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Hubert, der Beobachter

Vorgeschichte

Hubert Laufschaft, ein Mann von achtunddreißig Jahren, verwitwet und kinderlos, ist begeisterter Beobachter.
Er ist Beobachter, wohlgemerkt. Kein Voyeur oder Spanner!

Im zarten Alter von sieben Jahren hatte sich sein Talent für das Beobachten gezeigt, als seine Großeltern ihm zu Ostern einen Feldstecher geschenkt hatten. Es war ein einfaches, kostenextensives Exemplar, lackiert in billigem Schwarz, welches bald durch Huberts Handschweiß abzublättern begann. Der Feldstecher hatte, damit er um den Hals seines Benutzers getragen werden konnte, einen Riemen aus schwarzem Kunststoff, welcher Leder imitieren sollte, dies jedoch nicht zur Gänze fertigbrachte, auch fehlte ihm eine Skalierung, mit deren Hilfe Hubert Entfernungen einigermaßen präzise hätte bestimmen können. Hubert hatte dennoch große Freude mit dem Geschenk, schließlich war ihm damit die Möglichkeit gegeben worden, Tiere zu beobachten.

Er beobachtete Mäusebussarde, die in der ländlichen Gegend, in der er aufwuchs, in großer Zahl vorkamen, und wurde bald ein durchaus kundiger Ornithologe, freilich einer der zweiten Kategorie; um ein Ornithologe erster Kategorie zu werden, ist ein Studium vonnöten.
Er beobachtete die Bussarde bei ihrer Balz im Flug, beim Bereinigen ungeklärter Fragen bezüglich der Grenzen der Reviere einzelner Paare dieser Raubvögel sowie bei der Jagd, diese faszinierte Hubert am meisten, auf Feldmäuse und Kröten. Des Weiteren beobachtete er Habichte, die er bald von den Bussarden unterscheiden konnte, durch ihr gänzlich anderes Flugbild am Himmel und natürlich durch die unterschiedliche Färbung ihres Federkleids, wenn sie gelandet waren, ihre Beutetiere rupften oder ihnen das Fell abzogen und sie auffraßen.

Weiters liebte Hubert das Beobachten der seltenen Wiedehopfe und der Eichelhäher. Säugetiere beobachtete er nicht, außer diese nahmen an den Jagden der Greifvögel teil, als Beutetiere.
Seine Beobachtungen behielt Hubert für sich. Selbst seinem besten Freund erzählte er nicht, womit er seine Freizeit verbrachte.

Als Hubert in die Pubertät kam, entdeckte er das Beobachten von Menschen für sich.
Er, der keine Geschwister hatte, mit welchen er hätte Zeit verbringen können, suchte sich Plätze am Waldesrand, die von niedrigen Büschen bewachsen waren, welche ihm Deckung gaben. Deckung war ihm wichtig, denn er, der kein Spanner war, fürchtete, und das wohl zu Recht, als eben solcher hingestellt oder gar denunziert zu werden, im Falle seiner Entdeckung. Aus diesem Grund, und auch weil ihn Menschen in freinatürlicher trauter Zweisamkeit nicht interessierten, machte er einen weiten Bogen um Plätze, die dafür bekannt waren, dass sich an ihnen Liebespaare zu verlustieren pflegten.

Susanne Laufschaft

Susanne war Huberts Ehefrau gewesen.
Sie hatte dem Drängen von Huberts Eltern nachgegeben, die der Ansicht waren, dass ihr Sohn im Alter von neunundzwanzig Jahren endlich unter die Haube kommen sollte. Sie hatten ihr eine Masse Geld gegeben, und sie hatte eingewilligt, Hubert zu ehelichen und sogar seinen Familiennamen angenommen. Geliebt hatte sie ihn nie und so war es auch kein Wunder, dass dieser Ehe kein Nachwuchs entsprungen war.
Die Menschen im Dorf begannen, sich über diese Amour fou lustig zu machen, Gerüchte über eine arrangierte, eine gekaufte Ehe begannen die Runde zu machen.

Hubert blieb dies nicht verborgen und er stellte seine lieblose Ehefrau zur Rede. Sie bestätigte die Gerüchte und eröffnete ihm, dass sie einen Mann kennengelernt hatte, den die wirklich liebte und dass sie die Scheidung wünschte.
Dies war der Moment, in dem Hubert beschloss, seine Ehefrau zu beobachten.
Er kaufte sich einen Feldstecher und folgte ihr, ohne dass sie dies bemerkte, auf Schritt und Tritt. Er, der keiner geregelten Arbeit nachging und vom Vermögen seiner Familie lebte, hatte ausreichend Zeit, Susanne zu folgen und sie zu beobachten.

Bald fand er heraus, wo der Mann, den seine Ehefrau wirklich liebte, wohnte. Er suchte sich einen Platz, von wo aus er die beiden beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden.
Er beobachtete sie einige Male durch sein Fernglas mit Skalierung, und schließlich war er sich sicher, dass Susanne die falsche Frau für ihn war. Er war froh, dass sein Feldstecher ihm erlaubte, die Entfernung zwischen seiner Ehefrau und seinem Platz in der Deckung zu bestimmen. An zwei aufeinander folgenden Tagen machten ihm Sommergewitter Striche durch die Rechnung, eines der Gewitter führte gar Hagel mit sich. Doch am dritten Tag war das Wetter perfekt.
Er beobachtete Susanne und bestimmte ein letztes Mal, um ganz sicherzugehen, die Entfernung.

Mathilde und Egon Laufschaft

Mathilde und Egon waren Huberts Eltern.
Dieser, im schwarzen Anzug, stellte die beiden noch am Rande der Tafel von Susannes Leichenschmaus zur Rede. Er fragte sie, ob sie seiner Ehefrau Geld gegeben hätten, um diese dazu zu bewegen, ihn zu heiraten.
Die beiden wollten anfangs nicht mit der Wahrheit herausrücken, deutlich erkennbare Furcht lag in ihren Augen, doch nach einigen Minuten fasste sich Huberts Vater ein Herz und bejahte die Frage. Hubert war außer sich vor Wut und der verständlichen Enttäuschung des Hintergangenen.

Er überlegte, ob er seine Eltern beobachten sollte,  doch konnte er sich weder zu einem Ja noch zu einem Nein in dieser Frage durchringen. Vorerst. Drei Tage später eröffnete Mathilde Laufschaft ihrem Sohn, dass sie eine neue Frau für ihn gefunden hätte.
In diesem Augenblick wurde Hubert klar, dass er seine Eltern würde beobachten müssen. Er wollte schließlich verhindern, ein zweites Mal an eine lieblose Ehefrau zu geraten.
Er zog sich in den Rand des Waldes bei seinem Elternhaus zurück und beobachtete seine Eltern durch sein Fernrohr. Es war immer noch Sommer, doch war die Zeit der Unwetter vorüber.
Eines Tages beobachtete Hubert seinen Vater, als dieser den Rasen des weitläufigen Grundstücks mähte. Seine Mutter kam aus dem Haus und häufte das geschnittene Gras mit einem Rechen auf.
Hubert ermittelte die Entfernung zwischen seinem Versteck und seinen Eltern.

Gestern

Gestern ermittelte Hubert die Entfernung zwischen seinem Versteck und seiner Volksschullehrerin, die ihn getriezt hatte. Obwohl schwacher Wind weder die Flugbahn noch die Durchschlagskraft eines Projektils von großem Kaliber maßgeblich beeinflusst, beschloss er zu warten. Er wird die Lehrerin wieder beobachten.

 Heute

ist es windstill.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens |Inventarnummer: 17007

Landmord

Schauplatz: Eine alte Bauernstube, gemütlich, trotzdem modern eingerichtet. Am Tisch sitzen drei Frauen und spielen Karten und trinken Schnaps.
Lisa, die junge Ärztin, die auf Urlaub hier ist. Greti, die alte Bäuerin und deren ältere Schwester, Inge.
Zeitpunkt: Ende November, es dämmert draußen.

„Mein Gott, Greti, das ist ja fast schon zwanzig Jahre her!“, meint Inge.
Greti nimmt einen Schluck. „Achtzehn waren’s im Sommer.“
„Was ist damals passiert?“, fragt nun Lisa.
„Es war eine Schweinerei. Damals war ja das große Bierzelt, es wurde ausgiebig gefeiert, dass die Maibaumjagd so erfolgreich gewesen war. Der Josef war kürzlich erst Bürgermeister geworden. So ein junger, ehrgeiziger Spund. Ältester eines Tischlers und einer Bäckerstochter. Beides liebe Menschen, aber der Josef … ein Sauhund dermaßen!“

„Greti!“, ruft ihre Schwester aus und zuckt unwillkürlich zusammen.
„Ist doch wahr! Jedenfalls war die Theresa auch da. Und auch sie hat getrunken, obwohl sie kaum sechzehn war. Und sie war halt auch so eine Lebensfrohe, hat mit allen geschäkert und gelacht. Natürlich hat das Mädl auch einige Köpf verdreht!“ Ihre Stimme brach ab.
„Und dann?“ Lisa streichelt ihr mitfühlend über den Arm.
„Dann … naja. Sie hat halt um elf zu Hause sein müssen. Da waren wir ganz streng, weil ja nächster Morgen und dann um fünf in den Stall. Und sie macht sich eben um halb elf auf den Weg. Ist ja nicht weit. Vielleicht eine gute halbe Stunde zu Fuß.“ Wieder versagt ihr die Stimme.

„Ist der Josef ihr dann nach?“
Greti schüttelt den Kopf. „Nein, der Ludwig aber. Das ist der Bruder von ihm. Er hat der Theresa aufgelauert. Zuerst hat sie es lustig gefunden. Hat gelacht und ihn wahrscheinlich auch geneckt. Er wollt halt mehr von ihr, und sie hat sich gewehrt. Dann hat er sein Jagdmesser gezogen und hat ihr in das Bein gestochen. Er hat gemeint, wenn sie sich wehren würde, würde er das nächste Mal in ihren Hals stechen. Dann hat er …“
Kurzes Schweigen.
„Hat er sie vergewaltigt?“, fragt Lisa.

Gerti schluckt und ihre Kopfbewegung ist nur ganz leicht, aber eindeutig ein Nicken. „Sie kam nach Hause, weinte und wollte nichts erzählen. Ich hab mir halt gedacht Liebeskummer. So wie alle Mädchen halt. Die Wunde hab ich erst am nächsten Tag gesehen, obwohl sie sie gut versteckt und schon eingebunden hat. Aber ich hab im Mülleimer so Baumwollfetzen mit Blut gefunden und dann hat sie mir alles erzählt. Geweint hat sie und erzählt. Das hat  einige Stunden gedauert, bis ich wirklich alles erfahren habe. Ich hab es förmlich aus ihr herauszwingen müssen. Ich bin natürlich sofort zum Ludwig, hab Sturm geläutet. Doch aufgemacht  hat der Josef. Gelächelt hat er, wie er’s jetzt auf den Wahlplakaten tut, und hereingebeten hat er mich. Der Ludwig saß am Küchentisch, das weiß ich noch ganz genau. Den Kopf zwischen den Händen hat er den Tisch angestarrt. Wohl mehr Kater als Reue. Auch der alte, pensionierte Gemeindegendarm saß da, und  irgend so ein Anwalt vom Josef und auch der hat gelächelt. Da bin ich wütend geworden und hab geschrien, du hast die Theresa vergewaltigt!

Nana, hat der Josef gesagt, nana, wer wird denn hier gleich wüste Anschuldigungen den Raum stellen? Der Ludwig und ich sehen das ein bisschen anders.
Setzt dich hin, Greti, hat der Gemeindegendarm dann gesagt. Lass uns in Ruhe drüber reden.
Zu einem Vergewaltiger setz ich mich nicht an einen Tisch, hab ich gerufen.
Aber gesetzt hab ich mich dann schon irgendwann.
Und der Josef hat mir gedroht. Bei ihm klingt das zwar dann nicht als ob er drohen würde, weil er die ganze Zeit lächelt, aber man merkt es trotzdem gleich, wenn er einem droht. Er meinte, wenn ich es zur Anzeige bringen möchte, könnte ich das tun, aber erstens hätten wir keine Beweise, und jeder im Dorf wüsste, dass die Theresa keine heilige Jungfrau sei, im Gegenteil. Der Ludwig hat sie zwar ein bisschen härter angefasst, aber jeder würde glauben, die Theresa hätte ihm etwas anhängen wollen, weil sie ja schon früher ein Geschichterl rennen gehabt haben. Zweitens sollte ich daran denken, dass grad meine Familie sich nicht erlauben konnte, dass grad die oberen Instanzen näher hinschauen.
Der Ludwig hat nichts gesagt. Der hat mich nicht mal angeschaut.“

„Wieso hat er denn das mit den oberen Instanzen gesagt?“, warf Lisa dazwischen ein.
„Naja, der Großvater hat zu seiner Zeit eben nebenbei was dazu verdient. Und bei der Steuer war er nicht grad ehrlich. Aber alle im Dorf haben‘s gewusst und niemand hat sich drum geschert! Jedenfalls, ich bin dann aufgestanden und hab gesagt, dass mir das alles egal wäre. Und ich würde trotzdem zur Polizei gehen mit der Theresa. Und einen elendigen Sauhund hab ich den Ludwig genannt.
Der Josef hat mich angeschaut, ganz konzentriert und hat gesagt:
Rede zuerst mit deinem Mann darüber.

Wie ich nach Hause gekommen bin, wollte ich sofort mit der Theresa zur Polizei nach Rohrbach fahren. Doch mein Vater hat schon auf mich gewartet, er hat mich in die Stube geholt und mir erzählt, dass er mit dem Josef telefoniert habe. Es wäre ein dummer Bubenstreich gewesen. Dem Ludwig täte es leid, er will sich auch bei der Theresa entschuldigen.
Ich hab mich dann noch furchtbar aufgeregt, aber der Vater ist stur geblieben und irgendwie hab ich immer auf ihn gehört. Dieses Mal auch. Er hat gemeint, schau, das Beste für Theresa ist doch, wenn sie es so schnell wie möglich vergisst. Wenn sie weiter leben und nach vorn schauen kann. Wenn wir das alles wieder aufwirbeln, wird es umso schwerer für sie sein.

Und deshalb bin ich dann auch gar nicht zur Polizei gefahren. Ich hab dann am Abend noch die Theresa gefragt, ob sie zur Polizei gehen will. Im Nachhinein denke ich mir, ich hätt das nicht tun sollen. Ich hätt sie einfach ins Auto packen und fahren sollen. Die Theresa war natürlich noch völlig im Schock und wollte partout nicht weg. Am nächsten Tag ist der Josef dann da gewesen. Ich hab das gar nicht gewusst, weil ich am Montag immer in die Stadt fahre. Nach der Schule war er da und hat der Theresa Blumen vorbeigebracht. Ich weiß nicht, was er zu ihr gesagt hat, sie wollte es mir auch nicht erzählen. Aber seitdem hat sie sich geweigert, von der Nacht zu sprechen. Sie hat nur immer so komisch gelächelt und den Kopf schief gelegt. Alles halb so wild, hat sie gesagt. Und später dann: Das ist doch schon so lang her.  Und ein Jahr später hat sie sich umgebracht.“

Betretenes Schweigen am Tisch. Inge füllt noch Schnaps in die leeren Gläser.
„Greti, jetzt schneit‘s bald!“, sagt sie noch, und Greti nickt.

Nene Stark

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 16157

 

 

Das absolute Nichts

Das ist das absolute Nichts, das allumfassendste Überhauptgarnichts. – Ich bin wach, ich bin ganz sicher wach. Ich bin da. Ich spüre aber nichts. Spüre ich was? – Nö.
Sehe ich, höre ich? Kann nicht die Rede davon sein, welche Rede? Ich kann ja auch nicht sprechen, auch wenn ich wirklich will: Hallo, alle miteinander! Ist da jemand?
Ich hab das nicht gehört, obwohl ich’s gesagt hab. Ich rufe. Wahrscheinlich hat das auch niemand gehört, vielleicht kann ich gar nicht rufen. Noch einmal: Hallo?!
Also ich hab’s nicht gehört. Wie soll das dann wer anderer hören? – Kann ich nicht nur nicht rufen oder bin ich auch taub? Ich höre jedenfalls nichts. Höre ich was? Nein.
Ich spür auch gar nichts.

Was gibt’s sonst noch, außer sehen und hören und spüren, … ja: Riechen! … Ich rieche aber auch nichts. Was ist das? Bist du der Himmel? Das Fegefeuer? Die Hölle?
Nein. Ich bin da, irgendwie zumindest. Und ich hoffe sehr, diese Sache jetzt möglichst schnell regeln zu können, hab schließlich anderes zu tun. Hoffentlich bin ich nicht tot und der ganze Zinnober hat nichts mit Religion zu tun.
Aber: Ich denke, also bin ich, ergo sum. Haha! – ja, ich denke … also bin ich … aber was?
Wer bin ich? Was bin ich? Ich bin ein Mann. Ja. – Und es gibt Frauen, aber ich bin keine, haha, ich bin ein Mann, das spür ich.
Spür ich was? – Eigentlich nicht. Wie geht Spüren? Ich werde jetzt meine Hände spüren, ich werde jetzt den Stinkefinger zeigen, den rechten Mittelfinger strecken – ich würde jetzt gerne sehen, ob er sich bewegt, bewegt er sich?

Aber da: Da ist doch was, ich spür was. Ist das im Kopf, im Herz, auf der Haut? Da! Ich hab es schon wieder gespürt, ich glaub, es war in der Nase, so ein ganz leichtes Kribbeln. Na eben.
Ich spüre was in der Nase, also bin ich. Also … ich weiß, wo meine Nase sitzt … gespürt habe ich da aber eigentlich nichts.
Sehen? – No; Spüren? – No; Hören? – No; Riechen – No. Aber Denken? – Yes.
Denken gehört nicht zu den fünf Sinnen. Sehen, Hören, Riechen, Spüren – was gehört, verdammt noch einmal, noch dazu? Fluchen sicher nicht.
Ah! Schmecken! Aber was soll ich schmecken, wenn ich nicht in ein Steak reinbeißen kann? Flößt mir ein Bier ein, damit ich weiß, ob ich schmecken kann …
Ihr? Ja, es gibt andere. Es gibt andere und irgendwann wird wer kommen, und dann werd ich … was werd ich dann …? Ich werde gar nichts machen können – ich kann mich jetzt nur konzentrieren.

Ha! Ich hör was … ich muss mich konzentrieren.
Ja, ich höre was. Aber was?
Es ist ein leises, grunzendes, ja zufriedenes Schnarchen. Juhuu, ich kann wieder hören: Es macht ‚grunz-schnarch-grunz-schnarch’! Da ist wer! Wer ist da? Wer schläft da neben mir?
Nein. Da ist niemand, es ist der Atem. Gut. Es ist mein Atem. Ich atme! Er klingt zwar ungesund, aber immerhin. Ich höre jetzt, ich atme!
Das ‚Grunz-schnarch‘ ist jetzt mehr ein ‚Duff-duff, duff-duff‘. Das könnt mein Herz sein. Haha! Mein Herz pumpt! Mein Herz pumpt und ich atme! Ich lebe! Jetzt klären wir noch den Rest und dann geht‘s weiter, ich habe viel zu tun.
Das Duff piepst jetzt auch. Jetzt macht es Pieps, so wie vorher das Duff!  – Immer wenn es Duff macht, macht es auch Pieps. Es ist mein Herz! Ich spür was, hör was, atme und mein Herz piepst – ich lebe! – Hurra, ich lebe.
Ha! Ich liege im Spital. Schlimmer noch wahrscheinlich: auf der Intensivstation. Aber wieso?

Wer bin ich? Ich hab‘s: Ich bin Christian, Christian Oberegger, geboren am 27. Juni 1996 in Eferding an der Donau. Ich bin römisch-katholisch, hab meinen Militärdienst absolviert und soll am Montag … ist heute schon Montag? … nach Frankfurt fahren.
Warum wird das ‚Duff-duff‘ langsamer? Kann da, bitteschön, nicht wer kommen und sich um mich kümmern?!
Was war da los?
Ich war, wie es scheint, ziemlich betrunken. Ja.
Aber wo?
Haha, ja! Am Nachmittag haben wir es uns schon ziemlich besorgt, haha, ja genau, der Ferdi, der Andi und ich. Ja, hahaha, und dann sind wir nach Linz, der Andi ist gefahren.
Genau, haha. Dann hat es diese Sache mit dem Mädel gegeben, sie hat geschrien und ich, wir alle, wollten schnell weg. Ja, ich bin dann gefahren, das war sicher keine gute Idee, so wie ich schon beinander war.

Warum ist das ‚Duff-duff‘ so langsam?
Der Andi hat gesagt: Nimm den Schleichweg, auf der Hauptstraße stehen sicher die Bullen, das Mädel, weiß gar nicht, wie sie heißt, wir haben sie mitgenommen, das war die Idee vom Ferdi, das war nicht meine Idee, ich schwör‘s, sie hat die ganze Zeit geschrien, auch ihre Freundin oder Schwester, noch jünger als die andere, Andi hat sie ins Auto gezogen, kurz vorm Wegfahren.
Ich hör es: Da ist nicht nur das ‚Duff-duff‘, da piepst es jetzt auch.
Mitten im Nichts ist dann in der Kurve dieser vertrottelte Traktor gekommen, was will der da um diese Tageszeit, hab ich mir noch gedacht, wir sind volle Kanne reingekracht in ihn.
Warum hört das Tuten nicht auf, warum tutet es jetzt dauernd …

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 16124

Proband

Eigentlich kann man ja nicht viel öfter als drei Mal pro Jahr als Proband fungieren. Weil für die meisten klinischen Studien zwischendurch Wartezeiten gefordert werden, damit sich der Körper regenerieren kann, nehme ich an. Ich aber bin in vielen Krankenhäusern und medizinischen Einrichtungen von Pharmafirmen tätig. Es scheint keine zentrale Datenbank für Probanden zu geben, oder, ich weiß nicht, vielleicht ist es denen auch einfach egal. Ich mache das jetzt seit nicht ganz zwei Jahren. Alle Kosten kann ich nicht davon bestreiten, aber es ist ein gutes Zubrot. Bislang habe ich alle Medikamente ohne größere Nebenwirkungen vertragen, kassiert, dafür nicht leiden müssen. In Summe kann ich sagen: Ich bin gerne Proband.

Gerade bin ich wieder am Anfang eines neuen Auftrages, ein stationärer Aufenthalt ist erforderlich. Das ist mir sogar lieber als ambulant, kann mich gut dort ausruhen – einfach rein ins frisch bezogene Bett und die Augen schließen, wenn ich will. Die Krankenschwester gibt mir mein Medikament: vier blaue Pillen Oral-Turinabol. Sie hat die Packung in der linken Hand – darauf ist als Hersteller VEB Jenapharm verzeichnet. Mir kommt der Name der Pillen bekannt vor, den habe ich schon wo gehört, und VEB Jenapharm, soll VEB etwa volkseigener Betrieb heißen? DDR? Ja, DDR! Diesmal erhalte ich 2.800 Euro für zehn Tage, mit der Chance auf Verlängerung – in einem anderen Krankenhaus, aber es ist dasselbe Programm. In meinem Brotjob als freier Grafiker bin ich in einer Sackgasse, niemand will mehr etwas von mir. Das heißt: Ich bin auf dieses Geld angewiesen.

Nach vier Stunden kommt die Krankenschwester wieder: noch einmal vier Pillen. „Ist das nicht ein bisschen viel?“, frage ich sie. „Wenn wir etwas dafür zahlen, gibt´s die Dröhnung“, antwortet sie. Was soll ich dagegen sagen, bin ich in der Position dazu? Mehr oder weniger bin ich jemand, der seinen Körper verkauft. Im jetzigen Fall für einen guten Lohn, daher bin ich mucksmäuschenstill.

Unmittelbare Nebenwirkungen stelle ich keine fest, außer dass ich ziemlich speedig bin, ich fühle mich getrieben. Das ärztliche Personal und die Krankenschwestern sind anfangs mit mir zufrieden. Nach zehn Tagen spüre ich jedoch den Turbo in mir ziemlich stark, ich bin aggressiv, in meinem Gesicht entwickelt sich Akne, wie damals als ich noch jugendlich war. Diese Nebenwirkungen sind anscheinend nicht im Sinn des Auftraggebers, daher findet keine Verlängerung statt. Ich werfe mir vor, mich dumm angestellt zu haben. Ich hätte flunkern sollen, sage ich zu mir selbst. Nein, es ist schon in Ordnung, meine ich nach längerem Nachdenken. Man hat meine Aggression doch sicherlich bemerkt, ja, und die Akne ist ja klar sichtbar, da hätte ich doch gar nichts verheimlichen können.

Jetzt erhole ich mich einmal, ein paar Tage, dann bin ich wieder im Dienst.

Gefordert ist ein stationärer Aufenthalt von sieben Tagen, abzuleisten in einem kleineren Krankenhaus in einer Bezirksstadt, zirka fünfundvierzig Kilometer von meinem Wohnort entfernt, in nördlicher Richtung. Für mich ist das kein Problem, ganz im Gegenteil, es ist eine gute Verdienstmöglichkeit, es gibt 1.950 Euro für den Auftrag.

Diesmal heißt das Medikament Clenbuterol, die Packung ist weiß-rot-blau, wie die französische Fahne, die Tabletten sind weiß. Hinter dem Markennamen steht 40. „Ursprünglich ist das ein Asthma-Medikament“, erklärt mir die Krankenschwester, „aber es hat einen weiten Anwendungsbereich.“ Sie verabreicht mir morgens, mittags und abends je drei Tabletten. Nach der ersten Einnahme halte ich es für Zufall, nach der zweiten denke ich, es könnte etwas dran sein, und nach der dritten Einnahme, abends, bin ich mir fast ganz sicher: Von den Clenbuterol-Tabletten sinkt meine Laune auf den Nullpunkt. Richtig mies aufgelegt werde ich davon.

Ich teile das auch der Krankenschwester, die für die Nachtschicht eingeteilt ist, mit. Sie meint aber nur: „Glauben Sie denn nicht, dass Ihnen irgendeine Laus über die Leber gelaufen ist?“ Das medizinische Personal möchte, dass die Medikamente hochwirksam und bestens verträglich sind. Widerrede wollen sie keine hören.

Am dritten Tag will ich mir aus dem Kaffeeautomaten einer Nachbarstation einen Kaffee ziehen. Eine junge Frau steht vor ihm, der Kaffeeautomat macht Geräusche, der Kunststoffbecher füllt sich. Sie zieht ihn heraus.

Da fällt es mir auf: Ich kenne diese Frau! Bei meiner Testserie mit Oral-Turinabol war sie auch in dem dortigen Krankenhaus anwesend gewesen. „Hey du, bist du auch Probandin?“, frage ich ganz direkt. „Bin ich, ja, und ich mache das schon ziemlich lange“, sagt sie mit tiefer Stimme. Sie sieht mich direkt an, und ich bemerke ihren Bartschatten und starke Akne im Gesicht. Ihre Hand, die den Kaffeebecher hält, zittert.

Sie muss früher sehr hübsch gewesen sein, hat wohl ähnlich ausgesehen wie Simonetta Vespucci, die schönste Frau von Florenz im Rinascimento. Jetzt ist sie la bella Simonetta in der Hölle.

Johannes Tosin

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 16121

hamlet mein freund

siebzehn jahre habe ich alt werden müssen bis ich ein eigenes zimmer bekomme für andere vielleicht eine kleinigkeit für mich   s i e b z e h n   jahre mein ganzes leben jetzt wo mein zweiter bruder ausgezogen ist in eine kleine studentenwohnung ums eck bin ich in das kleine kabinett übersiedelt das ehemalige zimmer meiner schwester sie hat das große zimmer das frühere bubenzimmer bekommen wo ich früher mit meinem bruder hauste meinen schulkollegen traue ich mir das gar nicht zu erzählen peinlich oder meinen wenigen freunden die verstehen das voll nicht da haben alle seit ihrer geburt ein eigenes zimmer aber was soll‘s lauter verwöhnte fatzkes

in meinem neuen reich bleiben zwar die möbel wie sie sind weißer schleiflack standen früher im schlafzimmer meiner eltern nicht gerade cool aber ganz okay das wichtigste ist doch die tür die ich hinter mir zumachen kann wann ich will

als ich mit vierzehn vom internat nach hause kam hatte ich nicht mal ein eigenes bett schlief in einem klappbett das weiß der teufel wie alt war total durchgeritten die federn quietschten wenn ich mich bewegte und egal wie ich mich legte letztendlich rollte ich immer in die mittelrinne des bettes deswegen ist jetzt mein eigenes zimmer der hammer

seither hat sich eine menge bei mir zu hause getan nach dem tod meines vaters und meines stiefvaters gibt es jetzt einen neuen mann einen werner der bei uns ein- und ausgeht tut mir leid ich kann mir nicht helfen ein unsympathischer kerl mir ist vollkommen unbegreiflich was meine mutter an ihm findet das hirn zermartere ich mir was wohl an dem dran ist was nur denn verliebt ist meine mutter sicher nicht in ihn liebe sieht anders aus so viel weiß ich schon mit meinen siebzehn von liebe sind wir hier meilenweit entfernt er muss was anderes an sich haben was auch immer bevor er sich bei uns vorstellte hat sie ein paar brocken von ihm erzählt er hat auch ein paar elektrofachgeschäfte wie meine mutter und das wird es wohl auch sein geschäftliches kalkül zusammenlegung ja natürlich warum ich nicht gleich darauf gekommen bin meine mutter muss verdammt verzweifelt gewesen sein mit ihrem geschäft das sie weitergeführt hat nach vaters autounfall dabei hat sie nie ein sterbenswörtchen darüber verloren dieses weiterführen des geschäfts eine schnapsidee warum konnte sie es nicht so machen wie unsere bekannte deren mann steuerberater war und auf der straße überfahren wurde für sie aber war es null option die kanzlei ihres mannes zu übernehmen absolut keine sagte sie das finde ich vernünftig meine mutter hätte das auch nicht tun dürfen vaters geschäft weiterführen warum denn um sein erbe weiterzuführen ach hör mir auf so ein quatsch als sekretärin hätte sie weiterarbeiten sollen hätte hätte hätte was soll‘s jetzt ist es nun mal wie es ist

und jetzt haben wir diesen typen am hals diesen werner von dem ich nicht weiß wie ich es eine minute mit ihm allein aushalte mit diesem kleinen fetten sack der sich so was von aufspielt als wär er der große pascha aber bitte mutters entscheidung sie muss mit ihm klarkommen er ist nicht mein mann also wenn das nicht eine geschäftliche entscheidung ist dann weiß ich nicht mutter die bedrohte königin holt sich einen retter ins haus der selbst mit allen wassern gewaschen ist wenn er wenigstens nett wäre das kann nicht gut gehen nicht auf dauer nicht mit diesem typen vielleicht wenn er sich ändert und die moral von der geschichte ist überlege genau von wem du dich retten lässt ist es nicht so aber meine mutter beschloss irgendwann einmal sich voll und ganz in ihr geschäft zu stürzen als hinge ihr leben davon ab was es in gewisser weise auch tat als mutter und alleinverdienerin mit vier kindern aber sie ignorierte alles rundherum wirklich alles auch ihre familie nichts kann sie wahrnehmen vielleicht tue ich ihr unrecht und sie kann es doch aber warum hat sie sich dann trotzdem dafür entschieden trotz eines gefühls ein hoher preis oder mutter ist blind geworden durch die ständige bedrohung ihrer probleme sie arbeitet so viel und so besessen dass sie sich nie wirklich fragt wie es ihr geht aber sie spricht auch nie darüber nie mit niemandem

mir braucht kein geist zu erscheinen wie hamlet wo der geist des vaters den jungen hamlet auffordert ihn zu rächen mein vater ist ja nicht getötet worden aber ich lerne was aus seiner geschichte ich werde diesen werner töten und zwar ohne waffen mit meinen gedanken meinen bloßen gedanken

für gewöhnlich kommt er abends nach der arbeit nach hause holt sich sein von unserer haushälterin zubereitetes essen wärmt es in der mikrowelle mit dem er sich dann ins wohnzimmer setzt zum tisch wo er fernsehend sein essen verdrückt dieser typ werner ich werde ihm in der glotze sein leben auftischen so wie hamlet seinem mörderischen onkel und seiner mutter ihr leben es mit einer theateraufführung getan hat da kann er dann sehen was für ein erbärmliches leben er führt und ich werde ihn zwingen hinzusehen auch gegen seinen willen bis zum bitteren ende und er wird sich winden unter schmerzen und ärgstens krepieren ja genau so werde ich es machen genauso werde ich dieses schwein hinstrecken es ihm zeigen so einer wie er hat in unsere familie nichts verloren wirst schon noch sehen

als er nach hause kommt passiert es wirklich so wie ich es mir ausgemalt habe der fernseher dröhnt eine weile im wohnzimmer vor sich hin nicht zum aushalten
dreh bitte leiser sage ich zu ihm ich kann mich nicht konzentrieren ich muss lernen morgen habe ich schularbeit
dann lern was damit was wird aus dir sagt er und lacht blöd dann dreht er ein wenig leiser als ich mich wieder in mein zimmer verziehe
es dauert nicht lange da ist die lautstärke unerträglich wie zuvor und ich gehe wieder raus zu ihm
schon wieder zu laut sage ich so kann ich nicht lernen hast du nicht verstanden
was ist los mit dir es ist nicht laut ich habe schon leiser gedreht
und warum dröhnt es dann so laut in meinem zimmer du kannst dir das nicht vorstellen aber so geht das nicht also leiser verdammt
reg dich ab ist nur für kurze zeit
was heißt für kurze zeit egal ich brauch die ruhe jetzt nicht später willst du dass ich durchfalle bei dem lärm kann kein mensch lernen ein bisschen rücksicht wirst du noch aufbringen genervt ziehe ich mich zurück
und genervt dreht werner leiser

aber verdammt noch mal denkt sich werner wahrscheinlich warum soll ich mich von diesem burschen tyrannisieren lassen es ist viel zu leise die hälfte verstehe ich nicht vielleicht bin ich denn schwerhörig wenn schon aber ich habe ein recht zu verstehen schließlich wer bringt hier die brötchen heim den ganzen tag hart arbeiten was heißt tag ganze woche monat für monat und dann kommt so ein bursche und spielt sich auf nein so geht das nicht so kann es nicht sein der junge ist mir egal alle sind mir egal und so dauert es nicht lange dass er wieder lauter dreht

erneut schieße ich aus meinem zimmer was bist du nur für ein rücksichtsloses arschloch werfe ich ihm an den kopf zu laut ist zu laut geht das in deinen kopf setz dir kopfhörer auf oder sonst was aber lass mich in ruhe mit diesem scheißwirbel so kann ich nicht lernen
spinnst du was ist in dich gefahren so mit mir zu reden
ich rede wie ich will
du brauchst dich nicht so aufzuführen schleich dich in dein zimmer und halt die klappe
ich werde nicht eher gehen bis du diesen scheißfernseher leiser gedreht hast
aber kommt doch gar nicht in frage du blödmann
selber blödmann du bist ein mieses oberarschloch das unsere familie tyrannisiert geh mit deinem scheißleben zurück wo du herkommst niemand braucht dich du brauchst nicht hierbleiben hörst du
wenn du nicht sofort aufhörst dann kleb ich dir eine du rotzlöffel du frecher

das wird er nie wagen denke ich mir aber wie eine feder schnellt er plötzlich hoch stürzt sich auf mich was ich ihm nie zugetraut hätte und erwischt mich mit seinen offenen armen verpasst mir eine saftige ohrfeige die mich kurz orientierungslos zu boden schleudert jetzt spüre ich nur einen schweren körper auf mir der auf mich unkontrolliert einschlägt mit seinen fäusten die schmerzen mobilisieren ungeahnte kräfte in mir und ich drehe meine beine so dass sie gegen seinen oberkörper stemmen und ihn wegschleudern schnell rapple ich mich hoch schaffe es gerade in mein zimmer und schließe rasch hinter mir ab

wütend und schnaubend wie ein wildes tier wirft er sich gegen die dicken hohen flügeltüren zwei dreimal bis er einsehen muss dass ihm nichts anderes übrigbleibt als seine wut an der alten messingtürschnalle abzureagieren
warte nur ruft er na warte du wirst schon noch in meine gasse kommen dein benehmen werde ich dir noch austreiben
glücklich in meinem zimmer denke ich mir lass diesen idioten doch weiter toben er ist mir egal er kann verrecken ich kann den tag nicht erwarten aus diesem irrenhaus hier auszuziehen

nicht dass du glaubst diese situation ist die erste nein das hatten wir schon mal und wenn meine mutter nach hause kommt dann läuft das so dass ich ihr gleich über ihn mein leid klage davor aber hat sie schon seine version zu hören bekommen und dann sagt sie zu mir du musst dich mit ihm arrangieren ob du willst oder nicht damit musst du leben und zurechtkommen blablabla immer das gleiche sie ergreift natürlich partei für ihn und ich habe keine chance

in der schule lesen wir gerade shakespeare und ich verstehe hamlet immer besser
ihr sollt nicht vom platz nicht gehen bis ich euch einen spiegel zeige worin ihr euer innerstes erblickt
das sagt hamlet seiner mutter ich aber will werner einen spiegel vorhalten er soll sich und sein mieses getue im spiegel sehen nichts anderes wünsche ich mir

werner setzt sich wieder vor den bildschirm der ihn bald in eine andere welt schaukelt dann kann er wie unter hypnose seine arbeiten weitermachen und bilder im fernsehen zeigen einen kleinen gedrungenen mann der mit ein paar arbeitern herumkommandiert und dabei ein lager räumt man kann sehen wie diese arbeiter im ersten moment gleichsam von einer art schock erfasst sind aufgrund der unüberschaubar großen menge an sperrmüll und unkalkulierbarkeit an mühen die auf sie zukommen wie betrunken torkeln sie kopflos herum und der mann treibt sie an hand anzulegen aber sie tun nicht wie er will idioten seht ihr nicht das muss da her da her
sie können aber nicht wie er will sind keineswegs vorbereitet auf so ein unfassbares vorhaben
die männer sind wie eine fassungslose meute die neben dem rasenden klaus kinski stehen und nichts als staunen können wie ein wahnsinniger ein opernhaus mitten im dschungel errichten will
so ein idiotisches vorhaben ist das ein lager wie dieses an einem wochenende zu räumen für das man im normalfall ein bis zwei ganze wochen benötigt aber da sie nun mal mit dieser situation konfrontiert sind taumeln die arbeiter herum und werden zu willenlosen tölpeln eines verrückten der herumschreit und herumfuchtelt

werner sieht diese bilder und kann nicht fassen dass man ihn darstellt das ist er darüber kann es nicht den geringsten zweifel geben dieser mann sieht ihm sogar ähnlich wie er findet und die art der arbeiter auch die ist ihm bestens vertraut er erinnert sich sogar einige der eben gesehenen bilder schon einmal selbst erlebt zu haben
was soll das will man ihn bloßstellen woher hat man diese bilder diese situationen und dann gibt es noch eine andere szene in der werner sich auf seine lebensgefährtin stürzt und auf sie losgeht man sieht wie er auf sie einschlägt weil er es nicht ertragen kann dass sie sich weigert ruhig zu sein
diese verdammten autos sagt sie wie oft habe ich dir gesagt dass du sie nicht mehr anschauen sollst du wirfst das geld beim fenster raus für idiotische wracks
jetzt habe ich genug von dir ich werde dir dein loses mundwerk stopfen es geht dich gar nichts an was ich mit meinem geld mache
mein geld von wegen wer steht die meiste zeit im geschäft hält die stellung an der front das bin ich du bist doch meistens nie da fährst irgendwo in der weltgeschichte herum spielst den großen boss
halt‘s maul hab ich gesagt du blöde sau du halt’s maul hörst du nicht

werner wartet einen augenblick bis es ihm zu viel wird all das was ihm da bildlich vorgesetzt wird macht ihn nervös und er greift nach der fernbedienung und will das programm wechseln aber die fernbedienung funktioniert nicht dann will er die kiste ganz abdrehen aber auch das klappt nicht was ist jetzt los denkt er springt auf und will den fernseher händisch abdrehen aber etwa einen meter vor dem bildschirm stockt er und kann sich nicht mehr bewegen plötzlich steht er wie festgewurzelt an ort und stelle sein gesicht ist jetzt ganz auf den bildschirm gerichtet seine augen werden wie durch fremde macht gezwungen offen zu bleiben

das nächste was er sieht ist ein greller blitz der rechts aus dem fernseher schießt  und direkt in einen stapel alter zeitungen fährt von dem er sich nicht hatte trennen können den er sich irgendwann noch durchsehen wollte und jetzt am boden liegt nach schreien ist ihm zumute aber weder sich bewegen noch brüllen kann er mit dem blitz ist der fernseher mit seinen unverschämten bildern wenigstens ausgeschaltet aber wie er es auch anstellt sich zu regen oder zu artikulieren es gelingt ihm nicht nicht die kleinste regung nicht den leisesten ton kann er seinem körper abringen keine frage irgendeine seltsame kraft hat sich seiner bemächtigt und diese kraft breitet sich in ihm aus und löst tief in ihm eine fremde müdigkeit aus ja ich bin müde muss sich werner eingestehen jetzt auch das noch ich will nicht mehr kämpfen werner hat angst dass sein zorn seine wut wohl nicht mehr ausreichen ihn noch einmal anzutreiben ist das vielleicht sein ende dem er jetzt ins auge sehen muss ach was werner fühlt sich gerade wie ein boxer der getroffen am boden liegt und gerade noch dazu imstande ist zu merken wie er angezählt wird jedoch unfähig ist aufzustehen obwohl er sich der schwerkraft mit allen kräften widersetzt sein körper gehorcht einfach nicht mehr den befehlen seines verstandes

das feuer frisst sich vom zeitungsstapel in den boden die teppiche und die anstehend furnierten holzmöbel von dort züngeln die flammen höher und höher richtung plafond bis die karnischen aus holz und plastik erreicht sind immer noch kann sich werner nicht bewegen und muss beobachten welch gespenstisches spektakel sich vor seinen augen abspielt wie noch nie in seinem leben steht er so ruhig auf dem boden unfähig auch nur einen finger gegen andere zu erheben mit so einer wut im bauch im kopf und im herzen und ist verdammt zuzusehen wie das feuer genüsslich auf das zimmer übergreift hab und gut verschlingt auch wenn er sich nicht damit abfinden will werner spürt auch wie die hitze allmählich näher und näher kommt heißer und heißer das feuer sich an ihn heranfrisst und es züngelt auch schon nach ihm als ob es ihm in gemeiner absicht sagen will das beste zum schlussssssssss

dieses teuflische phlegma bemächtigt sich seines innenlebens und geht über in eine angenehme gefühllosigkeit ist das der zustand der sogenannten erleuchtung oder sonst was denn all sein ärger seine wut sind mit einem mal eingedämmt und lassen ihn die dinge in seltsamer gleichgültigkeit betrachten wie vorbeiziehende phänomene die ihn nichts mehr angehen als ob kein geschehnis positiv oder negativ bewertet werden kann ja er muss sich eingestehen dass jedes phänomen potenzial für beides in sich enthält wie ein haus das drauf und dran ist abzubrennen aber von dem man nicht sagen kann ob das gut oder schlecht ist denn anstelle eines abgebrannten hauses kann ja auch wieder ein schönes neues errichtet werden

in meinem kabinett höre ich vom wohnzimmer seltsame dinge ich bin mir nicht sicher ob sie aus dem fernseher kommen oder nicht werner schaut ja immer wieder die seltsamsten filme an diesmal aber klingen die geräusche anders und was mich auch stutzig macht ist dass es seltsam riecht nämlich verdammt nach brand irgendwo muss es brennen aber wenn in der stadt tiefdruck herrscht besonders in der kalten jahreszeit wie jetzt dann wird der geruch des hausbrands nach unten gedrückt was ekelhaft riecht diesmal aber riecht es intensiver stechender irgendwie nach plastik und zusammen mit den geräuschen ist alles doch sehr seltsam ich gehe erst zur tür und horche als ich ein sausen und knacken höre und auch ein knistern vorsichtig sperre ich die tür auf und werfe einen blick zuerst zum tisch wo gewöhnlich werner sitzt dort aber sitzt niemand dann wende ich meinen blick zum fernseher und da sehe ich wie sich feuer bereits am boden und an den möbeln festgefressen hat und was ist das werner steht umringt vom feuer wie eine statue still doch schreiend mit aufgerissenem mund und augen vor dem fernseher und fixiert ihn wie besessen der nur noch ein schwarzer unkenntlicher klumpen ist die flammen haben werner eingekreist und ich rufe mehrmals seinen namen jedoch ohne regung ein schauerlicher anblick sobald ich näher komme spüre ich die unausstehlich große hitze die mir entgegenschlägt ich schaffe es nicht näher an ihn ran alles geht so schnell wie konnte es nur so weit kommen es ist verdammt heiß was mir den schweiß auf die stirn treibt

wenn ich nicht zu ihm komme muss ich die feuerwehr rufen schnell ich sehe wie kleidungsfetzen an werners körper brennen und sich tiefer und tiefer in seine haut fressen braune flecken bilden wie ist es nur möglich denke ich dass er so still wie angewurzelt dasteht und diese katastrophe erträgt mein nächster impuls ist flucht hinaus aus der wohnung ins stiegenhaus aber verdammt auch das geht nicht mehr dazu muss ich an werner und dem feuer vorbei dort aber brennt es bereits so heftig dass ich nur noch zur balkontüre eilen kann mit meinem händen und armen meine augen schützend ich reiße die gekippte balkontür auf und flüchte mich ins freie kein telefon habe ich bei mir mit dem ich die feuerwehr verständigen kann ach was will ich doch gar nicht dass die feuerwehr kommt das feuer soll ihn fressen mit genuss diesen miesen typ mit haut und haar verzehren bis nichts mehr übrig bleibt ich will ihn nicht mehr sehen die feuerwehr darf nicht kommen soll nicht kommen

nervös tripple ich am balkon hin und her und versuche einen blick noch in das zimmer zu werfen aber die augen brennen mir sofort vom mittlerweile schwarzen giftigen rauch der ins freie qualmt kaum kann ich in dieser flammenhölle was erkennen aber ich bin mir sicher dass dort wo die flammen am höchsten schlagen dort steht einer den jetzt der superoxidationsprozess gerade in seine einzelteile zerlegt und du gutes feuer tu mir den gefallen nimm doch gleich die weißen schleiflackmöbel mit …

Fritz Schuler

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 16114

Buschfleisch

Ich tue dasselbe wie mein Vater und wie schon mein Großvater: Ich lebe im Busch, ich jage, um zu essen, ich ziehe mit den Antilopen. Es gibt Gras, oder es gibt kein Gras, Bäume nicht viele, es gibt Tümpel, von denen die Tiere trinken, und auch wir Menschen.
Mein Stamm nennt das Land „Sonnenland“. Groß steht die Sonne am Himmel, und nur sie kann die Urheberin vom allem hier sein.
Ich lebe in einer runden kleinen Hütte, meine Frau bestellt den Boden, unsere Kinder sind noch klein. Es ist dasselbe Leben tagein, tagaus, nur die Regenfälle unterbrechen es, dafür ist es gut, dass wir die Hütte haben.

Aber seit gestern ist etwas anders. Wir hörten Donnerhallen, aber es gab kein Gewitter, ich wartete, bis es dunkel war, dann schlich ich mich in die Gegend, von wo der Donnerhall gekommen war.
Und da sah ich aufgehängt, ohne Fell und geflämmt, einen Luchs, ein Zebra, und am Boden liegend ein Nashorn, alle mit geöffnetem Bauch. Buschfleisch, um es zu essen. Und auch Ngolo sah ich, meinen Nachbarn, vorne geöffnet und hinten geflämmt, um ihn haltbar zu machen.
Heute wird die Jagd weitergehen, und wir sind die Tiere.

Johannes Tosin

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 16072

Das Pack

Kurt konnte nur am Sonntag schreiben. Die anderen sechs Tage der Woche arbeitete er im Herrenmoden-Geschäft seines verstorbenen Onkels. Allzu ernst nahm er sein Schreiben nicht; es war im Grunde nicht mehr als eine Beschäftigungstherapie, die ihm der Arzt wegen seiner angeschlagenen Nerven empfohlen hatte. Er litt an Schlafstörungen, weigerte sich aber, Medikamente zu nehmen. Das Schreiben lag ihm noch am ehesten, im Gegensatz zu Zeichnen, Porzellanmalerei, Origami oder Ikebana, was der Doktor auch noch vorgeschlagen hatte. Immerhin hatte Kurt bis zum Antritt der Onkel-Erbschaft in einem Sachverlag für Ornithologie gearbeitet, wenn auch nur als Buchhalter.

Der Sonntag Mitte Juli war ein heißer Tag. Kurt saß im Unterhemd an seinem Schreibtisch, die Fenster waren geschlossen, die Jalousien halb heruntergelassen. Vor ihm lagen mehrere Schulhefte, die zwanzig Bleistifte parallel ausgerichtet, Radiergummis in verschiedenen Größen und Farben, Spitzer, Büroklammern, Klebstoff und ein Stoß mit einzelnen A4- Blättern, haargenau gestapelt an der rechten, oberen Ecke des Tisches. Er hatte immer schon die Gewohnheit gehabt, auch im Verlag, alles vorzuschreiben. Erst wenn er zufrieden war, übertrug er das Geschriebene in ein Heft. Die verworfenen Zettel verbrannte er sofort im Waschbecken der Küche, damit er es sich nicht anders überlegte und zu tüfteln anfing. Dieses an Sonntagen wiederkehrende Vorgehen beruhigte ihn und gab ihm eine gewisse Sicherheit, dass er mit seiner Schreibtherapie Fortschritte machte. Es war seine Form der Kontingenz, mit der Welt in Verbindung zu stehen. Zwei Vogel-Geschichten hatte ihm sein alter Verlag schon abgenommen.

Er war nun etwa dreißig Minuten an seinem Tisch vor den leeren Blättern gesessen, konzentriert und gerade lange genug, um die Ahnung einer Idee für einen Ansatz zu finden, den er heute bearbeiten wollte: „Die Zugvögel am Schwarzenbach vor dem Aufbruch“, da hörte er die Männer kommen, vier oder fünf. Es war früher Nachmittag. Unter lautem Reden und Lachen bogen sie von der Schwarzenbachstraße mit dem Katzenkopflaster auf den kleinen, asphaltierten Platz der Reihenhaussiedlung ein. Wie das klang, mussten zwei von ihnen genagelte Schuhe anhaben.

Hei Börni, heute bist du dran.
Los, Walter, immer drauf.
Nein, ich will heute nicht ins Tor, soll doch der Karli.
Oida, kannst dich gleich wieder schleichen, wenn du nicht, du A….
Ok, geh ich halt ins Tor.
Maarioo, hier rüber, mach schon, du oida Beidl!

Wumm, plopp, wumm, plopp – schon krachten die Schüsse in unregelmäßigem Stakkato an des metallene Garagentor, das die Männer als Goal benutzen. Der ganze Platz hallte wider, die in einem Halbrund stehenden, zweigeschoßigen Häuser warfen die Geräusche einander zu und vervielfältigten den Lärm zu Dauerexplosionen. Tore schießen, das machten sie die ersten dreißig Minuten immer als Aufwärmübung. Vergeblich hoffte Kurt, dass es nachlassen würde. Er kaute hinten an seinem Faber&Faber-Bleistift Nr. 5, extra hart, und nahm sich zusammen, nicht aufzustehen und beim Fenster hinauszuschauen. Das Gebrüll ging weiter, aber er musste das Treiben auf dem Vorplatz nicht mit eigenen Augen sehen, er hörte alles und hätte ihr Spiel so gut kommentieren können wie der legendäre blinde Sportreporter Stanley Howell von den Chicago Dodgers.

Die Schlacht tobte keine zwanzig Meter von seinen Fenstern entfernt. Sie schrien, grölten, beschimpften und beleidigten einander auf das Unflätigste, wie es echte Sportsfreunde nie gemacht hätten. Aber das war nur Kurts Vermutung, da er seit dem Zwang in der Schule nie freiwillig Sport betrieben hatte.

Wumm, wumm, plopp, plopp, die Treffer knallten ans Garagentor, das auch noch dumpf nachhallte wie eine schlecht gestimmte Glocke. Sie lachten und grölten und feuerten einander an. Sie sprangen herum wie Ziegenböcke ohne Ziel und Spielregeln, sie achteten absichtlich nicht aufeinander, sie tobten mit angezogenen Knien und ruderten mit den Armen in der Luft. Kurt hatte den Eindruck, dass sie gar nicht zusammenspielen wollten, sondern nur Krach schlagen, andere Leute ärgern und Spaß daran haben.

Er meinte, trotz der geschlossenen Fenster, die Schallwellen in seinem Zimmer zu spüren, wenn das Metalltor unter den Balltreffern in Schwingung kam. Aber er hatte ja angeschlagene Nerven, sagte sein Arzt, und sollte sie mit dem Schreiben beruhigen.

„Verdammt, diese blöden Blumen stören mächtig. Ich hab keinen guten Blick aufs Goal. Reiß sie aus.“ Kurt fuhr zusammen, als hätten die Worte ihm gegolten. Erst vor wenigen Wochen hatte er links und rechts von der Garage einige Reihen mit Stiefmütterchen, Lobelien und Hortensien gepflanzt. Eigentlich nur verpflanzt. Denn eines Sonntags an seinem Schreibtisch am Fenster war ihm aufgefallen, dass sie im Schatten der Garage, zwischen den Colonia-Kübeln nicht die geringste Chance zum Überleben hatten. Da kam kein Sonnenstrahl hin, zu keiner Zeit des Tages. Der Hausmeister war ein Faulpelz und Säufer, der nur im Schwarzenbachstüberl herumhing und sich um nichts kümmerte. Außerdem hoffte Kurt, dass durch die höheren Hortensien das fleckige Rosttor bald nicht mehr zu sehen sein würde. Pflanzen, das war eigentlich gar nicht sein Gebiet, wenn überhaupt Natur, dann waren es bei ihm die Vögel. Sie sind unter allen Tieren die unschuldigsten, harmlosesten, die, die keinen Schaden anrichteten, fand er. Auch ihr Fliegen und Flöten gefiel ihm, und am Steyrer Schwarzenbach gab es viele Arten. Aber seit er diesen Schritt gemacht hatte, waren die mickrigen Blümchen und Büsche die Seinen, er pflegte sie und schaute von seinem Fenster mit Wohlgefallen auf sie hinüber, wie sie sich an der sonnigen Vorderseite der Garage zu erholen begannen.

Torwart Börni, der mit den zu langen Sporthosen und dem zu großem Bauch darüber, war im Blumenbeet gestolpert, hatte ein Tor abgekriegt und viele Hohnworte von seinen Kumpels geerntet. Er bekam einen Wutanfall, begann in den Pflanzen zu wühlen und nach ihnen zu treten; er riss die kaum angewachsenen Blumen aus der Erde und schleuderte sie nach allen Seiten.

„Verdammte Scheißblumen, blöde.“
„Gib a Ruh, Börni, reg dich nicht auf, wir machen Pause, ich hol uns was zum Trinken.“

Kurt riss sich, ohne an seinen Vorsatz zu denken, von seinen weißen Blättern los, machte das Fenster auf und rief mit ungeübter, brüchiger Stimme hinunter:
„He, Sie da, lassen Sie meine Blumen in Ruhe!“
Viel zu leise, viel zu höflich, Kurt wusste sofort, dass ihn diese Barbaren überrennen würden.

„Geh Oida, was willst du? Gehört der Platz vielleicht dir? Bist du der Hausmeister oder der Gärtner?“
Die anderen Spieler bogen sich von Lachen, johlten, schlugen sich auf die Schenkel oder einander auf den Rücken und kickten die Blumenstöcke über das Spielfeld. Wenn sie ihnen zwischen die Füße kamen, trampelten sie darauf herum wie kleine Kinder im Schlamm.

„Soll ich dir vielleicht ein Fenster einschlagen, du A…magst du das, ja?“
Mit dieser lustigen Idee erntete er wieder beifälliges Gejohle.
Der große Börni mit dem fetten, mit Sommersprossen gesprenkelten, schweißgebadeten Körper lachte grob und warf ein Stiefmütterchen in die Richtung seines Fensters.

Die Äußerung war ihm gegen jede Gewohnheit entfahren, weil er so zurückgezogen lebte und sich nie um anderer Leute Sachen kümmerte. Zusätzlich zum Herrenmoden-Geschäft im Zentrum der Kleinstadt Steyr hatte Kurt auch noch diese zweigeschossige Haushälfte in der Genossenschaftssiedlung am Schwarzenbach geerbt. Er lebte darin allein im Oberstock, das Erdgeschoß hatte er bei der Gemeinde zur Vermietung an Flüchtlinge angemeldet.

Eigentlich sollten sie schon da sein, sie waren ihm für Anfang des Monats angekündigt worden, ein Mann von der Gemeinde und eine Sozialarbeiterin hatten die Zimmer besichtigt und waren zufrieden. Auch der Hobbykeller, den sie benützen durften, hatte ihr Gefallen gefunden. Fünf junge Burschen aus Eritrea und Somalia sollten hier wohnen, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, muF hieß das auf der Gemeinde. Kurt wusste nicht, warum sich ihre Ankunft verzögerte. Er wusste auch nicht so genau, ob er sich auf sie freute. Aber weil er sein Geschäft bald verkaufen und sich ganz zurückziehen wollte, hatte er sich nach etwas Neuem umgesehen. Ob das gutgehen würde? Wichtiger war ihm, dass bei ihm, je älter er wurde, das Bedürfnis wuchs, seinem Vater und Rudi etwas von ihren ungelebten Jahren zurückzugeben. Als könnten sie dann weniger tot sein. Seine Mutter hatte zwar überlebt, konnte aber diese Austreibung nie verwinden. Kurt war sich bewusst, dass das ein Teil seiner Todesfresser-Religion war, die er für sich erfunden hatte und allen anderen Religionen mit ihren Paradiesen, Seelenwanderungen und Jüngsten Tagen vorzog.

Kurt hatte sein Testament – und er hatte kein unbeträchtliches Vermögen – so geändert und beim Notar Dr. M. hinterlegt, dass alles eine Stiftung bekommen soll, die unbegleitete Flüchtlinge, junge Steyrer Arbeitslose, oder drogenabhängige Schulabbrecher fördern würde. Da hatte er der Gemeinde ein schönes Kuckucksei ins Nest gelegt. Kurt kicherte vergnügt in sich hinein, wenn er an die betretenen Gesichter der Stadträte bei der Testamentseröffnung dachte, ein Mordsspaß ist das.

Er selbst hatte zu viel Glück gehabt, meinte er, nach diesem schrecklichen Anfang, nach dem Anfang mit Schrecken, und deswegen hat er sich immer geduckt, damit ihn das Leben in Ruhe ließ. Er wollte dem Leben keine Gelegenheit geben, sich an ihm zu rächen für sein Überleben. Dass er als Dreijähriger ganz oben auf den Koffern und Binkeln in dem kleinen Leiterwagen saß, an das erinnerte er sich, wie ein König zog er durch die Landschaften der Märchenbücher. Seine Mutter ging vor ihm und zog den Wagen mit der Hand, auf ihrem gebeugten Rücken trug sie noch einen Rucksack, viele andere Leute waren da, lange Reihen ohne Ende, das sah er noch ganz genau. Er fand das lustig, schrie hü-hott und fuchtelte mit einem Weidenzweig herum. Die Mutter sang immer Hopphopphopp, Pferdchen lauf gallopp, und: Hoch auf dem gelben Waahaagen, sitz ich beim Schwager vorn, schlaf, Kurti, schlaf, was das abgebrannte Pommerland mit dem Vater zu tun hatte, hatte er nicht verstanden. Weiter, immer weiter: Aus grauer Städte Mauauern, zieh‘n wir durch Wald und Feld. Gleich sind wir da, wir machen einen Ausflug zum Onkel, Vater ist auch bald wieder bei uns. Dass sie dabei weinte, konnte er nicht sehen. Mehr eigene Bilder hatte er nicht, die anderen kamen wahrscheinlich von den Erzählungen der Mutter und des Onkels, vom Todesmarsch aus Brünn nach Steyr. Angeblich hatte er einen kleinen Bruder, den Rudi, der die Austreibung aus dem Sudetenland nicht überlebt hatte. Der Vater-Soldat die Ostfront auch nicht. Als das nach dem Krieg feststand, hatte ihn Onkel Heinrich, der reich gewordene Bruder der Mutter, adoptiert. Er bekam von ihm und seiner Frau, der Tante Vroni, auch den schönen deutschen Namen Nemetz.

Die Männer da draußen waren zwischen dreißig und vierzig, zwei waren wirklich sehr groß und sehr dick, der rote Börni und der dunkle Walter, der jetzt, die Arme voller Bierdosen, von der Tankstelle zurückkam. Alle hatten da und dort Tätowierungen, aber Walters Körper hatte keinen Fleck ohne Bilder oder Schriften. Sogar die Glatze war bedeckt von Girlanden mit Stacheldraht, Totenköpfen und runenartigen altdeutschen Buchstaben.

Dieses Pack, der Lärm am Sonntag und nun gegen die Blumen. Seine? Ja, es waren schon seine geworden, irgendwie. Wahrscheinlich wussten sie, dass er sie gepflanzt hatte. Kurt schloss das Fenster, ließ die Jalousien ganz herunter und ging in die Küche, um sich das Gesicht kalt abzuwaschen. Dann setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch am Fenster, mit schwachen Knien und rasendem Herzen und streckte die Hände auf den Knien aus, sie zitterten. Der Bleistift rollte kraftlos aus den Fingern und fiel zu Boden. Er hob ihn nicht auf, es war sehr heiß im Zimmer. Wenn ich ein Gewehr hätte, würde ich jetzt schießen, zog es Kurt durch den Kopf, obwohl er noch nie ein Gewehr in Händen gehalten hatte.

Jetzt hörte er, wie im Nachbarhaus ein Fenster geöffnet wurde. Kurt spannte den Rücken, das ist gut, Herr Leitner öffnete sein Fenster, er würde auf seiner Seite sein.
„Hallo, Sie da, wissen Sie nicht, dass man hier nicht Ballspielen darf? In der Einfahrt ist ein Verbotsschild, da steht es drauf. Hier leben arbeitende Menschen, die Menschen wollen schlafen! Ich hol die Polizei, gehen Sie weg.“
Herr Leitner war Nachtportier in der Lokomotiv-Fabrik und wollte am Sonntag ausschlafen.
„Na und, dann schlaf halt, marsch, ins Bett, Opa, und hol ruhig die Polizei!“

Sie kreischten und heulten und hatten einen Mordsspaß miteinander. Walter zielte mit seiner Bierdose auf Leitners Fenster, Kurt spürte, wie sie knapp an ihm vorbeiflog, einen Augenblick in der Luft hängenblieb und dann an der Mauer abprallte. Walter nahm sich eine neue Dose und spuckte zwischen seine gespreizten Beine auf den Boden. Der rote Börni rief etwas Obszönes, wackelte mit dem Becken und griff sich zwischen die fetten Beine. Herr Leitner schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: Na so was, und das bei uns. Das gibt’s nicht. Dann schloss er laut krachend die beiden Flügel seines Fensters zusammen und zog die Vorhänge vor die Fenster.

Kurt wusste, dass es keinen Sinn hatte, die Polizei zu rufen. Er war schon auf dem Posten gewesen und hatte von der Belästigung an den Sonntagnachmittagen berichtet. Der Beamte lächelte nur süffisant und meinte: „Naja, wenn die Leute Sport betreiben wollen, soll man sie nicht aufhalten. Ist doch gesund, oder?“ Die anderen Beschwerden hatte er dem Polizisten gar nicht mehr vorgetragen, auch nicht, dass die Genossenschaft eine Verbotstafel aufgestellt hatte. Er wusste, dass der zur selben Sorte Unmensch gehörte wie die Ballspieler, nur dass er eine Uniform trug.
Das Geschrei der fünf da unten nahm an Lautstärke zu, das Bier befeuerte offenbar ihre Stimmung. Sie saßen im Blumenbeet vor der Garage, die Beine weit ausgestreckt und prosteten sich mit den Dosen zu, legten den Kopf weit in den Nacken und tranken in vollen Zügen.

Kurt hielt es nicht mehr aus in seinem Zimmer, das Schreiben konnte er für heute vergessen. Die Bilder von den Zugvögeln, die sich auf den Telegrafendrähten zum Abflug sammelten, waren zerronnen wie Öl in einer Wasserlacke. Er zog sich ein Hemd an, schlich auf den Korridor und durch das Treppenhaus zur Hintertüre hinaus.
Dort lag ein alter Kaiserziegel, den er zum Offenhalten benützte, wenn er den Müll hinaustrug. Normalerweise schob er ihn nur mit dem Fuß hin und her, jetzt nahm er ihn auf und wog ihn in der Hand, vier, fünf Kilo wird der schon haben. Ohne ein Geräusch zu machen, gelangte er unbemerkt durch den kleinen Hinterhof, vorbei an der metallenen Wäschespinne an die Rückseite der Garage. Vorsichtig kletterte er über die Mistkübel auf das nach hinten abgeflachte Dach, legte sich auf den Bauch und atmete einige Male tief durch, um sich zu beruhigen. Dann schob er sich vorsichtig an den Rand des Garagendaches, geräuschlos und millimeterweise, bis er kippte. Er hörte einen dumpfen, ordinären Aufprall und einen hässlichen Fluch.

„Verdammt, was war das? Das war sicher der Kerl da oben.“
Das war Börnis Stimme, die jaulte wie ein getretener Hund.
„Einen Arzt her“, schrie Walter und riss sein Handy aus der Hosentasche.
Auch Karli begann wie wild zu telefonieren, Mario und der fünfte Kerl kümmerten sich um die Wunde. Sie wickelten dem verletzten Börni ein T-Shirt um den Kopf, halfen ihm auf die Beine und schleppten ihn fluchend und Fäuste schüttelnd über den Platz auf die Schwarzenbachstraße. Der letzte nahm noch einen Stein vom Straßenrand und schleuderte ihn auf Kurts Haus. Er krachte gegen die geschlossene Jalousie und fiel polternd zu Boden.

Mit pochendem Herzen lag er ganz flach auf dem Garagendach und lauschte in die Stille. Gleich würden sie kommen, nichts da, sie kehrten nicht zurück. Aus der anderen Haushälfte sah er später die alte Frau Huber herauskommen, die am Abend immer ihren Hund ausführte.

Als sie verschwunden war, kroch Kurt vom Dach und schlich zurück in seine Wohnung. Minutenlang saß er reglos am Küchentisch, hörte dem Pochen des Blutes in seinen Ohren zu, bis sich seine Nerven soweit beruhigt hatten, dass er aufstehen und zum Waschbecken gehen konnte. Er spritze sich Wasser ins Gesicht, goss sich dreimal Wasser ins Glas und trank es in kleinen Schlucken. Langsam beruhigte sich auch sein Atem. Er horchte in das Treppenhaus hinaus und zum Telefon hinüber. Jetzt wird die Polizei kommen, dachte er, in fünf Minuten sind sie da, in zehn. Nichts kam. Es war lange Zeit vollkommen still, bis er die alte Frau Huber zu Herrn Leitner vor der Haustür sagen hörte: „Na, heute haben Sie die Banditen aber schön verjagt.“ Der verschlafene Leitner brummte etwas Unverständliches, und Frau Huber meinte noch, dass es am nächsten Sonntag sicher regnen würde. Ihr alter Spaniel kläffte ein paar Mal zu Herrn Leitner hinauf, der im offenen Fenster lehnte.
Immer noch hörte Kurt den dumpfen, hässlichen Aufprall des Ziegels und malte sich aus, wie er Börnis Schädeldach eingeschlagen und sein Gehirn zerquetscht hatte.
Noch einmal vergingen zehn Minuten, 20, 30, das Pack kam nicht zurück, keine Polizei war zu sehen, und auch das Telefon klingelte nicht.

Die Furcht kroch in ihm hoch. Ob sie unten auf ihn warteten? Sicher war Börni schon im Spital, schwerverletzt, oder war er gar schon gestorben? Man bringt doch keinen Menschen um, nur weil er am Sonntag unter dem Fenster Fußball spielt, auch wenn einem danach zumute wäre. Kurt hielt wieder den Kopf unter das kalte Wasser und wollte sich Kaffee machen, stellte aber fest, dass er gestern vergessen hatte, welchen einzukaufen, weder Kaffee noch Milch waren im Haus. Kurt nahm eine kalte Dusche, zog sich frische Sachen an und wartete bis zum Einbruch der Dunkelheit, dann schlich er über Umwege zur Tankstelle und besorgte Milch und Kaffee. Auf dem Rückweg begegnete er der Frau Leitner, die ein paar Stunden in der Fabrikskantine putzte.
“Grässlich war das heute wieder. Mein Mann muss einmal aufbleiben und sich das anhören, er soll die Polizei holen, damit der Wirbel ein Ende hat. Der Hausmeister ist auch nie da, wenn man ihn bräuchte. Aber wir müssen ihn bezahlen, und zu Weihnachten kriegt er auch noch Mordstrinkgelder.“
„Ja, Sie haben Recht“, antwortete Kurt einsilbig; sie verabschiedeten sich vor dem Haus, und ein jeder ging in seine Hälfte.

Als er sich mit dem frischen Kaffee ins Zimmer setzen wollte, sah er, dass alle Fenster eingeschlagen waren, der Teppich mit Glasscherben übersät war und von den fünf Steinen einer in seinem Bett lag. Dieser war mit einem Stück Papier umwickelt, auf dem Kurt lesen konnte: Kein NEGERPACK in unserem Viertel! DU BIST DER NÄCHSTE! WIR KRIEGEN DICH!

Die Jalousien hingen zerfetzt in den leeren Fensterhöhlen. Kurt holte Besen und Schaufel und machte sich ans Aufräumen. Dann schaltete er das Licht aus, setzte sich im Unterhemd an den Tisch und schaute im Finstern aus dem Fenster. Deutlich konnte er die fünf Gestalten sehen, die unter der Laterne auf der Schwarzenbachstraße an der Einfahrt zum Parkplatz standen und zu seinem Haus herübersahen.
Was wollten sie noch? Glas zum Zerschlagen gab es keines mehr. Feuer legen? Brandbomben werfen? Ihren Kumpan rächen?
Kurt war schwindelig, und er setzte sich auf das Bett: ratlos, verwirrt und plötzlich sehr, sehr müde. Sie waren zu fünft da draußen, das hieß, dass der rote Börni nicht tot war.
Langsam stiegen Freude und Erleichterung in ihm hoch, breiteten sich bis in den Kopf aus und füllten seine Augen mit Tränen. Morgen wollte er die Blumen wieder einpflanzen.

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 16030

Fluten

I)
Auf den strudelbraunen Massen
schaukeln Dächer, schaukeln gräber-
füllend Särge und Gesichter
werden sichtbar:
Längsverzerrte, blindgespiegelt,
steh‘n sie da im zielerstrebend,
selbstbewegten Räubernass.

Doch der Abbilder Besitzer
achten nicht der Wasserzeichnung,
sondern richten ihre Blicke
auf den sie verlassend Fluchtpunkt
ihres einst´gen Hab und Guts.

Eternitbewehrter Giebel,
der einst treu geschützt ihr Haupt,
kreiselt nun vertraulich spielend
mit dem haltlos Element.
Fleischbewahrend Tiefkühlschränke
tümpeln träge auf und nieder,
um das rote Ziegelschiff.
Tümpeln ab und wieder auf –
Bausteinhauses Daches Wiegen
wird noch lustig imitiert
von gleichroten, von gleichspitzen
Gartenzwerge-Zipfelmützen.

Und die Blicke werden trüber,
denn mit des Verlusts Entfernung,
steigt durch böser Trauer Gärung
die Träne unverdient gestrafter Bürger.

Vollgesogen bis zum Rand
mit verborg‘ner Flüssigkeit,
aufzunehmen, aufzusaugen
angeboren und gebaut,
bieten diesem neuen Drang
die Augen keinen Halt.
Getrieben von dem inn´ren Druck,
steigt so auf weißem Apfelgrund
ungeahntes Tränennass
bis zum rosa Liderbund.

Und fällt
(von der Höhe in die Tiefe),
fällt als Nachschub großer Massen
auf der Trauergäste Boden.
Vollgesogen bis zum Rand
eben grad Gewähr noch bietend
einem wankend Bürgerstand.
Satt bis an die Grashalmspitzen
kann der Grund den Trauerregen
nicht mehr halten,
der verblieb‘ne Trockeninsel
jetzt zum Überlaufen bringt.

Von der Tiefe in die Höhe
bricht´s heraus und strömt es über,
über festversproch‘ne Gründe,
über kleinkarierte Zäune,
über neuerworb‘ne Wägen,
über Straße, die zur Firma,
die, versunken, nichts mehr führt,
nicht mehr führt.

So gemehrt in ihrer sturen
bodenwendend Wasserkraft,
dreht die Flut die Gräber um –
frischentleerte Särge bringend,
seinen neuen, seinen stummen,
sehr betrübten Trauergästen.

II)
Auf den braunen Wassermassen
schaukeln Dächer, schaukeln Zwerge,
schaukeln nunmehr zwecklos volle,
magenlose Tiefkühlschränke.
Und ertrunkene Gesichter
werden sichtbar, werden weiter:
In ihrer Augen staunend Ringe
tauchen Bilder lang vertraute,
längst verdaute wieder auf:
Bauch nach oben,
neunzig Zoll unter Wasser,
langsam treibend,
wird des Wassers
Oberfläche unten spiegelnd,
wird zum flüssig-starren Schirm
tief bewegter Projektionen.

Und sein Ton macht
stumm-betroffen,
dumm-besoffen,
formt erst Glucksen,
formt dann Murmeln,
wird schon hörbar
ist jetzt Wörter
ist lange längst Beschwörungsformel.
Denn Notprogramm,
sorgsam verwahrt in der Keller gruftig Kühle,
wird aufgetaut und angerührt.
wird von Neuem aufgeführt.

Wird aufgeführt zum Jubiläum
vernichtender Naturgewalten,
die planlos blind und ganz verrucht
das rein und schuldlos Volk der Alpen
wieder einmal heimgesucht:

Aufbaurede wird geschwungen
als die weithin sichtbar Fahne
selbstvergess‘ner Einigung
geschwenkt von Vätern, Töchtern, Söhnen.
Hatten zwar die Kinder viele –
diese Farbe kennen alle:
Es strömen Alt und Jung herbei
den unversichert Obdachlosen,
durch Hilf und Helf zur Seit‘ zu steh‘n,
regen rührend ihre Glieder,
spenden ihre Taschengelder,
für sie ist Hilfswerk Ehrensache.
Und getragen und ergriffen
von der Hilfsbereitschaft Welle
scheut sich keiner mehr zu singen
das Lied notwendiger Selbst-Beschränkung,
der aufgehob‘nen Gegensätze,
der aufgeschob‘nen Steuersätze,
der Arbeitslosen Einsatzkräfte.

Sie werden alles neu errichten.
Fertighausreih‘n soll´n entsteh’n,
Plastik-Hausgott-Plastiken
werden feist den Zaun beseh‘n.

Die Straße wird zur Firma führen
und bald fahr´n wieder neue Wägen
durch aller braven Glieder Rühren
auf Extra-Reifen gegen Regen.

Es stranden wohlig grunzend Leiber
aufgeschwemmt im trocknen Brei
und wieder nach der großen Flut
ist Österreich von Neuem frei.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 15132

 

Ohne Biss

Man hat mir von einer noch jungen Frau erzählt, die vor etlichen Jahren an einem kalten Wintertag mit dem Zug in die Grenzstadt gefahren ist. Vom Bahnhof aus ging sie schnurstracks den kurzen Weg bis zur Zahnarztpraxis auf den erhöht gelegenen Stadtplatz, gab bei dem Fräulein an der Rezeption ihren akkurat ausgefüllten Krankenschein ab, den man damals noch vorlegen hat müssen, wenn man als Kassenpatient behandelt werden wollte. Dann setzte sie sich im Wartezimmer auf einen der mit buntem Plastiktuch überzogenen Stühle, ich glaube, es war ein giftgrüner, warf einen Blick in die „Bunte“, blätterte den „Stern“ durch, suchte in der „Brigitte“ und „Burda“ die Strickanleitungen, hielt sich das gebügelte Stofftaschentuch an die geschlossenen Lippen, hinter denen sich der höllische Zahnschmerz feige verschanzt hatte.
Bereits seit Tagen, ja Wochen trieb er dort sein Unwesen. Zuerst hatte er es sich unter den Backenzähnen gemütlich gemacht, dann breitete er sich auf das gesamte Kiefer aus. Inzwischen gab es keine Stelle mehr, wo er nicht tobte. Kamillentee hatte nicht geholfen, warme Umschlage während der Nacht auch nicht. Das Zusammenbeißen der Zähne hatte ebenfalls keine Linderung gebracht.

Jetzt war der Zeitpunkt erreicht, an dem endlich damit Schluss sein musste. Es war nicht mehr zum Aushalten. Schließlich konnte die Arbeit nicht liegenbleiben. Lange genug hatte sie mit dem Schmerz Geduld gehabt, aber das hat den überhaupt nicht beeindruckt. Nun stand fest, dass der sich mit friedlichen Mitteln nicht bekämpfen ließ. Sie hatte es mit einem Despoten, einem Egoisten, einem Terroristen, einem Partisanen zu tun, der sich in ihrem Mund eingenistet und Stellung bezogen hatte. Er führte einen Angriffskrieg, der unmöglich zu gewinnen war, zumindest nicht unter den derzeitigen Gegebenheiten. Der Gang zum Zahnarzt kam einer Kapitulation gleich. Das gebügelte Sonntagstaschentuch entsprach der gehissten Friedensfahne.
Anständig wäre es vom Schmerz gewesen, wenn er die Kapitulationserklärung angenommen hätte und abgezogen wäre. Er trug ja zweifelsohne den Sieg davon. Aber das war dem fiesen Typ nicht genug. Offensichtlich war er Sadist und wollte den feige und hinterhältig errungenen Sieg noch auskosten. Deshalb ließ er auch hier im Wartezimmer noch nicht locker. Er gab nicht nach, er zog nicht ab. Er nahm sich keinen Urlaub und reiste nicht nach andernorts oder gar in die Arktis. Nein, das war überhaupt nicht nach seinem Geschmack. Er blieb und wartete geduldig auf den endgültig positiven Ausgang seiner Mission. Halbe Sachen mochte er nicht. Das war seine Berufsauffassung, er stammte aus Deutschland.

Die mehr als zweistündige Wartezeit verstrich ergebnislos, vielleicht ergebnisoffen. Schließlich zog die Frau ihr Strickzeug aus der Tasche. Es war ein geringeltes Strampelhoserl. Die Beine waren schon fertig. Nun arbeitete sie am Oberteil. Flink und energisch, ich möchte fast sagen verbissen bewegte sie das Nadelspiel zwischen den Fingern. Aus der Tasche holte sie winzige Wollknäuel. Es waren Reste, und die Farben waren gewagt, g‘scheckert, sagte sie dazu. Das Hoserl wurde arg g‘scheckert. Schließlich mussten die Reste verarbeitet werden, und für das noch ungeborene Baby waren sie grad recht. Sie strickte immer nur eine Runde mit einer Farbe. Das war eine von ihr entwickelte raffinierte Methode, aus der Sparnot geboren und originell. Außerdem wusste die Frau noch nicht, ob sie einen Bub oder ein Mädchen unter dem Herzen trug. Das g‘scheckerte Strampelhoserl konnte bedenkenlos von beiderlei Geschlecht getragen werden. Aber im Wartezimmer vermochte das Gestrick es nicht, sie vom bohrenden, nagenden, quälenden Schmerz abzulenken. Und eine Freude konnte sie unter diesen Umständen an der Handarbeit schon gar nicht entwickeln. So nadelte sie energisch Runde um Runde und fasste den endgültigen, unabwendbaren und folgenschweren Entschluss. Als sie irgendwann ins Sprechzimmer gebeten wurde, die Sprechstundenhilfe schloss leise die schallisolierte Doppeltür hinter ihr, und auf dem Behandlungsstuhl Platz nahm, war sie sich sicher.

Bereitwillig öffnete sie den Mund. Der Zahnarzt warf einen kurzen fachkundigen und mitleidigen Blick hinein. Ja, da fehlt’s weiter. Massiver Zahnfleischschwund infolge der Schwangerschaft. Warum sind Sie denn nicht schon früher gekommen? – Mein Gott, keine Zeit! Ich kann doch nicht ständig den Laden zusperren. – Ja, jetzt ist schwer was zu machen. Offensichtlich das Resultat einer massiven Mangelerscheinung. Mit Spritzen und Tabletten sind die Zähne vielleicht noch zu retten. Aber das wird eine langwierige Prozedur. Sie müssen täglich kommen und billig wird die Behandlung nicht. Die Kasse zahlt da bestimmt nicht zu. – Ausgeschlossen, antwortete die Frau, die Zeit hab ich nicht, und ich kann sie mir auch nicht nehmen. Außerdem hab ich kein übriges Geld. Ich stecke doch nicht das, was ich mir mühselig verdiene, in meine Zähne bzw. werfe es Ihnen in den Rachen. Und von den Schmerzen habe ich auch genug.

Das Zahnfleisch war knallrot, und das Herumstochern mit dem Edelstahlinstrument tat höllisch weh. Sie krallte sich mit den Händen am weinroten Kunstleder des Behandlungsstuhls fest, schluckte allen Schmerz, Ärger und Zweifel hinunter, und sagte mit fester Stimme: Reißen Sie alle heraus. Ich will endlich eine Ruh` haben. – Erschrocken fuhr der Zahnarzt zurück und setzte sich auf seinen Drehhocker. – Das kann nicht Ihr Ernst sein! Sie wissen schon, dass Ihnen in Ihrem Alter keine Zähne mehr nachwachsen. Sie sind doch eine fesche Frau. – Bei diesem Satz schaute er auf seine Gerätschaften, dass ja nicht der Eindruck entstehen könne, er wolle ihr schmeicheln. Der Blick auf die Patientenkartei verriet ihm, dass die Frau vierzig war. Das sieht man ihr gar nicht an, dachte er.
Reißen Sie alle raus und zwar gleich. Ich will eine Ruh‘ haben.
Möchten Sie sich diesen Schritt nicht doch noch einmal überlegen? – Schlafen Sie doch noch eine Nacht drüber!
Nein, ich habe mich entschieden. Ich fahre nicht unverrichteter Dinge heim, und morgen habe ich wieder die gleichen Scherereien. Dann muss ich wieder den Laden zusperren und zu Ihnen kommen. Die Kundschaft verläuft sich schnell. Nein, auf gar keinen Fall. Fangen Sie mit dem Rausreißen an.
Ja, wenn Sie sich so sicher sind, dann gebe ich Ihnen in jede Seite am Ober- und Unterkiefer eine Betäubungsspritze.
Nein, das geht gar nicht! Sie sehen doch, dass ich guter Hoffnung bin. Ich halte das Zähneziehen schon aus. Habe ich doch die Schmerzen bis jetzt auch immer ausgehalten.
Ja, das wird aber kein Zuckerlecken, das können Sie mir glauben. Machen wir heute einen Teil, und in den nächsten Tagen kommen Sie wieder vorbei.
Nein, Sie ziehen mir jetzt augenblicklich alle Zähne. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich nicht ständig den Laden zusperren kann. Also fangen Sie endlich an!
Ja, dann müssen Sie mir aber unterschreiben, dass ich Sie auf die nicht unerheblichen Risiken hingewiesen habe. Mit dem Essen müssen Sie in den nächsten Tagen auch vorsichtig sein, wegen der offenen Wunden, und das jetzt, da Sie schwanger sind.
Ich verhungere schon nicht. Fangen Sie jetzt endlich an. Ich muss ja den letzten Zug noch erwischen.

So unterschrieb die Frau das von der Helferin eilig getippte Formular mit ihrer aufrechten und klaren, keinen Zweifel zulassenden Handschrift, legte den Kopf zurück auf die kunststoffüberzogene Lehne, machte die Augen zu, strich noch ein letztes Mal mit der Zunge über die beiden schmerzenden Zahnreihen und verabschiedete sich von ihnen. Die hatten sie nun über Gebühr lang hundsmiserabel gemein gequält, ja gemartert. Die sollten bloß schleunigst aus ihrem Mund und ihrem Leben verschwinden. Keine Träne wird sie ihnen nachweinen, keine einzige. Schlimm genug, dass sie nicht einfach von selber herausfielen. Das wäre anständig gewesen. So hatte sie den Laden zusperren, zum Zahnarzt fahren und ihn zu diesem ungewöhnlichen Dienst auf Krankenschein überreden müssen. Scherereien über Scherereien.

Mit dem Speichel schluckte sie den ganzen Ärger hinunter, machte den Mund weit auf und ließ den Zahnarzt darin herumwerkeln. Die Hände krallte sie fest in den Lederimitatbezug der Sitzfläche. Alle Muskeln spannte sie an, den Atem hielt sie an und baute so die Lunge zu einem Schutzwall aus, der das Kind im Bauch so gut wie möglich bergen sollte. So wurde Zahn um Zahn gezogen. Es tat gar nicht so weh. Schließlich saßen die meisten auf Eiter, und die Wurzeln lockerten sich rasch, sobald der Zahnarzt mit seiner Zange anfing, kräftig hin- und herzuwackeln. Einer nach dem anderen fiel scheppernd in die bereitgehaltene Metallschale. Die Frau hörte auf mitzuzählen. Es waren zu viele, alle, die sie über die Jahre hinweg noch bewahrt hatte. Jetzt wartete sie nur darauf, dass es endlich vorbei sei. Zwischendurch holte sie immer wieder einmal energisch Luft, pumpte die Lungen erneut voll. Sie glaubte, das Blut zu schmecken, das ihr die Kehle hinablief. Die aufgespreizten Mundwinkel schmerzten. Der Zahnarzt arbeitete zügig. Er wollte diese lästige Behandlung so rasch wie möglich hinter sich bringen. – Die Helferin legte der Frau beruhigend die Hand auf die Schulter, aber diese Art von Mitleid konnte sie überhaupt nicht leiden. Auch dass sie sie anfasste, war ihr zuwider. Energisch schüttelte sie die fremde Hand ab.

Endlich fiel der letzte Zahn scheppernd zu seinen Gefährten in die Metallschale. Die Frau durfte ausspülen. Das Blut wurde ein letztes Mal abgesaugt, mit Watteröllchen wurden die Wunden im Kiefer ausgestopft. Die gesamte Mundhöhle fühlte sich klamm an. Die Frau presste wieder die Lippen aufeinander, öffnete die Augen, hörte auf die Worte, die aus dem Mund des Zahnarztes kamen, ohne sie zu verstehen, blickte in die Edelstahlschale, in der sich die Zähne, ihre Zähne, in einer Blutlache suhlten. Einige unter ihnen waren mit Goldkronen überzogen oder plombiert. Die Helferin packte die betreffenden wortlos in ein Tütchen, das die Frau zum Strickzeug in die Tasche packte. Erleichtert und erschöpft rutschte sie vom Behandlungsstuhl, hielt den Mund fest geschlossen und wickelte sich das wollene Kopftuch um die untere Gesichtshälfte. Sie musste den lädierten Mundraum vor Kälte schützen. Das Risiko einer Entzündung musste sie auf jeden Fall vermeiden. Den zu engen Mantel eilends über geworfen und notdürftig zugeknöpft verließ sie die Praxis. Nickend versprach sie, in ein paar Wochen, wenn die blutenden Wunden abgeheilt sein würden, wiederzukommen, um sich das künstliche Gebiss anpassen zu lassen. So weit mochte sie gar nicht denken. Wer weiß, was bis dahin ist. Erst einmal den letzten Zug nicht verpassen.

Der Zahnarzt wischte sich den Schweiß von der Stirn, behandelte zügig die wenigen noch im Wartezimmer verbliebenen Patienten, allesamt unkomplizierte Fälle. Dann machte er Feierabend und hoffte, dass niemals mehr jemand derartige Dienste von ihm einfordern werde.

Die Frau huschte gerade noch in den abfahrbereiten Zug, setzte sich mit umwickeltem Mund schweigend auf einen der mit rotem Plastik überzogenen Sitze und schaute mit leeren braunen Augen durch das Fenster in die hereinbrechende und vorbeiziehende Nacht. Selten war sie um diese Stunde außer Haus. Sie konnte keinen Gedanken festhalten, der Mantel spannte um den Bauch und sie machte die mittleren Knöpfe auf. Bei der Haltestation im Dorf stieg sie aus und ging durch die Dunkelheit zum Haus, in dem sie wohnte. Ohne ein Wort zu sagen, trat sie ein, legte den Mantel ab, wickelte das Tuch ab. Der Mann saß rauchend am Küchentisch und starrte sie wortlos an. Er wusste, dass sie es getan hatte. Die Lust am Stricken war ihr für diesen Abend vergangen. So setzte sie sich untätig auf ihren Stuhl, wusste nicht, was sie mit den Händen anfangen sollte, blickte schweigend vor sich hin und wich den schweigenden Blicken aus. Bald ging sie zu Bett. Morgen wird es schon wieder gehen.

Schlaflos und unter Schmerzen verbrachte sie die Nacht im immerhin warmen Federbett. Am Morgen stand sie beizeiten auf, kleidete sich im kalten Zimmer rasch an, heizte den Küchenherd ein und bereitete sich einen Kamillentee, mit dem sie sich den Mund ausspülte. Die Zahnbürste im Glas am Ausguss brauchte sie nun nicht mehr. Sie besah sich mit einem huschenden Blick im Spiegel, frisierte sich nach alter Gewohnheit lieblos das dunkle Haar und stellte fest, dass sie die schmalen Lippen aufeinander kniff. So wird das von nun an bleiben. Sie scheute sich davor, in die zahnlose Öffnung zu blicken. – Sie hatte Fakten geschaffen. Dann sperrte sie die Ladentür auf. Die ersten Kundinnen kamen, die sie wortlos bediente. Ihre aufeinandergekniffenen Lippen sprachen für sich, einer weiteren Erklärung bedurfte die Situation nicht. Stellte ihr eine der Frauen Fragen, so gab sie ihr mit den Händen auf den verriegelten Mund deutend zu verstehen, was sie nun ein für alle Mal geregelt hatte.

So verging der Vormittag und auch der Nachmittag. Das Werkeln lenkte von den Schmerzen und vom Hunger ab. Am darauffolgenden Morgen war es schon etwas besser. Die Nacht hatte sie völlig traumlos in erholsamen Tiefschlaf gewiegt. An den kommenden Tagen trank sie Tee und löffelte Suppe, dann begann sie mit dem Einweichen von Brot, wobei sie sich anfangs schämte, aber bald dazu überging, den Zustand als gegeben anzunehmen. Beißen konnte sie ja nun nicht mehr. Später rieb sie sich mit der Glasreibe einen Apfel und löffelte ihn vermischt mit Zwieback. Es ging schon. Die Wunden heilten erfreulich bald, und der Schmerz verschwand, zumindest den im Mund hatte sie radikal ausgemerzt. Das war wirklich wohltuend, keine Zahnschmerzen, aber halt auch keine Zähne mehr.

Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, hatte sie den eingefallenen Mund einer alten Frau. Sie vermied es fortan, ihr Konterfei anzuschauen, und sie vermied es auch den Mund zu öffnen oder gar zu lachen. Wochen später ließ sie sich eine Zahnprothese fürs Oberkiefer anpassen. Die war teuer. Das Geld reute sie. Die Prothese im Unterkiefer passte nie richtig, tat immer weh und rieb das Kiefer wund. Die Frau gewöhnte sich fortan daran, nur die eine Prothese zu tragen. Von Schmerzen im Mund hatte sie ein- für allemal genug.

Mit der Zeit erschien ihr der veränderte Gesichtsausdruck, der ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, normal. Die Speisen musste sie sich arg klein schneiden, und von einem Apfel konnte sie nie mehr abbeißen. Bedauerlicherweise konnte sie auch die Brotscherzl nicht mehr kauen. Die hatten ihr immer so geschmeckt.
Beißen konnte sie nichts mehr und schmecken konnte sie auch nichts mehr. Reichte doch die Prothese im Oberkiefer über den gesamten Gaumen. Da konnte man nichts machen. – Manchmal lutschte sie an gesalzenen Erdnüssen und schluckte sie dann im Ganzen hinunter. Angesprochen hat sie, glaube ich, nie jemand auf ihren zahnlosen Mund und auf ihre falschen Zähne, und wenn doch, hat sie es einfach ignoriert.

Im Frühjahr hat die Frau ihr spätes Kind entbunden und zog ihm das aus Wollrestln gestrickte Strampelhoserl an. Es war ein Mädchen, das, nachdem es aus dem Restlhoserl herausgewachsen war, in die Welt und ins Leben hineinwuchs. Das Kind ist von der zahnlosen Mutter großgezogen worden. Viele Jahre später gab sie ihr aber das Tütchen mit den goldummantelten Zähnen. Welch Nachlass.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 15126

Sonntag

Noch zwei Minuten. Dann stehe ich seit zehn Minuten in der Einfahrt meiner Eltern. Also starre ich seit acht Minuten auf das braune, bestimmt vierzig Jahre alte Tor, das mich, meine Person, mein Leben von der seelenlosen Tristesse, die man auch einfach als „die Welt von Herrn und Frau Mitterer“ bezeichnen kann, trennt. Obwohl sich mir bei dem Gedanken, dass hinter diesem Tor der kleine betonierte Innenhof liegt und sich anschließend daran das leicht desolate Haus, mein Elternhaus befindet, der Magen umdreht, zieht es mich doch jede Woche wieder hierher. Warum ich die eineinhalbstündige Reise jedes Mal auf mich nehme, habe ich nie hinterfragt. Sie sind eben meine Eltern. Man muss doch seine Eltern besuchen. Oder?

Es ist Sonntag. Zum ersten Mal seit langem ein sonniger Sonntag. Gegen mein Auto gelehnt, lasse ich die letzten Sekunden, die mir noch bleiben ohne unpünktlich zu sein, verstreichen. Ich blicke auf meine Armbanduhr. Fünf, vier, drei, zwei, eins und „Herzlichen Glückwunsch, liebe Katharina Mitterer! Sie haben soeben einen Schlag mit dem Bügeleisen auf den Schädel gewonnen!“ So sieht’s aus. Ich bin eben ein echter Gewinner.

Ich drehe mich noch einmal nach links und rechts, nur um festzustellen, dass immer noch niemand auf der erst seit wenigen Jahren asphaltierten Straße zu sehen ist. Noch einmal atme ich tief ein und wieder aus. Und wie jeden Sonntag seit acht Jahren gehe ich möglichst lautlos durch das alte Tor,  bahne mir einen Weg durch den Innenhof, der mit allen möglichen Gartengeräten und anderen Dingen, die ich nicht identifizieren kann, übersät ist, in Richtung Eingangstür.

„Ja grüß dich, Kathi!“, ruft jemand hinter mir quer über den Hof. Meine Mutter. Während sie in ihren verdreckten Gummistiefeln auf mich zuläuft, frage ich mich, wo sie hergekommen ist, denn es gab nur einen Weg in den Innenhof, nämlich das Tor, durch das ich gerade gekommen war. Bevor ich irgendetwas sagen kann, umarmt sie mich auch schon. So fest,  dass mir kurz die Luft wegbleibt.
„Hallo, Mama“, presse ich hervor.
Nach weiteren sechs Sekunden, die mir allerdings länger vorkommen als die Zeit, die ich vor dem Tor gestanden habe, lässt sie mich endlich los. Sie macht einen Schritt zurück und sieht mich von oben bis unten an. In ihren Augen sind Tränen. Wie jeden Sonntag, ob sonnig oder nicht, gibt sie mir das Gefühl, seit Jahren nicht mehr hier gewesen zu sein. Mich überkommt das schlechte Gewissen und ich wende mein Gesicht ab. Warum ich ein schlechtes Gewissen haben sollte, weiß ich nicht.

„Jetzt sag einmal, wie geht’s dir denn?“, fragt sie, nach der wöchentlichen Musterung.
„Ja eh, passt …“, noch bevor ich meinen Satz zu Ende bringen kann, drängt mich meine Mutter weiter zur Tür, „komm, Kathi, geh‘ ma schnell rein, der Papa schaut schon.“ Durch das Fenster sehe ich den weißhaarigen, altgewordenen Mann, in gewohnter buckliger Haltung am Esstisch sitzen. In der einen Hand hält er eine filterlose Zigarette, in der anderen eine Tageszeitung. Sein Blick ist auf mich gerichtet. Meine Glieder werden steif. Am liebsten würde ich mich einfach wieder umdrehen, über den Haufen Gerümpel hinwegsteigen, durch das Tor marschieren, mich ins Auto setzen und nach Hause fahren. Aber ich bin doch zu Hause. Oder?

Auf dem Weg ins Haus wischt sich die Frau, mit der ich absolut keine Ähnlichkeit habe und die ich doch „meine Mutter“ nenne, ihre feuchten Augen mit ihrem Ärmel trocken.
Sie schiebt mich durch die Tür und geht an mir vorbei in die Küche. Ich bleibe stehen.
„Schau wer heut‘ wieder gekommen ist!“, höre ich sie freudig sagen. Sie versucht, die Angst vor ihrem eigenen Ehemann zu überspielen. Es gelingt ihr ausgesprochen gut.
„Hob‘s eh g‘sehn!“, nuschelt mein Vater ärgerlich. Ich kann ihn kaum verstehen. Es klingt, als hätte er wieder den üblichen Promillewert.

Während ich mir die Schuhe ausziehe, richtet meine Mutter das Mittagessen an. Mein Herz schlägt so laut, dass ich das Geschepper, das sie dabei macht, nur vage und irgendwie verzerrt wahrnehme. In dem Moment, in dem ich das Zimmer betrete, werde ich durch einen ungeheuren Lärm aus meiner Trance gerissen. Ein Teller ist zu Boden gefallen und in scheinbar tausend Stücke gebrochen. Aufgeschreckt durch den Krach schießen zwei Katzen an mir vorbei. Eine dritte  erwischt, bevor sie es durch die Tür schafft, zunächst meine Beine. Sie schaut für den Bruchteil  einer Sekunde auf. Ihre gelben Katzenaugen treffen mein Gesicht. In diesem Augenblick habe ich das Gefühl, als würde sie mir die Schuld an diesem Zusammenstoß geben. Das tut sie wahrscheinlich wirklich.

„Jajetzglaubisned! Hostjetzanvogl!“, brüllt mein Vater. Ich habe große Mühe, ihn zu verstehen. Er steht kurz auf, muss sich aber gleich wieder hinsetzen. Anscheinend ist er zu betrunken, um aufrecht zu bleiben. Mir wird etwas leichter.
„Ist ja gut. Ich räum‘s schnell weg“, sagt meine Mutter ruhig, um ihn nicht noch mehr aufzuregen. Ein Grunzen, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob es Worte sind oder tatsächlich nur eine Art bestätigender Laut sein soll, ist alles, was er von sich gibt.
„Ich helf dir“, nach einer kurzen Pause habe ich die Kontrolle über meine Beine wieder und gehe weiter in die Küche, knie mich auf die altmodischen Fliesen aus den Sechzigern und versuche, die kleinen Teile des ehemaligen Tellers aufzulesen.
Mein Vater grunzt nur weiter vor sich hin. Es scheint heute doch noch ein ruhiger Sonntag zu werden.

Wir beseitigen alle Scherben, dann bittet mich meine Mutter mich hinzusetzen, „Wir essen jetzt. Dein Vater hat Hunger!“ Sie sagt es so, als würde sie mir die Schuld daran geben, dass wir nicht schon längst gegessen haben. Und wahrscheinlich tut sie das wirklich.
Ich setze mich auf den Stuhl neben meinem Vater. Er sieht mich an. Ich sehe ihn an. Im Hintergrund tickt die Küchenuhr. Kurz habe ich das Gefühl, er weiß nicht, wer ich bin.
„Guad schauma aus“, er ist einer jener Menschen, die es offensichtlich lieben, den Plural zu missbrauchen. Ich sage nichts. Er spricht weiter. Ich verstehe kein Wort.

Mein Blick schweift durch das kleine, düstere Zimmer und bleibt an einem alten Foto hängen. Es zeigt einen jungen Mann und eine junge Frau in einem Innenhof stehend. Sie sehen glücklich aus.  Es sind meine Eltern. Das Foto ist eine Lüge. Meine Eltern waren nie glücklich. Mein Vater war ein Schläger. Meine Mutter war schwach. Und es hat sich nichts geändert.
Ein anderes Foto an der Wand zeigt fünf Kinder. Mich und meine vier älteren Geschwister. Keiner  von ihnen kommt mehr hierher. Seit Jahren schon nicht mehr. Aber man muss doch seine Eltern besuchen. Oder?

Endlich kommt meine Mutter mit drei voll beladenen Tellern an den Tisch.
Ohne ein Wort fangen meine Eltern an zu essen. Stumm stopfen sie Brocken von Fleisch und Gemüse in sich hinein. Mir wird schlecht.
„Was ist denn das?“, frage ich vorsichtig.
„Awüd“, würgt mein Vater hervor. Meine Mutter sagt nichts.
„Was?“, ich habe nichts verstanden und schaue erwartungsvoll auf seine Lippen.
„AWÜD!“, brüllt er, dabei fällt ihm eine bräunliche Masse aus dem Mund. Ich kann meinen Ekel kaum verbergen.
„Wild“, mischt sich meine Mutter endlich ein, „Das ist Wild. Ich glaub Reh. Bin nicht sicher,
haben’s vom Mayer Karl kriegt, der ist jetzt Jäger.“
„Aha. Na sehr schön. Ist sicher eine tolle Idee, ihm eine Waffe zu geben“, ist alles, was mir dazu einfällt.

Mein Vater hustet. Es klingt widerlich.
Meine Mutter spricht weiter über den Mayer Karl. Mein Vater hustet lauter, ich kann sie nicht hören. Es ist mir auch egal. Ich will nicht über den Mayer Karl sprechen.
Mein Vater lässt sein Besteck fallen, klirrend landet es am Boden. Meine Mutter stockt, sieht ihn an.
Ich sehe ihn an. Er würgt. Er bekommt keine Luft.
Wir starren ihn nur an.
Es ist Sonntag.
Zum ersten Mal seit langem ein sonniger Sonntag.

Anna Bartl

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 15107