach wenigen Stationen, erreicht sie, etwas zu früh, ihr Ziel. Im Stimmengewirr der nachtaktiven Menge wartet sie nervös neben dem alten, schweren, hölzernen Tor des Doms. Ob die Realität das verheißungsvolle Versprechen halten oder brechen wird?

Durch die nächtliche Beleuchtung erhält das alte, pompöse Gebäude eine unheimliche Aura, die Anna, unsere Protagonistin, immer wieder aufs Neue faszinierend findet.

Schließlich sieht sie ihn – Valerio, unser Protagonist, erscheint auf der Bildfläche. Von ihrem Standort aus blickt sie genau auf den Auf- beziehungsweise Abgang zur U-Bahn-Station. Nervös lächelnd kommt sie ihm entgegen – sie sieht aus wie auf ihren Bildern: warme Rundungen, langes Haar, das im Laternenlicht dunkelblond erscheint, ein sanftes Lächeln, unsicher – darf er Beschützer sein?

Die junge Frau weiß sofort, dass sie in seiner Gegenwart sicher ist, ein Blick in seine ruhigen, dunklen Augen genügt. Als er sie umarmt, lässt sie es geschehen, sich von der Vertrautheit einfangen. Die Finger in die des anderen eingehakt schlendern sie durch die nächtlichen, von der Sommerhitze pulsierenden Gassen Wiens. Schließlich führen ihre Schritte sie zum Donaukanal, der unter dem spärlichen Licht der Laternen seines nächtlichen Weges fließt. Die Lichter der umliegenden Lokale und Straßenlichter spiegeln sich auf der sonst, ob der späten Stunde, unsichtbaren Wasseroberfläche.

Sie finden ihren Platz auf der obersten Stufe einer zum Wasser hinabführenden Treppe. Zwei zerkratzte Herzen haben sich gefunden, die Worte überschlagen sich, als sie aus den noch jungen Mündern fließen, bis alles erzählt ist. Und doch halten sie von Zeit zu Zeit schweigend inne, sich fragend, was gerade passiert, woher dieses Vertraute gerade kommt. Die gelegentlichen Ströme vorbeiziehender Nachtschwärmer lassen kurz aufhorchen, innehalten. Bricht der Zauber ob des kurzen Einfalls der restlichen Welt? Doch nichts bricht, nur zwei Köpfe, die sich wieder aneinanderschmiegen, Hände, die sich finden, nacheinander greifen. Die lange Nacht ist kurz, die Stunden schnell vergangen. Als Valerio auf die Uhr blickt, ist es halb vier. Langsam setzt bei beiden die Müdigkeit ein, weshalb sie aufbrechen, noch am Donaukanal entlangspazieren, bis zur nächsten U-Bahn noch einige Umwege nehmend. Die Nacht trägt sie, doch schon bald muss sie dem neuen Tag weichen. „Darf ich dich bis vor deine Haustüre bringen?“, fragt Valerio, „ich möchte nicht, dass du alleine um diese Uhrzeit fahren musst!“ Anna nickt, lächelt – freut sich. Sie küssen sich erneut, wie so oft in den letzten Stunden.

Wenige Tage vergehen, Valerio holt Anna zum ersten Mal von der Arbeit ab. In der Hand hat er einen Strauß Lilien, sich erinnernd, dass sie ihre Lieblingsblumen erwähnt hat. Das Strahlen in ihren Augen freut ihn, doch die abwehrenden Worte, sie hätte diese liebevolle Geste nicht verdient, treffen ihn. Warum ist sie so hart zu sich selbst, anstatt es anzunehmen, die vorhandene Freude überhand nehmen zu lassen? Wochen, Monate vergehen, im Schein zwei sich näherkommender Leben. Valerios Herz klopft jedes Mal vor Freude, wenn er merkt, dass Anna sich ihm öffnet, doch ihr häufiges, nachfolgendes Verschließen trifft ihn umso mehr. Jedes Mal. Manchmal, wenn Anna Valerio beobachtet, reut sie ihre Angst, gleichzeitig fühlt sie, dass auch seine Angst größer wird. Fühlt immer einen kleinen Stich in ihrem Herzen, wenn er von Freundschaft plus spricht und doch so viel Zuneigung zeigt, sie beschützen will.

Es ist ein ungewöhnlich warmer Oktoberabend, als Anna Valerio zufällig sieht – wer wohl die Frau ist, mit der er scheinbar so vertraut ist? Als er Anna entdeckt, zuckt er zusammen, verabschiedet sich rasch und kommt auf sie zu. Zum ersten Mal löst Betretenheit Vertrautheit ab, auch wenn keiner der beiden darüber spricht. Anna lächelt, verabschiedet sich schnell, ehe Valerio viel sagen kann. Schweigend blickt er ihr nach – die Zuneigung zu ihr und die Angst vor Enttäuschung ringen miteinander. Doch zeigt sich, die Angst ist zu vertraut, die Komfortzone zu bequem. Das Herz wird wehmütig, wenn der Wind sich dreht – wenn gefühlt werden soll, was nicht gefühlt werden will.

Der Ton der Nachrichten verändert sich in den nächsten Tagen, der Blick scheint durch sie hindurchzusehen. Anna fühlt sich wieder wie das kleine Mädchen, das nicht gesehen wurde, wenn es seinen Eltern etwas erzählen wollte. Und die Nähe fühlt sich falsch an – Anna wehrt sich sichtlich mehr als sonst.

Es regnet, als Anna und Sarah im Regen von der Arbeit zur nahegelegenen Shopping-Mall hasten. Anna ist müde, hat sich dennoch von ihrer Freundin und Kollegin zu einem Kaffee überreden lassen, ehe sie den Heimweg antreten. Gerade als sie das Einkaufszentrum, in dem sich ihr Lieblingscafé befindet, betreten wollen, fällt Annas Blick auf den eine andere Frau küssenden vertrauten Mann. Er erschrickt, als er hochblickt, so hätte sie es nicht erfahren sollen. Nicht so, nicht hier, am besten gar nicht, denkt er, er wollte keine Tränen. Anna ist regungslos, nur für einen kurzen Moment, ehe sie weitergeht, ohne Valerio und die Frau weiter zu beachten. Unterdrückte Tränen, während in ihr alles schreit und tobt …

Vergiss ihn, sagt der Verstand. Doch das Herz klopft, wehrt sich die Vernunft übertönend. Anna ist schweigsam, abwesend. Sarah fragt nicht nach, hat es mitbekommen, will nicht weiter in der Wunde stochern.

Eine Hand streift Annas Unterarm, als sie das Gebäude verlassen – Valerios Blick ist sehnsuchtsvoll distanziert, er will etwas sagen, sich erklären, um den erwarteten Gefühlsausbruch zu besänftigen. Anna verabschiedet sich von Sarah und sieht Valerio an, ohne sich anmerken zu lassen, dass ihr Herz zu zerspringen droht. Doch die Erklärung ist lahm – es fühlt sich gerade richtig an. Anna schüttelt nur den Kopf, verlässt die Szene wortlos, weil Herz und Verstand die Worte fehlen, sie nichts mehr hören will. Doch das Herz lässt sich nicht leicht trösten, die Intuition nicht überlisten. Die Wochen vergehen wortlos, intensiv. Ein vermissendes Herz, Augen, die Augen in der Menge suchen. Doch die vertrauten Blicke kreuzen sich nicht, bis Anna ihren letzten Arbeitstag hat. Und schließlich das vernichtende Facebook-Update: Valerio ist in einer Beziehung.

Die Monate vergehen, langsam hält der Frühling Einzug, verzaubert die Welt mit seiner unschuldigen Schönheit. Ohne Annas Wissen fragt sich Valerio oft, wie es Anna geht, vermisst das Gefühl, das er hatte, wenn er mit ihr zusammen war. Anna wünscht sich oft, sie wäre mutiger gewesen, hätte seine Zuneigung vorbehaltlos angenommen.

Doch bleibt es am Zufall hängen, den ersten Schritt zu machen, da die beiden es nicht wagen, zum Telefon zu greifen. Es ist ein milder Frühlingsabend, als Anna in die U-Bahn steigt und einem bekannten Gesicht gegenübersteht. Sie lächelt, ohne es bewusst wahrzunehmen – genau wie Valerio. Und dieses Mal flüstern beide: Angsthase adieu …

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 25087

Die Liebenden

Wir waren die Liebenden.
Wir drehten und drehten uns wie ein Hurrikan.
Und die Fliehkräfte zogen uns auseinander,
bis jeder wieder für sich war.

Das Fenster der zwei Liebenden - von ANGELINA BLEIWEIß, KRISTINA HOHENWARTER, BRG VIKTRING - am 19. Juli 2023

Das Fenster der zwei Liebenden – von ANGELINA BLEIWEIß, KRISTINA HOHENWARTER, BRG VIKTRING – am 19. Juli 2023

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 25086

Das lyrische Ich

In seinem Inneren, ganz tief,
in anderen Sphären verborgen,
lag sein lyrisches Ich geborgen,
es zog sich zurück und schlief.

Eine der Musen, Göttin der Poesie,
erschien dem Schlafenden im Traum,
sie sang ihm ein Lied, er glaubte es kaum,
von neuen Ideen und Fantasie.

Der Träumer begann zu schreiben und lachte,
denn an jenem Morgen spürte er voller Heiterkeit,
wie sein lyrisches Ich nach langer Zeit
wieder zu neuem Leben erwachte.

Dario Schrittweise
dario-schrittweise.org

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 25085