Schlagwort-Archiv: Lesebissen

Vanitas

Palmström blickt mit ernstem Gram
Auf Würstchen, die er grade eben
Aus der Tiefkühllade nahm

So ist auch eure Zeit dahin!
Lässt er laut die Klage heben
Ein Zittern umfasst Palmströms Kinn

Versagte mir euer Vergnügen
Dachte, es wird sich schon fügen
So musste ich mich selbst betrügen!

Oh Schicksal, Würstchen! Oh, welch Fatum!
Wann hör’n wir auf, uns zu belügen?
Alles hat ein Ablaufdatum!

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 16090

Der Einkauf

In diesem Moment – Sie kennen das bestimmt – habe ich irrsinnige Lust auf die eingelegten Artischocken der Marke X. Ob dieses plötzliche Bedürfnis mit der soeben betrachteten Fernsehwerbung in Zusammenhang steht oder nicht, sei dahingestellt. So mache ich mich auf zum Supermarkt, nicht zu Fuß, sondern mit dem Auto, denn es nieselt leicht und außerdem will ich mich nicht allzu lange mit diesem Gelüste aufhalten.

Gleich beim Eingang am Obst- und Gemüsestand locken herrlich gelbe Bananen und ich nehme gleich 2 davon mit, da gesunde Ernährung wichtig ist. Auch gibt es Karotten im Angebot – 2 kg zum Preis von 1 kg – wieso nicht? Auf dem Weg zu den Artischocken greife ich außerdem noch zu bei den Butterkeksen des Erzeugers L, dem schmackhaften Riesentoast, den ich immer schon ausprobieren wollte, sowie einer 1-kg-Packung Gouda, für die ich mir mit Gutschein € 4,10 bzw 48% des Preises spare.

Da mir das Gewicht der mittlerweile in meinen Armen angehäuften Produkte zu schwer wird, muss ich nochmal zurück zum Eingang, um mir einen Einkaufswagen zu holen. Also nochmal von vorn: beim Obst- und Gemüsestand dieser herrliche, unwiderstehliche Duft der Erdbeeren aus Ägypten, auch die 5 backofenfrischen Semmeln muss ich noch mitnehmen und zu dieser Gelegenheit beim Kauf von 4 Bechern Fruchtjoghurt noch einen gratis dazu. Des weiteren gibt es gerade Polardorsch in Aktion, denn es ist Mittwoch – was für ein Zufall!

Schließlich vor dem vermeintlichen Artischockenregal der Schock: Es wurde umgeräumt! Keine Ahnung, wo jetzt eingelegtes Gemüse zu finden ist! Völlig verloren und der Verzweiflung nahe irre ich im Geschäft umher, spare mir noch schnell 50% beim Kauf von 6 Flaschen Blaufränkischem, auch frohlockt die 5-Liter-Dose Erdäpfelgulasch von I – ich sollte sowieso wieder einmal Freunde einladen. Als gesundheitsbewusster Mensch nimmt man dann noch 2 Packungen in Österreich produziertes Dinkelmüsli und 3 Liter Sojamilch aus kontrolliert biologischer Landwirtschaft.

Endlich bin ich beim Regal meines ursprünglichen Ansinnens angelangt. Zunächst finde ich die Artischocken nicht und nehme stattdessen ein Glas leckerer Paprika in Öl mit Frischkäsefüllung. Ich trete ein bis zwei Schritte zurück, um einen besseren Überblick zu bekommen. Da sind sie! Und es gibt sie sogar mit und ohne Kräuter. Ich nehme zur Sicherheit je ein Glas von jeder Sorte und eile weiter, vorbei an der Wursttheke mit der Verkäuferin, noch schnell zum bereits fertig abgepackten Aufschnitt – ich will jetzt mit niemandem reden und bin gestresst. Doch was ist das? Ein saftiges Stück Fleisch und ein neonoranges Aktionsschild lassen mich dann doch mit der Wurstthekenfrau sprechen, die mir das Teil freundlich in Papier und Plastik hüllt.

Auf dem Weg zur Kassa, zwischen Zeitschriften und Putzmittelregal, ist ein Stand mit warmen Winterschlapfen aufgebaut – ich habe ja eh immer so kalte Füße – und ich erblicke eine ganze Menge übriggebliebener Silvesterglücksbringer zu einem außerordentlich niedrigen Preis. Silvester war zwar erst gerade, aber nächstes Jahr freuen sich meine Freunde bestimmt. Daraufhin nehme ich auch noch Schlapfen für meine Schwester und für meine Mutter mit, weil die beiden letztens auch über kalte Füße klagten. Kurz vor der Kassa stehen dann noch meine Lieblingsschwedenbomben. Zum Glück bin ich mit dem Auto da!

Ich erreiche die Kassa, den kapitalistischen Ort.
In meinen Händen das Geld ist fort.

Sandra Stadlbauer

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 16010

 

Die Beere

Gegeben sei eine einzigartige Pflanze, deren Frucht derart giftig ist, dass selbst der Verzehr kleinster Mengen zum sofortigen Tode führt. Aus diesem Grund konnte bislang eine Beschreibung des wohl einzigartigen Geschmacks dieser Beere nicht gelingen. Auf jeglichen Versuch der kulinarischen Erfassung – sei es aus wissenschaftlichen Motiven oder aus bloßer Neugier – folgt dieselbe unverzügliche und finale Konsequenz.

Zahlreiche Augen starren immerzu auf dieses besondere Gewächs, während sich in den Mündern angesichts der vielleicht köstlichen Beere der Speichel schon sammelt. Manchmal gelingt es, sich von der unheilvollen Schöpfung abzuwenden. Das Tückische an der Versuchung liegt jedoch darin begründet, dass aufgrund irgendeines seltsamen Naturgesetzes das weit entfernte stets das begehrteste aller Objekte ist. Durch die Faszination des Unerreichbaren erlangt die Beere Eingang in alle Gedanken, in alle Träume, in alle Handlungen, in alle Zielsetzungen.

Man isst, man trinkt, man schläft, man wacht, man denkt, man spricht, man leugnet, man existiert wegen der Beere. Man versucht mit großem Einsatz und sämtlichen Mitteln die Beere zufriedenzustellen, ja ihr zu genügen. Man lebt für die Beere und geht in ihr auf. Was gibt es noch Begehrenswertes an dieser Welt, wenn nicht die eine einzig wahre wahrhaftige Frucht aller Früchte?

Schließlich esse ich die Beere und sterbe den glücklichsten Tod meines Lebens.

Sandra Stadlbauer

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 15146

 

Geschenktes Huhn

Ja, das hab ich mit Dörrobst und Birnen gemacht. Erst eine Menge Zwiebel, dann eine Lage Kartoffelscheiben, dann das Dörrobst, mit Birne gespicktes Huhn drauf, ein paar Kräuter und Wein drüber. Ab ins Rohr – aber schon fast eine Stunde.
Das ist übrigens ein glückliches Bio-Bergland-Huhn aus Oberthalham bei Gmunden. Da stand sogar die Seehöhe drauf auf dem Etikett. Über 500 Meter liegt das! Hab ich sozusagen vom Leo bekommen. Der wollte das nicht. Wieso nicht? Na, das hängt mit der Claire zusammen. Der hatte das Huhn nämlich von der Claire. Das war gestern, also das ist schon noch halbwegs frisch, das Huhn.

Claire, ja, die Claire, die hat er jetzt gerade wieder getroffen. Kannst du mal das Bier aus dem Eisfach tun? Ist das jetzt wirklich so interessant, dass sich die mal wieder getroffen haben, die Claire und der Leo? Ja, im Kaffeehaus. Claire… ja, die Claire, welches Kaffeehaus? Irgendein Kaffeehaus eben. Na, das Weidinger, wo der Leo immer hingeht. Das ist doch nicht wichtig, welches Kaffeehaus. – Nein, wichtiger ist doch: Die beiden haben sich ja schon zwei Jahre nicht gesehen! Warum nicht? Weil der Leo mit seinen Eroberungsversuchen bei ihr gescheitert ist – aber gründlich! Kennt ihr doch eh alle, die Geschichte. Zwei Jahre hat er alles versucht und dann großes Jammertal.
Das wisst ihr doch, was soll ich da noch groß erzählen. Was meinst du? Ob er damals wenigstens irgendwas erreicht hat? Einen einzigen Kuss, wenn du’s wissen willst, einen Kuss hat sie ihm gegeben. Einen einzigen Kuss! Den dafür unter einer echten Straßenlaterne, romantischerweise. Da war er dann tagelang ziemlich gut drauf, wegen dem einen Kuss, weiß ich noch genau, ja wisst ihr doch noch alle, hat er ja allen oft genug erzählt, und es war ja auch auffällig, wie der auf einmal strahlt wie ein Solarium.

Abgenommen hat er auch! Ihr wisst aber nicht, was dann passiert ist, das hat er nämlich nur mir erzählt! Beim nächsten Treffen nämlich, da hat die Claire nicht mal eine Berührung zugelassen – da hat er’s dann endgültig aufgegeben, der Leo. Das war zuviel. „Das hört ja nie auf“, wird er gedacht haben, „saublödes Fangenspiel, idiotisches“, solche Sachen eben, denk ich mir mal, was man sich eben so denkt. Völlige Funkstille war sein neues Motto. War auch vernünftig so. Ist ja das Beste so.
Gelitten hat er halt, ist ja normal! Ja was wollt ihr dann jetzt eigentlich noch wissen? Das mit dem Kaffeehaus? Mensch, seid ihr nervig! Okay okay, wenn’s unbedingt sein muss. Also, ich geb zu, dass er mir in den zwei Jahren, nachdem sie ihn sitzen gelassen hat, richtig Sorgen gemacht hat, und da hab ich manchmal mit der Claire geredet. Ja, stimmt, sein Kühlschrank war auch immer leer. Was? Ja, ist wahrscheinlich immer noch leer! Eher tragisch!

Was ist denn jetzt mit dem Bier? Wieso unterm Sofa? Na, egal. Wieso ist meins schon offen? Ich wollt extra ein geschlossenes wegen meiner Schwellung im Gesicht. Ich kann das ja nicht kühlen mit einer offenen Dose! Na egal. Ja ja, ich red ja schon. Vorgestern also hat ihm die Claire sozusagen „verziehen“. Die hat ihn einfach angerufen. Das muss man sich vorstellen: nach zwei Jahren! Und macht sich einfach ein Treffen aus mit ihm. Das war am Freitag, weil getroffen haben sie sich am Tag drauf, also gestern, weil heut ist Sonntag.
Genau. Also sie kommt jetzt vom rituellen Familien-Samstag mit Kartenspiel – richtige Familie, nicht so welche wie unsere, da gibt‘s noch so richtig fixe Rituale und so! Der Leo kriecht derweil aus seiner verdunkelten Wohnung raus, Richtung Kaffeehaus. Claire hat aber an dem Tag nach dem Kartenspielen von ihrer Mutter („Du siehst ja ganz blass um die Nase aus!“) das Oberthalhamer Bio-Bergland-Huhn geschenkt bekommen und dazu den Auftrag, es sich zu Hause ins Rohr zu stellen.
Na, am Schluss hab‘s ja dann ich bekommen. Mensch, wir essen das ja gerade, hab ich doch gesagt. Ihr hört eben nicht zu, das ist es. Außerdem, die Claire weiß nicht mal, wie man Tiefkühlpizza zubereitet, geschweige denn ein Bio-Huhn. Ich weiß noch, wie sie einmal so eine Pizza aufs Fensterbrett in die Sonne gelegt hat, voll überzeugt, die durch die Fensterscheiben gebrochenen Sonnenstrahlen reichen durch „prismatische Wirkung“ aus, für eine fertige Fertigpizza. Hat sie dann gegessen die Pizza, aber mehr zum Beweis. Außerdem: Die Claire ist Vegetarierin. Aber nicht nur bloß wegen der armen Tiere – ihr habt ja keine Vorstellung! Sie ist echte Hard-Core-Vegetarierin, also schon mehr politische Veganerin, seit zehn Jahren! Ja, und das hängt mit einem, mit einem … Erlebnis zusammen! Kann ich mir eine von deinem Tabak dreh‘n? Danke!

Damals, vor zehn Jahren, hat die Claire Gesang am Reinhardtseminar studiert und war schon, wie’s immer so heißt, eine „große Hoffnung“ beim Arnold-Schönberg-Chor. Tja, da schaut ihr. Die Claire nämlich. Alle Chancen auf eine große Karriere hatte die, und die wollte auch so richtig ganz nach oben, und die Eltern natürlich auch wahnsinnig stolz. Ihr eigentliches Debüt war die Matthäus-Passion vom Bach. Ihr wisst eh, was ein Debüt ist? Russisches Roulett mit Noten, das ist ein Debüt, so muss man sich das vorstellen.
Danach hatte sie dann das Erlebnis. In der Passion hat sie alle Sopran-Arien gesungen. Blute nur, du liebes Herz zum Beispiel hat sie da gesungen und Buß und Reu hat sie … Was? Alt-Arie – okay, Buß und Reu hat sie dann wahrscheinlich nicht gesungen. Jetzt weiß ich nicht mehr… hast du mein Bier? Ah, da ist es! Danach jedenfalls, nach der Matthäus-Passion, geht sie mit ihren Freundinnen essen. Nichts Besonderes, sie gehen zum McDonalds und freuen sich auf die probenfreie Zeit, da sieht die Claire, wie jemand intensiv den Mistkübel in der Ecke, direkt gegenüber ihrem Tisch, durchwühlt, bis er was Essbares findet, die angebissenen Burger und alte McNuggets und Chef-Salat-Reste, so was eben. Das verdrückt der alles, und dann noch sorgfältig den Inhalt von einigen weggeworfenen Getränkebechern zusammengeleert und nachgespült. Basta!

Also die Claire hat da genau zugesehen und ist jetzt auf einmal weiß wie die Wand, schaut sich um und stellt fest, dass alle an ihrem Tisch, alle ihre Freundinnen vom Chor nicht mal auch nur was bemerkt haben wollen. Spielen alle plötzlich mit dem Handy oder studieren die Nährwertlisten von den Burgern, die der Mäckie immer aufs Tablett drauflegt. Sie aber jetzt regt sich voll auf: ob sie denn alle keine Augen im Kopf haben, die nackte Not direkt vor ihrem Junk-Food-Fressi-Fressi-Fraß und immer fein wegschau‘n, ob sie sich nicht mal schämen würden, ob sie denn alle komplett vertiert und verroht wären in ihrer noblen Arnold-Schönberg-Käseglocke und so weiter.
Aber da merkt die Claire, wie ihre Freundinnen sie nur offen besorgt anschauen: Ihre ganze Aufregung, die ist daneben – aber total. Stille im Saloon. Ihre beste Chorkollegin, auch Sopran wahrscheinlich, sagt dann was von, sie versteht das schon, wirklich, war ein harter Abend und die Arie war wirklich schwer, sie hätte ja angeboten, Blute nur statt der Claire zu singen, weil der geht’s grad eh nicht so gut, schon länger nicht und die arme Claire ist ja die ganze Zeit nicht so ganz fit gewesen, aber es ist ja klar, das ist ja völlig normal, nach so einer Anstrengung und so elendes Profigequatsche eben. Das gibt der Claire dann den Rest – sie steht auf und geht.

Die Woche drauf ist die Claire aus dem Chor und dem Seminar ausgetreten, hat sich gezwungen, starke Zigaretten zu rauchen, um sich sozusagen den Rückweg abzuschneiden, hat den Jean Ziegler gelesen und die Grenzen des Wachstums vom Club of Rome, das ist so ein Umweltbericht, den hat sie regelrecht auswendig gelernt. Den musste ich dann auch lesen. Hat sich überhaupt nur noch mit Fragen der Welternährung beschäftigt. Dann wurde es ganz arg: Sie ist von dem Döblinger Haus ihrer Eltern ausgezogen, in dem sie oben eine riesen Wohnung praktisch für sich gehabt hat. Die Eltern waren ja erst ganz froh, weil die haben das dann vermieten können. Die hatten ja alles in Aktien und 2008 hat sie’s voll erwischt. Sogar ihren Buchladen gibt‘s nicht mehr. Die Claire wohnt jetzt in einer überbezahlten Substandardwohnung an der Stadtperipherie zwischen Müllverbrennungsanlage und Autobahn. Die Einrichtung ist … na ja, die hab ich gesehen, darum weiß ich das. Und zwar besteht die aus einer Matratze und einem Metallregal. Sonst nix, nada, niente!

Ja, jetzt ist die Claire so Ende zwanzig und arbeitet nachts in einer Schlafstelle für obdachlose Jugendliche, am Tag telefoniert sie meistens für ein Marketinginstitut – weil solche Sozialjobs, die bringen ja nichts. Manchmal schiebt sie noch irgendwas in einem Krankenhaus ein – nur das Allerschlimmste natürlich, was sie dort finden kann. Keine Ahnung, Kotzkübelauswaschen oder so was. Sie arbeitet jedenfalls so viel und so oft sie kann und immer mit lächerlicher Bezahlung – davon gibt‘s ja genug und sie konsumiert nur das Notwendigste, schläft selten und isst wie gesagt kein Fleisch – wegen der Welternährung eben.
Der Leo hat ja mal gemeint, das ist ihre Art sich umzubringen. Alles Fleisch und alles, was durch die Eltern in ihre Wohnung kommt, und alles Geld, das ihr übrig bleibt, verschenkt sie dann an irgendwelche Leute und Sozialeinrichtungen. Eine echte neue Heilige: Santa Claire, bitte für uns! Nein, und der einzige Luxus, den sie sich gönnt, das ist: in einen Tschechischkurs gehen und klassische Gitarre lernen – wie sie da die Zeit und die Energie dafür findet, ist mir völlig schleierhaft. Aber dass da sowas wie eine Beziehung nicht viel Platz hat, ist klar. Da müsste sie schon mindestens auf den blöden Tschechischkurs verzichten.
Wo ist denn jetzt mein Bier schon wieder? Ah ja, was wollt ich eigentlich? Ja ja, die beiden haben sich wieder getroffen, wollt‘ ich eh grad erzähl‘n. Was soll das jetzt wieder heißen? Überhaupt nicht lenk ich ab, es ist nur wichtig, dass man die Claire versteht.

Also der Leo und die Claire. Genau. Es ist so weit. Und er sitzt schon da, mit seinem ewigen, gammeligen Sakko, ja, das schwarze, eh klar, und sonst auch wie immer ganz schwarz und alles schon so leicht schillernd. Hat, völlig unbelehrbar, der Leo, große Hoffnungen. Muss man sich auch vorstellen. Ich meine, nach den vier Jahren! Immer noch Hoffnung! Zwei Jahre, ja stimmt, nach den zwei Jahren. Egal, er ausnahmsweise zu früh, sie wie immer zu spät – das macht insgesamt eine ganze Stunde. Genug Zeit zum Vorbereiten. Der Leo plant nämlich Klartext. Er hasst ja diese Spielchen. Er will ihr sagen, dass er gelitten hat, wie ein Schwein gelitten hat. Ohne Geplänkel und ohne Kumpelhaftigkeit. Woher ich das weiß? Das hat er mir nachher gesagt. Wir haben ja telefoniert heute ziemlich lang. Das ist er sich schuldig, das mit dem Klartext, hat er gesagt. Und er wird ja auch gedacht haben, mit so einer richtig schonungslosen Offenheit bei ihr Eindruck zu machen. Ohne jede Kumpelhaftigkeit jedenfalls.

Dann kommt sie. Hat, eh klar, ihr tiefgekühltes Huhn dabei, das schon ein wenig durch die Plastikverpackung ins Billasackerl tropft, in dem sie es von Döbling nach Neubau getragen hat. Das heißt aber: Auf dem Boden vom Billasackerl hat sich mittlerweile ein blutiger See gebildet. Ja, hat er gesehen, nein, nicht gleich natürlich. Ist ja klar, muss so sein. Wenn man ein gefrorenes Huhn längere Zeit … Okay, ist ja auch völlig egal, mit oder ohne Blutsee, ist ja egal! Ist noch eine Dose da? Danke!
Die Claire also. Die hat ja daran gedacht, es ihrem Nachbarn zu schenken, das Huhn. Aber da hätte sie vorher nach Hause müssen, und dann hätte der Leo noch länger gewartet – alles sehr kompliziert also. Der Leo merkt natürlich nichts von ihren ganzen Problemen – hat nur Augen für die Claire. Er sieht aber auch sicher nicht, wie mager und blass sie ist, und nicht die extrem kaputten Sachen, die sie in der letzten Zeit immer anhat. Ich meine ihren uralten graugelben Columbo-Trenchcoat kombiniert mit Wollpulli knielang plus ungewaschene Ringelstrümpfe und dazu die ewigen Crocs. Furchtbar! Vom Donner gerührt, der Leo.

Und dann ist das ungefähr so gelaufen: Sie setzt sich hin und sucht sofort ein Platzerl für ihr Sackerl: „Soll ich’s einfach unter den Tisch stell‘n? Geht doch, oder?“ „Ja, einfach unter den Tisch … machen alle so.“ Pause. „Du Claire, ich finde, ich muss dir sagen …“, will der Leo jetzt anfangen, aber die Claire sofort: „Wie, das machen alle so? Das ist doch ein Huhn da drin, laufen doch nicht alle so herum, einfach so mit toten Tieren im Plastiksackerl, hoffe ich, oder?“ Der Leo lacht ein bisschen, hört aber damit gleich wieder auf. Pause. Claire: „Und selbst wenn – unterm Tisch! Kann man das? Das ist doch irgendwie respektlos, ich meine, dem Huhn gegenüber, auch wenn es schon ganz tot ist!“

Der Leo hat natürlich bis dahin gar nicht wissen können, dass da ein Huhn drinnen ist, und er versteht erst jetzt das Problem, aber irgendwie versteht er‘s trotzdem nicht so richtig und wird ein wenig konfus. Jedenfalls hat er gar nicht mehr richtig anfangen können mit seiner garantierten Schonungslosigkeit, wo ja die Claire dauernd einen Platz für ihr Huhn sucht, das passt einfach alles nicht.
Hab ich doch schon gesagt, dass ich mit Leo telefoniert hab, hat er mir ja alles ganz genau erzählt und die Claire auch. Meistens hat eh die Claire geredet. Weiß ich sogar ungefähr, was alles. Zum Beispiel, dass ihr grad wieder eingefallen ist, dass sie „das Tier“ ja dem Nachbarn schenken wollte und ob er ihren Nachbarn eigentlich kennt? Aber natürlich nicht, er war ja schon ewig nicht mehr bei ihr!
Dabei ist das ein richtiges Original, der Nachbar. Dem seine Hauptbeschäftigung besteht nämlich darin, einfach älter zu werden. Und dem Älterwerden gewinnt er mit Drogen und Fernsehen eine angenehme Seite ab. Irgendwie faszinierend, nicht? Das alles hat sie ihm beschrieben. Und der Leo hat da wahrscheinlich an seine verdunkelte Wohnung denken müssen und sich gefragt, ob das jetzt eine Anspielung war.
Ab da war er jedenfalls richtig konfus und nichts mehr mit seinem Offenlegungskonzept. Die Claire schiebt derweil das Billasackerl mit beiden Händen auf den Tisch. Der Kellner zieht vorüber. Ganz normal. Machen alle so. Manchmal, hat sie dann erzählt, wenn sie wieder „was zum Weitergeben“ hat, besucht sie diesen Nachbarn. Dann rauchen sie ganz gemütlich was, er spielt ihr alte Platten vor, Hendrix, The Who und Frank Zappa und so, und dann erklärt er ihr, worin der eigentliche Wert dieser Musiker besteht: Denen ihre Arbeiten nämlich hätten das Potenzial gehabt, die Menschheit zu verändern. „Die Menschheit“, sagt aber die Claire, „will sich nicht verändern, die Menschheit ist blöd wie Salami!“

Diesen letzten Satz dürfte sie aber ziemlich laut gesagt haben – da ist der Kellner nämlich gekommen mit der Bitte um Ruhe im Kaffeehaus – und da hat er das Huhn bemerkt und das Rinnsal, das da schon heruntergetropft ist. Eben, also doch Blutsee! Gutes Kaffeehaus und so, Blutsee am Tisch. Geht gar nicht! Und dann noch zwei so Gestalten, die die Menschheit beschimpfen. Das heißt, der Kellner hat die beiden eingeladen zu gehen, wie das mal ein Innenminister so schön zu unseren Asylwerbern gesagt hat.
Aber da hat er nicht mit der Claire gerechnet. Die ruft jetzt so was wie „Moment bitte!“ und steht dabei auf, sie brächte das Huhn ja nachher zur Obdachlosenhilfe, zur Gruft nämlich, und die dort in der Gruft würden sich alle schon sehr darauf freuen. Das sei auch nicht irgendein Huhn, sondern ein echtes Oberthalhamer Bio-Bergland-Huhn! Und auch die Ärmsten in diesem scheiß Fascho-Staat hätten mal das verdammte Recht, ein gutes Huhn ohne Antibiotika­­­­­­ zu essen, und sie selber hätte einen engen Zeitplan – der Herr Ober wolle das alles doch nicht verderben? ­

Da hat sich dann aber keiner mehr ausgekannt. Und mitten in das Schweigen hinein die Claire: Ob der Herr Ober vielleicht eine Schüssel hätte für das Huhn? Auch das ist nämlich die Claire, die kann plötzlich so ganz dings werden, sonst flüstert sie ja praktisch nur. Der Kellner, weil ein Herr Ober ist das ja gar nicht, ist dann auf einmal weggegangen und hat eine Schüssel gebracht. Da hinein hat er das Huhn gelegt und es in die Küche getragen. Hat noch gesagt, dass es später dort abzuholen wäre. Nicht zu fassen, oder?
Na servus, jetzt hab ich mein Bier umgehauen! Wo ist denn jetzt die Küchenrolle? Ah, genau – und ja vielleicht wischt wer noch den Tisch ab? Vielleicht auch ein wenig den Boden? Bringst du mir eine neue Dose mit? Ah, besser. Was ich mich schon frage, ist: Hat der Kellner vielleicht nach dem Auftritt von der Claire in den beiden nicht mehr zwei heruntergekommene Endzwanziger mit Bluthuhn gesehen, sondern was anderes? Also ich glaub ja, der Kellner kann von dem Gruftgerede gar nicht so beeindruckt gewesen sein. Der hat wahrscheinlich nur gedacht, die sind ja durchgeknallt und das tut er sich jetzt nicht an mit denen und wenn die eh gleich zur Gruft gehen …

Genau, dass sie jetzt unbedingt in die Gruft gehen müssten, hat die Claire jetzt zum Leo gesagt. Dass das das Beste wäre, was sie jetzt tun könnten mit dem Huhn, da hätte sie gleich dran denken müssen. Ob er denn sonst irgendwas vorgehabt hätte? Der Leo war aber jetzt schon ziemlich fertig und hat sie nur noch angestarrt. Er hat gemeint, er muss ausgesehen haben wie ein Mensch, der nicht weiß, ob er gleich aufspringen und davonrennen oder an Ort und Stelle kollabieren wird.
Ihm ist aufgefallen, dass er plötzlich alles wahnsinnig deutlich hat hören können. Die Claire hat die ganze Zeit mit den Füßen gescharrt und das hätte geklungen wie die Schleifarbeiten auf der Baustelle vor seiner Wohnung. Dabei hat er gewusst, dass sich die Claire sicher fragt, worauf er jetzt so lange wartet. Das Huhn hat er auch in der Küche tropfen gehört, ganz überdeutlich. Zumindest behauptet er fix, dass er sich in einem Kanal gesehen hat, wo das Kondenswasser von der Decke in ein Sammelbecken tropft.
Genau wie im Schluss von Der dritte Mann. Und gleichzeitig wäre ihm alles durch den Kopf gerast. So was wie: „Ein Geständnis, alles rauslassen – ist ja egal, wie sie reagiert – Hauptsache mir ist nachher besser – aber ist mir dann nachher besser? Wie lang ist mir dann nachher besser? Ganz kurz vielleicht und dann? Dann haut sie mich wieder aus ihrem Leben raus. Der Abgrund! Abyssus abyssum invocat! Ein Abgrund zieht den anderen nach! Wo steht das eigentlich? In der Bibel? Nein, echt Vulgata? Wird schon stimmen.

Was? Woher ich weiß, was der Leo alles gedacht hat? Okay, ich denk mir halt, was er gedacht haben hätte können. Na gut, ich hör ja schon auf. Aber ich bin grad so gut drinnen! Nur noch ein bisschen: „Nein, lieber strategisch angehen, irgendwas Witziges sagen. Über Hendrix zum Beispiel, da kennst du dich doch aus! Hendrix als Wagner des 20. Jahrhunderts!“ Das hat er sich nämlich sicher gedacht. Ist ja dem Leo seine alte Nummer. Soll ich die jetzt für euch bringen? Klar kann ich das.
Ich kann’s sogar noch problematisieren mit: die Rolle des Kultes in der modernen Musik. Hat er mir ja oft genug gepredigt, der Leo. Kann ich auswendig. Aber hallo: Findet ihr das wirklich so toll? Dem Leo sein Wagner-Hendrix-Vergleich ist doch überhaupt nicht witzig. Er ist nicht mal gescheit! Wir, weil wir seine Freunde sind, finden das alle immer ganz supergenial. Also der hat wirklich keine Chance mehr gehabt, der Leo.

Und jetzt die Claire: Die hat inzwischen aber den Eindruck, nein, „das deutliche Gefühl“, so würde die das formulieren: „… das deutliche Gefühl, dass der Leo nicht so recht bei Sinnen ist.“ Schon gar nicht, dass er sie begleiten will in die Gruft: Er scheint ja offensichtlich an etwas völlig anderes zu denken. Aber was sie jetzt getan hat, das kann ich mir einfach wirklich nicht erklären. Weil kurz entschlossen steht die auf, geht in die Küche, greift sich das Huhn, legt es zurück auf den Kaffeehaustisch und zieht die Plastikfolie von dem weich gewordenen aber immer noch kalten Fleisch und fragt so ganz vorsichtig: „Du isst doch Fleisch?“

Der Leo starrt sie nur noch an und nickt abwesend. Und dann hat sie, ausgerechnet jetzt in dem Moment, hat sie ihm das zwischen mir und ihr gesagt.

Dummerweise bin ich dann ins Weidinger gekommen, da war die Claire schon weg. Der Leo ist immer noch an dem Tisch gesessen und ich bin an der Tür stehen geblieben, weil er mich so arg angeschaut hat. Ich hab gedacht, besser ich geh wieder, aber grad wie ich mich umdreh‘n will, hör ich den Leo schreien: „Kannst du behalten!“ Ich hab nur noch gesehen, wie was Schweres, Rundliches, Weißes den Luster gestreift hat und dann auf mich zugeschossen ist. Bringt mir wer noch eine Dose? Ich krieg grad wieder Kopfweh.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 15119

Kein Knoblauch

Abendliches Sippentreffen einer italienischen Familie, und ich erstmals dazu eingeladen, als Fremder, welch eine Ehre.

Hoch der Preis dafür, dass ich in die Kochtöpfe von Tante Rosetta blicken darf, hoch wie Zwiebel schneiden, Sellerie und Karotten, und auch den Speck in Würfel, nicht zu klein und nicht zu groß, eine Anweisung von Tante Rosetta jagt die andere. Und geduldig und präzise beantwortet sie all meine Fragen nach der Zubereitung des perfekten ragù alla bolognese, nur die letzte weist sie mit Entrüstung und aller Entschiedenheit zurück:

„Knoblauch? Niemals!“

Und mit einem hastigen Kreuzschlagen über der Brust bringt sie nochmals zum Ausdruck, wie teuflisch mein Ansinnen doch gewesen ist, sodass meine Lippen für die nächsten zwei Stunden versiegelt bleiben und ich gehorsam wie ein Messdiener die Sauce zu ihrer Vollendung rühre.

„Hervorragend“, entfährt mir am Tisch mit der ganzen italienischen Sippe, allein als ich mit der Gabel den ersten Stich in die dampfenden tagliatelle alla bolognese tätige und der Duft mir unwiderstehlich in die Nase steigt.

„Natürlich“, erwidert Tante Rosetta mit dem Selbstbewusstsein eines ganzen Stammbaums von Tanten, die dieses Rezept über die letzten zweihundert Jahre hinweg bis zur Perfektion getrieben haben. Aber sie kann es nicht lassen, nochmals fährt ihr gestreckter Zeigefinger spitz auf mich zu:

„Und kein Knoblauch!“

Und jetzt, am stillen Zusammenzucken des Onkels, an seinem weidwunden Blick, und an der angestrengten Teilnahmslosigkeit des Rests der Sippe kann ich sie mir zusammenreimen, die Geschichte mit Tante Rosetta und dem Knoblauch:

Nämlich dass der Onkel in den frühen Ehejahren ein ansehnlicher Mann gewesen ist und sein Beruf als fahrender Gemüsehändler ihn so mancher Versuchung ausgesetzt hat, so sehr auch Tante Rosetta mit Argusaugen über ihn wachte, über die Blicke wachte, die ihm das eine oder andere kecke Mädchen  bisweilen zuwarf, und besonders, mit welcher Art von Blicken er diese erwiderte, denn sie kannte ihren Luigi, so teilnahmslos er auch in die Luft gucken mochte.

Und so kam es, dass Rosetta eines Nachts mit dem untrüglichen Gefühl aufwachte, dass etwas nicht stimmte. Nicht, dass an diesem Tag etwas Ungewöhnliches vorgefallen wäre, wie üblich war er abends mit seinem Kleinlaster von seiner Tour zurückgekehrt, abgearbeitet und müde, und wortlos und müde hatte er das Nachtmahl in sich hineingeschaufelt, um anschließend todmüde ins eheliche Bett und in den wohlverdienten Schlaf zu fallen, nicht viel anders als sonst. Und trotzdem konnte die gute Rosetta keine Ruhe finden, grübelte und grübelte an der Seite ihres sanft schnarchenden Ehemanns, zerbrach sich den Kopf über die kleinste an diesem Tag vorgefallene Kleinigkeit, die kleinste Abweichung.

Bis ihr mit einem Schlag bewusst wurde, was nicht stimmte: der Geruch, der dem leisen Schnarchen ihres Gatten an ihrer Seite entströmte.

Und so kam es, wie es kommen musste, nämlich dass früh am nächsten Morgen, bei Sonnenaufgang, als der Onkel gerade seinen Kleinlaster mit den Gemüsekisten belud, wie aus heiterem Himmel seine Rosetta auf einmal vor ihm stand, resolut die Fäuste in die Hüften gestemmt, und ihm einen einzigen Satz entgegenschleuderte:

„Die Entscheidung liegt ganz bei dir, Luigi: entweder die bolognese mit oder ohne Knoblauch!“

Und auf der Stelle war dem Onkel klar gewesen, dass seine Rosetta Bescheid wusste, und zwar über alles, über sein allwöchentliches Techtelmechtel im Nachbardorf, mit dieser auf blond gefärbten Bianca, über die Rosetta schon immer geäußert hatte, dass sie nichts als eine donnaccia wäre, eine vulgäre Schlampe, so scheckig wie sie lachte, wie ein Pferd, so wie sie ihre üppigen Brüste aus der viel zu großzügigen Bluse geradezu herausplatzen ließ, unverschämt und vulgär, und aller Wahrscheinlichkeit nach sogar so vulgär, dass sie nicht einmal davor zurückschreckte, Knoblauch in die bolognese zu schütten. Und ebenso glasklar war ihm, dass er nicht beides haben konnte, einmal bolognese mit Knoblauch und einmal ohne, sondern dass seine werte Gattin ihn bei falscher Wahl ohne Federlesen aus dem Haus werfen würde, aus ihrem Haus, seine Kleider hinterher in den Staub der Straße, und dass er dann auf der nackten Ladefläche seines Kleinlasters schlafen konnte wie ein vernachlässigter Hund.

Und deshalb fällt es mir so gar nicht schwer mir auszumalen, wie schnell er den Schwanz eingezogen hat, dass er schleunigst zurück in die Gefilde des treuen, hingebungsvollen Ehemanns gerudert ist, dass er dieses Nachbardorf in Zukunft gemieden hat wie die Pest, auch wenn er dort immer gute Geschäfte gemacht hatte, neue Dörfer hat er sich von nun an gesucht. Und dass von nun an die Tante Rosetta ihn in der Hand gehabt hat, über all die Jahre hinweg, für ein Leben lang, bolognese für bolognese.

Die ganze Geschichte vor Augen senke auch ich jetzt gleich dem Rest der Sippe schuldbewusst meinen Kopf vor ihrem stechenden Blick und vertiefe mich ganz in die Pasta. Ja doch, liebe Tante Rosetta, nur zu gut habe ich dich verstanden, fürs Leben habe ich etwas gelernt:

Kein Knoblauch, oder besser gesagt, Knoblauch nur dann, wenn ein Gericht ihn wirklich verlangt, und auch dann nur, wenn ansonsten keine Gefahren lauern.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 15100

Bayerischer Barock oder La vita è bella.

Behutsam schlug Alessandro Pavese die schmale gotische Holzfigur wieder in das weiche Tuch ein und verwahrte sie sorgfältig im Tresor. Es war bereits gegen Mittag und wie jeden Tag versuchte er, das Knurren seines Magens vorerst zu ignorieren; eine halbe Stunde noch, bis er seinen kleinen, feinen Kunst- & Antiquitätenladen inmitten der Innsbrucker Altstadt für eine Mittagspause schließen konnte.
Viktoria hatte ihm noch am Morgen nahegelegt, nur Kohlehydratarmes zum Mittagessen zu sich zu nehmen. „Ein wenig gebratenes Geflügelfleisch mit Salat“, war ihre wohlmeinende Empfehlung. „Und du verkneifst dir vorher die Grissini!“ Wer, wenn nicht sie, die diszipliniert seit Jahrzehnten ihr Gewicht hielt, sich Alkohol und Süßes konsequent untersagte und überhaupt Kalorienreduktion zur Maxime erhoben hatte, war wohl legitimiert, solche Ratschläge zu erteilen.

Ein wohlklingendes, deutlich bayerisch gefärbtes kräftiges „Grüß Gott“ ließ ihn aus seinen Gedanken hochfahren. Diese Frau hatte sicherlich die falsche Tür erwischt – seine Clientèle trat deutlich dezenter in Erscheinung.
„Dieses Bild dort im Schaufenster, das kleine rechts oben, ja, ja, das dunkle kleine Ölbild, das interessiert mich.“
Der Blick der fülligen bayerischen Touristin war entwaffnend direkt, und obwohl Alessandro sich sonst zurückhaltend gegenüber seinen Kunden verhielt – „devot“ nannte Viktoria das immer spöttelnd – lächelte er die Kundin freundlich an und stellte sich ihr mit einer kleinen Verbeugung formvollendet vor.
„Gestatten, Alessandro Pavese, ich bin der Geschäftsinhaber. Dieses Bild hängt hier seit zwanzig Jahren, gnädige Frau.“
„Emerenzia Weidinger aus München, sehr erfreut. Ich war schon einmal in Innsbruck, vor etwa drei Jahren, da habe ich es hier aber nicht gesehen.“
Die dunkle Stimme harmonierte mit ihrem Klangkörper, ja sie konnte geradezu nur von einer Gestalt dieses Ausmaßes hervorgebracht werden. Ein Dirndl hätte ihr gut gepasst, der Frau Weidinger aus München, dachte Alessandro lächelnd. Viktorias schmaler Körper nahm sich in ihrem neuen Designerdirndl dagegen lächerlich verloren aus. Er senkte den Blick kurz, als er merkte, dass er die Kundin immer noch unverwandt betrachtete.

Das kleine Bild stammte noch aus dem Geschäftsbestand seines Vaters in Trient. Seit Alessandro dessen Laden übernommen hatte, war ein Vierteljahrhundert vergangen. Aber schon kurze Zeit danach hatte er Viktoria kennengelernt. Mit ihr war er damals nach Innsbruck in ihre Heimat übersiedelt und seither lebten sie hier mit ihrem Sohn.

„Ich mag die Farben“, begann die Kundin.
„Aber es ist dunkel, da sind nun wirklich keine Farben zu sehen!“, entgegnete Alessandro.
Emerenzia Weidinger glaubte, ein Haus am See darauf zu erkennen. „Es ist Nacht, da sind diese Spiegelungen des Mondlichts, erkennen Sie es nicht, Signore Alessandro, ich darf Sie doch so nennen? Sagen Sie ruhig Emerenzia zu mir, wenn Sie es denn aussprechen können mit ihrem italienischen Zungenschlag“, antwortete sie lachend.
Alessandro nickte und musste seinerseits über die bayerische Aussprache seines Namens schmunzeln.
„Ja gerne.“ Und in Gedanken fügte er vorsichtig „Emerenzia“ hinzu. Was für ein Name! Viktoria würde sich lustig darüber machen. Urbayerisch, bodenständig, bäuerlich, erdig, gediegen, wie aus einem Heimatfilm entsprungen. Und was für eine Frau! Alessandro wusste gar nicht, wohin mit seinen Blicken, er fühlte sich deutlich von ihrem opulenten Körper angezogen.
Jetzt musste er aber erst einmal seinen eigenen, drahtigen Körper arg verbiegen, um sich zwischen der kleinen Empire-Kommode und der Etagère mit der Zierkeramik aus der Zeit der Monarchie hindurchzwängen und das Bild vom Haken nehmen zu können.

„Es ist nicht renoviert, die Firnisschicht gehört aufgearbeitet.“
„Ich nehme es, wie es ist.“
„Es hat keinen Preis.“
„Es bekommt einen Platz in meinem Häuschen am Chiemsee.“
„Es erinnert mich aber an meinen Vater, daher ist es nicht zu haben.“
„Es wird neben einem kleinen Original von Antoni Tàpies hängen. Über meinem Biedermeier-Sekretär.“
„Ich kann Ihnen seine Provenienz nicht nennen, ja nicht einmal seinen Künstler.“
„Von wem auch immer es ist, das Bild ist mir wichtig und schon jetzt ans Herz gewachsen.“
Sie zog ihre Lesebrille aus ihren vollen, mittellangen braunen Locken und hielt sie, wie zur Verdeutlichung, an ihren Busen, den Alessandro nun, sozusagen durch ihre Handbewegung legitimiert, zumindest kurz und maßvoll, ja beinahe ungeniert betrachten konnte. Das blau-weiß-kleingewürfelte Hemdblusenkleid bot Einblick auf das Ausmaß ihres Dekolletés und ihm Freude.
„Aber sehen Sie doch, Emerenzia, der Rahmen muss erst noch neu geleimt werden. So können Sie seinen Anblick nicht genießen.“
„Ach, Alessandro, in Wahrheit wollten Sie mir damit nur sagen, dass der leere Fleck in Ihrer Auslage Sie deprimiert.“

Was war nur los mit ihm? Jedes Gramm, das Viktoria nach Marcos Geburt kurzzeitig zugelegt hatte, war von ihm mit kritischem Blick und manch verletzender Bemerkung quittiert worden. Und jetzt fing sein Blick sich so unbedingt in diesem voluminösen bayerischen Busen.
Emerenzia Weidingers kräftige warme Hände, denen man Gartenarbeit ansah, streckten sich vehement nach dem Bild und berührten mit großer Selbstverständlichkeit bei dessen Übergabe seine schmalen, manikürten Finger. Wie angenehm.
„Wie man diese dunkle Fläche nur so zum Leuchten bringen kann – meisterhaft – da sind wir doch beide einer Meinung, Alessandro?“

Über den Preis ließe sich das Interesse von Emerenzia sicher nicht zerstreuen, wo sie doch vorhin das Bild von Tàpies erwähnt hatte, aber einen Versuch war es wert.
„Diese Qualität macht es aber zu einem hochpreisigen Kleinod, werte Emerenzia.“
„Nette Eröffnung der Verhandlung, Alessandro, mein Lieber, aber ich setze finanzielle Präferenzen, wie ich auch sonst recht genau weiß, was ich will“, brachte sie mit betont bayerischem Tonfall hervor, ihr Blick wurde direkter und auch etwas strenger.
„Es steht nicht zum Verkauf.“
„So schnell gebe ich nicht klein bei. Ich bin gewöhnt, zu kriegen, was ich mir in den Kopf gesetzt habe.“
Alessandros Tonfall wurde nun deutlich charmanter und er meinte ironisch: „Wir werden nie handelseins werden, Emerenzia, auch wenn Sie noch so stark sind. Ein bayerischer Sturschädel bringt keinerlei Vorteile in Verhandlungen mit einem wahren Italiener.“
„Ha, ich habe viele Jahre lang einen Marktstand geführt, das war mein Beruf und meine Berufung. Ich werde Sie überzeugen, obwohl Sie Italiener sind. Weil Sie Italiener sind“, fügte sie mit einem Zwinkern hinzu.
Alessandro Pavese gab sich innerlich geschlagen, er mochte diese resolute Frau und stellte fest, dass er schon die längste Zeit breit vor sich hin grinste, und sein Blick immer wieder auf ihren weichen, fülligen Körper fiel, was ihr gar nichts auszumachen schien.
„Ich schließe jetzt mein Geschäft zur Mittagspause, würden Sie mir die Ehre erweisen, mich zum Essen zu begleiten, Madame Emerenzia?“ Ihr angenehmes glucksendes Lachen klang in seinen Ohren noch etwas nach.

Mit wie viel Freude und in welcher Gelöstheit sie ihr Lammfleisch mit Speckbohnen verzehrte! Alessandro konnte sich an diesem sinnlichen Vorgang gar nicht satt sehen und entwickelte seinerseits einen immensen Appetit, sodass er nach dem Antipasti-Teller noch eine Portion Ossobuco bestellte, die sich beide dann mehr oder weniger gemeinsam schmecken ließen.
„Oh, wie fantastisch das riecht, lassen Sie mich kosten, Alessandro.“ Und wieder ließ sie das „R“ bei seinem Namen vollmundig und bayerisch rollen.
Emerenzia langte ganz selbstverständlich mit dem Mund nach Alessandros gefüllter Gabel, die er ihr entgegenkommend hinhielt.
„Ich habe noch niemals zuvor jemanden mit solchem Vergnügen essen sehen“, parlierte er mit vollem Mund.
„Mit Ossobuco zwischen den Zähnen zu sprechen, ist ganz bestimmt ein erster Ansatz zum Genuss, glaub mir!“, wechselte Emerenzia mit perlendem Lachen zum vertrauten „du“.
Wie wohl es tat, mit dieser Frau zu lachen.

Das Leben seines quirligen Gegenübers war bunt und laut verlaufen, als Marktstandbetreiberin auf dem Münchner Viktualienmarkt. Und wenn sie von ihrem verstorbenen Mann und ihren erwachsenen Kindern erzählte, dann glänzten ihre Augen mit denen ihres aufmerksamen Zuhörers um die Wette. Alessandros Blick fiel immer wieder auf ihren herrlichen, vom Ossobucco fettglänzenden vollen Mund, und – ja – er glitt häufig auch abwärts, um auf ihrem wogenden Busen zu verweilen. Der gehaltvolle Rotwein erschwerte dabei die Kontrolle.
Geld war reichlich geflossen am Viktualienmarkt, ein Häuschen direkt am Chiemsee nach der Pensionierung rasch gekauft und ein Teil des Kapitals in wertbeständige Kunst investiert. Einsam war es halt, seit ihr Mann nicht mehr da war. „Ach weißt du, es ist nicht nur das Essen, ich bin einfach hungrig auf das Leben. Nachts gehe ich gerne schwimmen, ich spüre dann das Wasser auf der Haut, und es ist wie eine Berührung.“

Das Geschäft hätte er um 14 Uhr wieder öffnen sollen, doch zu diesem Zeitpunkt fütterten die beiden einander quer über den Tisch mit Panna cotta, wobei Alessandro mit seinem Zeigefinger etwas überschüssige Creme aus Emerenzias Mundwinkel barg und sich vom Finger leckte. Sein Blick sagte deutlich, dass er sie viel lieber direkt mit seiner Zunge von ihren Lippen geholt hätte.
„Du könntest es mir doch zustellen, das Gemälde. Es in meiner Handtasche zu transportieren, ist nicht zumutbar“, schlug Emerenzia anschließend beim Grappa vor.
„Du kannst mit mir rechnen, am Samstag bringe ich dir das gute Stück, dann sehe ich auch deine Kunst und dein Haus. Und meine Badehose nehme ich mit.“
„Und nach dem Schwimmen koche ich uns was Deftiges. Ich freue mich sehr.“

Michaela Swoboda

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