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Wie Tamara die Avocado kennenlernte

Sie war die Lieblings-Deutsch-Dolmetscherin des Moskauer Bürgermeisters Jurij Luschkow. Er forderte sie persönlich an, wenn er deutsch sprechende Gäste in seiner Stadt empfing, sei es aus Berlin, Zürich oder Wien. Die zuständigen Diplomaten flüsterten dem Polit-Neuling zu, dass es Gepflogenheit sei, dass jede Delegation ihre eigenen Dolmetscher mitbringen würde. Es nützte nichts, der stierköpfige Russe blieb bei seiner Tamara. Niemand ist besser, da können Sie sicher sein. Die kann nicht nur einfach Deutsch, sondern auch Berlinerisch, Schweizerdeutsch und Wienerisch.
Sogar die Schmähs. Alle Episoden und Witze, die Geschichte und die Literatur.

Luschkow war zu seiner Zeit kein Verhandler, sondern ein Durchsetzer, eine Dampfwalze.
Bald sprach sich die Mär über die kleine, zarte, fabelhafte Russin in allen Botschaften und Bürgermeister-Amtsstuben herum: Tamara ist wirklich die Beste! Sie ist klug, hübsch, elegant, charmant, witzig, schnell, diplomatisch, firm in jedem Bereich, bis zu den schnell unübersetzt gelassenen Altherrenwitzen und politisch-historischen Fettnäpfchen. Sie war einfach perfekt. Sie konnte Lippen, Blicke und in der Seele lesen, war Aug und Ohr ihrer Herrschaften, ja es schien fast so, als könnte sie sogar deren Willen lenken.

So kam sie einmal auch an Luschkows Seite nach Wien zum Amtsbruder Helmut Zilk. Der war schon seit seinem ersten Besuch in Russlands Hauptstadt ein Moskau-Fan, und auf Luschkows Übersetzerin freute er sich besonders. Sie war ja nicht nur eine beeidete Dolmetscherin und Übersetzerin, sondern im Hauptberuf Universitätsprofessorin für Linguistik, Translationswissenschaften und interkulturelle Kommunikation, alles ganz neu im Wende-Russland unter Jelzin. Vergesst das KGB, wir suchen uns unsere Leute jetzt selbst aus, nach unserem einfachen menschlichen Empfinden.
In Moskau hatte sie einen guten Ruf als Germanistin und Übersetzerin speziell österreichischer Literatur. Wie vielen Studenten hat sie den Blick auf Österreich und seine Kultur gelenkt, wie viele Diplomarbeiten und Dissertationen zu österreichischen Themen angeregt und Literatur-Übersetzungen veranlasst. Sie kannte Wien und seinen Bewohner wie ihre Handtasche, hatte sie doch lange auch in Wien Russisch unterrichtet.

Nun also der erste Gegenbesuch Luschkows bei seinem Freund Chelmut und dessen charmanter Frau, einer populären Schauspielerin. Am Rollfeld Luschkows angetraute Ehefrau Nadja Baturina zwei Schritte hinter ihm. Die Baufachfrau hat ein Firmenimperium aufgebaut und durfte halb Moskau zubetonieren. Tamara wäre in der Masse der bürgermeisterlichen Entouragen untergegangen, hätte sie Luschkow nicht an seiner Seite festgehalten, eng an ihm Händchen haltend, wie angeschmiedet. Die kugelige, blonde Nadja mit einer Figur wie eine sowjetische Hammerwerferin schritt in der zweiten Reihe, in einem strengen Kostüm wie eine sowjetische Zollbeamtin aus Brest-Litowsk.

Da kam es zum ersten Faux pas, den beileibe nicht Tamara begangen hat und auch nicht verhindern konnte. Nach der der Umarmung des Gastes mit dreifachem Wangenkuss durch moj drug, Chelmut, brachte er das gleiche Ritual bei Tamara an. Beide Entouragen erstarrten zu arktischem Eis, bis der Hausherr schnell reagierte und über Nadjas Hand elegant einen Handkuss andeutete und sie damit nach vorne zog. Die Wiener Bürgermeistersgattin war auch nicht von schlechten Eltern, wie sie elegant den Kartoffelsack umarmte und ihr das eingelernte „Dobro poschalowatj v Venje, dorogije druzja“ – herzlich willkommen in Wien, liebe Freunde – in beide Ohren flötete. Eine Holzflöte. Sie war ja schließlich auch Sängerin. Danach hängte sie sich bei ihr unter und ließ die Herren allein, allein mit Tamara zwischen ihnen. Alles eitel Wonne, das Besuchsprogramm wie immer, aber mit besonders herzlicher Stadtbruderschaft. Wenn man ein bisschen größenwahnsinnig sein wollte, sahen sie den beiden prominenten Paaren ähnlich, die im Frühling in Wien auf Staatsbesuch waren, eine witzige Karikatur dreißig Jahre später und nur auf Bürgermeister-Ebene.

Alles lief blendend und wie geschmiert, vieles sicher dank der gewandten Tamara. Das Zilk-Team schmolz dahin und wollte sie zur Wiener Ehrenbürgerin machen, die Luschkow-Begleiter samt Nadja schürten die nächste Intrige. Dabei war es stadtbekannt, dass hinter dem einmaligen Besuch Zilks im Kreml – damals saß Luschkow-Freund Jelzin drin – die Übersetzerin Tamara stand. Dass dem nachmaligen Präsidenten Klestil und seiner Gattin dies versagt blieb, brachte dieses Couple zur Weißglut und die Botschaft zum Routieren. Warum hat der Zilk das bekommen und wir nicht? Da saß aber schon Putin drin. Als Rache bekam er einen Köter geschenkt. Der Kremlherr ließ sich einmal, ihn streichelnd, mit ihm ablichten, dann hielt er es aber mehr mit sibirischen Tigern und Reitpferden.

Dann kam das Bankett am Abend des letzten Tages. Lange, überladene Tische in den Hallen des Rathauses, Kerzen- und Blumenschmuck unter den neugotischen Spitzbögen, vorne auf einer Bühne ein kleines Orchester mit Strauß-Walzern. Zilk hatte sich ausgebeten, dass Tamara gegen alle Regeln der Diplomatie neben ihm saß. Aufgetragen wurde die erste Vorspeise. Die Übersetzerin war wahrlich keine Newcomerin, hatte ihr Stadtoberhaupt schon auf vielen Reisen begleitet, viele Verhandlungen über Städtepartnerschaften übersetzt, viele Gastmähler und tausende Toast-Sprüche überstanden. Aber was diesmal auf ihrem Teller landete, das hatte sie noch nie gesehen. Es war gurkengrün, aber keine Gurke, vielleicht eine unreife Birne? Aber warum war da so viel Grünzeug und Zitrone rundherum? Birne Helene war doch eine Nachspeise und sicher nicht geziert mit Kräutern, Muscheln und Krebsen, dazu Büschel von Petersil, geschnitzte Karotten, Berge von Majonnaise und Kaviar. Eine Wurzel oder eine Frucht? Oder irgendetwas dazwischen?
Wie findet man ein Wort für etwas, was es für sie nicht gab?
Ohne Wort keine Wirklichkeit, das ist das kleine Einmaleins ihres Berufes.
Wenn sich die Wirklichkeiten so sehr unterscheiden, gibt es auch keine Worte mehr.
Oh Gott, was war das? Ein Gewächs, so viel war sicher, kein Kunstprodukt.
Aber war es süß oder sauer? Die Nachspeise zur Vorspeise?

Die Fragen rasten durch ihren normalerweise gut sortierten Kopf. Sekunden wie Jahrhunderte, diese Verzweiflung, sie starrte auf diese ihr unbekannte Mixtur, glotzte sie an wie ein Untier – sie hatte keinen Namen dafür, das Schlimmste, was einer Übersetzerin passieren kann. Sprachlos, wortlos.
Da hob sie vorsichtig den Blick auf den Chelmut neben ihr. Augen rollen, Brauen hochziehen, unmerkliches Zwinkern, mit Mundwinkel zucken – diese Sub-Sprache beherrschte sie und operierte erfolgreich damit. Aber jetzt, angesichts dieser nie gesehen Frucht, war sie am Ende ihrer Weisheit.
Welches Gerät nehmen? Messer, Gabel, Löffel, Fischbesteck, Krabbenschere, Süß- oder Teelöffel? Die Reihen links und rechts vom Teller waren endlos, und vor ihren Augen schwirrte es.
Ja, und so hat sie es mir erzählt, genau so, in diesem Sommer 2017, als Tamara bei mir zu Besuch war, als ich ihr unschuldig so etwas für uns Selbstverständliches wie Avocados vorsetzte.

„Zilk hat die Situation sofort richtig erkannt, ein Genie, ein echter Gentleman, Diplomat höchster Schule, vor allem aber ein Mensch, ein so lieber Mensch. Er hat es nicht zugelassen, dass ich mich blamiere. Weißt du, was es bedeutet hätte, wenn ich Luschkow … und seine Nadja … die hatte ja noch weniger Ahnung als ich. Aber sie hatte die Gattin an ihrer Seite. Ich aber sah gar nichts.
Unter der Serviette auf dem Schoß legte mir Zilk seine Hand auf meine.
Ruhig, Schatzi, schau mir genau zu und mach, was ich mache. Dabei neigte er den Kopf aufrecht leicht in meine Richtung und murmelte mir ins linke Ohr.
Befreiende Worte, ich schaute nur noch auf seine Hände und imitierte seine Bewegungen vom Teller zum Mund und wieder zurück, ohne eine Sekunde auf das Übersetzen zu vergessen. Ich wusste nicht, was ich aß, und war nicht sicher, ob es mir schmeckte. Ich kam durch bis zur richtigen Birne Helene, vielleicht war es auch ein anderes Dessert, nicht wichtig. So kam die Avocado zu mir.“

Sie lobte meine Käseplatte mit Avocados und Tomaten, keine heimische Frucht, sondern eine aus Chile, bei Hofer gekauft mit einem Fair-Trade-Gütesiegel. Für Tamara kramte ich die Verpackung aus dem Mülleimer heraus und zeigt ihr, dass sie von der Firma Hass aus den USA stammten.
Hass-Avocados aus Texas. Nur ein Familienname wie Trump, ein Einwanderer aus Deutschland, wie Kraft und Heinz und Ochs. Da waren wir ganz schnell bei der aktuellen Politik. Inzwischen gibt es auch in Russland Avocados, sagt Tamara, aber sie kommen seit den Sanktionen nur noch aus Israel, sie sehen ganz anders aus, wie kleine, braune Kürbisse mit Schnäbeln und schmecken nach absolut goa nix.
Da können wir doch gleich bei unseren russischen Gurken bleiben, die schmecken ohne Wodka, Zwiebel und Schwarzbrot auch nach nichts, riechen aber wenigstens noch nach Erde.

Das war ein schöner, interkultureller Abend.

  1. 8.17

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Veronika Seyr
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Was sind Clementinen?

Einen Tag vor Weihnachten hat mich in meiner Billa-Filiale ein spanhölzernes Steigerl mit CLEMENTINEN (Herkunftsland Spain, kernlos) verführt, obwohl ich nicht genau wusste, was Clementinen sind. Mandarinen, Tangerinen, Nektarinen, Serpentinen, Satsumas kenne ich, Clementinen nicht, schon wieder eine neue Züchtung?
Oh my darling, oh my daarling, oh my daaarling, Clementine! Das Lied mit diesem Refrain haben wir gern geschmettert. Aber die Clementine im Lied ist doch ein ganz anderer Typ?
Die Früchte im Steigerl sehen sehr schön und einladend aus. Eine Verführung, der ultimative Traum vom Süden in unseren lichtarmen Tagen, das Versprechen eines strahlend blauen Himmels, mit Wärme und leichtem Meeresrauschen.

Sie sind etwas größer als Mandarinen und Nektarinen, fast rund, durchgehend knall-orange wie eine Clowns-Perücke, glänzend wie mit Schweinespeck eingeschmiert, geschmückt mit Zweigen und immergrünen Blättern, alles direkt dran an den Früchten, wie gerade selbst vom Baum gepflückt. Die können das, die Kaufverführer aller Nationen.
Wer das macht in Spain, pflegt und erntet, wie und unter welchen Bedingungen, wir wissen es, aber angesichts dieses orange-grünen Versprechens waren alle Vorsätze wie weggewischt, dass ich aus Spain nichts mehr kaufen darf.
Nach all diesen vorbeihuschenden Fragen, Einsprüchen und Überlegungen stelle ich das Körbchen in meinen Wagen.

An der Kasse frage ich die Kassierin, was denn Clementinen sind. Ich kenne die Frau schon lange, eine freundliche Frau, der man ihre ostdeutsche Herkunft bei jedem Atemzug anhört. Sie pflegt einen speziellen Humor, etwas rau, aber sie hat für jeden Kunden ein freundliches Wort, lacht gern und trägt immer einen Scherz auf den Lippen. Ich glaube, dort heißt es, sie hat Lippe. Fast Wienerisch. Ich finde es immer noch toll, dass wir Einwanderer aus der früheren DDR in Wien haben. Was da wohl für ein Lebenslauf dahintersteckt? Ich habe mich aber nie danach zu fragen getraut. Schade.
Auf meine Frage nach den Clementinen lacht sie mir offen und schallend ins Gesicht: „Dos frogen S‘ ausgerechnet mich? Wie soll ich dos wissen, Clementinen, hahaha, ich kannte ja bis vor kurzem nitamol Bananen!“ Die Mauerfall-Begrüßungsgeschenke sind lange her, sie hat sie nicht vergessen und ich auch nicht, die Bilder von den von Wessis als Willkommensgeschenk verteilten Bananen. Sie nimmt es ihnen offenbar bis heute nicht übel.
(Herrlich, diese Frau gehört auf eine Bühne mit politischem Kabarett, auf Deutsch KAbarettth oder Comidi.)

Übrigens, bei meinem Clementinen-Steigerl-Kauf habe ich mich völlig übernommen. Ich war über Weihnachten schwer verkühlt, sagte alle Besucher und Besuche ab, nahm nur das Lebensnotwendige zu mir, weil nichts wirklich schmeckte und vor allem die Zitrusfrüchte auf den aufgesprungenen Lippen brannten. Die Schnupfennase und alles drumherum sowieso. Sogar die Hektoliter Tee habe ich nur mit Honig, ohne Zitronen und Clementinen, geschlürft.

Als es mir etwas besser ging, und ich aus den verschlierten Augen herausschauen konnte, schritt ich zur Tat, nachdem diese wunderschönen Clementinen-Darlings jeden Tag mindestens eine neue faulige produzierten. Ich nahm das den Darlings ziemlich übel, hatte ich sie doch farblich mit dem Gedeck, den Gläsern, den Küchenwänden und dem Tischtuch abgestimmt so drapiert, dass keine die andere berührte. Also ziemliche Prinzessinnen auf der Erbse, nicht vertikal wie im Märchen, diese Clementinen.
Oh my darling, Clementine.

Ich griff zum Messer und zerschnipselte die Clementinen samt und sonders, verrührte sie und verkochte und passierte sie gleich zweimal, einmal mit dem Mixstab, dann noch einmal mit der flotten Lotte. Ich versetzte den Brei neben Gelier- noch mit Vanillezucker, mit Ingwer, Gewürznelken, Kardamom und Citronat. Im Übermut fügte ich noch ein kleines Stück Bitterschokolade, Akazienhonig, einen Kaminzauber-Teebeutel, ein paar Rosinen und einen Teelöffel Cognac hinzu. Mehr Gutes fand ich nicht im Haus oder in meinem Schnupfenkopf.

Schließlich konnte ich zwölf Gläschen mit Clementinen-Gelee befüllen und beschriften mit „Clementine, 31.12.16“- der Geburtstag meiner Schwester Hedwig. Wie diese Multi-Kombi-Marmelade wirklich schmeckt, konnte ich noch nicht erforschen. Die Geschmacksknospen sind noch immer beeinträchtigt. Aber sie durchzog die Wohnung mit dem feinen Duft der Sehnsucht nach dem Süden. Das Land der Sehnsucht mit der Seele der Clementinen suchen. Wer nie das Brot mit Tränen aß. Vielleicht dufteten sie sogar bis nach draußen, aber das hätte nur ein gesunder Besucher vor der Tür feststellen können. Mit großem Vergnügen und Genugtuung betrachte ich die Reihe mit den zwölf Gläschen in der Farbe von gesättigtem Bernstein, 44 Millionen Jahre alt. Ich habe das Clementinen-Steigerl verewigt.

Erst als ich mich heute fast vollständig gesund fühlte, ging ich ans Googeln: „Eine Clementine ist eine Hybride zwischen Mandarine und Pomeranze.“ Aha, und was ist eine Pomeranze? Du blöde oder eingebildete Pomerantschn, das war einmal vor undenkbar langen Zeiten ein ländliches Schimpfwort, ich glaube, hauptsächlich zwischen weiblichen Kampfhennen. Ähnlich veraltet wie du Kuh, du Ziege, du Gans. Die bei uns neu angekommene Orange, die Pomeranze als beneidete Konkurrentin des gemeinen Apfels? Der Paradiesapfel. Tussi würde man heute wohl sagen.

Heute ging ich erstmals im neuen Jahr auf die Straße und wollte mich bei der lustigen Kassierin mit einem Gläschen meines Clementinen-Gelees bedanken. Und siehe da, die Billa-Filiale bei mir an der Ecke zur Mozartgasse wurde geschlossen und ist vier Straßenbahnstationen weiter die Wiedner Hauptstraße hinauf übersiedelt. Für mich heute zu weit für dieses junge Jahr und meine schwache Gesundheit.
Irgendwann werde ich es einmal zum Wiedner Gürtel hinauf schaffen.

In der kurz vor Weihnachten eröffneten Spar-Gourmet-Filiale genau gegenüber kaufte ich dann als Eröffnungsangebot ein Körbchen mit Rudolfinen.

2.1.17

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 17035

 

 

Die Küche liegt auf der Straße

An einem warmen Nachmittag im Mai des Jahres 2014 ging Peter Gruber den Wiener Donaukanal entlang, um sich die Kunstwerke dort anzusehen. Er hielt zwar nicht viel von Graffiti, doch die Unermüdlichkeit, mit welcher die Sprayer alte Werke übermalten, um neue auf der dann einfarbigen Grundierung zu erschaffen, faszinierte ihn.
‘Was ist ein Bankraub gegen die Gründung einer Bank’, las er auf einem Plakat, das jemand achtlos auf ein Graffito geklebt hatte. Peter schmunzelte, hatte er doch mit der Unersättlichkeit der Banken seine Erfahrungen machen müssen. Selbst als er kein Geld mehr besessen hatte, war er von ihnen verfolgt worden, sowohl gerichtlich als auch persönlich, hatte ihm doch eine Bank tatsächlich einen Geldeintreiber nach Hause geschickt.

Gruber genoss diesen Tag. Er saß auf einer Bank und sah den Schiffen beim Vorbeifahren zu, er beobachtete die Möwen und Kormorane, die sich auf der Wasseroberfläche niederließen, sobald sich diese wieder beruhigt hatte, und auch die Menschen, die in großer Zahl an ihm vorbeischlenderten.
Da er nichts Besseres zu tun hatte, tat er es ihnen gleich und spazierte den Kanal entlang. Die Graffiti wurden weniger, und schließlich gab es keine mehr zu bewundern, also richtete Peter seine Aufmerksamkeit auf den sandigen Streifen neben dem asphaltierten Weg.

Es dauerte nicht lange, und er entdeckte eine Gabel, die jemand achtlos weggeworfen hatte. Sie war zwar aus Metall gefertigt, doch äußerst unsauber gearbeitet. Die Zinken waren stumpf und ihre Kanten nicht abgerundet, doch war sie des Weggeworfenwerdens nicht wert. Peter legte die Gabel in seinen Rucksack, den er beim Spazierengehen stets auf dem Rücken trug.
Er fragte sich, was wohl in Menschen vorgehen mochte, die Gabeln auf Wege warfen, die auch von Kindern und Hunden begangen wurden. Eine alte Frau hatte ihn beobachtet und lobte ihn dafür, dass er die Gabel an sich genommen hatte. Er gehörte offenbar nicht der modernen Wegwerfgesellschaft an.

Peter schlenderte weiter und wurde zum ersten Mal in seinem Leben Zeuge eines erbitterten Luftkampfes. Zwei Nebelkrähen, die wohl auf einem der Bäume neben dem Kanal nisteten, hatten offenbar eine gut genährte Taube als ihre Abendmahlzeit auserkoren und machten Jagd auf den kleineren Vogel. Sie stießen immer wieder auf die Taube herab, die ihre Rettung in der Flucht suchte, denn Gelegenheiten in Deckung zu gehen gab es an dieser Stelle keine. Das Ende der Taube schrieb Peter eher einem Unfall zu denn der gewieften Jagdtechnik der Krähen. In offenbar großer Panik schätzte die Taube nämlich sowohl ihre eigene Fluggeschwindigkeit als auch die Distanz zu einem Brückenpfeiler falsch ein und flog gegen diesen.
Peter eilte zu dem verletzten Vogel, hob ihn hoch und wollte gerade ein paar beruhigende Worte sprechen, als dieser sein Leben aushauchte. Er blickte um sich, und da ihn niemand beobachtete, legte er die Taube in seinen Rucksack.

Peter Grubers Jagdfieber war erwacht. Er hatte eine Gabel und eine fette Taube. In Gedanken fertigte er eine Liste von Dingen an, die er nun noch brauchte. Ein Grillrost stand auf dieser Liste an erster Stelle.
Da das Grillen am Donaukanal verboten war, war er gezwungen, sich zur Donauinsel zu begeben. Auf dem Weg dorthin war er ein weiteres Mal vom Glück begünstigt. In einem verrufenen Viertel fand er eine Geldbörse auf dem Gehsteig. Er öffnete sie, und da er in ihrem Inneren keinen Hinweis auf den Besitzer finden konnte, nahm er die einhundertzwanzig Euro, die darin waren, an sich.

Auf der Donauinsel bot sich Peter ein ähnliches Bild wie beim Donaukanal. Viele Menschen spazierten, ließen ihre Hunde frei laufen und einige spielten sogar Fußball. Es gab etliche Grillplätze, die gut besucht waren, und noch mehr Grillende, die ihre zumeist runden Grills selbst mitgebracht hatten. Auf den Rost eines solchen Kugelgrills hatte er es abgesehen. Ein Blick zum Himmel machte ihn sicher, dass das Glück an diesem Tag auf seiner Seite war. Dunkle Wolken am Horizont verhießen Regen, was bedeutete, dass die grillenden Menschen die Insel bald fluchtartig verlassen würden. Er brauchte also bloß abzuwarten, um zu seinem Rost zu kommen.

Den zweiten Posten auf seiner Liste, Grillkohle, würden sie vermutlich ebenfalls zurücklassen, und zwar in einem Papiersack, was bedeutete, dass er genug Material, nämlich Papier, zum Anzünden haben würde.
Nun brauchte er noch ein Messer, um die Taube ausnehmen zu können, ein Feuerzeug oder Streichhölzer und ein paar Gewürze.
Peter Gruber ging zu den Daubeln, fest mit dem Ufer verbundene schwimmende Fischerhütten, und suchte in deren Umgebung das Unterholz nach den noch benötigten Dingen ab. Ein oranges Stanleymesser, das er in der Nähe der dritten Daubel fand, erschien ihm für seine Zwecke ausreichend, zumal die Klinge beinahe neuwertig war. Er entfernte den von Rost befallenen ersten Teil der Abbrechklinge ab und steckte das Messer in die Seitentasche seines Rucksacks.

Kurz dachte er daran, in eine der Hütten einzusteigen, um sich Gewürze zu beschaffen, doch verwarf der diesen Gedanken rasch wieder. Er war zwar arm, aber kein Dieb, und schon gar kein Einbrecher. Er beschloss, mit den Gewürzen bis zum Schluss zu warten. Er hatte zwar das Geld aus der gefundenen Börse bei sich, doch wollte er nicht in einen Supermarkt gehen und Gewürze kaufen – dies hätte Peters Sammlungsergebnis für diesen Tag zu stark beeinflusst.
Er wanderte eine Stunde auf der Donauinsel umher, fand ein Feuerzeug, das zwar wenig Gas in sich hatte, aber noch brauchbar war. Dann setzte ein starker Platzregen ein, und wie von ihm vorausgesehen, verließen die Grillenden die Insel.
Peter fand einen Sack Grillkohle, der noch genügend Brennmaterial für das Grillen der Taube beinhaltete, und einen runden Rost, der auf einigen aufgeschichteten Ziegelsteinen lag.
Zufrieden mit diesem Tag machte er sich auf den Weg in sein Zuhause. Den Rost trug er in seiner linken Hand, den Rest im Rucksack.

Zu Hause erwartete ihn seine Frau, bei und von der er lebte, bereits. Sie stand im Vorzimmer ihrer geräumigen Wohnung und hielt einen großen schwarzen Müllsack geöffnet in ihren Händen.
Seufzend leerte Peter Gruber den Inhalt seines Rucksacks in den Müllsack und warf den Grillrost ebenfalls hinein.
Mit der Information ausgestattet, dass es sich bei ihm um einen unverbesserlichen Geizkragen handelte und er endlich sowohl seinen Therapeuten als auch das Arbeitsamt aufsuchen sollte, folgte er seiner Frau ins Esszimmer, auf dessen Tisch bereits ein dampfender Kalbsbraten stand.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen |Inventarnummer: 17020

 

Dorfgeflüster

Es war eine kalte, neblige Novembernacht, die Greta Schinagl sich ausgesucht hatte, um auf den Kugelberg zu gehen. Dorthin war sie schon immer gegangen, wenn Probleme sie belastet hatten. Die Ruhe, die der Wald ausstrahlte, hatte ihr viele Male dabei geholfen, ihre Gedanken zu ordnen und Lösungen zu finden.
Greta ging durch den Wald und dachte an ihre Tochter Maria, die von allen Mitzi genannt wurde. Diese hatte ihr nur Stunden vor dem Spaziergang eröffnet, dass sie Hans Maier, ihren Verlobten, verlassen und an Peter Meisters Seite wechseln würde.

Greta war bestimmt keine konservative Frau, die eine solche Nachricht aus der Bahn geworfen hätte, doch war Hans Maier nicht Mitzis erster Verlobter gewesen. Zuvor hatte sie Martin Schuster, Alois Möstl und Walter Mierz ihre Verlobungsringe zurückgegeben. Das ganze Dorf wusste über Mitzis Umtriebigkeit in Liebesangelegenheiten Bescheid, und das belastete Greta, die stets um Diskretion bemüht war.
Hinter vorgehaltener Hand wurde Mitzi der Liederlichkeit bezichtigt, auch wenn es natürlich so war, dass sich etliche junge Männer Hoffnungen machten, mit dem attraktiven Fräulein zusammenzukommen.

Als Greta Schinagl sich einer alten Buche näherte, an deren Stamm gelehnt sie gerne verweilte, fühlte sie, dass etwas anders war als sonst. Sie war nicht alleine im Wald. Sie hörte das Brechen von Zweigen auf dem Waldboden und bald sah sie eine kleine Frau auf sich zukommen. Eine Wolke gab den Vollmond frei und sie erkannte, dass es sich bei der Frau um Waltraud Klinger handelte.
Diese war im Dorf als eine Frau bekannt, die über magische Kräfte verfügte. Sie hatte mit ihrer Zauberkunst schon vielen Menschen geholfen, doch hatten die Leute auch Angst vor ihr. Sie fürchteten nämlich, dass Waltraud ihre Magie gegen sie einsetzen könnte, wenngleich die friedliebende Hexe nie in Streitigkeiten verwickelt war.

„Kalt ist es heute“, stellte Waltraud fest.
„Ja, Waltraud, das ist es“, pflichtete ihr Greta bei und seufzte.
„Mitzi hat wohl wieder einen Neuen. Oder bist du aus einem anderen Grund in den Wald gegangen?“
„Ich weiß nicht, was mit meiner Tochter los ist!“, rief Greta.
„Ich könnte dir helfen.“
„Wie denn? Bei Mitzi ist doch Hopfen und Malz verloren!“
„Ich habe einen neuen Zauberspruch formuliert, der deine Tochter auf den rechten Weg zurückbringen wird. Allerdings verlange ich eine Gegenleistung.“
„Ich habe nicht viel Geld, Waltraud, aber was ich dir geben kann, sollst du erhalten.“

Die Hexe winkte ab, Geld interessierte sie nicht. Sie flüsterte in Gretas Ohr, was ihr Hexenlohn werden sollte.
„Nein!“, entfuhr es Greta. „Das Rezept für meine Haferkekse ist ein uraltes Familiengeheimnis. Ich kann es dir einfach nicht geben.“
„Das ist sehr schade, vor allem für deine Tochter.“
„Wofür brauchst du es denn? Du bist doch eine Hexe. Dir muss es doch ein Leichtes sein, dieses Gebäck auf den Tisch zu zaubern.“
„Das mag schon sein, doch hexe ich niemals für mich selbst. Ich finde, dass sich das nicht gehört.“
„Kann ich dir etwas anderes geben?“
„Nein, Greta. Ich will das Rezept. Das kann doch nicht zu viel verlangt sein – als Gegenleistung dafür, dass Mitzi endlich ein normales Leben führt.“

Greta Schinagl überlegte zwei Minuten, und schließlich willigte sie ein.
Waltraud murmelte den Zauberspruch, während Mitzis Mutter das Rezept auf ein Blatt Papier schrieb, das sie in ihrer Jackentasche gefunden hatte.
Zwei Tage später besuchte Mitzi ihre Mutter.
„Mama, ich habe beschlossen, Hans doch zu heiraten. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich geritten hat, ihn zu verlassen.“
Greta lachte innerlich. Sie wusste sehr wohl, was der Grund für den Sinneswandel ihrer Tochter war.
„Es freut mich sehr, dass du Hans nicht verlässt, Mitzi. Er ist ein netter Mann, und ihr werdet bestimmt glücklich.“

Die Nachricht machte rasch die Runde im Dorf, und von einem Tag auf den anderen wurde nicht mehr schlecht über Mitzi Schinagl geredet.
In Dörfern ist es oft so, dass ein Mensch schnell die Gunst der anderen verliert, doch wenn sich eine Kleinigkeit ändert, wenn er den Vorstellungen der anderen plötzlich entspricht, ist er wieder wohlgelitten – obwohl er derselbe Mensch ist.

Drei Wochen nach der Hochzeit von Mitzi und Hans pochte es an Greta Schinagls Haustüre.
Die Hexe stand davor und rief: „Du hast mich betrogen!“
„Ich habe dich nicht betrogen, Waltraud“, antwortete Greta.
„Doch, das hast du! Die Haferkekse wollen mir einfach nicht gelingen. Du hast mir bestimmt eine Zutat verschwiegen!“
Sie hielt Greta das Rezept vor die Nase. Greta las, was sie geschrieben hatte.
„Es tut mir leid, Waltraud. Ich habe das Rezept so aufgeschrieben, wie meine Großmutter es mir damals überliefert hat.“
„Ich glaube dir nicht!“, rief die Hexe. „Aus diesem Grund sehe ich mich gezwungen, die Wandlung deiner Tochter zum Guten hin rückgängig zu machen.“
„Nein, Waltraud, das darfst du nicht tun! Was soll dann aus dem armen Kind werden?“
„Das ist mir gleichgültig, Greta!“

Die Hexe lief davon, und Greta lag die ganze Nacht wach im Bett. Die Sorge um die Zukunft ihrer Tochter ließ sie keinen Schlaf finden.
Waltraud Klinger machte ihre Ankündigung nicht wahr – wenigstens nicht auf die Art und Weise, die Mitzi in alte Verhaltensmuster hätte zurückfallen lassen.
Mitzi erwachte am nächsten Morgen und lief, nachdem sie ihr Spiegelbild gesehen hatte, zu ihrer Mutter.
„Um Himmels willen! Was ist mit dir geschehen, mein Kind?“, stieß Greta entsetzt hervor, als sie ihre Tochter sah.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Mama“, gab Mitzi sarkastisch zurück. „Mir war eben danach, mir über Nacht einen Buckel wachsen zu lassen. Auch die beiden Warzen auf meiner Nase stehen mir gut, findest du nicht?“
Dann brach sie in Tränen aus.

Greta ergriff ihre Hand.
„Das ist meine Schuld, Mitzi.“
„Was hast du getan, Mama?“
Greta erzählte ihr von dem Abend im Wald.
„Hast du Waltraud denn das richtige Rezept gegeben?“
„Ja, Mitzi, das habe ich. Ich weiß nicht, warum sie es nicht fertigbringt, danach zu backen.“
„Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte Mitzi verzweifelt. „So, wie ich aussehe, werde ich zum Gespött des Dorfes!“
„Ich verspreche dir, dass ich eine Lösung finden werde“, sagte Greta Schinagl und verließ das Haus.

Atemlos pochte sie an Waltraud Klingers Türe.
Die Hexe öffnete und sagte: „Gefällt dir deine Tochter, so wie sie nun aussieht?“
„Waltraud“, rief Greta, „ich habe dich nicht betrogen!“
Doch die Hexe hatte kein Interesse daran, das Gespräch weiterzuführen.
„In zwei Tagen kannst du wiederkommen, Greta! Dann sehen wir weiter.“

Mitzis verändertes Aussehen blieb niemandem im Dorf verborgen. Gerüchte machten bald die Runde. Die junge Frau wäre ihrem Verlobten untreu gewesen, und der Fluch die Strafe dafür. Ein anderes besagte, Mitzis Schwiegermutter hätte die Verwandlung bewirkt, um ihr eine Lektion zu erteilen – wofür, das sagte die Person, die das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, nicht dazu.
Zwei Tage später stand Greta Schinagl erneut vor Waltraud Klingers Haustüre.
„Waltraud, bist du nun bereit zu reden?“
„Komm herein, Greta.“

Sie nahmen am Küchentisch Platz, auf welchem die Hexe die Zutaten für die Haferkekse vorbereitet hatte.
„Es wird wohl das Beste sein, wenn du sie vor meinen Augen zubereitest, Greta. Ich werde mir einprägen, was du machst und wie du es machst, und dann backe ich die Kekse vor deinen Augen.“
„Einverstanden“, sagte Greta und machte sich an die Arbeit.
Nachdem die Kekse ausgekühlt waren, kosteten die beiden Frauen davon.
„Sie schmecken so, wie deine Haferkekse immer geschmeckt haben“, stellte Waltraud fest. „Nun backe ich welche.“
Greta sah der Hexe dabei zu, ohne ein Wort zu sagen.
Waltrauds Kekse schmeckten grauenhaft.
„Also, Greta, welchen Fehler habe ich gemacht?“
„Handwerklich hast du alles richtig gemacht, Waltraud.“
„Woran liegt es dann?“
„Du hast die Haferkekse ohne Liebe zubereitet. Alles was man macht, muss man mit Liebe machen. Versuch es noch einmal.“

Die Hexe machte sich erneut ans Werk, und siehe da, diese Kekse schmeckten vorzüglich.
„Wirst du nun den Fluch von Mitzi nehmen?“
„Ja, das werde ich.“
Sie sprach eine magische Formel, und Mitzi war wieder so schön wie sie zuvor gewesen war.
Erneut machten Gerüchte die Runde, doch dieses Mal sorgte Greta Schinagl dafür, dass sie schnell verstummten.

Beinahe alle Dorfbewohner waren im großen Bierzelt auf der Festwiese versammelt, als Greta die Bühne erklomm und folgende Worte an die Anwesenden richtete: „Liebe Mitbürger! Ich weiß, dass ihr euch fragt, was es mit Mitzis Verwandlung und Rückverwandlung auf sich hat. Nun, ich kann euch versichern, dass alles in Ordnung ist.
Ich war erstaunt, wie sehr ihr euch für meine Tochter interessiert habt, und dafür danke ich euch. Nein, bitte seid nicht betreten und senkt eure Blicke nicht! Ich meine das ehrlich. Da habe ich gefühlt, wie viel Liebe in euch steckt. So viel Liebe, wie ihr auf das Erfinden von Gerüchten verwendet habt, habe ich selten erlebt.
Vielen Dank dafür! Ich bin mir nicht sicher, ob sich das gehört, doch habe ich eine Bitte an euch: Legt in Zukunft einfach die selbe Liebe in alles, was ihr macht, also in reale Dinge! Danke!“

Das hatte gesessen. Über Mitzi wurde nicht mehr gesprochen, und auch andere Dorfbewohner und deren Taten wurden nicht mehr zu Zielen des Argwohns, des Spottes oder gar der Lüge.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen |Inventarnummer: 17019

Mahlzeit

Gestern hatte ich meinen Lieblingsmenschen bei mir zu Hause. Ich hatte diesen Menschen zum Abendessen eingeladen.
Ich darf sagen, dass ich zeit meines Lebens Freude am Kochen gehabt habe. Es hat mich entspannt, das Kochen. Und dieses gestrige Abendessen sollte die Krönung meiner Leistungen hinsichtlich der Zubereitung köstlicher Abendmahle werden, und es wurde fürwahr die Krönung.

Mein Lieblingsmensch kam pünktlich, und wir nahmen einen Aperitif im Stehen ein, an meiner Bar in meinem geräumigen Wohnzimmer.
In diesen Aperitif tat ich eine Prise Paracetamol und auch eine geringe Menge vom besten bolivianischen Kokain, das beste, und leider auch teuerste, Kokain, das ich in meinem Leben genossen habe.

Ich kann sagen, dass ich für dieses Abendessen weder Kosten, was die hochpreisigen Zutaten anlangt, noch Mühen hinsichtlich der Beschaffung ebendieser Ingredienzien gescheut habe. Und darauf, also auch auf mich, bin ich fürwahr stolz. Jawohl. Heute bin ich zum ersten Mal in fünfunddreißig Jahren stolz auf mich, und dieses Gefühl des Stolzes werde ich für die restliche Lebenszeit, die mir verbleibt, auskosten. Also für die nächsten zwei Stunden.

Ich muss erwähnen, dass ich dem Aperitif, den wir aus meinen guten Lobmeyr-Gläsern genossen haben, auch eine geringe Menge des Giftes des Inlandtaipans zugesetzt habe, jedoch wirklich sehr wenig davon, denn die Wirkung dieses Stoffes, nämlich das Blut stocken, es verklumpen zu lassen, wollte ich keinesfalls erzielen. Ich wollte lediglich sicherstellen, dass der Geschmack des Aperitifs nicht unter dem Fehlen einer essenziell wichtigen Substanz leidet.
Die Gegenmittel, die ich zuvor, in vielfältiger Art und reichlicher Menge, eingenommen hatte, taten mir gut.

Nach dem Aperitif wechselten wir in meinen Speisesaal, an dessen Wänden ich meine durchaus beeindruckende Sammlung geladener Schrotflinten hängen habe, und ich bereitete uns ein Carpaccio.
Die Blaubandkraken für das Carpaccio zu beschaffen, hatte sich als ähnlich schwierig erwiesen wie die Beschaffung des Inlandtaipans für den Aperitif. Der Blaubandkrake mundete meinem Lieblingsmenschen sehr, mir im Übrigen ebenfalls, auch die marinierten Stückchen vom Weißen Knollenblätterpilz harmonierten mit dem Aroma des Kopffüßers.

Wir aßen von meinen guten Tellern aus Meissener Porzellan und mit meinem silbernen Besteck. Als Servietten wählte ich frisch abgezogene Haut der Gila-Krustenechse, als optischen Kontrast zum weißen Tischtuch aus Leinen feinster Mailänder Provenienz.

Nach dem Carpaccio vom Blaubandkraken reichte ich eine klare Suppe, die ich aus Schierling und gerösteten schwarzen Tollkirschen gekocht hatte, eine am Gaumen sich wunderbar entwickelnde Kombination. Ich bot meinem Lieblingsmenschen an, eine Einlage in die Suppenteller zu legen, ich hatte Knödel aus der Leber eines Eisbären vorbereitet, doch schlug mein liebes Gegenüber dieses Angebot aus, da mein Lieblingsmensch offensichtlich gesundheitliche Schwierigkeiten hatte, welche sich durch dicke Schweißperlen auf seiner Stirn bemerkbar machten, ebenso durch vernehmliche und übel riechende Winde.
Ich für meinen Teil hatte derartige Schwierigkeiten nicht, obwohl ich festhalten muss, dass die Raumtemperatur in meinem Speisesaal mir durchaus auch Ungemach in Form dicker Schweißperlen bereitete.

Nach einer kurzen Essenspause, in der wir eine selbstgedrehte Zigarette mit bestem marokkanischem Haschisch rauchten, servierte ich Steaks, scharf angebraten, also innen noch beinahe roh, aus den feinsten Stücken des Komodowarans, also aus dessen Zahnfleisch und Zunge. Meinem Gast mundeten die Steaks sehr, ebenso die gedünsteten Blätter der Engelstrompete, die ich als Beilage reichte.
Als Snack, also als kleinen Zwischengang, reichte ich scharf angebratene Schwänze des Gelben Mittelmeerskorpions, wobei ich beim Bratvorgang besonders darauf Acht geben musste, die zarten Reservoire, welche die Essenz der Tiere enthalten, nicht zu zerstören, denn wir nahmen lediglich die Flüssigkeit in diesen Reservoiren zu uns, die Stacheln an den Enden der Skorpionschwänze benutzten wir als Zahnstocher; sie erwiesen sich für diese Art des Gebrauchs als bestens geeignet.

Meinem Lieblingsmenschen schien es wieder besser zu gehen, und so war ich bereit, den nächsten Gang aufzutischen.
Es handelte sich bei diesem um ein leichtes Gulasch vom Schnabeltier, zu welchem ich Knödel aus Semmeln und Eisenhut reichte, denn Eisenhut fügt sich geschmacklich besser in die Kombination aus Schnabeltiergulasch und Semmelknödel, als gewöhnliche Petersilie dies je zu tun vermöchte.

Als Dessert reichte ich Marmorkuchen, jedoch kreativ zubereitet, also nicht nach Großmutters altbekanntem Rezept, vielmehr zielgerichtet verfeinert. Der gelbliche Teil des Marmorkuchens verdankte seine Farbe Hühnereiern mit einer Prise Schwefel, der dunkle Teil einem Brei aus Spinnen, um präzise zu sein Schwarzen Witwen, welchen ich Stücke aus der Leber des Kugelfisches beigemengt hatte, den ich im Tropenhaus des Tiergartens Schönbrunn besorgt, also schlicht gestohlen hatte, indem ich ihn einfach aus dem Wasser geholt hatte.
Die Schwarzen Witwen habe ich fein passiert, um zu verhindern, dass ihre Chitinpanzer sich als störende Objekte in den Zahnzwischenräumen meines Lieblingsmenschen und in meinen eigenen einlagern.

Nach dem Dessert begann es meinem Lieblingsmenschen sehr schlecht zu gehen. Er erbrach Blut auf mein schönes Tischtuch aus Mailand, und plötzlich verstarb er. Er lag mit seinem Oberkörper auf meinem Esstisch und schadete mit seinem nutzlosen Herumliegen der Optik meines schönen Speisesaals.
Ich musste ihn beseitigen und brachte ihn in den Schweinestall. Nachdem meine Säue ihn restlos aufgefressen hatten, starben die armen Schweine.
Nicht wissend, was ich mit den toten Schweinen anstellen sollte, brachte ich sie der Küche der nächsten Volksschule. Als Geschenk, versteht sich.
Kinder sollen ja widerstandsfähig sein. Oder werden.

Und ich für meinen Teil habe jetzt genug. Fünfunddreißig Jahre sind doch ausreichend. Die Reste der Gegenmittel habe ich vernichtet und die Reste des gestrigen Abendessens ins Backrohr geschoben. Ich habe Lust auf eine schmackhafte und wirkungsvolle Quiche. Mahlzeit!

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen |Inventarnummer: 17017

 

Die Steinsuppe

Ein Märchen, das es vielen Variationen und Kulturkreisen gibt.

Eines Abends kommen ein paar arme, hungrige Fremde mit nichts als einem leeren Kochtopf in ein Dorf. Die Bewohner geben ihnen aber nichts zu essen. Da füllen die Fremden ihren Topf mit Wasser, werfen einen Stein hinein und bringen ihn am Dorfplatz zum Kochen. Das weckt die Neugier der Dorfbewohner und sie fragen die Fremden, was sie da machen.

„Steinsuppe“, erklären die Fremden, „sie ist köstlich, wie Ihr bald sehen werdet; aber sie würde noch besser schmecken, wenn Ihr irgendetwas übrig hättet, um sie zu würzen.“ Da gibt ihnen ein Dorfbewohner ein paar Stängel Petersilie. Eine Frau erinnert sich, dass sie zu Hause noch einige Kartoffel hätte, holt sie und wirft sie in den Topf. Eine andere steuert eine Zwiebel und eine große Karotte bei. Und ein weiterer Dorfbewohner bringt einen Schinkenknochen. Während es im Topf kocht, kommen immer mehr Leute vorbei, um einen Rest von diesem oder ein Stückchen von jenem hineinzuwerfen, bis sich sein Inhalt zu einer nahrhaften und wohlschmeckenden  Suppe verdickt hat. Alle – die Dorfbewohner und die Fremden – setzen sich hin und genießen zusammen ein Festmahl.

„Ihr habt uns das größte Geschenk gemacht“, erklärt einer der Dorfältesten, „das Geheimnis, wie man aus Steinen Suppe macht.“

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 16154

Ausgekocht?

Franz Mierz war zweiundfünfzig Jahre alt, als er Wien verließ. Er fuhr zum Flughafen und bestieg ein Flugzeug zu einer Destination, die bis heute beinahe keinem Menschen in Österreich bekannt ist.
Es war eine Flucht, die er verübt hatte, vor dem Boulevard und ihm übel gesonnen Menschen.
Die Klatschpresse hatte sich nämlich auf ihn eingeschossen. Wenigstens einmal pro Woche war ein Artikel erschienen, der den langsamen Niedergang des einstigen Starkochs zum Inhalt gehabt hatte. Die Leute hatten ihn auf der Straße angesprochen und gefragt, ob er denn in Erwägung ziehen würde, in einem Würstelstand zu kochen, und ein paar hatten ihm sogar Kleingeld in die Hand gedrückt – für ein Glas Weißwein, wie sie hämisch grinsend dazugesagt hatten.

Franz Mierz war einmal ein Koch von Rang gewesen, mehrere Auszeichnungen hatten dies belegt. Sein Name stand für überbordende Kreativität am Herd. Berühmt war er für seine Beilagen; wahre Kompositionen waren sie, Sinfonien der Kulinarik. Sein Püree mit einem Hauch Radieschenwasser war eingeschlagen wie eine Bombe. Ganz Wien war bass erstaunt, was Mierz alles möglich machen konnte, nämlich das schier Unmögliche. Ein Trauben-Haselnuss-Mus als Begleitung eines Zanders – das war beinahe unerhört, doch es ging durch.

Sein Restaurant ‘Zur Taube’ war auf Wochen ausgebucht. Legendär war der spöttische Tonfall in der Stimme von Fräulein Gratzer, der für die Reservierungen zuständigen Mitarbeiterin der ‘Taube’. Wagte es jemand, ohne gültige, also bestätigte Reservierung vor ihr zu stehen und Einlass zu begehren, wies sie ihn mit strengem Blick darauf hin, dass er nicht in einem Schnellimbiss wäre, und danach wies sie ihm den Weg zur Türe.

Gourmetkritiker kamen erwartungsvoll und gingen hochzufrieden, die Wiener Schickeria ließ sich von Mierz bewirten und in immer ausgefallenere kulinarische Abenteuer führen.
So ging es über zehn Jahre lang, und es ging gut. Franz wurde wohlhabend, heiratete eine Frau aus besten Wiener Kreisen und hätte weiterhin beides bleiben können, sowohl reich als auch verheiratet.
Trunken vom Erfolg begann er jedoch, Fehler zu machen. Er ließ seinen Souschef ans Ruder, wenn er schlicht keine Lust hatte, in der heißen Küche vor dampfenden Töpfen zu stehen. Dieser war ein ganz passabler Koch, doch gebrach es ihm an der Kreativität. Den Gästen blieb nicht verborgen, dass der Chefkoch des Öfteren lieber bei etlichen Gläsern Wein am Naschmarkt saß, als sie zu bekochen.

Darüberhinaus war Franz Mierz im Umgang mit Menschen wenig versiert. Als sich eine Frau, die mit ihren Enkelkindern in der ‘Taube’ gespeist hatte, über die Beilagen mokierte, stürmte er an ihren Tisch. Sternanis-Pfeffer-Sauce wäre ebensowenig unpassend zu einem Fenchelsteak wie Vanille-Knoblauch-Reis, klärte er die Frau auf. Mit der Information ausgestattet, dass ein Franz Mierz gerne darauf verzichtete, eine alte Krähe in seinem Gourmettempel sitzen zu haben, verließ sie das Lokal.

Als er zur Faschingszeit einmal eine Gurke auftischen ließ, die einem männlichen Glied ähnelte und mit einer weißen Sauce angerichtet war, hatte dies einen Skandal zur Folge. Feministinnen standen vor dem Restaurant und klärten die Gäste, die es betreten wollten, über den Sexismus des Franz Mierz auf. Der Herausgeber der größten kleinformatigen Tageszeitung des Landes, ein Stammgast, kam persönlich in die Küche und wies ihn mit scharfen Worten zurecht.

Franz war dies gleichgültig. Er hatte viel Geld auf der hohen Kante und einen gut gefüllten Weinkeller, in welchem ihn seine Frau an immer zahlreicher werdenden Tagen antraf. Am letzten dieser Tage trennte sie sich von ihm.
Der Scheidungskrieg, der darauf folgte, wurde in den Medien breitgetreten, und die ‘Taube’ musste Federn lassen. Die Auslastung ging zurück, und bald war das Lokal nicht mehr kostendeckend zu führen. Franz Mierz gab den Kochlöffel ab.

In der Folge versuchte er sich als Betreiber und Koch eines Wirtshauses, doch konnte er an seine früheren Erfolge nicht anknüpfen. In der Wiener Gesellschaft etablierte sich bald der Begriff ‘Mierz schauen’. Man brauchte kein allzu großes Glück, um dabei erfolgreich zu sein.
Oft genug saß Franz an der Bar seines Gasthauses und betrank sich. Selbst wenn das Lokal voll war, war er sein bester Gast.
Die Kritiker stuften ihn nicht herab, sie nahmen ihn vielmehr nicht in ihre Wertungen auf. Es dauerte bloß eineinhalb Jahre, bis er auch das Wirtshaus schließen musste.

Von baldiger Obdachlosigkeit bedroht, wandte er sich an seinen einzigen verbliebenen Freund. Walter Srnek, der Betreiber eines großen Bordells, war auf der Suche nach einem Koch für sein Etablissement und stellte ihn ein.
Rasch hatten die Medien Wind von der Sache bekommen. Ein kleinformatiges Blatt brachte ein Foto der berüchtigten Faschingsgurke auf der Titelseite, und die Internetforen der Zeitungen waren voll von zotigen Kommentaren.
Franz ließ sich nicht dazu herab, Interviews zu geben, also schrieben die Journalisten, was ihnen in den Sinn kam. Von wilden Partys in der Küche war ebenso die Rede wie von einem eigens für ihn einzuführenden Bewertungssystem – Mieder statt Haube und Stern.

Er trank weiter und wurde knapp vor seinem zweiundfünfzigsten Geburtstag entlassen.
Drei Wochen nach der Kündigung setzte sich Franz Mierz in ein Taxi und ließ sich zum Flughafen fahren. Bereits vier Wochen nach dieser Flucht war in den Zeitungen von Buenos Aires von einem europäischen Koch zu lesen, Hans Zierm wurde er genannt, der mit seinen unerhörten Beilagen Furore machte.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen |Inventarnummer: 17008

Heute gab es Taube

Als ich heute Morgen erwachte, ahnte ich, dass dieser Tag ein besonderer werden würde – und ich sollte recht behalten.
Nach dem Aufstehen saß ich in meiner Bleibe und grübelte und haderte mit meinem Schicksal. Ich bin nämlich arbeitslos, ein Umstand, der meiner Ehrlichkeit geschuldet ist.
Als Vorstandsmitglied einer großen Bank hatte ich viele Jahre lang mein Bestes gegeben, um mein Geldhaus ‘auf Kurs zu halten’, so wurde die Tätigkeit des Vorstandes intern bezeichnet. Diese beinhaltete von Einflussnahme auf Politiker über Bestechung bis hin zum Diebstahl alles, was nicht an die Öffentlichkeit dringen darf.

Eines Tages wurde mir das Wissen um diese Machenschaften zu einer derart schweren Bürde, dass ich an die Öffentlichkeit gehen musste – sonst hätte ich mich nie wieder im Spiegel ansehen können. Ich verfasste ein Dossier über die Verbrechen meiner Kollegen, ließ es sämtlichen Tageszeitungen zukommen – und wurde gefeuert.
Ich verlor meine schöne Wohnung, meine Ehefrau ließ sich von mir scheiden, und am Ende stand ich mittellos da. Ich versuchte natürlich, eine Stelle zu finden, doch wusste mein ehemaliger Arbeitgeber dies zu verhindern. Die Drohung, sämtliche Geschäftsbeziehungen zu Unternehmen, die mich einstellen würden, abzubrechen, verfehlte ihre Wirkung nicht, und so kam es, dass alle meine Bewerbungen abgewiesen wurden.

Ab und an kam es vor, dass mir Personalchefs unter vier Augen eröffneten, dass sie meinen Schritt an die Öffentlichkeit nachvollziehen konnten, doch wäre es aufgrund meiner daraus resultierenden Bekanntheit unmöglich, mich zu beschäftigen. Auf der Straße wurde ich von vielen Menschen angesprochen, die mich zu meinem Mut beglückwünschten. Stets bedankte ich mich freundlich lächelnd, doch in mir wuchs die Vermutung, dass diese Leute mich zwar wortreich lobten, insgeheim jedoch verachteten, denn ich hatte es schließlich gewagt, aus dem System auszubrechen, um nicht länger im Geläuf der Lemminge gefangen zu sein.

Ich gelangte zur Erkenntnis, dass die Menschen zwar wünschen, mutiger zu sein, aber fürchten, dass ihnen aus diesem Mut Nachteile erwachsen könnten – also lassen sie es gleich bleiben und delektieren sich lieber am Fall eines Mutigen, der es wenigstens versucht hat.

Jedenfalls, heute besuchte mich der Vorstandsvorsitzende meiner ehemaligen Bank. Ich weiß nicht, woher er erfahren hatte, dass ich mittlerweile nicht mehr in meiner alten Wohnung anzutreffen war. Er stand vor meiner Bleibe und drückte mir hämisch grinsend eine Flasche billigen Wein in die Hand.
„Lass ihn dir schmecken!“, sagte er. „Ich erinnere mich noch gut an deine Einladungen. Dein Perlhuhn war immer ausgezeichnet. Wenn du wieder grillst, trinke diesen Wein.“
Dann ging er mit schnellen Schritten davon.

Ich war zwar verärgert über den Fusel, doch freute ich mich auch ein wenig über das Geschenk, denn Wein zu kaufen ist mir momentan nur sehr selten möglich.
Mein Mitbewohner Ndugu warf begehrliche Blicke auf die Flasche, und ich versprach ihm, sie mit ihm zu leeren. Ndugu ist Chirurg, doch wird seine Ausbildung hierzulande nicht anerkannt, also darf er seiner Berufung, nämlich Menschen zu helfen, nicht nachgehen.
Eines Tages stand er da und eröffnete mir, dass er bleiben würde. Er hätte es satt, aufgrund seiner Hautfarbe angepöbelt und von der Polizei ständig nach Drogen durchsucht zu werden.

Ich bin froh, dass ich einen Mitbewohner habe – zu zweit wohnt man einfach sicherer; und auch angenehmer, wenn man ein ähnliches Schicksal teilt.
Ndugu hatte seine Heimat verlassen müssen, weil er mutig gewesen war. Er hatte gegen die Führung des Landes demonstriert und wäre vor Gericht gestellt und wohl auch hingerichtet worden, hätte er das Land nicht fluchtartig verlassen.

Wir unterhalten uns oft auf Englisch über die verschiedensten Dinge, was uns davor bewahrt, intellektuell abzustumpfen. Ich war der Ansicht, dass er als Arzt nicht für die Jagd geschaffen wäre – doch weit gefehlt!
Heute verließ er unsere Bleibe für etwa eine Stunde und kehrte mit zwei Tauben zurück, die er gefangen hatte. Nachdem er sie gerupft und ausgenommen hatte, wobei ihm eine alte Bierdose gute Dienste leistete, grillte ich die Tauben über einem offenen Feuer. Das Holz dafür fand ich unweit der Brücke, die das Dach über unseren Köpfen bildet.
Die Flasche Wein haben wir gemeinsam ausgetrunken, und nun, da die Nacht kalt zu werden verspricht, werde ich ein paar Zeitungen stehlen, damit wir uns in unseren Kartons wenigstens ein bisschen zudecken können.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen |Inventarnummer: 17006

Gericht

Mein Name ist Michael Timoschek, ich bin dreiundvierzig Jahre alt und ich bin Koch. Allerdings koche ich nicht in der Küche eines gewöhnlichen Wirtshauses, sondern in der eines vielfach ausgezeichneten Restaurants in Wien. Ich verdiene eine Masse Geld, bin dreimal geschieden, davon zweimal glücklich und einmal heilfroh, habe stets genug zu essen, und natürlich auch zu trinken, und besitze eine große Eigentumswohnung.

Ich wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, somit ist es kein Wunder, dass ich ein sehr sparsamer Mensch bin. Wir waren fünf Kinder und hatten kein Geld. Mein Vater arbeitete auf dem Bau und meine Mutter in einer Fabrik, die Ziegelsteine produzierte. Trotz der Not, die wir litten, und trotz des unablässigen Zwanges zu sparen, hatten wir eine schöne Kindheit, in der sich bereits in frühen, ungewöhnlich frühen, wie ich feststellen muss, Jahren das Talent jedes einzelnen Kindes bemerkbar gemacht hatte.

Manfred, der Älteste von uns, hatte bereits im zarten Alter von vier Jahren sein Talent für die unrechtmäßige Verbringung von Gegenständen in seinen Besitz erkennen lassen. Keine Socke, keine Haarspange war vor ihm sicher. In der Pubertät versuchte er es mit Ladendiebstahl. Einmal wurde er ertappt, doch die Sache ging glimpflich, also ohne Strafanzeige, für ihn aus. Daraufhin legte er seine Diebeskarriere vorerst auf Eis, jedoch tat er dies schweren Herzens. Es war ihm in dieser Zeit deutlich anzusehen, dass die Flamme der Diebeslust heiß in ihm loderte. Ich bin froh sagen zu dürfen, dass er diesen Wesenszug in gesellschaftlich akzeptierte Bahnen zu lenken in der Lage war. Heute ist Manfred Parlamentarier.

Daniela, meine älteste Schwester, hatte sich schon immer gut mit den Buben verstanden. Ich erinnere mich noch gut an Hugo, ihren ersten Freund, sie war damals elf Jahre alt. Die beiden hatten eine besondere Art des Versteckspiels erfunden, die als überaus körperbetont bezeichnet werden kann. Daniela hatte einen Tag nach ihrem achtzehnten Geburtstag in der Bar zu verkehren begonnen, die am äußersten Rand unseres Dorfes gelegen war, dort liegt sie übrigens immer noch, und sich im Laufe der Jahre bis zu deren Besitzerin hochgearbeitet, was unseren Eltern bis heute keine Freude bereitet, aber Mädchen sind nun mal Mädchen.

Alois, mein jüngerer Bruder, war in seiner Kindheit ein sehr unauffälliger Junge, was wir, also seine Geschwister, uns nicht erklären konnten. Er hatte stets einen verträumten, leicht sedierten Eindruck erweckt. Eines Tages warf meine Mutter meinem Vater lautstark übermäßigen Alkoholkonsum vor, was dieser ebenso lautstark bestritt. Nun, es fehlten immerhin achtundvierzig Flaschen Schnaps im Keller unseres bescheidenen Eigenheims. Wir legten uns auf die Lauer, und alsbald war Alois als die Schnapsdrossel entlarvt. Unsere Eltern durchsuchten sein Zimmer und fanden etliche leere Flaschen sowie ein recht ansehnliches Stück Haschisch. Wir stellten Alois zur Rede, und es kam heraus, dass er ein Drogenfreak war. Dennoch hat er, trotz seiner Suchtprobleme, seinen Weg gemacht. Er hat Medizin studiert und arbeitet heute als Unfallchirurg.

Julia, meine jüngere Schwester, hatte schon immer eine Inklination zum Nudismus. Bereits in der Volksschule hatte ihre Klassenlehrerin etliche Male bei uns angerufen, um sich zu beklagen, dass Julia nach der Leibeserziehung direkt aus der Dusche in das Klassenzimmer gelaufen war, ohne sich vorher anzuziehen. Nach dem Gymnasium studierte sie an der Kunstuniversität und wurde eine gefeierte Nacktkünstlerin. Sie erfand das ‘One-Minute-Menue’. Dabei liegt sie nackt auf einem Tisch, ein Assistent bedeckt sie mit Feigen und der, natürlich viel Geld zahlende, Kunstliebhaber hat eine Minute Zeit, so viele Feigen wie es ihm möglich ist von ihrem Körper zu naschen. Ein amerikanischer Millionär war so begeistert von Julias Feigengeschmack, dass er sie kurzerhand vor den Traualtar trug. Ich darf erwähnen, dass meine jüngere Schwester bei dieser Gelegenheit bekleidet war.

Unsere Eltern genießen ihren hochverdienten Ruhestand in ihrem Haus, welches wir Kinder haben renovieren lassen. Einen Hund und zwei Laufenten haben wir unseren Eltern auch geschenkt.

Dann bin da noch ich, Michael. Nach dem Gymnasium hatte ich schlicht keine Lust mehr zu lernen, also kam ein Studium für mich nicht infrage. Nach dem Ableisten meines Zivildienstes absolvierte ich eine Lehre zum Koch und begann in einem Gasthaus in Wien zu arbeiten.

Dieses Gasthaus, es hieß ‘Zum fettn Bratl’, war bekannt für seine üppigen Portionen und wurde gerne als Lokalität für Hochzeitstafeln gebucht. Drei Jahre lang lief alles glatt. Der Chefkoch und ich standen in der Küche, eine Kellnerin, und ab und zu auch eine Aushilfskellnerin, servierten, und die Besitzerin des Gasthauses, die die Geliebte des Chefkochs in Personalunion war, kassierte.

Eines Tages trug es sich zu, dass eine Braut, sie hieß Martina, sich bemüßigt fühlte, Kritik an der Dimension ihrer Mahlzeit zu äußern. Sie kam sogar in meine Küche gestürmt, um ihrem Unmut über die angeblich zu große Portion Luft zu machen. Ich stand gerade vor einem großen Schneidebrett und zerlegte ein Spanferkel. Sie fuhr mich an, dass ich sie wohl übergewichtig machen wollte, und dann begann sie zu weinen. Ich nahm sie in den Arm, um sie zu trösten, und bald hatte sie sich wieder beruhigt. Wir unterhielten uns über Kalorien und Cholesterin, als sie plötzlich vor mir niederkniete und meinen Hosenstall öffnete. Ich wollte sie abwehren, doch sie begann einfach, mich zu fellationieren. Ich muss zugeben, das hatte schon was. Nun, ich verspürte den Drang, auch ihr etwas Gutes zu tun, also hob ich sie hoch und setzte sie auf eine lauwarme Herdplatte, um sie ordnungsgemäß durchzunudeln. Ich halte diesen Ausdruck für keineswegs überzogen, schließlich befanden wir uns in einer Küche. Nachdem ich sie ordentlich durchgerührt hatte, setzte sie sich wieder neben ihren frisch Angetrauten an die Tafel. Es hätte für alle ein schöner Abend werden können, wäre nicht die Aushilfskellnerin in die Küche gekommen und hätte sie nicht das Höschen der Braut auf dem Boden vor dem Herd entdeckt. Schnell bückte sie sich, hob das Höschen auf und lief zur Tafel, wo sie es der Braut mit dem Hinweis überreichte, dass diese es dem Koch wohl selbstlos überlassen hätte, damit er sich damit den Schweiß abwischen konnte. Was soll ich sagen, ich war meinen Job los.

Als ich meiner Kurtisanenschwester von diesem Vorfall erzählte, lachte sie schallend und meinte, ich hätte das Richtige getan.

Die Besitzerin des Gasthauses ‘Zum fettn Bratl’ stellte mir dennoch ein hervorragendes Zeugnis aus, und so war es nicht schwer für mich, eine Stelle in einem angesagten Restaurant zu bekommen.

Dieses Restaurant, es hieß ‘Norberts Fine Asian Dining’, hatte sich, wie der Name schon sagt, auf asiatische Küche spezialisiert. Norbert, der Chef, er war auch als Chefkoch tätig, hatte schon an meinem ersten Tag in der Küche keinen guten, soll heißen allzu gesunden Eindruck auf mich gemacht. Und in der Tat, nachdem er mich zwei Wochen lang in die Rudimente der wienerischen Zubereitung asiatischer Speisen eingeführt hatte, verabschiedete er sich für vier Monate in eine Klinik, denn sein äußerst verantwortungsvoller Job, den ich dann übernehmen durfte, hatte ihm ein schlimmes Burnout eingebracht.

Nun war ich der Küchenchef. Asiatisch zu kochen lag mir damals nicht, und es liegt mir auch heute noch nicht. Da ich sozusagen der Chef war, stellte ich kurzerhand die Speisekarte um und änderte darüber hinaus gleich die ganze Linie des Lokals. Ich ließ alle asiatisch aussehenden Einrichtungsgegenstände entfernen und an deren Stelle Sessel und Tische aus bestem Zirbenholz in das Restaurant stellen, dessen Namen ich auch änderte. Aus ‘Norberts Fine Asian Dining’ wurde so ‘Norberts Bratlhaus’. Die Auswahl an Speisen bestand nun aus einer Vielzahl verschiedener Braten, es gab aber auch Schnitzel, Gulasch und Kuttelflecksuppe. Die Gäste rannten mir die Türe ein, alle waren von der Qualität meiner Braten begeistert. Der Zufall wollte es, dass Willibald das Lokal besuchte. Willibald war der Testesser, Chefredakteur und Herausgeber von ‘Willibald aus Tirols Schweinsbratenguide’. Er war hingerissen von der Qualität meines Schweinsbratens und stellte mir eine phänomenale Kritik aus. Irgendwie jedoch hatte Norbert in seinem Psychotempel davon Wind bekommen, dass sein Sojasprossenimbiss zu einem Palast des Bratens mutiert war, was ihm gar nicht schmeckte. Er rief mich mitten in der Nacht an, um mir zu kündigen. Im Hintergrund konnte ich zwei Pfleger hören, die beschwichtigend auf ihn einredeten, jedoch mit wenig Erfolg.

Mit dem Wissen ausgestattet, dass ich das selbe wäre wie die Grundzutat meines berühmten Schweinsbratens, verließ ich Norberts Restaurant.

Dank der überaus guten Kritik in ‘Willibalds Schweinsbratenguide’ kam ich im ersten Haus am Platz unter, und zwar als zweiter Küchenchef, wo ich heute noch immer tätig bin, allerdings als Küchenchef. Es handelt sich um das Restaurant ‘Zur grauen Krähe’ im ersten Wiener Gemeindebezirk, ein über alle Maßen gediegenes Restaurant, sowohl was die Einrichtung als auch die Klientel anlangt. Letztere besteht zu einem großen Teil aus sogenannten Hofratswitwen, deren antiquiertem Geschmack in Form von karierten englischen Kostümen und Perlenketten noch ein Sahnehäubchen aufgesetzt wird.

Nachdem die feinen Damen, nun ja, eher unausgelastet sind, was die Befriedigung eines gewissen und bestimmten Notstandes betrifft, machen sie sich gerne den Spaß, mich an ihre Tische holen zu lassen, um mich dort aus großen Augen hinter dioptrieschweren Brillengläsern zu mustern und mich auf einigermaßen anlassige Art und Weise zu fragen, ob ich beim Braten generell gut wäre. Für gewöhnlich wende ich in derartigen Situationen das probateste Instrument der Hochdiplomatie an, nämlich die Lüge. Ich sage dann, dass mich mein Lebensgefährte bloß aus dem Grund erwählt hat, dass ich so gut braten kann.

Letzte Woche allerdings ging eine dieser Damen eindeutig zu weit. Sie fragte mich direkt heraus, ob ich für fünfhundert Euro die Nacht mir ihr verbringen würde. Als ich sie über die Tatsache in Kenntnis setzte, dass für die Erfüllung ihres Begehrens selbst fünfhunderttausend Euro eine bei Weitem zu geringe Summe wären, stand sie entrüstet auf und verließ das Restaurant. Tags darauf saß sie wieder an ihrem angestammten Tisch und ließ mich, noch bevor sie bestellt hatte, an diesen kommen. Sie orderte bei mir persönlich ein Hauptgericht, das alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen sollte. Ich lief in meine Küche und bereitete ein Hauptgericht zu, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte. In die Mitte des Tellers legte ich ein Frankfurter Würstchen, dessen oberes Fünftel ich gehäutet und dessen Spitze ich eingekerbt hatte. Vor die Kerbe goss ich ein wenig schmackhafte Sauce Hollandaise. Am anderen Ende der Wurst platzierte ich links und rechts je einen Grießknödel, welche ich mit in Butter karamellisierten hauchdünnen Zwiebelstiften so bedeckte, dass der Eindruck des Wildwuchses entstehen konnte. Diesen Teller brachte ich höchstselbst an den Tisch der Dame. Diese erschrak und wollte meiner Aufforderung, die Wurst doch ohne Scheu anzufassen und die Sauce zu kosten, keineswegs folgen. Vielmehr sprang sie auf, verabreichte mir eine Ohrfeige und verließ das Restaurant mit dem Versprechen, es nie wieder zu betreten. Ich ging zurück in meine Küche und lachte, bis mir die Tränen über die Wangen liefen.

Michael Timoschek

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