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Der Korkenzieher – il cavatappi (Italien 3)

Ich glaube an die Magie der Orte.
Franz Kafka über Müritz, Juli 1923

Vom Sonnenschein angelockt, rüstete ich mich gegen Mittag zum ersten Gang durch die Stadt. Die Schrecken der Nacht würden sich unter dem blauen Himmel auflösen, so die Hoffnung. Ein paar Schritte von der Haustüre die enge Gasse hinunter kreuzt sich meine Via Monte Grappa mit der Via Settembrini und der Galileo Galilei – wunderbare Schutzheilige, denke ich mit Befriedigung. Die Kirche San Rocco ist so groß, dass sie auf jedem Platz Mailands stehen könnte, der anschließende Corso Emmanuele I. ebenfalls. Immer wieder diese Freude und Sentimentalität der Alpenländlerin, wenn unter den Kugelbäumen vom Sturm abgeschüttelte Orangen liegen und nicht angefaulte Mostbirnen oder zerdeptschte Zwetschken. Das ist schon mal der Anfang von der Italieneta!

Als Erstes im Tabacchi Zigaretten kaufen, suche nach Schulheften und Kulis, sollten meine mitgeführten Vorräte nicht reichen, Il Giorno von gestern für die Aufbesserung meines eingerosteten Italienisch, Ansichtskarten gibt es keine zu dieser touristenfreien Jahreszeit. Oder ist die freundliche, aber sehr runde Angestellte nur zu bequem, diese aus dem Lager herauszukramen? Wahrscheinlich wirke ich auf sie zu komisch und exotisch, dass sie wie gelähmt ist.
Als ich mit meinen Schätzen wieder auf den Corso heraustrete, steuert eine alte Frau ausgerechnet auf mich zu – eindeutig die einzige Touristin außer mir – und fragt mich – mich? Warum? Schaue ich italienisch aus? – in fünf gebrochenen Italien-Worten nach dem Weg zum Meer. Sie sieht aus wie eine weißhaarige Virginia Woolf, und ich antworte daher auf Englisch, gebe ihr die vage Richtung an, nach Süden, soviel ich vom Balkon aus hatte sehen können.
Sie schenkt mir ein so dankbares Lächeln, als hätte ich sie von irgendetwas erlöst.

Ich will eigentlich auch dorthin, durchquere aber zuerst die Stadt der Länge nach. Erst als sie in Felder überzugehen beginnt, nehme ich die Straße nach Punto Maria della Leuca, das ist dem Führer nach das Kap mit dem Leuchtturm und der Wallfahrtskirche.

Die Ausfahrtsstraße ist gesäumt von verschlossenen Villen, eingewinterten Gärten, zerfressen von Gewerbeparks – Industriekeramik, Teppichland, Fliesenland, Grabsteinland, Autozubehör, Tankstellen. Auch die grindige Pizzaria Vesuvio und eine Bäckerei haben geschlossen. Ich bemühe mich, mir die Schönheit dieser Gegend im Sommer vorzustellen. Das ist gerade schwer. Der Wind stößt mich ruppig vorwärts, manchmal zur Seite. An einer schmalen Stelle des Gehsteiges fegt mich eine Windböe auf die Straße. Zum Glück kommt gerade kein Auto daher, aber der Schock ist so heftig, dass ich in die nächste zur Stadt zurückführende Gasse einbiege und meinen Gang zum Meer auf besseres Wetter verschiebe.

Die Sonne ist da, aber sie ist so kalt, dass ich mir ein warmes Kaffeehaus herbeiwünsche. Nix da, gibt‘s nicht, ein einziges Café am Ende des Corso ist offen, drinnen und davor schwarz vor alten Männern. Also setze ich mich mit einem Fingerhut von Espresso – so schmeckt Kaffee! – an einen der Tische vor dem Lokal, dazu einen unübertroffenen Fruttone, ein mit Mandelcreme und Quittenmarmelade gefülltes Törtchen. Mich umschwirrt ein Männergeschwätz, in dem ich kein einziges italienisches Wort erlauschen kann. Die apulische Sprache soll wie das Sizilianische angeblich durchsetzt sein mit Gaben aus dem Altgriechischen, Albanischen und Arabischen, wer weiß was noch Afrikanisches. Viele Orte sind griechische Gründungen, die Nachkommen nennen sich Greki. Der Sonnenseite des Corso entlang stehen Männer an die Hauswände gelehnt – aha, nicht nur mir ist kalt, auch sie wärmen sich.

Zeit für meinen ersten Großeinkauf, beim ersten Queren bin ich an einem Supermercato Sigma vorbeigekommen. Ich raffe zusammen, was an Italianita ich bei mir in meinem Wohnturm haben will: Kaffee, Tee, Parmesan, Schinken, Gorgonzola, Yoghurt, Gläser mit Carceofini, Sugo, Kapern, Oliven, Mayonnaise, Honig, Marillenmarmelade, eingelegte Tomaten, Paprika und Silberzwieberl, schwarzen Pfeffer unbedingt, weil der wirklich nach Pfeffer schmeckt. Dann Orangen, Mandarinen und frisches Gemüse. Alles etwas teurer als bei uns, wie machen sie das? In einer außertouristischen Saison?
Lange Reihen mit dem üblichen europäischen Schrott von Danone und dänischer Butter, von Schokoriegeln und Katzenfutter. Jetzt noch Wein. Lange suche ich in der großen Auswahl, vergleiche Herkunft und Preise, die einheimischen Marken sagen mir nichts, sie haben aber schöne Namen wie Negroamaro oder Aleatica, und natürlich prüfe ich die Hälse ausgiebig nach Stoppel/Korken und Rillen. Endlich finde ich eine passende weiße und eine rote Flasche mit barbarischem, aber praktischen Schraubverschluss. Ich kaufe einen rosso um sagenhafte 7,90 Euro, einen Sanpietrana aus Brindisi, und einen billigeren bianco aus Tarento.

Jetzt noch schnell beim Panificio vorbei, ein paar Panini und einen kleinen Laib Schwarzbrot, und zurück in den Wohnturm zu meinem ersten italienischen Essen. All das gibt es natürlich auch in Wien zu kaufen, aber hier schmeckt es hundertmal besser. Warum nur? Weil die Sehnsüchte so stark sind. Trotz eines starken Kaffees überkommt mich beim Lesen des Il Giorno schnell der Schlaf – die Nacht hat ja nicht viel davon hergegeben.
Als ich aufwache, ist es schon dämmrig im Zimmer. Die Sonne ist noch nicht untergegangen, aber von grauen Wolkenbänken über dem Meer verdeckt. Schlechte Aussichten für den nächsten Tag. Das Wetter kommt ja immer aus dem Westen. Die Palmen und Eukalyptusbäume im Garten gegenüber werden gebeutelt und neigen sich bedrohlich zu Boden. An den Mauern haben die Rosen und Bougainvilleas noch Blüten, werden aber wie Lorbeer und Feitschi arg durchgeschüttelt. Eine schwarz-weiße Katze schleicht geduckt über eine Steinmauer. Weil es draußen auf dem Balkon zu kalt und windig ist, hole ich den kleinen Tisch ins Zimmer und genieße, geschützt, aber bei offener Türe, Mahl und Aussicht.
Es kann nicht mehr schöner werden, ich habe alles, wovon ich im Wiener Winter geträumt hatte.

Aber oje, die Flasche hat einen Korken, was ich nicht bemerkt habe, weil die Schlaumeier künstlich Rillen in den Plastikbezug des Flaschenhalses gemacht haben. Das kann nicht sein, ein italienischer Haushalt ohne Stoppelzieher? Ich suche die beiden Zimmer systematisch ab, den Geschirrschrank, die Bestecklade im Esstisch, die Küche – vergeblich, bis ich auf dem Sims des offenen Kamins fündig werde. Aber oh Schreck, es ist ein italienischer Korkenzieher, den Kellner so genial einhändig händeln können, aber Laien wie ich nicht beherrschen. Ich kann, wenn überhaupt, nur mit dem zweiarmigen Hebelkorkenzieher umgehen. Ich hole mir Blasen an den Fingern, aber der Korken hält, beste italienische Qualität. Vielleicht der teure Rote? Nix da, der gleiche Trick, wieder künstliche Rillen und ein fest sitzender Korken, in den ich die Spirale zuerst fast nicht hineinkriege, die aber dann auch noch unbeweglich stecken bleibt.

Bevor die Enttäuschung in Verzweiflung umschlägt, laufe ich schnell zum freundlichen Panificio und frage nach einem Geschäft mit Haushaltsgeräten, nicht ohne dass ich zuvor die paar Worte aus dem Wörterbuch herausgesucht und auf einem Zettel notiert hatte. Dove posso trovare cavatappi? Vorrei casalinghi, vorrei cavatappi, ich suche ein Haushaltswarengeschäft, einen Korkenzieher. Der Bäcker ist noch freundlicher und erklärt mir wort- und gestenreich den Weg zu einem Laden mit dem wunderbaren Namen Fortunato. Ich verstehe nur sempre diritto bis zu einem Platz und dann sinistra, gleich an der Ecke ist der negotio von senior Fortunato. Da renne ich also durch die dämmrigen Gassen und finde den Fortunato auch wirklich. Ein Gemischtwarenladen, eine Greißlerei, wie ich sie bei uns schon lange nicht mehr gesehen habe, von allem ein bisschen was. Dove, vorrei, uno cavatappi. Ich habe immer memoriert – cavatappicavatappi mit jedem Schritt – hchhch, das Herz schlägt.
Da ist Fortunatuo! Fortunatus Wurzel, denke ich natürlich. Wo kommt der her? Nestroy oder Raimund? Es ist zu kalt dafür. Er bietet einen Riesen um 8,95 und einen bescheidenen um 3,95 an. Den ich kaufe, dazu noch Zwiebeln, Knoblauch, Ricotta, Eier, Nudeln, Sugo, eine Melone und eine dicke Schnitte Speck. Fortunato schüttelt wortlos den Kopf, weil ich für all das noch zweimal zurückkomme.

Kochen, aufdecken, essen. Ist das ein Fest! Ich habe ein paar Stängel gelber Blumen am Straßenrand gepflückt und in eine Vase gestellt, nehme an, Klee. Hübsch, aber sie knicken sofort ein. Jetzt nur noch der Wein! Aber ich kriege den Stoppelzieher nicht aus der Verpackung, verdammt. Versuche es mit meiner Nagelschere, Feile, mehreren Messern aus der Bestecklade, nichts geht. Er ist atombombenfest in Plastik eingeschweißt – Made in Taiwan. Die Wohnung ist so karg eingerichtet, dass es nichts mehr zu untersuchen gibt. Endlich die Erlösung, im Kamin finde ich eine Axt, die ansonsten sicher nur zum Holzspalten dient. Mit ihr kann ich das Korkenzieher-Gehäuse zertrümmern, aber breche dabei gleich einen Arm ab. Den Sanpietrino kann ich doch noch öffnen.

Ich bin erschöpft, aber Anspannung und Kälte gleiten allmählich in allgemeines Wohlbefinden über. Dann will ich das auf dem großen Holztisch ausgebreitete Stillleben mit meinen Einkäufen fotografieren, die beiden Korkenzieher im Vordergrund und den befreiten Sanpietrino dahinter. Da zeigt meine Kamera blinkend an, dass sie keinen Saft hat. Und das Aufladekabel ist zu Hause geblieben. Wer denkt schon an so was? Wer hat überhaupt noch eine aufladbare Kamera? Also morgen eine neue Suche aufnehmen, beim Bäcker anfangen bis zum Fortunato, vielleicht.

Da höre ich ein Klopfen unten an der Tür, es ist eher ein Donnern, da tief unten eine Eisentür. Rocco fragt, wie es mir geht. Alles in Ordnung? Tutto bene, grazie, vabene. Grazie! Mein Italienisch ist so gut wie bei Donna Leon. Selig, Abreise noch einmal aufgeschoben.

Wien, 7.3.18

Veronika Seyr
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Eine italienische Nacht in der Casa Franca (Italien 2)

Als ich in Gagliano del Punto aus dem Zug steige, bin ich genau 24 Stunden unterwegs gewesen. Rocco, der frühere Besitzer des Hauses, holt mich pünktlich vom Bahnhof ab und fährt mich an die Adresse mit dem schönen Via Monte Grappa gleich hinter dem Dom. Von der Stadt sehe ich fast nichts, es regnet und ist stockfinster. Es geht durch kaum beleuchtete, menschenleere Straßenzüge, glatte, abweisende Mauern ohne Fenster, über einen mit Kugelbäumen gesäumten Boulevard und zwei städtische Plätze, die von Kandelaber-Lampen schwach beleuchtet sind. Menschen sind keine unterwegs, obwohl es erst kurz nach sieben ist.

Rocco weist mich in die Casa Franca ein, zeigt mir alles Nötige, die zwei Zimmer, Heizung, Wasser, Herd, Kühlschrank, Geschirr, Toilette, den Bettzeugkasten, den Ausgang zum kleinen Balkon und den Aufstieg zur Dachterrasse – alles klar, vabene, ich verabschiede ihn schnell und bin allein.

Eine Küche mit offenem Kamin, ein Esszimmer, ein Schlafzimmer mit zwei schmalen Betten. Mehr kann ich vorerst nicht wahrnehmen. Ich bin fast ohnmächtig vor Müdigkeit. Ich habe im Schlafwagen von Wien nach Bologna nicht geschlafen und im Zug nach Lecce nur wenig nachgeholt. Außer dem Mosaikboden nehme ich vorerst keine architektonischen Schönheiten wahr und die bunten Steine nur deswegen, weil es von dort verdammt kalt auf die Füße zieht. Die Schuhe werde ich hier wahrscheinlich höchstens unter der Dusche ausziehen. Zwei Paar Socken, an Hausschuhe habe ich nicht gedacht. Ich packe den Koffer sofort vollständig aus, schlichte die Sachen in den Kasten, richte mich in Bad und Küche ein und stelle einige Stühle um.
Eine Manie von mir, mich sofort häuslich niederzulassen, den Raum besetzen, markieren, wie ein Tier seinen Bau oder sein Terrain.

Dann krame ich aus den Tiefen des Rucksackes den Rest meines Reiseproviants hervor und breite ihn auf den großen Esstisch: ein Weckerl mit Salami, von Mayonnaise, Tomaten- und Zucchinischeiben durchnässt und labbrig, eine Ecke Gouda, zwei Mandarinen, ein Sackerl getrocknete Maroni von „ja! Natürlich“, je eine Packung Mannerschnitten und Reiscracker. Scharfe Fishermans friends Mint-Zuckerl. Nicht gerade üppig, aber ein Genuss ohnegleichen. Seligkeit sickert langsam in den Körper ein, zusammen mit dem Rest von Mineralwasser und lauwarmem Kaffee aus der treuen Thermoskanne. Dieser Platz an dem großen, alten Holztisch unter der Lampe mit einem abstrakten Bild gegenüber, das ich sofort mag – das wird meiner werden für den Rest der dreizehn Tage.

Ohne mich auszuziehen oder zu waschen, schlüpfe ich unter die Decke. Das Licht am Nachtkästchen ist zum Lesen nicht optimal, die Kissen auch nicht. Aus der Mauer strömt Kälte, also binde ich mir mein großes Tuch um die Schultern und knüpfe es auf der Brust fest.
Großmutter, babuschka. Die mitgebrachten Bücher – ein Viertel des Kofferinhalts – staple ich auf dem Nebenbett, griffbereit, auch die Tag- und Nachtbücher, Kulis und Bleistifte ebenfalls.
Verdammt, ich habe in den Vorgesprächen mit der Vermieterin nicht nach Bettlicht und Kissen gefragt, obwohl genau das immer schon und überall die wichtigsten Elemente meiner Nächte sind.
Mein aktuelles Buch „Unter der Drachenwand“ habe ich in der Bahn begonnen und es fasziniert mich von der ersten Zeile an. Irgendwie laufen zwei Filme gleichzeitig ab, in einem zusammengeschmolzen – draußen die Adriaküste von Ancona nach Süden, wenn ich hinausschaue, und im Buch steht das Salzkammergut im Jahr 1944 vor mir. Der Held friert die ganze Zeit in seiner Dachkammer am Mondsee, das Heizen ist eine der wichtigsten Überlebensfragen. Im Rapido war es wohlig warm. Ich suche im Kasten nach einer zweiten Decke, rotes Fleece, jetzt schon schwer wie eine Ziegeldecke, aber ohne echte Wärme. Der Berg um meinen Körper wird größer, ich versuche, nicht in den Spiegel des Schrankes gegenüber zu schauen.

Irgendwann bemerke ich, dass der Regen stärker wird und hart an die Scheiben der Balkontüre schlägt. Irgendwelche Dinge am Balkon klappern ständig aneinander, rasseln und quietschen? Sind das gequälte Katzen unten auf der Straße? Als ich so an die zwei Kissen gegen die Wand gelehnt sitze und in der Drachenwand lese, bemerke ich, dass sich die Buchseiten von selbst bewegen. Die Zugluft kommt von der Balkontüre her. Ich steige auf einen Stuhl und versuche, mit einem Leintuch den fingerbreiten Spalt von oben nach unten auszustopfen. Es rutscht immer wieder herunter, ich bin zu klein für diese italienische Tür, Abendgymnastik hatte ich nicht vorgehabt.

Auf dem Fußbodenmosaik breitet sich eine Wasserlache aus. Ich wische sie auf und klemme einen Stuhl unter die Türklinke. Ok, unten ist es dicht und trocken, oben versuche ich weiter, auf einem Stuhl balancierend, das Leintuch in den klaffenden Spalt zu drängen. Da gibt es einen furchtbaren Knall, und vor Schreck falle ich fast vom Stuhl. Der Regen ist in ein Gewitter mit Donner und Blitz übergegangen. Nachdem ich mich aufgerappelt habe, stopfe ich das Leintuch in den Ritz. Nach einigen Versuchen – erfolgreich. Wieder im Bett, stelle ich fest, dass sich die Buchseiten der Drachenwand nicht mehr eigenwillig bewegen. Aber immer noch Frösteln unter den zwei Decken. Eine dritte aus dem Kasten. Da kommt ein Durcheinander auf. Also löse ich das Bergungetüm auf und ziehe Schicht für Schicht die Decken und Laken von der Matratze ab. Weil ich noch die Lesebrille vor den Augen habe, nehme ich kleine, dunkle Punkte wahr.

Da hätte ich nicht so gut hinschauen sollen. Aber weil ich vom Land bin, erkenne ich sofort, was das ist – Mäusedreck, Bämmerl hieß das in meiner Kindheit. Mir graust nicht wirklich, aber erfreut bin ich auch nicht. Das zweite Bett untersuchen, es ist sauber, trotzdem darunter Besenkehren, alles ab- und frisch überziehen, Unterbett, Leintuch auf der Matratze, Leintuch unter der ersten Decke nach außen umschlagen, vier Fleecedecken drauf und Kissen aufschütteln. Mir ist kalt und gleichzeitig rinnt mir Schweiß über den Rücken und zwischen die Brüste.

Es ist klar, ich werde bestraft, und ich frage mich, wodurch ich den Zorn Gottes auf mich gezogen habe. Eindeutig, ich zähle nach, die Reste der Mäuseinvasion sind die fünfte Plage. Nach der biblischen Erzählung würde es noch fünf brauchen bis zum glücklichen Exodus. Die sechste herrscht ohnedies ständig, die undurchdringliche Finsternis der Nacht. Von nun an bleibt EXODUS an der Wand stehen. Was war geschehen? Wie war ich in diesen göttlichen Rachefeldzug geraten? Ich horche in mich hinein und kann keine Schuld finden.
Im „Falter“ die Annonce gefunden, die Vermieterin Klara kontaktiert – spontane Wärme und Sympathie – und im Reisebüro Ruefa die Bahnreise gebucht, glücklich über die günstige Sparschiene. Alles hat sich so richtig angefühlt. Keine bösen Vorzeichen, Warnungen oder Träume. Ich bleibe uneinsichtig, werde pathetisch, trotzig und wehleidig. Mir fehlt ein Adressat für Schuldzuweisungen. Und noch zeigt nichts auf mich.

Nach der Putzorgie kehre ich unter den Schutz der Drachenwand zurück und gerate wieder in ihren Sog. Der Mondsee ist doch meine zweite Kindheitsheimat, mal sehen, wie der Vorarlberger Arno Geiger mit meinem Lebensjuwel umgeht. Soweit sehr einfühlsam. Ich habe bisher nichts auszusetzen. Fast nichts. Nur, warum erwähnt er das Loch in der Drachenwand nicht? Das hätte er doch leicht verwenden können in seinem Plot, geradezu symbolisch. Immer muss ich die Schriftsteller verbessern, eine unsympathische Lehrer- und Lektoren-Krankheit, aber nicht abzulegen wie der Radiergummibleistift in der Hand beim Lesen.

Während ich überlege, wie er die Sage vom Jungfrauen verschlingenden Drachen verarbeiten hätte können, gibt es in den Tiefen des Gemäuers einen furchtbaren Rums, der mich ich aus dem Bett springen lässt. Eine Explosion? Gas, Wasser, hier, in der Nachbarschaft, Terror? Was habe ich bei Roccos Erklärungen nicht verstanden? Na gar nichts. Ich stehe wie versteinert da und erwarte mein Todesurteil. Danach gibt es ein leichtes Nachtuckern, das zusammengekrampfte Herz erleichtert sich – es war das An- und Abschwellen des Heizungsthermostats, das Geräusch ist mir vertraut. Aber was ist das wieder? Erst nach dem dritten Klogang verstehe ich, dass es für den Wassertransport eine heulende und röchelnde Pumpe gibt. Ich wohne schließlich in einem mittelalterlichen Turm. Irgendetwas klappert noch immer, es kommt vom Balkon, zum Glück, es sind nicht meine Zähne. Ich werde es hoffentlich am Morgen erfahren.

Da durchfährt es mich heißkalt – habe ich hinter Rocco abgeschlossen? Ich kann mich nicht erinnern. Ich wollte ihn nur so schnell wie möglich loswerden und habe immer nur zu allem si, si, vabene, grazie gestammelt.
Sofort springt das rassistische Gedächtnis an. Die Massen von Afrikanern auf den Bahnhöfen von Bologna an allen Stationen bis nach Lecce. Ich tappe die enge, gewundene und steile Treppe nach unten in die Eiseskälte, schlotternd vor Angst und Schlaftrunkenheit. Die eiserne Eingangstüre ist tatsächlich nicht abgesperrt, drehe den Schlüssel zweimal herum und sinke kurz auf die Steinstufe. Durchatmen, aus, ein, aus, ein, Hände aufs Sonnengeflecht.
Als wäre dort wirklich ein schwarzer Mann gestanden, mit üblen Absichten, so sehr klopft das Herz, als ich wieder unter die Decken krieche und mit Hilfe von Lektüre einzuschlafen versuche. Der Dumont-Reiseführer Apulien mit seinen vielen bunten Bildern von sonnigen Stränden, Olivenhainen und Blumenwiesen hilft ungefähr so viel wie ein Märchenbuch als Trost und Wahrheitsquelle.

Lustig war diese Nacht gewiss nicht, trotzdem erwache ich erst mitten am Vormittag, ungewöhnlich erfrischt und fröhlich. Ausnahmsweise ist kein Alptraum in der Erinnerung hängengeblieben. Es gibt kein Aalen und Schlunzen, Herumdrehen im Bett. Die Glocken von San Rocco bimmeln beharrlich, und ihre zwei Uhren schlagen hintereinander jede Viertelstunde zweistimmig, also fast die ganze Stunde hindurch. Ich trete mit dem ersten italienischen Espresso auf den Balkon – ein Hoch auf Klara, sie hat einen Kaffee-Vorrat und fünf verschiedene Größen von Alessi-Maschinen – und stelle fest, dass der Regen aufgehört hat und eine bleiche Sonne durch die Wolkenfetzen scheint.
Allerdings muss ich die Tasse am Tischchen abstellen und mich mit beiden Händen am Geländer festhalten, damit der Sturm mich nicht in die Via Monte Grappa hinunterweht. Rund um mein Haus ein Gewirr von weißen Flachdächern, dazwischen Palmen und Eukalyptusbäume, vom Wind wild gebeutelt. In der Ferne winken das grüne Kap von Maria della Leuca, der weiße Leuchtturm und am Horizont ein blassblauer Streifen, die Adria. Hallo, Italien, ich bin angekommen am finis terrae. Ich schöpfe Hoffnung. Riecht es nicht schon nach dem italienischen Frühling? Und vergesse sofort die nächtliche Wandinschrift. Flucht aufgeschoben. Welch eine Hybris!

Wien, 1./2.März 18

Veronika Seyr
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Loblied auf eine Zwergenbahn I (Italien 1)

Lecce, 14.2.18, 16 Uhr 50, Bahnsteig 6

Jetzt fahre ich also in den Stiefelabsatz hinein, ins äußerste Spitzerl im Südosten. Nicht Fahren, sondern Schlüpfen ist mein Vorgefühl, wie mit den Fingern in einen Handschuh oder mit einem Schuhlöffel. Mühsam. Ich bin aufgeregt und angespannt wie vor einer Himalaya-Expedition, obwohl nichts auf ein Abenteuer hindeutet. Alles spielt sich nur im Kopf ab, in alten Bildern. Der schmale Bahnsteig ist gefüllt mit Schülern und Pendlern, darunter viele Afrikaner. Einer verkauft Regenschirme. Kann man brauchen, es beginnt zu nieseln. Die Bahn besteht aus einem einzigen Waggon, außen blau-grün-türkis gestreift, drinnen 32 abgewetzte Plastiksitze, fast vollbesetzt. Das Bähnlein muss der Traum eines jeden Kleinbahnliebhabers sein, eins zu eins. Der könnte sie in seinem Garten um die Zwerge kreisen lassen.

Außer mir und einem jungen Liebespaar sind alle Passagiere mit ihren Handys beschäftigt. Das Bähnlein fährt im Schritt hinaus aus den öden Vororten von Lecce auf die Halbinsel Salento, in den Stiefelabsatz zwischen Adria und Ionischem Meer. Weißgekalkte Trulli, Masserien und Trockensteinmauern säumen den Weg, Scharen von Elstern flattern darüber, lassen sich auf Oliven- und Feigenbäumen nieder und schrecken ohne sichtbaren Anlass wieder auf. Ohne sie hören zu können, weiß ich, dass sie genauso hysterisch kreischen und in Schwarz-weiß flattern wie ein alter Stummfilm. Viele Olivenbäume sehen krank aus oder sind schon gefällt. Lange Reihen am Boden wie Grabhügel auf einem Friedhof. Das böse Bakterium Xylella hat sie befallen. Obwohl Abgase in den Waggon gelangen, dringt der säuerliche Geruch von den ausgepressten Oliven der jüngsten Ernte herein; sie liegen in dunklen Hügelgebirgen links und rechts der Strecke. Wie heißen Olivenreste, Trester? Die blühenden Mandel- und Pistazienbäume besprenkeln in weißen und rosa Tupfern die Landschaft.

Das Bähnchen tuckert, pfaucht, rattert und stinkt wie ein alter Steyrer Traktor. Aber es ist sehr musikalisch. Wenn es hält, tutet es wie ein Ozeandampfer; solange die Türen offen sind, rasselt und scheppert es wie ein Blechwecker, und wenn es abfährt, ertönt ein Martinshorn. Aber manchmal musiziert sie auch unterwegs, ein lauter Knall – Fehlzündung, langgezogenes Pfeifen – Anfahrt, klingt wie ein Tuberkulosepatient. So klein es ist, will es doch alles gleichzeitig sein.
Es hat sogar einen Schaffner. Der kontrolliert aber nicht die Fahrkarten, sondern schaut ab und zu aus dem Führerhaus bei den Passagieren vorbei, fragt, wie es geht, va bene? und plaudert mit dem einen oder anderen familiär. Nach einer Stunde Fahrt beginnt es zu regnen, und ein dunkler Abend zieht heran. Für die Strecke von 60 Kilometern braucht das Züglein zwei Stunden und zehn Minuten, fährt also mit 30 Stundenkilometern. Da es aber die Hälfte der Zeit steht, in den Stationen, aber auch unterwegs, werden es nur 15 Stundenkilometer sein. Ein Radfahrer könnte daneben mithalten. Und ich mit meinem Notizbuch kann eins zu eins mitschreiben, was ich sehe, höre und rieche. Analoger geht‘s nicht.

Jetzt weiß ich es, es ist ein „Triebwagen“! Ich habe lange nachgesonnen und hineingefühlt, es ist ein Triebwagen wie an der Donauuferbahn meiner Kindheit, dieses Gemisch aus Geräuschen und Gerüchen, das leise Erzittern aus dem tiefen Inneren des Dieselmotors heraus beim Halten und Anfahren in Weißenkirchen oder Spitz, Persenbeug oder Sarmingstein – ein langsamer Express in die Zeit zurück. Wenn man die Farben weglässt – sie verblassen ohnedies immer mehr – kann man die schwarz-weißen Filme des italienischen Verismo hier ansiedeln, im Mezzogiorno. Einige Bahnhofsgebäude sehen so aus, als hätten sie schon im „Leoparden“ mitgespielt.

Zwei Besonderheiten fallen mir auf: In jeder Station stehen Männer herum, die nicht ausgestiegen sind und nicht einsteigen; die winterliche Gegenwart der Dörfer ist so ereignislos, dass die Ankunft des Bähnleins begrüßt wird. Und jedes Mal, bevor das Bähnlein in eine Station einfährt, bleibt es rasselnd stehen, wie um Atem zu holen, putzt seine Kehle durch, um sich dann langsam an den Bahnhof heranzupirschen. Vielleicht spielt es so etwas wie „Räuber und Gendarm“ auf Apulisch? Ich horche ihm ins Herz hinein, ob es sich nicht etwas von der Tarantella angeeignet hat.

Irgendwann muss ich eingenickt sein, der Schaffner hebt mein zu Boden gefallenes Notizbuch auf, ich sitze mit zwei Frauen allein im Abteil, und das Bähnlein lässt ein endloses Martinshorn ertönen – Endstation Gagliano del Punto. Rocco holt mich ab und bringt mich zu Klaras Wohnturm in der Via Monte Grappa. Schöne Adresse, vor dem Haus kreuzen sich die Via Settembrini und die Via Galileo Galilei, stelle ich am nächsten Morgen fest. Was kann da noch schiefgehen?

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 18122

Der Wind

Klaviertöne erzählen mir,
von dem Platz,
ein Feld,
Sterne und Mond,
Wind verbläst Lärm,

Kennst du diesen Ort,
zur Ruhe gehen sie,
bezahlen für die Entspannung Geld,
belasse es, die Frage zu stellen,
kaltes Licht verblasst,

Die gewaltige eingemeißelte Flimmerkiste,
im schweren Beton,
Verschwindet

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 18050

Bettelkönigin

Die kleine Hand war dunkel und ein wenig schmutzig; unter den Fingernägeln zeichneten sich schwarze Ränder ab. „One Rupee, one Rupee.“
„No.“ Unwirsch blätterte Isabella eine Seite um; sie wollte in Ruhe lesen und sich nicht schon wieder mit einem bettelnden Kind herumärgern.
„One Rupee.“
Sie musterte das Mädchen. Es war etwa acht Jahre alt und steckte in schmuddeligen Pajamas; die dunklen Augen voll fordernder Ungeduld.
„I don’t give children money.“ Isabella unterstrich ihre Worte mit einem Kopfschütteln.
Die Haare der Kleinen waren zerzaust und an einigen Stellen verfilzt. Sie sah nicht aus, als ob sie die Erklärung akzeptierte. Irgendwie war es immer falsch, was Isabella tat; gab sie den Kindern etwas, gingen sie erst recht nicht zur Schule; gab sie ihnen nichts, musste sie ein schlechtes Gewissen haben – wovon sollten sie denn sonst leben. Ständig fühlte sich Isabella hier schuldig, irgendwie kam sie mit der Armut nicht klar.
„One Rupee, pleeeeeease.“
Aber jeden Bettler zu unterstützen, weil der kapitalistische Westen immer an allem schuld war?
„No!“ Isabella wandte ihren Blick ab und lehnte sich zurück, die Tempelsäule fühlte sich kühl an. Wenn sie so bedrängt wurde, konnte sie stur sein. Eine Taube flog auf und landete auf dem Kopf eines steinernen Tempellöwen. Nach einer Weile machte das Mädchen kehrt und ging weg.

Prakriti zog sich in eine schattige Nische neben dem Goldenen Tor zurück. Unter einem Ziegelstein hatte sie ihre Einnahmen versteckt – alles war noch da. Die anderen Kinder respektierten sie, schließlich verdiente sie mit Abstand am meisten. Sie streunten in den angrenzenden Straßen herum und machten Beute. Zufrieden überblickte Prakriti den Durbar Square – der Platz gehörte ihr und niemand würde es wagen, ihn ihr streitig machen. Gerade kam eine japanische Touristin im Kimono aus dem Königspalast, während ihr Mann sie mit seiner riesigen Kamera von allen Seiten fotografierte.
Prakriti nickte Aruna zu, die ein paar Meter weiter eine leere Plastikflasche in einen Sack stopfte. Plötzlich kam ihr dieser halbnackte Security in den Sinn; sie wischte die ekelhafte Erinnerung weg, stand auf und gab Aruna eine Ohrfeige. Das kleine Mädchen weinte. Prakiti nahm sie auf den Arm und ging auf das Paar zu.
„Baby hungry“, jammerte sie und streckte die Hand aus. Die Touristin sagte etwas zu ihrem Mann, der umständlich in seinem Brustbeutel kramte und ihr ein paar Münzen gab.
„Baby hungry!“, wiederholte Prakriti zornig, der Trottel war wohl schwer von Begriff. Endlich fischte er einen Schein hervor. Sie schnappte ihn sich und schlenderte zu ihrem Platz zurück.

Das kleine Mädchen tat Isabella leid. Eigentlich taten ihr beide leid. Eltern waren keine in Sicht. Die Kleine schien zu spüren, dass Isabella sie beobachtete und näherte sich vorsichtig, während ihre Schwester eine ältere Amerikanerin mit Schirmmütze bearbeitete: „School book, one hundred Rupee, please.“
Die Kleine erklomm zielstrebig die Steintreppen. Isabella nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Wenn sie doch nur Bonbons dabei hätte oder wenigstens einen Keks. Vielleicht mochte die Kleine spielen? Sie schüttete den Rest Wasser auf den rötlichen Stein, tauchte ihren Finger in die Pfütze und malte kurzerhand das Haus vom Nikolaus. Das Kind sah sie groß an. Ein scharfer Pfiff hallte über den Platz. Die Kleine fuhr hoch und rannte zu ihrer Schwester. Die beiden verschwanden im nächsten Laden.

Pakriti drückte den Kleber aus der Tube und gab Aruna die zweite Plastiktüte; sie bliesen die Tüten auf und sogen die Dämpfe ein. Im Nu wurde Pakriti von einem Schwindel erfasst und ein Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus. Sie schaute in den strahlendblauen Himmel, der intensiv leuchtete. Pakriti torkelte in die Mitte des Platzes, drehte sich im Kreis, dass die Pagoden nur so um sie herumflitzten, und glaubte für einen glücklichen Moment, abzuheben und davonzufliegen. Aruna gluckste; ihr Lachen war ansteckend und sie lachten beide grundlos und verrückt, bis sich der Rausch wieder verflüchtigte.

Angela Kreuz

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 18009