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Trockenmarillen

Der Tag, an dem Lisa Martin im falschen Wald des Schulhofs geküsst hat, ist wie in getrocknete Marillen eingepackt gewesen, nur bitterer. Heiß, zumindest habe ich es so in Erinnerung, die klebrigen Strähnen im Nacken oder der trockene Mund. Wir sitzen nebeneinander in der Klasse an unserem gemeinsamen Tisch, den man nicht einfach so in der Mitte auseinander schneiden kann. Sie ist zu dieser Zeit schon zu groß für diesen Tisch, hat lange Arme und Beine, die unablässig an die Tischkante stoßen und an ihr reiben, und ich habe Angst, sie unabsichtlich berühren zu müssen, ihre heißen und trockenen Arme unabsichtlich berühren zu müssen, mit ihrem blonden Flaum. Ich sehe der Lehrerin zu, wie sie redet, was redet die schon? Denke, dass die anderen mir nichts ansehen dürfen, mir nichts davon ansehen dürfen, dass Lisa Martin im Wald geküsst hat, nicht sehen dürfen, dass ich geweint habe. Ich fasse mir an den Busen, fast ohne es zu wollen, der noch gar kein richtiger Busen ist, sondern eine kleine Beule, kaum fühlbar, die aber wehtut, und deren Nippel ständig entzündet sind, unter dem Unterhemd jucken.

Eine Wand muss ich für die anderen sein, denke ich während der Pause und während der nächsten Stunde, eine breite weiße Wand, die man nicht abgehen kann, so lang ist sie. Nichts dürfen sie mir ansehen, denke ich ganz fest bis zum Schulschluss, und daran, wie ich sie alle hasse, alle in dieser Klasse, und dass sie nichts sehen dürfen, nichts.

Als ich dann die Hefte mit Plastikeinband in den Rucksack packe, der schon übergeht, in den man nichts mehr stopfen kann, stopfe ich trotzdem noch etwas nach, das Geo-Dreieck spießt sich in meine Handfläche. Lisa steht neben mir, geduckt, weil ihr Körper in die Höhe und über ihren Kopf hinaus wuchert, greift neben mir nach ihren Büchern, die sich unter meine gemischt haben, ständig passiert uns das. Ihre Finger, die Martins Hand auf ihren Busen gedrückt haben, als müsste sie ihm zeigen, wo sie hingehört, schieben mein Geografie-Buch zur Seite, ziehen ihr Biologie-Heft darunter hervor. Manchmal wissen wir ja wirklich nicht mehr, was denn nun wem von uns beiden gehört, aber das mit Martin ist etwas anderes, das ist pure Absicht gewesen.

Ich merke ja, während ich zu meinem Platz im Schulbus gehe, wie steif ich gehe, und dass ich die Bücher sehr fest halte, die ich nicht mehr in den Rucksack habe pressen können. Lisa geht hinter mir. Wenn mich nur einer anspricht, wenn nur irgendjemand irgendetwas von mir will, aber niemand will etwas von mir, alle weichen mir aus.

Und während der Fahrt im Schulbus höre ich die anderen tuscheln, und es ist das Einzige, was ich tun kann, eine weiße Wand für sie zu sein, die so breit ist, dass man sie nicht abgehen kann, sollen sie doch reden, sollen sie doch!

Wir steigen aus dem Bus, ich zuerst, Lisa folgt. Wir springen von der letzten Stufe auf den heißen Asphalt, dabei fällt mir der Rucksack schwer in den Rücken, drücken sich die Bänder meiner Sandalen zwischen meinen Zehen in die Haut. Plastiksandalen mit Schmetterlingen, wieso trage ich die noch? Ich mag sie ja, aber warum trage ich sie noch?

Wir gehen die Landstraße entlang durch den Wald, Lisa und ich. Wir schweigen. Wir gehen nebeneinander, der Asphalt ist heiß selbst durch die Sandalen hindurch, und ich trage mein Turnsackerl in der einen Hand und die Bücher presse ich mir mit der anderen an meine kaum noch vorhandene juckende Brust. Die ich Martin nicht berühren habe lassen. Die Hose reibt zwischen den Beinen, die schweißigen Plastik-Schmetterlings-Sandalen reiben an meinen Füßen, ich rutsche in ihnen bei jedem Schritt. Das Turnsackerl dreht sich, schnürt mein Handgelenk ein, und bei jedem Schritt schlägt es mir eine Spitze in die Wade. Ich weiß, dass außerdem die Bücher bei jedem Schritt ein bisschen weiter nach unten rutschen, aus meinem nassen Griff rutschen, aber stehen bleiben? Dann könnte mich Lisa überholen, dann müsste ich sie ansehen, wie sie vor mir geht. Wenn ich es nur bis zum Haus schaffe, nur die Straße durch den Wald bis zum Haus.

Das Biologie-Heft mit seinem Plastikeinband entgleitet mir als erstes und fällt auf den Asphalt. Ich bücke mich nur ein ganz klein wenig, und die anderen Bücher folgen, gleiten mir alle auf einmal aus den Händen, als hätten sie nur gewartet, habe ich sie denn gehalten? Purzeln alle auf den Boden, schlagen mit der Ecke voran auf meine Füße. Meine Arme sind offen und leer.

Vor mir liegen die Bücher ausgestreut, als wären sie einzeln zusammengebrochen, auf dem Rücken, die Seiten verbogen. Als ich den Rucksack ablege, mich bücke, um sie aufzuheben, zieht sich die Hose in meinem Arsch zusammen und zwickt mich, muss ich daran denken, wie lächerlich ich aussehe in dieser alten Hose, die bis zum Nabel reicht, wie ein Kleinkind, rutschen meine Füße wieder auf ihrem eigenen Schweiß, fällt plötzlich auch der zweite Rucksack schwer auf den Boden, bückt sich ungefragt plötzlich auch Lisa. Sie hockt sich zu mir, sie ist ganz nah, ich kann ihren Arm riechen, blonder Flaum, unerträglich. Sie schweigt. Ihr Kopf ist gebeugt. Ihre eigenen Hefte zwischen Knie und Oberkörper eingeklemmt. Muss es sie nicht am Bauch reiben? Ohne zu fragen, lehnt sie sich vor und greift hin.

Ich weiß nicht warum in diesem Moment. Ich springe sie einfach an und. Meine Füße rutschen in den Sandalen. Meine Hände treffen auf ihre Brust, dann kommt der Rest von mir ganz wie von selbst, für einen Moment schlage ich an sie wie gegen eine Wand, sie schnauft. Dabei treibe ich sie schon auf die Füße, nehme sie mit bei meinem Lauf, sie stolpert rückwärts, die Bücher fallen zwischen uns hinab, schlagen gegen meine Hüfte, meine Beine. Ein bisschen stoße ich zu viel, da kippt es. Der Wald kippt, wir kippen, sind leicht, dann nicht mehr, weil wir auftreffen, den Boden wieder verlieren, abwärts rollen. Ich versuche nach ihr zu treten und nach ihr zu schlagen, will ihr auf die Brust schlagen, auf ihren Busen immer und immer wieder einschlagen, der größer als meiner ist aber auch weh tut vom Wachsen, das weiß ich. Einmal, zweimal trifft meine Faust ihre Brust und sie schnauft, aber dann erwischt sie meine Hand, hält mich von ihr weg, hält mich mit den Füßen von ihr weg. Ich kralle meine Nägel in sie, ich erwische ihre Haare und reiße daran. Sie schreit kurz auf, wir rutschen weiter und mein T-Shirt wird hinauf geschoben, Steine, Äste, Erde. Meine Sandalen verdrehen sich und schneiden sich überall in meine Füße, in meine Zehen. Ich ziehe mit den Haaren ihren Kopf in den Nacken, ihr Hals streckt sich mir in einem Bogen entgegen. Sie steigt mit dem Fuß zwischen meine Beine, ich klammere mich an ihrem Hintern fest. Ich rolle mich auf sie, sie rollt sich auf mich, das T-Shirt, von ihr festgehalten, krallt sich in meine Achselhöhle. Wir sind ganz fest umschlungen und ganz still, nur das Atmen und manchmal ein erstickter wütender Laut.

Das Unterholz zerkratzt mir die Arme, etwas sticht in meine Hüfte, ihre Nägel stechen tief in meinen Arm. Ihr Gesicht verkrampft, verzerrt, rot, meine Hand will ich mitten in die Sommersprossen drücken, aber sie hält mich so fest gepackt, dass es weh tut, ein Pochen unter ihrem Griff. Ein Pochen zwischen den Beinen, ich beiße in einen Unterarm und sie schreit kurz auf vor Schmerz, bäumt ihre Hüfte unter mir auf. Bis ich es schaffe, endlich, ihre Schultern auf den Boden zu drücken, mich auf ihren Unterbauch zu setzen, sie biegt sich unter mir. Ich höre, wie ihre Füße über den Waldboden scharren, um Halt zu finden, höre sie auf den Nadeln rutschen. Ich presse ihre Arme auf den Boden, zittere, soviel Kraft brauchte es, sie nieder zu stemmen. Ihr Gesicht krampft sich zusammen, die Sommersprossen fast verschwunden unter der Röte, sie hält die Luft an vor Anstrengung. Mit der Hüfte hebt sie mich, schüttelt mich hin und her.

Da lässt sie sich fallen, gibt nach. Ihre Arme erschlaffen, fast entgleiten sie mir wie Bücher, habe ich sie denn gehalten? Ich rutsche ab, fange sie wieder. Spüre diesmal ihr Pochen unter meinen Fingern. Unser Atem ist laut, die Nadeln sind überall im Gewand, meine Brustwarzen schmerzen von der Reibung. Mein Arm tut weh dort, wo sie mich gepackt hat, alles brennt innen und außen. Sie sieht mich an, mit geöffnetem Mund. Von der Anstrengung rinnen ihr Tränen das Gesicht hinunter, verschmieren sich mit der Erde, mit dem bisschen Blut. Sie sieht mich an, sie sagt nichts, und doch ist ihr Blick. So ernst.

Unser Atem wird langsamer. Die Jeans zieht sich zwischen meinen Beinen zusammen und zwickt, es brennt, als müsste ich ganz dringend aufs Klo, verwirrend zwischen all dem. Verwirrend, dass es fast ist wie sonst, wenn wir raufen. Dass es letztendlich kaum einen Unterschied macht, obwohl es doch einen Unterschied machen sollte, obwohl ich alles Recht habe, wütend zu sein. Aber es ist wie sonst, wenn wir durch den Waldrand brechen, wenn wir durch die Wasseroberfläche brechen. Das Wasser schlägt doch immer über uns zusammen und legt sich doch immer in unsere Ohren und auf unseren Mund und auf unsere Haut, kriecht in jede Höhle. Und wie leicht das ist, unterzutauchen. Und wann lass ich dich los?

Wieso lächelst du nicht, außerdem? Wieso blickst du mich so ernst an? Im falschen Wald hattest du die Augen geschlossen. Du hast Martin geküsst, wie du ein Butterbrot streichst. Deine Hand hat auf seiner Jeans hin und her geschabt, seine Hand hat deinen Busen hierhin und dorthin geschoben. Das kann doch nicht angenehm gewesen sein? Der Wald riecht nach getrockneten Marillen, nur bitterer, und deine Haut fühlt sich rau auf den Lippen an.

Ich stemme dich nieder und halte dich fest. Zu deinen Lippen beuge ich mich hinunter, ein bisschen Luft bleibt noch dazwischen. Die brauchen wir dabei gar nicht, wir müssen gar keine Luft entweichen lassen. Aber du siehst mich zuerst an und dann lässt du doch Luft entweichen, atmest du aus, du atmest in meinen Mund hinein, warme Luft bläst du in meinen Mund. Und dein Mund zittert genau deshalb.

Elisabeth Klar

Auszug aus dem Roman “Wie im Wald”, der im Herbst 2014 im Residenz Verlag erscheinen wird.
Wir bedanken uns bei der Autorin und beim Verlag für das freundliche Einverständnis zur
Vorveröffentlichung auf verdichtet.at.

Nachtrag September 2014: Inzwischen ist der Roman erschienen:
Wir wünschen ihm und der Autorin viel Erfolg!

Rezension: Standard vom 28. November 2014

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 14020

 

hofgasse 12

die wohnung klein eng sonnenhell muß ich verlassen die wohnung verlassen die so heiß ist obwohl verdunkelt so heiß ich muß hinaus überall ist der herbst der heiße herbst ich bin drau­ßen auf meinem weg dem herbstweg ich spüre den himmel die luft den wind die sonne den schweiß die landschaft mild ist es nicht aggressiv heiß nicht schwer nicht schwül wie im sommer nicht mild wie im frühling früh­lingsmilde ist aufleben herbstesmilde ist absterben himmelsmilde kontrastesmilde unscharf sind die konturen verwaschen unschärferelation herbstesmilde ist abschiedsmilde der abschied kommt der abschied jetzt bin ich im lokal dem kleinen dem winzigen was willst du fragt die thekenfrau rotwein sage ich hast du einen zwei­gelt oder blaufränkischen beide sagt die thekenfrau dann ein vierterl blaufränkischen und lei­tungswasser dazu viel leitungswasser da kommt das mädchen mit dem hut herein dem schwarzen dem breitkrempigen ins corretto kommt sie so plötzlich so ungestüm das mädchen hübsch ist sie hübsch alle schauen sie an irgendwas gegen den durst sagt das mädchen die frau hinter der theke lächelt was trinkt man gegen den durst einen ge­spritzten einen kaffee mit wasser viel wasser wenig kaffee die großen augen dunkel schwarz draußen das lärmen die vielen leute stühle sind draußen mit tischen wenige nur ich sehe es das erste mal das mädchen hinter der theke die rothaarige die sympathische die junge die strenge die schmale die hagere ihr auge streift mich der gast der herein kommt hinaus geht herein kommt der gast mit dem kleingeld sie gehen nach hinten die beiden er und sie dann kommt der bärtige herein die bei­den rauchen lachen denken was schreibt der da die schöne die mit dem hut die elegante kommt wieder alle schauen sie küsst den einäugigen das heißt den glas­äugigen den mit einem glasauge und einem gesunden auge den seeräuber den piraten mit den bartstoppeln und sie ist wirklich schön ja das kann man sagen sie begrüßen einander die schöne und der glasäugige hinten sitzt die unauffällige heraus aus dem klo kommt die schwarze das kleine kind mit dem hut kommt herein der glasäugige nimmt es in die arme du schwindelst sagt die kleine du schwindelst die mutter kommt die umgebung lacht sie ist rot­haarig die mutter himbeersaft will ich sagt die kleine die mutter mit dem rucksack die kleine geht und kommt und geht draußen die stühle mit den männern den frauen den schönen den jungen den hübschen den fröhlichen mit dem sexappeal hallo sagt er der mit dem scheitel ganz unten er wartet auf sein getränk hallo sagt er blinzelnd die rothaarige runzelt die stirn bedient serviert das bier den wein den kaffee jaja die rothaarige die misstrauische die liebe die vom landgraf die vom kaffeehaus drüben in urfahr vom landgraf das es nicht mehr gibt das tot ist das sie haben sterben lassen das landgraf mit den geschlossenen vorhängen bis mittag und jetzt immer und dem wilden garten mit dem efeu dem wuchernden die da hinten schaut und schaut und ist still sie sagt nichts sie langweilt sich so sieht sie aus die da hinten geht so still wie sie dagesessen hat handtasche um und weg ist sie der mit den brillen kratzt sich am linken auge kratzt sich jaja er liest zeitung im corretto jetzt der daneben auch die leute kommen ja das kleine lokal in der dämmerung ist noch platz wie wird es spät abends sein in der nacht am morgen dicke rauch­luft wird sein viele viele leute bis hinaus und heiß menschenhitze die musik ist laut hämmert lange schon aber mir fällt es jetzt erst auf laut ist es laut laut ich unterhalte mich nicht da ist es egal der dicke kommt aus dem klo der herbst ist da kalt wird es früh am abend der dicke ist der herbst die kühle ist er ist der dicke wirklich die kühle das stimmt doch nicht die zucker­frau ist kurz da bringt den zucker zurück der betrunkene im blauen mantel arbeitsmantel schlosser­mantel königsblau der blaumantelige lallt zahlt lallt singt mit der musik der blau­mantelige das klo der strahl ah rinnt rinnt der ärgste druck ist weg eng ist es ah eng eng einer hat gerade platz eng der kleine mit dem hut der dicke kellner vom traxlmayr die haben heute zu oder hat er frei und die haben doch offen am klo der ventilator das laute ungetüm der urin­geruch der scharfe der schneidende der atemraubende die erleichterung der kuchen ist kos­tenlos sagt die rothaarige warum ja einfach so frag nicht lang nimm dir was willst noch ein vierterl ja wieder mit wasser wie­der die schöne mit dem putzfetzen die schöne mit dem besen die schöne hexe auf dem besen reitet die hexe die rothaarige der krampf sagt sie immer der krampf sie hebt den besen gegen flatti den dichter immer der krampf sagt sie der krampf und flatti der dichter sitzt und sitzt und schwitzt und riecht nicht gerade gut ein stück kuchen ab­seits abseits vom tablett der kuchen der mohnstrudel der staubwagen draußen der mit den großen runden bürsten die rotieren und rotieren der vom magistrat der orangefarbene und flatti der dichter wippt der blaumantelige klopft zur musik klopft auf die oberschenkel der saufkopf swingt dazu der alkohol ja der al­kohol kopfgriff ach ja oh ja maria der blaumantelige spielt die imaginäre gitarre zupft die sai­ten die fehlen die so fern sind weit weit fort summt dazu zupft und zupft das telefon das tele­fon ein schilling lachen prusten asche gegen die ernsten leute jazzmusik der blaumantelige sieht schaut swingt schlägt saiten die nicht da sind im rhythmus kein mensch die straße herauf herauf die scheuen frauen die scheuen wortlos stumm schön doch scheu scheu die frauen die mädchen flatti der dichter der fuchtler der gestikulierer der schreier mit dem nebenmann dem betrunkenen dem fetten die zigarettenwip­per die rau­cher die tipper die trinker die säufer asche ab weg volle aschenbecher augenbren­nen rauchträ­nen keine luft kopfweh der gestikulierer der blaumantelige der großäugige der fuchtler der scheißkehrwagen hin und her fährt er der lärm der reinigungslärm das getöse das gebläse ich muß gehen jetzt muß ich wirklich gehen bezahlt habe ich durch­atmen draußen jetzt bin ich fort

Günther Androsch
Auszug aus: Linz-Orte, Bibliothek der Provinz, Weitra, 2013

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 13039

Stams in Tirol, 12. August 1643

Georg Matthäus Vischer wurde vom frühen Läuten der Kirchenglocke aus dem Schlaf gerissen und richtete sich ächzend auf. Ein weiterer Tag in brütender Sonne und mit harter Feldarbeit lag vor ihm. Nicht zu vergessen das erste Morgengebet, zu dem er pünktlich zu erscheinen hatte. Er fühlte sich wie gerädert, ein Sonnenbrand auf dem Rücken hatte ihn zum Schlafen in ungewohnter Bauchlage gezwungen, was er jetzt schmerzhaft in seiner Nackenmuskulatur zu spüren bekam. Von den Muskelschmerzen in den Waden und im gesamten Rücken ganz zu schweigen. So hatte er sich das Leben im Kloster wahrlich nicht vorgestellt!

Seine Mutter hatte ihm dazu geraten, so lange wie möglich im Kloster zu bleiben. Der Abt war stets erpicht, Novizen anzuwerben. Bis er das richtige Alter dazu hatte, war er daher gern geduldet, obwohl seine Mutter schon längst kein Kostgeld mehr für ihn zahlte und seine Schuljahre bereits vorbei waren. Der Abt wusste ihn jedoch weiter ans Kloster zu binden, gab ihm eine eigene Kammer, kleine Gelegenheitsarbeiten, ja er ließ ihn im Winter sogar in der Bibliothek mithelfen. Georg nutzte diese Gunst meist aus, um zu lesen und sein Interesse für Geografie zu stillen. Er war mehr Leser als Bibliotheksgehilfe, was der stiftseigene Bibliothekar meist mit gönnerhaftem Kopfschütteln zur Kenntnis nahm. Zu Georgs Glück war dieser keiner von der Sorte, die andere beim Abt schlecht machten.

Heute war aber an Lesen nicht zu denken, denn Georg war den Mönchen als Erntehelfer zugeteilt. Die weitläufigen Kornfelder rund um das Klosterareal zogen sich an den goldgelben, leicht ansteigenden Hängen bis zum Fuß des niedrigen, dicht bewaldeten Vorgebirges hin.
Erst dahinter ragten die großen Berge auf, denen er mit gehörigem Respekt gegenüberstand, seit er einmal auf einem seiner Vermessungsgänge in ein Gewitter geraten war und unter einem Felsvorsprung übernachten hatte müssen. Nie würde er die schaurigen Blitze vergessen und wie der Donner in den Bergen widerhallte, immer und immer wieder.

Zu fünft nebeneinander stehend, mussten sie sich gegenseitig genügend Raum geben, um den Schwung der Sense ausreichend weit setzen zu können und so möglichst viel Korn zu erwischen. Am Anfang machte Georg den Fehler, zu tief ins Feld hinein zu mähen, mit dem Ergebnis, dass die Sense immer wieder stecken blieb und er neuerlich Schwung holen musste. Heute – am dritten Erntetag in Folge – hantierte er bereits mit großer Routine. Die abgeschnittenen Getreidehalme wurden sofort in einer möglichst geraden Linie aufgelegt und von anderen, meist älteren Mönchen zu Garben zusammengefasst. Mehrere davon wurden dann stehend zum Trocknen gegeneinander gelehnt und oben grob zusammengebunden.

Georg schwitzte und ächzte unter der einseitigen Bewegung des Mähens, und als nach zwei Stunden die beiden Mädchen mit den Körben und Krügen kamen, war endlich eine Pause in Sicht. Sie hatten sich die Röcke etwas nach oben gerafft, um die Hitze besser zu ertragen, obwohl das im Beisein von Männern als besonders unziemlich galt. Im Schatten der Bäume genossen die erschöpften Erntehelfer Most und Brot. Jeder erhielt ein ordentliches Stück geselchtes Fleisch. Georg saß an einen Baum gelehnt und gab sich noch einem anderen Genuss hin – er betrachtete ziemlich ungeniert die braungebrannten Waden der Mädchen, die plaudernd und lachend damit beschäftigt waren, Brot und Getränke zu verteilen. Als sich eine der beiden tief zu ihm herunterbeugte, konnte er genau in ihren offenen Ausschnitt sehen. Nach einem langen Moment sah er erschrocken zu Boden. Sich Frauen zu nähern, war ihm streng verboten. Sie bemerkte wohl sein Unbehagen, denn sie zwinkerte neckisch und flüsterte ihm zu: »Na, na, höchste Zeit, dass du einmal eine Frau aus der Nähe siehst. Sonst weißt du ja nicht, was dir entgeht.«

Gerade als Georg endlich etwas eingefallen war, was er hätte erwidern können, kam in einer riesigen Staubwolke eine kleine Gruppe Soldaten des Weges. Fünf waren es, und sie blieben stehen. Das Interesse der Mädchen verlagerte sich augenblicklich zu ihnen. Sie gaben ihnen zu trinken und schäkerten eine Zeit lang, bevor die Männer weiterritten. Einer rief noch laut in Georgs Richtung: »Das Militär sucht noch Männer, die reiten und kämpfen können.«

Georg ärgerte sich darüber, dass die Mädchen dann in Gegenwart der Mönche über die Soldaten redeten, als wären sie unter sich. Die schmucken Uniformen hatten es ihnen angetan, die Säbel und weiß Gott was noch, alles an diesen Soldaten schien spannend und aufregend. Und sie sprachen und kicherten noch eine ganze Weile darüber, während sie sich daran machten, Fallobst in einem Korb zu sammeln. Georg war richtig froh, wieder an die Arbeit gehen zu können und noch mehr über die rasch heranziehenden grauen Wolken, die Regen und folglich einen kurzen Arbeitstag verhießen.

Wenn das sein Vater wüsste, der bis zu seinem Tod die Verwaltung des klostereigenen Getreidespeichers übergehabt hatte. Wenn er wüsste, dass Georg jetzt dafür sorgte, dass das Korn in den Speicher kam. Was würde er wohl dazu sagen? Würde er verstehen, dass sein Sohn nicht zufrieden mit der jetzigen Situation war, dass er gern etwas von der Welt sehen und etwas Neues lernen wollte? So wie die Soldaten, ja, genau so. Das war es! Das Auftauchen der Berittenen war ein Fingerzeig des Schicksals, Soldat wollte er werden! Uniform und Waffen würden ihm gut zu Gesicht stehen. Und beim Militär gab es immer etwas zu messen und zu berechnen. Dass ihm das nicht schon viel früher eingefallen war?!

»Georg, so pass doch auf, deine Sense gerät ja schon fast an meine Knöchel! Wo bist du nur mit deinen Gedanken?« Der neben ihm arbeitende Klosterbruder wies ihn mit einem zornigen Aufschrei zurecht. Bei einem Unfall mit der Sense konnten immerhin schlimme Verletzungen entstehen. Doch es gelang Georg nur schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, so sehr kreisten seine Gedanken um diese Idee, die im Lauf des Nachmittags immer mehr zu einem festen Vorhaben heranreifte.

Später, nach der Schlussandacht, würde der fünfzehnjährige Georg Matthäus Vischer das Kloster Stams heimlich verlassen, um sich den Soldaten anzuschließen und in den Krieg zu ziehen.

Michaela Swoboda

 Auszug aus dem Roman: Vischers Vermessenheit, Salzburg, Pustet, 2013

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 13031

Mir verwirren sich die Sinne!

Mir verwirren sich die Sinne!
Kaum vermag ich mich zu fassen.
Wild erregte Stürme rasen,
Drohn von allen Seiten mir.
[Don Giovanni, Erster Akt, 21. Szene]

Lea Richtsfelds Handy klingelte aufsehenerregend. Paul hatte seiner Stiefmutter vor einigen Wochen einen neuen Handyklingelton verpasst – Road to Hell von Chris Rea. Es war ihr bis jetzt noch nicht gelungen, den ursprünglichen wieder einzustellen, sei es aus Zeitmangel oder technischem Unverständnis. Im Landtagsbüro hatte ihr Handyläuten schon so manches beamtete Stirnrunzeln hervorgerufen.
Bruno Richtsfeld beobachtete ihre Reaktion und versuchte zu erraten, wer denn der Gesprächspartner sein könnte, seine Frau verließ jedoch mit dem Handy den Raum, um das Gespräch in der Küche entgegenzunehmen.

Nach dem Telefonat durchquerte sie das Esszimmer, band sich dabei die Haare im Nacken zusammen und eröffnete ihrem Mann auf dem Weg ins Vorzimmer: „Die Nösterer hat mich angerufen, ich muss noch zu ihr ins Büro, da gibt es Ungereimtheiten bei der Ticketvergabe. Sei nicht böse, vielleicht dauert es ja nicht lange. Das mit den Handwerkern kannst Du doch übernehmen?! Bis später!“
Bruno kam mit der Zeitung in der Hand ins Vorzimmer und nickte; sie drückte ihm eilig einen Kuss auf den Mund. „Ich freu mich darauf, wenn die Festspiele wieder ausgespielt haben, dann habe ich endlich wieder mehr Zeit für Dich.“
Kaum hatte Lea ausgesprochen, hörte Richtsfeld auch schon die Tür ins Schloss fallen; ihr Parfum hing noch im Raum und verstärkte das Gefühl des Verlassenseins im immer noch fremden Haus, das ihm sofort wieder leer und überdimensioniert erschien.
Er hatte Leas Telefonat mit der Intendantin nicht mitgehört, in Festspielzeiten war seine Frau als Kulturstadträtin praktisch immer in Bereitschaft, irgendwo zu vermitteln, zu beurteilen, zu entscheiden, aber leise Zweifel hatte Richtsfeld immer, wenn seine Frau nicht bei ihm war. Lea hatte ihm niemals während der sieben Jahre ihrer Beziehung das Gefühl gegeben, ihn nicht mehr zu lieben oder jemanden anderen vorzuziehen, trotzdem gelang es ihm einfach nicht, seine latente Eifersucht zu überwinden.

Er sah ihr durchs Fenster nach, als sie mit viel Elan das Haus verließ. Sie winkte ihm nochmals kurz zu und nahm das Fahrrad – in der Innenstadt kam man damit viel schneller voran; normalerweise; natürlich nicht, wenn man Probleme mit der Ausdauer und mit dem Gewicht hat. Der Kommissar seufzte und bedauerte einmal mehr den erbarmungswürdigen Zustand seines Körpers.

Sollte er jetzt die Bedienungsanleitung seines iPod studieren? Er gähnte herzhaft, streckte sich ausgiebig und sah auf die Uhr. Nun stand ihm also noch eine Begegnung der besonderen Art bevor; Handwerker würden in seine Privatsphäre eindringen und Unruhe und Staub verursachen.
Das Haus war in keinem guten Zustand. Er hatte vorgeschlagen, bis das Haus renoviert wäre, noch in seiner Wohnung zu bleiben, aber Lea wollte nicht zuviel und vor allem nicht zu abrupt renovieren, um den Charakter ihres Elternhauses, in dem bis vor einem Jahr noch ihr Vater gewohnt hatte, nicht ganz zu zerstören. Geplant war, zuerst die Fenster auszutauschen und dann noch im Sommer die Holzböden abschleifen zu lassen.
Die halbe Stunde bis zum Eintreffen der Handwerker wollte er seinem zukünftigen silberglänzenden Begleiter widmen.

Er rückte seinen Sessel vom Fenster weg, durch das nun ungehindert die Sonne schien, Lea hatte zwar die Vorhänge schon gekauft, aber – wegen der bevorstehenden Arbeiten an den Fenstern – noch nicht montiert. Er nahm die Betriebsanleitung des iPod zur Hand.
Sein karges technisches Geschick erschwerte das Verständnis der Anleitung, außerdem war die Schrift sehr klein. Skeptisch musterte Richtsfeld sein Geschenk und erhob seufzend seinen massigen Körper, um seine Lesebrille vom Tisch zu holen.
Näher als seine Brille jedoch lagen die Reste des Frühstücks. Ob er sich nach dem allzu gesunden Vollkornbrot in diesen unbeobachteten Minuten nicht noch so ein außerplanmäßiges Schinkensemmerl gönnen sollte? Natürlich sah das sein Diätplan nicht vor, aber schließlich war heute sein Geburtstag. Er hatte die Semmel schon aufgeschnitten und wollte gerade nach der Butter greifen, als das Läuten seines Handys ihn davon abhielt.

Richtsfeld erreichte nach der sechsten Wiederholung von Don Giovannis „Auf denn zum Feste“ sein Handy, das in der Küche lag; ein wenig außer Atem nahm er den Anruf entgegen. „Hallo Amadé, ich bin’s. Mach Dich schleunigst auf den Weg. Es gibt Arbeit. In fünf Minuten vor dem Hotel Stein!“
Sebastian Nimmervoll, Richtsfelds erster Assistent und Stellvertreter, hatte bereits aufgelegt, bevor sein perplexer Chef Fragen stellen konnte. Richtsfelds Spitznamen, den ihm seine Kollegen vor einigen Jahren während einer Betriebsfeier unter dem Einfluss von mehreren Vogelbeerschnäpsen verpasst hatten, würde er wohl niemals loswerden.

Jana Kornelius
Auszug aus dem Roman: Mordskulisse,
Neuhofen / Krems ; Linz ; Wien, Resistenz Verlag, 2009

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