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Bamboo

Was hat die Schlacht bei Mogersdorf mit Bambus zu tun, könnte man fragen. So direkt gesehen – eigentlich nichts. Und doch – ich werde versuchen, ob ich nicht doch eine gewisse Chronologie in die ganze Sache bringen kann.

Man schrieb das Jahr, nicht 1664, nein, sondern 2008, als ein lieber Freund auf Drängen seiner geliebten Gattin, der besten Ehefrau von allen (dieser Begriff dürfte von Ephraim Kishon rechtlich geschützt sein, aber mein Freund verwendete ihn trotzdem, es könnte doch durchaus sein, dass es mehrere beste Ehefrauen von allen gab) sich dazu überreden ließ, einen Tagesausflug nach St. Gotthard, genauer gesagt nach Szentgotthárd in Ungarn, einer Kleinstadt mit etwa 9000 Einwohnern, nahe dem burgenländischen Mogersdorf zu unternehmen.
Der liebe gute Freund willigte also ein, und so fuhren die beiden in diesen für sie bis dato völlig unbekannten Ort, dessen Geschichte überdies äußerst bemerkenswert ist. Warum? Nun, weil in dieser Gegend eine der berühmtesten Schlachten zwischen Orient und Okzident ausgetragen worden ist, nämlich die Schlacht bei Szentgotthárd, die nach individueller neuerer Geschichtsschreibung eigentlich stets die Schlacht bei Mogersdorf genannt wurde. Und dieses Mogersdorf liegt nun einmal im heutigen Burgenland.

Warum jedoch diese Uneinigkeit wegen einer Schlacht, könnte man nun wiederum fragen? Das kommt daher, weil 1664 offensichtlich Mogersdorf der Mittelpunkt dieses Gemetzels zwischen Muselmanen und Christen gewesen sein soll. Irgendwann hat man dann den Ort der Schlacht von ursprünglich Szentgotthárd Mogersdorf zugeschrieben, um dort ungestört eine eigene Gedenkstätte errichten zu können, so wie es bei uns ja auch nichts Besonderes ist, dass manche Bundesländer sogar ihren Schutzheiligen auswechseln, wenn sie seiner überdrüssig geworden sind.

Außerhalb Österreichs ist die Auseinandersetzung von 1664 immer noch als Schlacht von St. Gotthard bekannt, was den Eindruck verstärkt, dass der Erinnerung an sie, vor allem im Burgenland, vermehrt identitätsstiftende Wirkung zukommen sollte.
Aber darum geht’s eigentlich gar nicht in dieser Geschichte. Es geht vielmehr darum, dass mein lieber Freund und dessen Gattin nach Besichtigung des Ortes und dessen ebensoberühmter und schönster Barockkirche Ungarns, die wegen ihrer hervorragenden Akustik ein idealer Platz für Orgelkonzerte ist, unter anderem auch eine Gärtnerei entdeckt hatten.

Nachdem sie die zahlreichen Pflänzchen und Bäumchen und Sträuchlein gebührend bewundert hatten, wurden sie im hintersten Winkel des Glashauses eines Stöckchens mit: jö, ein Bambus!, genau, eines Bambus‘, in der Größenordnung eines Bonsai gewahr, aus dem drei, vier blassgrüne Hälmchen in etwas trockener Erde ihr trauriges Dasein in einem winzigen Tongeschirr fristeten.
Diesen am Fensterbrett in der Stadtwohnung zu hegen und zu pflegen durfte nicht viel Arbeit in Anspruch nehmen, überlegten die beiden und kauften das arme Ding für ein paar Forint, in der Absicht, ihm daheim ein besseres Leben als hier bieten zu wollen. So weit, so gut.

Wäre da nicht auch noch das Wochenendhaus meiner lieben Freunde gewesen, mit einem wunderschönen wilden Garten und einer ebenso wilden Terrasse, von wo aus man die ganze Wildheit seiner Natur von einem wackeligen Kaffeetischchen aus gut überblicken konnte. So weit, so gut.
Der Bonsai durfte sozusagen vom Schoß der Hausherrin aus also gleich einmal diesen Blick ausreichend genießen, sobald man hier angekommen war und den obligaten Kaffee genommen hatte. Wer von den beiden hätte gedacht, dass das der Moment einer folgenschweren Entscheidung war? Ob man das arme Ding, die Rede war vom Bonsai, nicht am oberen Ende des Gartens einfach in die Erde setzen wolle, vielleicht erholte er sich dort oben schneller, und wenn aus ihm ein richtiger Bambus geworden war, könne man ihn ja immer noch in einen größeren Topf umsetzen und dann mit in die Stadt nehmen.

Gesagt getan. Der Bonsai kriegte einen Ehrenplatz inmitten von Flieder und Pfingstrosen, zwischen Trauerweide und Apfelbaum. Was wollte er mehr? Aber er wollte mehr. Schon nach einem knappen Jahr hatte er mindestens zwanzig süße kleine grüne Triebe rund um sich verteilt geboren und mein lieber guter Freund und dessen teuerste Gattin hatten ihre große Freude an dem vermehrungsfreudigen Gesträuch. Und da er demnach in der Genesungsphase war, einer Art Pflanzenrehab, ließ man ihn in Ruhe und ihn und seinen Trieben selbständig überlassen.

Ein weiteres Jahr verging. Mein lieber Freund hatte beim wöchentlichen Rasenmähen zwar bereits bemerkt, dass er rund um den Bonsai so manch einen seiner triebhaften Auswüchse mitmähte und sich herzlich wenig darum gekümmert, wie viele neue Triebe dabei gewesen waren. Doch langsam wurde er stutzig, als er diese zu zählen begann und auf die Zahl fünfundsechzig kam. Er überlegte, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugehen konnte.
Also sagte er zur besten Ehefrau von allen, du Hasi, ich glaub, man muss unseren kleinen Bambus da oben ein wenig in die Schranken weisen, denn der glaubt, dass ihm der Garten hier allein gehört.
Mach nur, sagte die Hasi, und daraufhin begann mein lieber guter Freund, einen im Radius etwa zwei Meter großen Kreis um den Bambus zu mähen.
So, sagte er zufrieden, als er sein Werk betrachtete, und von nun an bist du hier eingezäunt und hast dich nicht über die Demarkationslinie zu bewegen. Was er aber nicht wusste, war, dass sich der Bonsai herzlich ins Wurzelchen lachte und dachte, mein lieber Guter, du kannst mich mal, denn ich wachse dorthin, wohin es mir passt, und damit Schluss!

Wieder war ein Jahr vergangen. Der störrische Bonsai hatte die gedachte und sinnvoll gemähte Linie bereits zum hundertsten Mal übertreten und mein lieber guter Freund kam gar nicht mehr nach, dessen ausufernde Triebe abzumähen und umzuschneiden.
So, aber irgendwann reicht’s, hatte er zu seiner Hasi gesagt, nämlich jetzt! Was meinst du? Der Kerl schert sich einen Dreck um die Grenzen, die ich ihm gesetzt habe. Und das bedeutet Krieg!
Naja, wenn du meinst, antwortete die beste Ehefrau von allen, tu halt was, aber tu ihm nix!

Und mein lieber Freund tat etwas. Also holte er Krampen und Spitzhacke und begann, einen dieser Triebe bis hin zum Wurzelstock auszugraben. Unglaublich, aber er legte eine sieben Meter lange und fingerdicke Wurzel frei, die sich wie ein Tentakel, gleich einer Riesenkrake, ziemlich knapp unter der Rasenoberfläche dahingeschlängelt hatte und am Ende mit ihrem borstigen Pinsel hämisch „sprießend“ aus dem Rasen ragte.
Das ist ein Rhizom, hatte ihn der Nachbar belehrt und argwöhnisch über den Zaun geblickt.
Mein lieber guter Freund hatte damals nicht verstanden, was diesen denn sein Bonsai anginge. Aber er kriegte bald heraus, warum jener so skeptisch auf das Unkraut geäugt hatte, dann nämlich, als er bemerkte, wie munter sich Bonsais Triebchen frech unter dem Zaun hindurchgegraben hatten und sich in Nachbars Garten an der warmen Frühlingssonne erfreuten.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt war meinem lieben guten Freund klar geworden, man musste Schluss machen mit seinem Kommando! Schluss machen, wiederholte er, wie Captain Willard in Apokalypse Now, mit dem Kommando des im Dschungel von Vietnam verrückt gewordenen Colonels Walter E. Kurtz.
Mein lieber guter Freund fasste also den offiziellen Entschluss, den abtrünnigen Bonsai zu liquidieren. Dieser hatte sich von der guten Absicht, ihm optisch das Leben zu verschönen, völlig distanziert und ließ sich nun nicht mehr kontrollieren. Im Dschungel des im Gartenkrieg bisher neutralen Nachbarlandes hatte er sich ein eigenes „Reich“ aus desertierten Rhizomen aufgebaut, über das er nun vereinnahmend und gebieterisch herrschte.

An Ausgraben und in einem Blumentopf mit in die Stadt nehmen war von jetzt an nicht mehr zu denken. Es gab nur eine Lösung, vorerst einen Graben drumherum anlegen und die Auswüchse dort abfangen, wo sie aus dem Boden schossen. Das war Plan A. Sobald die Fangarme diesen überragen würden, konnte man sie bequem kappen, dachte mein lieber guter Freund.
Plan B sah vor, alle Triebe, die über die gegrabene Rinne wucherten, in Bodenniveau abzuschneiden, und zu warten, bis sich neue Triebe bildeten. Dann käme Agent Orange zum Einsatz, oder noch besser – Napalm! Nein, dann also irgendein Pflanzenvernichtungsmittel, ehe es noch verboten würde. Im Schuppen würde sich so etwas ja wohl finden lassen, dachte er. Auch würde er die neuen Triebe außerhalb des Grabens mit dem Spaten durchtrennen und die kleineren Wurzelstöcke zerteilen.

Aber zuvor musste man alle sternförmig ausgehenden Triebe im Boden ausgraben. Keine leichte Arbeit. Mein lieber guter Freund grub und grub und zerrte und zog und fluchte, bis ihm der Schweiß in Strömen übers Gesicht rann. Ich krieg dich, keuchte er dabei völlig außer Atem, und wenn du dich bis in den Nachbarort vermehrst. Ich mach dir den Garaus! Ich werde dich an den Wurzeln packen und dich ausreißen, du Aas, schrie er vor Zorn und hieb mit dem Krampen wie besessen auf die Stellen im Boden ein, unter denen er weitere Verzweigungen seiner krakenarmähnlichen Fangarme mit diesen widerlichen Büscheln an ihren Enden, an denen nur noch die Augen fehlten, um sie zu einem tierischen Monster werden zu lassen, vermutete.
Da! Und da! Ich werd’s dir geben! Und nimm diesen! Und ich geb dir den Rest! Dieses Spiel trieb er so lange, bis er atemlos zusammenbrach.

Völlig erschöpft fand ihn die beste Ehefrau von allen nach Stunden auf dem Rücken liegend und nach Luft japsend im oberen Teil des Gartens. Wasser, stöhnte er, indem er den Kopf geschwächt ein wenig hob, um ihn danach wie leblos ins Gras sinken zu lassen. Die beste Ehefrau von allen wusste zunächst nicht, was sie tun sollte. Wasser, oder gleich die Ambulanz holen. Sie entschied sich für die Ambulanz. Zwanzig Minuten später war das Tatütata des Notarztwagens zu hören. Die Wagenbesatzung stürmte den Garten hinauf und erreichte in Sekundenschnelle das bewusstlose Opfer.
Der Sanitätsarzt kniete nieder, fühlte den Puls, legte das Blutdruckgerät an und hieß den Sanitäter, eine Kanüle in die Vene des linken Unterarms zu setzen. Flugs hing eine Infusionsflasche dran, als gleichzeitig auch schon das Knattern des Rettungshubschraubers zu hören war.

Der Helikopter kreiste zunächst unschlüssig über dem Hause und suchte nach einem geeigneten Landeplatz, wie ein großer Vogel, der nach seiner Beute Ausschau hielt. Die Beute sollte mein lieber guter Freund sein, der im Koma lag. Schließlich setzte er sich behutsam wie eine Krähe auf die benachbarte Wiese. Die Besatzung wartete auf weitere Befehle des Rettungskommandos.
Doch da erhob sich der Arzt schwerfällig aus seiner Hocke, winkte hinüber und rief dem Piloten zu, zu spät! Es ist zu spät. Da ist nichts zu machen, sagte er resignierend und entfernte die diversen Instrumente, um sie bedächtig wieder in seiner Tasche zu verstauen. Er zog die Kanüle aus dem Arm meines Freundes und reichte sie seiner Gattin, sie möge sie entsorgen und fügte ein leises „mein Beileid“ dran. Die beste Ehefrau von allen heulte und rang die Hände. Sie stürzte über ihren toten Gatten und küsste seine heißen Wangen. Die Umstehenden wichen betroffen zurück.

Nein! Also so geht das wirklich nicht. Nein nein! Zurück! Alles zurück! Noch einmal. Das Ganze von vorn. Wo kommen wir denn da hin, bei so einem Ende? Wie soll denn das weitergehen? Jetzt aber: … und hieb mit dem Krampen wie besessen auf die Stellen im Boden ein, unter denen er weitere Verzweigungen seiner krakenarmähnlichen Fangarme mit diesen widerlichen Büscheln an ihren Enden, an denen nur Augen fehlten … und so weiter. Aber da kam ihm plötzlich eine Idee. Er ließ das Werkzeug fallen und eilte zum Haus hinunter, um zu telefonieren.

Monate vergingen. Mein lieber guter Freund und dessen Gattin, die beste Ehefrau von allen, lagen, sonnenbeschienen, behaglich in ihren Luxusteakholzliegestühlen in ihrem Garten, von denen aus sie bequem all die putzigen Pandabären beobachten konnten, die sich in den Ästen der alten Apfel- und Kirschbäume vergnügten. Manch einer von ihnen kletterte gar die hohe Trauerweide hinauf, deren Äste oft schon brüchig geworden waren. Aus schlanken Gläsern schlürften meine beiden Freunde kühle Drinks über lange Strohhalme.
Ab und zu kletterte einer der Bären herunter und labte sich an den sattgrünen Blättern des üppigen Bambuswaldes, der mittlerweile mehr als die Hälfte des Grundstückes für sich vereinnahmt hatte. In Fünfminutenabständen kamen Besucher, warfen Zwei-Euro-Münzen in einen dafür vorgesehen Karton und bestaunten dieses außergewöhnliche Schauspiel, um, nach Ablauf der Betrachtungsfrist, anderen Zaungästen Platz zu machen, denn so groß war der Garten nun wiederum auch nicht. Mein lieber guter Freund und seine Gattin lächelten sich gelangweilt an, nickten sich gegenseitig wohlwollend zu und genossen ihr neues unternehmerisches Dasein in vollen Zügen, wie jeder, der die Situation beurteilen wollte, unschwer festzustellen vermochte.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 16076

Beginning

(inspired by Criminal Minds)

„Der Pittsburg-Fall ist abgeschlossen. Die Gruppe fliegt gleich weiter zum nächsten Fall. Sie sind morgen um acht Uhr früh dort“, erklärte Garcia. Donia blickte auf die Uhr an der Wand, es war zehn Uhr abends.
„Wir haben heute 14 Stunden durchgearbeitet. Du kannst nach Hause gehen und schlafen. Die Verschlüsselungsprogramme laufen von alleine. Ich mache alles fertig und lege mich dann im Bereitschaftszimmer aufs Ohr“, schlug Donia vor und nahm einen Schluck Kaffee.
„Normalerweise mache ich immer alles fertig. Aber …“ – sie gähnte – „die letzten Tage waren heftig. Meine Augen brennen und mein Kopf explodiert bald“, stellte Garcia fest und sah Donia an. Die lächelte und prostete ihr mit der Kaffeetasse zu.
„Na dann … Du gehst nach Hause und ich erledige alles. Glaub mir, ich schaff das schon“, beruhigte Donia ihre Kollegin. Garcia grinste und klopfte Donia mit der Hand aufs Knie. „Weiß ich doch. Danke, Süße“, antwortete sie, stand auf und schnappte sie ihre Tasche. Dann deutete sie eine Verbeugung an.
„Ich bin eine Wolke. Gute Nacht. Ich bin um sieben wieder hier“, erklärte Garcia müde und ging. Donia legte die Füße auf den Tisch und sah den Buchstaben und Zahlen auf den Monitoren zu, wie sie langsam von oben nach unten prasselten.

Recht bald starrte Donia ins Leere, das Verschlüsselungsprogramm verfrachtete sie in einen Trancezustand. Sie musste an Sonntagnachmittag denken. Es war ein sommerlicher Tag, und sie hatte es sich an einem der kleinen Seen in der Stadt mit einer Decke gemütlich gemacht.
Triangle war nur einen Steinwurf vom Büro entfernt, sie fuhr mit dem Rad zur BAU. Das kleine Apartment, das sie gefunden hatte, war ein Glücksgriff. Sowohl von der Lage als auch vom Preis. Es gefiel ihr hier.
Sie hatte ihr Buch zur Seite gelegt, lag mit geschlossenen Augen auf der Decke und ließ die warmen Sonnenstrahlen ihre Haut erwärmen. Mit tiefen Atemzügen genoss sie den Duft der umliegenden Bäume und der Blumen, die auf der Wiese wuchsen. Kindergeschrei und das Gelächter der Eltern vernahm sie nur leise.

Dann registrierte sie Schritte im Gras und die Anwesenheit einer Person, die sich aber nicht bemerkbar machte. Donia blieb ruhig und wartete ab. Die Person stellte sich in die Sonne, sodass Donias Gesicht im Schatten lag. Dann hörte sie ein Räuspern.
„Was treibt dich in meine Gegend, Reid?“, fragte sie und öffnete die Augen. Vor ihr stand Spencer Reid. In den letzten Wochen hatte sie ihn und die anderen näher kennengelernt. Sie war fasziniert von seinem Wissen und seiner Intelligenz. Diese Eigenschaften machten ihn für sie anziehend.
„Ich war mit Agent Griffin unterwegs, Andy wohnt gleich da hinten“, deutete Reid kurz hinter sich. „Ich war mir nicht sicher, ob ich dich richtig erkannt habe“, sprach er weiter und sah Donia an. Er mochte sie. Sie hatte sich in die Gruppe eingeordnet und ihren Platz gefunden. Sie war intelligent und hatte eine schnelle Auffassungsgabe.
Ihre Aufgaben erledigte sie mit hoher Präzision. Und sie war hübsch. Hatte tiefgründige, grüne Augen und ein süßes Lächeln.

„Dr. Reid, du bist nicht durchsichtig. Geh mir aus der Sonne und setz dich her“, schlug Donia lachend vor. Er setzte sich zu ihr und beobachtete sie, während sie sich aufsetzte und ihm Platz machte. Sie trug ein Neckholder-Top und eine kurze Jeans. Ihre Muskeln bewegten sich unter ihrer gleichmäßig gebräunten Haut. Im Büro trug sie stets eine lange Hose, Bluse und/oder Blazer. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, schon längere Zeit.
Er erkannte ein Tattoo unterhalb ihres rechten Knöchels. Zwei chinesische Schriftzeichen. „Was bedeutet das?“, fragte er und deutete mit dem Kopf auf das Tattoo. Donia strich zärtlich darüber. „Die Zeichen stehen für Gottesgeschenk. Donia bedeutet so viel wie die von Gott Geschenkte“, erklärte sie.
„Du bist gläubig?“, hakte Reid nach. Donia schüttelte den Kopf. „Nicht im herkömmlichen Sinn. Ich glaube nicht, dass ein alter Mann mit Rauschebart die Erde in sechs Tagen erschaffen hat. Ich gehe nicht in die Kirche. Ich glaube, dass es Dinge gibt, die man durch Logik und Wissenschaft nicht erklären kann. Zwischenmenschliches, das Wesen des Menschen. Eine spirituelle Ebene, schwer zu beschreiben. Andere beschreiben das mit dem Wort Gott.“

„Warum haben dich deine Eltern Donia genannt?“ Reid war wie ein kleines Kind. Wenn er etwas wissen wollte, fragte er einfach. Sie fand das amüsant und sah ihn an. „Wird das hier jetzt ein Verhör?“, grinste sie. „Überhaupt nicht. Ich wollte nicht …“, begann Reid sofort und hob entschuldigend die Hand. Donia winkte ab.
„Schon OK. Die Schwangerschaft war nicht einfach. Phasenweise war nicht klar, ob wir beide es überleben würden. Ich kam sechs Wochen zu früh auf die Welt. Anfangs schwach, aber ich hab’s überlebt. Und meine Mutter auch“, schloss sie ihren Monolog und nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche.

Reid hörte ihr gerne zu. Ihre Stimme hatte eine angenehme Tonlage. Auch Donia gefiel jedes Gespräch mit Reid, sie freute sich, dass er sich für andere interessierte. Dass er sich für sie interessierte. Donia strich ihre langen braunen Haare aus dem Gesicht und wickelte sie in einen lockeren Zopf.
Sie saßen sich gegenüber, sahen sich aber nicht in die Augen. „Das ist schön“, sagte Reid leise. Er blickte umher und spielte mit seinen Fingerspitzen an dem Flaschenverschluss herum. Er war nervös. Das hatte Donia durch die Handbewegung erraten. Es gefiel ihr, sie war es nämlich auch. Sie mochte ihn. Seine Ausstrahlung hatte sie eingenommen, obwohl er rein äußerlich keiner ihrer bisherigen Männerbekanntschaften entsprach.
Donia beschloss, die Initiative zu ergreifen. Sie beugte sich leicht vor und stützte ihre Hände an ihrer Wasserflasche ab. „Du bist nervös, kann das sein?“, fragte sie leise. Ein leichtes Lächeln umspielte ihren Mund. Er sah sie an und runzelte kurz die Stirn. „Wir profilen uns nicht in der Gruppe“, meinte er trocken und hörte auf, mit dem Flaschenverschluss zu spielen. „Ich frage dich ja. Also?“, blieb Donia hartnäckig.
Er beugte sich nun ebenfalls vor und sah ihr in die Augen. „Scheinbar nicht nervöser als du. Stimmt’s?“, grinste er und hob die Augenbrauen. Donia brach den Augenkontakt ab und schloss die Augen. Ihr Blinzeln hatte sie wieder verraten. Sie fingen beide an zu lachen. „Warum bist du nervös?“, fragte er und sah sie wieder an.
Donia seufzte. „Weil ich gerade mit dir hier sitze. Alleine“, sagte sie leise und sah ihn an. „Warum, was heißt gerade mit mir?“, hakte er nach. Sie schüttelte den Kopf und lachte leise. „Spencer Reid, du bist ein Genie der Wissenschaften, aber ein Kleinkind in Sozialverhalten.“
„Hey, ich bin aufgeschlossen. Erklär es mir. Ich lerne immer wieder gerne dazu“, sagte er charmant. Eine zarte Röte erschien auf ihren Wangen. Sie kicherte schüchtern. Dann räusperte sie sich und sah ihn wieder an. „Ich mag dich. Und ich fände es schön, wenn wir uns besser kennenlernen würden“, sagte sie tapfer.

Reid mochte ihre direkte Art. Er konnte ihr ansehen, dass es sie Überwindung gekostet hatte, es laut auszusprechen. Ihre Wangen waren immer noch gerötet, ihre Augen blinzelten im Sekundentakt. Ein angenehmes, warmes Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit. Dieses Gefühl hatte er noch nicht oft erlebt. Aber er wusste, was sich daraus entwickeln konnte.
Er nahm seinen ganzen Mut zusammen. Im Umgang mit Frauen war er nicht sehr erfahren. Aber wenn sie ihm schon offenbart hatte, dass sie ihn mochte, konnte er nicht falsch liegen. Er stützte sich mit einer Hand neben Donia ab und kam langsam näher. Gleichzeitig griff er mit der anderen Hand nach ihrem Gesicht und streichelte zärtlich ihre Wange.
Donia stockte der Atem. Sie spürte seine warme Hand an ihrem Gesicht. Es fühlte sich gut an. Je näher er kam, desto mehr verlor sich Donia in seinen dunkelbraunen Augen. Wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht hielt er inne. Er konnte ihre Anspannung spüren, ihm ging es nicht anders. „Kennenlernen ist eine tolle Idee“, murmelte er und lächelte leicht.
Sie lächelte ebenfalls kurz, dann kam sie ihm die letzten Zentimeter entgegen. Sie schloss die Augen. Ihre Lippen trafen sich für einen Sekundenbruchteil. Sie konnte die Wärme seines Körpers erahnen und schmiegte sich in seine Hand, die immer noch ihre Wange streichelte.
Er konnte spüren, wie sie durch die Nase ausatmete. Der Luftzug ihres warmen Atems streifte seine Wange und ließ ihm einen wohltuenden Schauer über den Rücken laufen. Reid küsste sie nochmal, diesmal länger. Er genoss ihre zarten Lippen, die leicht nach Beeren schmeckten. Donia hatte einen Arm um seine Schulter gelegt und fuhr zärtlich über seinen Hinterkopf.
Sie trennten sich mit einem Lächeln voneinander. „Eine ganz tolle Idee“, sagte Donia. „Morgen? Abendessen? 8 Uhr?“, fragte Reid und wartete auf eine Antwort. Donia blinzelte kurz und räusperte sich. „Äh … ja … klar … gerne“, stammelte sie vor sich hin.

Zu dem Abendessen war es aber nicht gekommen, Sonntagabend war der Pittsburgh-Fall angelaufen, dessen Unterlagen gerade über Donias Monitor liefen. Seit dem Briefing zum Fall hatte sie Reid nicht mehr gesehen.
Es war eine seltsame Situation, ihre Beziehung vor den anderen zu verbergen. Wobei, von Beziehung konnte keine Rede sein. Aber es war etwas zwischen ihnen, das sie beide herausfinden mussten. Ob mehr dahinter steckte als ein Kuss und vielleicht noch ein Abendessen.
Donia setzte sich wieder normal hin. Die letzten Datensätze waren gleich abgelegt, dann konnte sie sich auch noch hinlegen. Doch das Timing meinte es anders. Hotchner rief an. Donia setzte das Headset auf und stellte die Verbindung inklusive Webcam her.

„Einen wunderschönen guten Abend, Chief“, sagte sie freundlich und bereitete auf Garcias Rechner ein paar Eingabemasken vor. „Hallo Donia, du bist auf laut geschaltet. Wir sitzen im Flieger und gehen gerade die neue Fallakte durch. Kannst du uns noch Input liefern?“, sagte Hotchner. Sie sah auf dem Webcam-Fenster Hotchner, Rossi und JJ. Sie sahen alle müde aus.
„Bereit, wenn ihr es seid“, grinste Donia in die Webcam. „Ich habe mich aber in den Fall noch nicht einlesen können“, gab Donia zu bedenken und wartete auf Instruktionen. „Kein Problem. JJ, zähl kurz die Fakten auf, bitte“, meinte Hotchner und nahm einen Schluck Kaffee.
JJ las aus der Akte vor. „Frauenleiche. Gefunden vor zwei Tagen, im Sheyenne National Grassland, North Dakota. Tod durch Erwürgen, vermutlicher Todeszeitpunkt 2. Juni.“ Donia hob überrascht die Augenbrauen, sie kam aus North Dakota. Während sie die Parameter in die Suchmaske eintrug, sang sie leise „North Dakota, North Dakota, in our hearts forever long“.
„Wie war das?“, fragte JJ irritiert nach. „Das waren die letzten Zeilen aus der Landeshymne von North Dakota. Ich bin dort aufgewachsen. Heimvorteil“, erklärte Donia grinsend. JJ lächelte in die Kamera und nickte. Im Hintergrund hörte Donia plötzlich Morgan. „Ich verstehe immer noch nicht, warum wir dorthin müssen. Es handelt sich um eine einzelne Leiche, keine Serie“, war sein gerechtfertigter Einwand.
„Wisconsin und Ohio meldeten ähnliche Mordfälle in den letzten Monaten. Ebenfalls erwürgte Frauen. Daher müssen wir davon ausgehen, dass es sich hier um einen beginnenden Serienmörder handeln könnte“, klärte Hotchner die Runde auf. „Was haben diese Bundesstaaten gemeinsam?“, fragte Rossi.
„Den North Country Trail“, antworteten Donia und Reid gleichzeitig auf die Frage. Donia sah überrascht auf das Übertragungsbild, aber Reid war nicht zu sehen. Rossi sah zuerst in die Webcam, und dann dahinter. „Na Reid, macht dir da etwa jemand deine Genialität streitig?“, meinte er süffisant.
„Das ist bei mir nur der geografische Vorteil“, sagte Donia schnell. Reid hielt den Augenkontakt mit Rossi im Flugzeug und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Es reizte ihn, zu JJ und den anderen zu gehen und Donia über die Webcam zu sehen. Aber er hielt sich zurück. Stattdessen zuckte er nur mit den Schultern und las weiter in seinem Tablet. „Dann hast du vielleicht Insiderwissen, mit dem Reid nicht mithalten kann. Was weißt du noch, Donia?“, fragte Hotchner sachlich nach.
„Dieser Fernwanderweg verläuft unter anderem durch die drei genannten Bundesstaaten. Wenn die anderen Fundorte mit Abschnitten des Trails übereinstimmen, können wir annehmen, dass der Täter sich an diesen Wanderweg hält. Ich suche mal in den anderen Bundesstaaten, ob es ähnliche Leichenfunde gibt.“

Kurze Zeit später erschienen ein paar Ergebnisse auf ihrem Monitor. „Bingo“, rief Donia und sah kurz zur Webcam. „In allen Bundesstaaten des North Country Trails gab es in den letzten Wochen ungeklärte Mordfälle. Alle entlang des Trails. Der erste war in New York Anfang März. Ich schicke euch gleich die Daten“, sagte Donia konzentriert und tippte eifrig in die Tasten.
Nachdem die Datenübermittlung abgeschlossen war, wartete sie auf weitere Überlegungen des Teams. Irgendwie fand sie es schade, dass sich Reid nicht blicken ließ. Andererseits war es besser, dann konnte sie sich konzentrieren.
Sie hatte bereits einen weiteren Fakt aus den Daten herauslesen können, wartete aber noch damit, ihn den anderen zu berichten. Die Leitung war kurz ruhig, als sich das Team die übermittelten Daten durchlas.

„Warum denkst du, dass die Fälle zusammenhängen?“, fragte Rossi bei Donia nach. Sie räusperte sich. „Start in New York. Frau. Erwürgt. Zwei Wochen später: Pennsylvania. Mann. Erstochen. Zwei Wochen später: Ohio. Frau. Erwürgt. Zwei Wochen später: Michigan. Mann. Erstochen. Das geht dann noch so weiter. Wisconsin, Minnesota, North Dakota. Immer derselbe Rhythmus. Immer entlang des Trails. Das ist dieselbe Person.“
Rossi nickte bestätigend und las weiter in den Akten. „Was hat es mit dem Rhythmus auf sich?“, fragte Morgan laut. Donia hatte wieder eine Vermutung, wollte jedoch den anderen auch die Möglichkeit lassen, ihre Überlegungen einzubringen.
„Die Mondphasen“, antwortete Reid sofort auf die Frage. Donia musste lächeln. Wer, wenn nicht er. „Die Frauen werden bei Vollmond getötet, die Männer bei Neumond“, erklärte Reid. Donia nickte in die Webcam. „Das ist korrekt. Die pathologischen Befunde grenzen die Todeszeitpunkte auf die Zeiten rund um Voll- und Neumond ein“, bestätigte sie Reids Aussage.
Rossi sah wieder in die Webcam und anschließend direkt zu Reid. „Ihr zwei seid ja schon sehr gut eingespielt. Schön langsam komme ich mir ziemlich unnötig vor“, stellte er zynisch fest. Allgemeines Gelächter war die Antwort. Auch Donia musste lachen und war froh, dass ihre Gesichtsfarbe diesmal im Normbereich blieb.

„Kann ich sonst noch was tun?“, fragte sie in die Kamera. Hotchner schüttelte den Kopf. „Nein. Danke, Donia. Wir melden uns dann morgen früh, wenn wir das Briefing im Büro vor Ort hatten. Gute Nacht“, sagte er ruhig und nickte in die Kamera, bevor er das Gespräch beendete.
Donia speicherte noch einige Suchergebnisse von Optionen, die ihr einfielen. Anschließend ging sie in den Bereitschaftsraum. Ihre Tasche stand noch von gestern Abend hier, eine Garnitur Frischwäsche hatte sie noch dabei. Sie schmiss sich auf das Bett und schloss die Augen. Jetzt überkam sie ebenfalls die Müdigkeit.

Reid ging durch die Reihen des Flugzeuges. Alle seine Kollegen schliefen oder hatten Kopfhörer auf. Sie waren jetzt seit knapp drei Stunden unterwegs. Er konnte nicht schlafen. Donia ging ihm nicht aus dem Kopf. Er beschloss, sich in die hinterste Ecke des Jets zu setzen, um sie anzurufen.
Das Vibrieren ihres Smartphones weckte Donia wieder auf. Sie blinzelte auf das Display. Es war Reid. Überrascht hob sie ab. „Hi. Was brauchst du?“, fragte sie murmelnd und setzte sich auf. Ihre verschlafene Stimme bewirkte bei Reid einen kurzen Atemaussetzer. In seinen Gedanken lag er neben ihr und hielt sie fest. Er dachte an ihre weiche Haut, die er vor ein paar Tagen bei ihrem ersten Kuss berühren durfte.
„Nichts Dienstliches“, flüsterte er und beobachtete weiter die anderen im Flieger. Aber es war alles ruhig. „Sondern?“, fragte Donia nach. Sie war irritiert. „Alles OK?“ „Denke schon“, erwiderte Reid. „Ich habe dich aufgeweckt, stimmt‘s?“ Seine Stimme klang bedauernd. „Ja. Aber ich werde es überleben. Ganz bestimmt“, neckte Donia ihn und lächelte.
„Das hoffe ich. Unser Abendessen ist noch ausständig“, meinte er leise und sah aus dem Fenster. Das Flugzeug war gerade irgendwo über Iowa. „Das habe ich nicht vergessen“, entgegnete Donia leise und legte sich wieder hin. „Und ich freue mich nach wie vor darauf. Sehr sogar“, sagte sie leise und sah an die Zimmerdecke.
„Ich mich auch“, antwortete er. In den Augenwinkeln bemerkte er, wie Rossi aufstand und in seine Richtung kam. „Ich muss aufhören“, sagte er rasch und setzte sich gerade hin. „Es war schön, deine Stimme zu hören. Gute Nacht, Spencer“, flüsterte Donia und beendete das Gespräch. Sie legte das Smartphone auf den Tisch und schloss wieder die Augen. Sofort überkam sie wieder der Schlaf, der sie von einem wunderschönen, romantischen Abendessen träumen ließ.

Reid hatte sein Smartphone noch in der Hand und beobachtete Rossi, der ihm entgegenkam. Er lächelte ihm höflich zu und nickte. Rossi blieb kurz bei ihm stehen und klopfte ihm grinsend auf die Schulter. „Ihr könnt mir nichts vormachen. Sie ist ein nettes Mädchen. Passt zu dir. Mach was draus, Reid!“, sagte er freundschaftlich und zwinkerte ihm zu. Dann ging er weiter auf die Toilette.
Perplex blieb Reid sitzen. Wie hatte Rossi das herausbekommen? Seine jahrzehntelange Erfahrung durfte man wirklich nicht unterschätzen. Er sah auf das Display seines Smartphones. Oder er konnte einfach nur eins und eins zusammenzählen – am Display war der Gesprächspartner des letzten Anrufs noch sichtbar.
Reid seufzte und lehnte sich zurück. Er mochte es, wenn Donia ihn mit seinem Vornamen ansprach, wie gerade eben. Trotz seiner Gedankenräder, die sich sowohl um den Fall als auch um Donia drehten, konnte er bald einschlafen.

Der nächste Tag war geprägt von hoher Konzentration und Teamwork. Die Gruppe lieferte neue Informationen aus dem Sheriff-Büro vor Ort. Donia konnte aufgrund ihrer Kontakte im zuständigen FBI-Büro in Fargo zusätzliche Insider-Informationen beschaffen.
Nachdem sie mit Garcia die Informationen geprüft hatte, kontaktierte sie sofort Hotchner. „Hallo?“, ertönte nach kurzem Läuten seine autoritäre Stimme. „Hallo, Chief. Wir haben neue Infos“, begann Donia. „Warte, ich stelle dich auf laut. Es hören mit Rossi, Morgan, Reid, JJ und Sheriff Bauer“, erklärte Hotchner.
Donia hielt kurz die Luft an. „Sheriff Michael Bauer?“, fragte sie vorsichtig nach. Das BAU-Team blickte synchron auf den Sheriff, der mit hochgezogenen Augenbrauen vor dem Telefon stand. „Ja, Ma‘am. Kennen wir uns?“ „Kann man so sagen. Hallo, Onkel Mike. Gratuliere, hab nicht gewusst, dass du mittlerweile Sheriff bist“, sagte Donia in einem höflichen Tonfall.
„Donia?“, sagte Sheriff Bauer ungläubig und sah in die Runde. „Donia Bauer arbeitet bei euch?“, fragte er Hotchner, der nur nickte. „Du kannst mich auch direkt ansprechen, ich bin nicht mein Vater“, erklärte Donia kurz angebunden. Ihr Vater und sein Bruder waren zerstritten, der Kontakt abgebrochen.

Hotchner und die anderen hörten den gestressten Tonfall in Donias Stimme. Auch Reid war es aufgefallen. Er kannte die familiären Hintergründe nicht, aber der Sheriff war ihm seit ihrer ersten Begegnung nicht sehr sympathisch gewesen.
„Wie auch immer“, sagte Donia und räusperte sich, „Ich habe meine Kontakte im FBI-Büro in Fargo angezapft.“ „Ich habe die Infos geprüft, sehen allesamt valide aus“, meldete Garcia. „Die da wären?“, fragte Morgan.
Donia sprach weiter. „Ende Februar hat im Bundesstaat New York ein Mann seine Frau erstochen. Das Kind hat alles mitangesehen. Die Tochter ist 23 Jahre alt und leidet unter hebephrener Schizophrenie. Die Mutter hatte Kehlkopfkrebs, konnte nicht mehr sprechen. Der Vater gilt als gewalttätig und hat Frau und Kind misshandelt. Der Vater ist in Haft, die Tochter seit Anfang März abgängig.“
„Das könnte der Auslöser gewesen sein“, sagte Rossi. „Moment mal, Leute. Eine Frau? Ein Mädchen, gerade mal Anfang 20? Das glaubt ihr doch wohl selbst nicht! Kleine, ich glaube, du liegst falsch!“, platzte Sheriff Bauer heraus und schüttelte den Kopf.

Donia sah zu Garcia, die mit offenem Mund in ihre Richtung blickte. In ihr wuchs Ärger über ihren Onkel, sie musste sich zusammenreißen, ihn nicht anzuschreien. Hotchner kam ihr zuvor. „Sheriff Bauer, ich ersuche Sie, meine Agents mit dem nötigen Respekt zu behandeln. SSA Donia Bauer ist bereits seit mehreren Jahren im FBI-Dienst und eine erfahrene Datenanalystin. Sie können sicher sein, dass wir nur die besten Leute in unserem Team haben.“
„Vielleicht ist sie gut als Tippse, aber sonst nicht viel. Bei dem Elternhaus“, murmelte Sheriff Bauer gehässig und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Das konnte Donia nicht auf sich sitzenlassen. JJ sah entgeistert zu Hotchner, der ihr mit einer kleinen Handbewegung deutete, ruhig zu bleiben.
„Onkel Mike, es wäre als angesehener Leiter einer Polizeibehörde, der du sicherlich bist, professioneller, wenn du deine persönlichen Aversionen gegen mich und meine Eltern für diesen Fall hintanstellen könntest. Ich will hier meinen Job machen. Und ich will ihn gut machen. Also werde nicht persönlich und stelle Vermutungen an. Du kennst mich nicht … mehr“, stellte Donia klar. Sie blieb höflich, ihre Stimme klang ruhig, aber bestimmt.

Reid, Morgan, JJ und Rossi warfen sich vielsagende Blicke zu und unterdrücken ein Schmunzeln. Diese taktvolle Spitze hatte gesessen. Selbst bei Hotchner konnte man für einen Sekundenbruchteil ein Zucken um den Mund erkennen. Reid räusperte sich und warf noch ein Schäuflein nach.
„Bei uns arbeiten nur hochqualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. SSA Bauer hat einen Master in Psychologie und einen Bachelor in Informatik, falls Sie das nicht wussten. Sie haben wohl die Sponsionsfeiern versäumt. Unser Team schätzt ihr Wissen und ihre Person. Sie sollten ebenfalls froh sein, dass wir sie zu unserem Team zählen dürfen. Und stolz, dass Sie mit ihr verwandt sind!“
Er lehnte ruhig an einem Schreibtisch und fixierte den Sheriff mit seinem Blick. Hotchner runzelte kurz die Stirn und wies den Sheriff zurecht. „Ich kann Ihrer Nichte nur zustimmen, Sheriff Bauer. Wenn Sie nicht professionell mit uns zusammenarbeiten können, stellen Sie uns einen kompetenten Ersatz zur Verfügung, der es kann.“ Diese Aussage war scharf und eindeutig.

In der Leitung war es für einige Sekunden auf beiden Seiten ruhig. Garcia zwinkerte Donia grinsend zu und hob einen Daumen. Donia freute sich über die Loyalitätsbekundungen ihres Chefs. Und auch über die von Reid. Er hatte Recht, ihr Onkel war nicht zu ihren Sponsionsfeiern erschienen, obwohl sie ihn eingeladen hatte.
Garcia drückte kurz die Mute-Taste am Telefon. „Soll ich weitermachen?“, fragte sie und verdrehte die Augen. Donia musste lachen. „Bitte. Ich brauch ‘ne Pause“, schnaufte sie und lehnte sich zurück. Garcia nickte und drückte nochmals die Mute-Taste.
Der Sheriff hob abwehrend die Hände und zuckte ergeben mit den Schultern. „Tut mir leid. Sie haben Recht. Sagen Sie, was Sie brauchen. Sie bekommen es“, meinte er leise und trat einen Schritt zurück. Er merkte, dass er mit seinen Aussagen zu weit gegangen war. Die ablehnende Haltung jedes einzelnen Agents baute sich vor ihm auf wie eine unüberwindbare Mauer.

„Also dann, liebe Leute. Meine überaus kompetente Kollegin hat weiters herausgefunden, dass die Familie früher entlang des North Country Trail in den Ferien gecampt hat. Die Tochter kennt also die Strecke. Sie ist, wie gesagt, seit Anfang März abgängig. Die Kreditkarte des Vaters wurde jedoch in den letzten Wochen drei Mal verwendet. Zwar nicht direkt am Trail, aber in der näheren Umgebung. Foto und Personendaten der Tochter sind auf euren Tablets und im Postfach des Sheriff-Büros.“
„Warum tötet sie auch Frauen? Warum tötet sie unterschiedlich?“, fragte JJ in die Runde. Es war diesmal Reid, der seine Überlegungen laut aussprach. „Die Mutter war aufgrund ihrer Krankheit stumm. Die Frauen daher zu erwürgen versinnbildlicht die fehlende Stimme. Eventuell hat die Mutter ihre Tochter vor dem Vater nicht beschützt.“
„Einen Menschen zu erwürgen erfordert Kraft. Eine Frau kann das aber bei einer Frau schaffen. Bei einem Mann nicht“, überlegte Morgan laut weiter. Er tippte auf das Tablet, das vor ihm auf dem Tisch lag. „Die Männer wurden alle von hinten erstochen. Überraschungsangriff. Wenn der Stich sitzt, ist das Opfer wehrlos.“
„Genau“, schaltete sich Donia wieder ein. „Alle Männer wurden mit einem gezielten Stich in die Lunge getötet. Das Opfer kann dadurch nicht mehr laut schreien, es wird ihm die Luft zum Atmen genommen“, erklärte sie weiter.
„Dass sie die Männer bei Neumond tötet, hilft beim Überraschungsangriff. Sie kann sich besser verstecken. Das Erwürgen der Frauen bei Vollmond ist persönlicher. Sie sieht ihnen im Mondschein beim Sterben zu“, dachte Morgan laut und sah zu Hotchner.
„Sheriff, machen Sie sich auf die Suche nach der jungen Frau. Die Daten haben Sie soeben bekommen. Dringender Mordverdacht in sieben Fällen. Danke.“ Hotchner sah den Sheriff auffordernd an, der nur kurz nickte und dann den Raum verließ.

„Er ist weg, Donia“, sagte JJ erleichtert. Donia seufzte kurz auf. „Entschuldigt, dass ihr das mitbekommen habt. Ich habe nicht gewusst, dass er der Sheriff ist. Aber ich musste etwas sagen, nachdem er meine Eltern beleidigt hatte.“
Hotchner beugte sich zum Telefon. „Da gibt es nichts zu entschuldigen. Ich bin mir sicher, dass jeder von uns so gehandelt hätte. Außerdem warst du ja noch recht höflich“, sagte er in einem fast väterlichen Tonfall.
„OK … und … danke“, murmelte Donia ins Telefon. „Wofür denn?“, fragte JJ nach. „Dass ihr mich in Schutz genommen habt …“, entgegnete Donia leise. „Du bist Teil des Teams, Donia“, erklärte Morgan. „Wer dich angreift, greift uns alle an“, stellte er klar.
Donia konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Also dann, Leute. Eine für alle, alle für einen. Wenn ihr noch was braucht, klingelt einfach durch!“, sagte sie. „Alles klar, over and out, little girl“, verabschiedete sich Morgan und legte auf.

Garcia und Donia sahen sich überrascht an. „Hat er gerade little girl zu mir gesagt?“, fragte Donia bei ihrer Kollegin nach. Garcia machte ein überraschtes Gesicht. „Scheint so! Aber sein baby girl bleibe immer noch ich!“, rief sie gespielt beleidigt. Dann tippte Garcia Donia mit ihrem Stift an die Schulter. „Du bist das baby girl von jemand anderem, wie mir scheint“, sagte sie verheißungsvoll und riss die Augen auf.
„Wen meinst du?“, sagte Donia abwesend und konzentrierte sich auf ihren Monitor. „Unser kleines Genie natürlich! Ihr könnt keinem was vormachen! Ihr beobachtet euch dauernd gegenseitig. Und er hat dich gerade verteidigt! Diese zwischenmenschliche – wohlgemerkt positive – Spannung kriegt man auch mit, wenn ihr nicht direkt miteinander kommuniziert“, stellte Garcia fest. Donia schüttelte den Kopf. „Da ist nichts“, sagte sie wahrheitsgemäß. „Noch nicht“, konnte sich Garcia als Schlusswort nicht verkneifen. Doch Donia lächelte nur und arbeitete weiter.

Zwei Tage später war auch dieser Fall erledigt. Die Behörde vor Ort konnte die Frau ausfindig machen und in Gewahrsam nehmen. Das Team war mittlerweile wieder in Quantico eingetroffen und führte eine gemeinsame Abschlussbesprechung durch. Reid saß Donia gegenüber, beide lächelten still vor sich hin, ihre Blicke trafen sich ungewöhnlich oft und blieben aneinander hängen.

„Donia“, begann Hotchner und richtete das Wort an sie. Sie blinzelte und sah ihn erwartungsvoll an. „Ja, Chief?“, antwortete sie. „Deine Recherchen, Überlegungen und Kontakte haben uns in diesem Fall schnell weitergeholfen. Im Namen des Teams danke ich dir für deinen Einsatz“, lobte Hotchner das jüngste Teammitglied.
Er war froh, die Entscheidung getroffen zu haben, sie einzustellen. Sie bereicherte das Team und hatte sich auch in die Gruppe gut integriert. „Ich wünsche euch allen zwei schöne freie Tage!“ Er nickte der Runde zu und beendete die Sitzung. Nach und nach standen alle auf und verließen den Raum.

Reid hielt Donia zurück, als sie im Begriff war, den Raum zu verlassen. Sie waren die Letzten. „Hey“, sagte er leise und strich sanft über ihren Oberarm. Sie drehte sich um und lächelte ihn an. „Hallo Spencer“, erwiderte sie. Für einen Moment sahen sie sich nur an. Dann fingen beide an, schüchtern zu grinsen.
„Heute Abend? 8 Uhr? Bei mir zu Hause?“, fragte Reid nach einem neuen Date. Donia sah ihn überrascht an. „Lieferservice?“, fragte sie ungläubig. Er lachte. „Natürlich nicht! Die Vermengung einzelner Zutaten in zeitlicher Reihenfolge unter Zuhilfestellung verschiedener technischer Geräte zur Veränderung ihres Aggregatszustandes ist einfach. Wie Mathematik!“
Donia lachte kurz laut auf. „Spencer, du überraschst mich immer wieder!“ Dann wurde sie wieder still und sah ihn an. „Ich bin da. Um 8. Soll ich etwas mitbringen?“, fragte sie leise. Er schüttelte den Kopf. „Nur dich“, antwortete er lächelnd. Sie nickte leicht und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange. „Bis dann, Spencer. Ich freu mich!“, sagte sie und ging schließlich hinaus ins Großraumbüro.
Reid sah ihr nach und grinste. Es würde ein schöner Abend werden. Er musste sich nur noch ein Abendessen überlegen und einkaufen. Und kochen. Aber das war einfach. Wie Mathematik.

Petra Hechenberger

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Es

…genauso ist mein Hiersein eigentlich völlig unmöglich, ist es ebenfalls ein Nachleben eines nicht mehr existenten Lebensmodells. Denkt Langmut – und weiter:
Sich hier hinzu zu stellen zu den Kulturbergen, das ist ja der Aberwitz am Wolfgangsee! –

Die Idee mit dem größenwahnsinnigen Namen „Strobler Literaturgespräche“ war ja nur möglich, meine Idee, ein Kulturopfer zu bringen, mich diesen Testamentsjägern auszuliefern, mich in ihr Hospiz einsperren zu lassen, um hier mit meinen fünfundsiebzig Jahren „literarische Gespräche“ zu führen, was immer das auch sein mag, konnte ja nur entstehen und gleichzeitig scheitern, an diesen ganzen sommerfrischelnden Jahrhundertwende-Geistern: dem Altenberg, dem Alban Berg, dem Broch, dem Mann, Nietzsche und Schönberg! Hofmannsthal! – an diesen ganzen Denk-Alpinisten, die mir immer nur Geröll auf den Kopf werfen, die befinden sich ja schon alle als reisende Literaten, als Denker-Größen auf dem Gipfel ihrer Anerkennung. Ich dagegen am Wolfgangseerand, wohnhaft in der Bürglburg, den Bürglberg zu Füßen, verursache mit größter Mühe bloß ein Schilfrohrrascheln im Seerandsumpf und nenne das Ganze dann „Strobler Literaturgespräche“.
Er steht vom Bett auf, reibt sich den schmerzenden Nacken.
Matratze zu weich!
Denkt er und zieht sich an und denkt weiter:
Dabei könnte es bestenfalls „Strobler Gespräche“ heißen, da unter uns sich weder echte Literaten noch echte Literatur befinden, noch wurde hier eine solche Letztere je geschrieben, gelesen oder gar verstanden.
Genaugenommen dürfte es nicht einmal „Strobler“ heißen, diese „Strobler Literaturgespräche“, wie sie jetzt überall angekündigt werden, finden ja außerhalb Strobls statt! Aber das hätte ich wissen müssen! Das hat man mir wieder vorenthalten! Aus lauter dummem Eigendünkel haben die Bürglburger sich hier gedacht: Das braucht der Langmut nicht zu wissen, das kränkt ihn dann nur. Womöglich sucht er sich sogar ein anderes Heim, wenn er hört, dass die Bürglburg nicht in Strobl ist, dass er seine „literarischen Gespräche“ nicht „Strobler Literaturgespräche“ nennen kann, das ersparen wir ihm.
Das ist sie, denkt Langmut, diese Provinzhybris mit ihrer giergetriebenen Liebenswürdigkeit, die einem das Leben kosten kann!
Und schon bei der Ankunft sah ich es ja sofort! Sofort sah ich es an der Ortstafel, dass die Bürglburg nicht zu Strobl gehört, dass also das Einflussgebiet meiner Literaturgespräche schon vor der Strobler Ortstafel endet.
Meine Gespräche finden jetzt also in einem Unland statt, das weder zu Strobl gehört, noch erhebt ein anderer Ort oder Markt Ansprüche auf die Bürglburg nebst dazugehörigem Grund. Wie ich erfahren musste, gehört die Bürglburg sich selber an, oder der Vergangenheit, oder dem Staat, was ja alles aufs selbe hinausläuft.

Langmut legt sich angezogen wieder auf das Bett und stößt sich dabei am Holzrahmen.
Viel zu hoch!, denkt Langmut, für diese rückgratlose Matratze. Rückgratlos wie eine Sumpfwiese, wie alles hier. Wie alles und alle hier. Wie das gebaut ist! Man bräuchte diesen aufgequollenen Matratzenschwamm nur herauszunehmen und schon hat man einen fertigen Sarg!
Langmut klettert aus dem Bett, legt sich auf den Boden und denkt:

Aber die Literaturgespräche machten nur Sinn, wenn sie das literarische Erbe dieses Ortes aufgreifen und antreten könnten, das nun einmal mit dem Namen dieses Ortes zusammenhängt: Strobl, es ist und heißt immer noch Strobl! Und denkt: unweigerlich!
Das literarische Erbe fordert, noch einmal rücksichtslos ausgelebt zu werden, noch einmal sich tief in der Erde festzukrallen! In eine mit Namen verortete und vollkommen verrottete Erde!
Lächerlich, sie „Bürglburger Gespräche“ nennen zu wollen!
Langmut lacht laut auf. Und kichert weiter, ohne es zu merken und denkt:
Was für ein deplatzierter Vorschlag, meine lieben Kollegen!
Und denkt, dass er das jetzt laut gerufen hat und weiß nicht mehr, ob er das laut gerufen hat oder nicht und hört auf zu kichern. Er stellt fest, eine ganz trockene Kehle zu haben und befiehlt sich, ein Glas Wasser zu trinken. Seit Tagen trinkst du zu wenig, sagt er zu sich, sie sagen immer: „Sie müssen mehr trinken Herr Langmut, Ihr Körper braucht Flüssigkeit, Sie sind ja schon wieder ganz dehydriert! Langmut bleibt liegen. Kann ich die Literaturgespräche nicht Strobler nennen, ist alles sinn- und wirkungslos, denkt er.
Keine Verortung – keine Wirkung. So ist das!, denkt Langmut. Und setzt noch hinzu:
unweigerlich!

Richtig, denkt er weiter, müsste es einfach nur heißen, nachdem die Strobler Literaturgespräche weder mit Literatur noch mit Strobl etwas zu tun haben: „Gespräche“.
Stellten wir uns der Wahrheit, bliebe übrig: „Gespräche“.
„Vom vierten bis zehnten August zweitausendundfünfzehn finden in der Bürglburg die ‚Gespräche’ statt.“
Besser: „…finden die ‚Bürglburger Gespräche’ statt“, denkt Langmut und kichert wieder.
„Vom vierten bis zehnten August zweitausendundfünfzehn finden in der Bürglburg die ‚Bürglburger Gespräche’ statt.“ Langmut lacht laut auf und kichert dann weiter und denkt:
Suchte jemand die Bürglburg, um uns beim Sprechen über etwas anderes als Literatur zuzuhören, also den „Bürglburger Gesprächen“ beizuwohnen, müssten wir ihm sagen, die Bürglburg befindet sich auf einem Unort und ist daher für Besucher der Veranstaltung unerreichbar; stellte diese Auskunft nicht zufrieden, müssten wir ehrlicherweise sagen: Es ist heiß hier, es ist sumpfig, wir sind literarische Emigranten – also suchen Sie uns am besten in Florida!

In Florida… – wiederholt Langmut leise und bemerkt, dass er schon seit längerer Zeit vor sich hin kichert. Wie ein kindischer Greis!, flüstert er erschrocken, steht rasch auf, geht in den Speisesaal, nimmt ein Tablett und legt eine Semmel aus dem bereitgestellten Korb darauf. Zu weich, denkt er und steckt die Semmel in die Jackentasche, „Trinken Sie, Herr Langmut! Sie müssen mehr trinken!“, ruft ihm eine der Schwestern zu und stellt ein Glas Wasser auf sein Tablett. Langmut setzt sich an einen Tisch mit Blick aus dem Fenster, nimmt das Glas Wasser in die Hand, sieht es unverwandt an und stellt es zurück auf den Tisch.
Ich bin ja ganz alleine hier!, stellt Langmut fest. Die schlafen ja alle noch! Und sieht aus dem Fenster.
In Florida, denkt Langmut, sitzen wir am Bürglberghang, gut verpflegt in der sicheren Bürglburg und fallen über den Strobler Ort her. Jeden Tag fallen wir schon am Morgen über den Ort her. Noch mit unverdautem Kaffee im Bauch zerreden wir den Ort, zerdenken wir den Ort, versuchen wir alles zu sehen und zu denken, was dieser Ort hergibt, und wenn er nichts hergeben will, es dem Ort zu entreißen, was natürlich völlig unmöglich ist. Tatsächlich ist es so, dass dieser Ort über uns hereinbricht, bis wir begraben und betäubt sind, durch nichts mehr zu erreichen. Wir glauben, wir können den Ort überraschen, dabei werden wir vom Ort überrascht, angefallen wie von einer hungrigen Raubkatze, bevor wir noch überrascht sein können, liegen wir schon am Boden, in Fetzen gerissen.
Die Leute hier in Strobl glauben, wir fallen über den Ort her, dabei fällt der Ort über uns her, erschlägt, begräbt und erdrückt uns, unter seiner historischen Last.

Wenn ich aber Schutz brauche, denkt Langmut, flüchte ich mich hinter so eine Bleckwand, nehme ich so ein Buch und stelle eine Bleckwand hin.
Aber immer stehe ich letztendlich an derselben Stelle, ob ich sie umrunde oder vor mich hinstelle, diese Bleckwände, Sparbers und Rinnkogels. Am besten, ich gehe eine Runde um den See.
Langmut steht von seinem Tisch auf und verlässt die Bürglburg Richtung See.

„Bleckwand, Sparber und Rinnkogel markieren zaunpfostenähnlich die Grenze nach Norden; Beweis einer Nord-Süd Überwerfung infolge des aus dem Süden wirkenden plattentektonischen Drucks.“
So liest es Langmut auf einer Tafel am Wegrand. Wie alle Seen hier, denkt Langmut, ist der Wolfgangsee einer, der nicht sich zufrieden gab mit seinem Wasserfluss-Dasein, der vom Wasserfluss irgendwann zum See zu werden, sich in den Kopf setzte, die Transformation vom gewöhnlichen Wasserfluss zum respektablen See geschafft hat, rücksichtslos jeden auch noch so kleinen Vorteil ausnutzend, der ihm im Zuge der Plattenverschiebungen in der jüngeren Erdgeschichte entstand, alles, was vorher da war, unter sich begrabend, infolgedessen als See bedingungslos anerkannt von den ihm nachkommenden Menschen. Langmut nimmt die Semmel aus der Jackentasche. Zu weich, denkt er, und:
unmöglich, ihn zu umrunden! Und beschleunigt seinen Schritt und denkt weiter:
Erstmal Abersee geheißen, erscheint er jeder neuen sich hier an ihn und um ihn drängenden Menschenhäufung als neu. Er beißt in die Semmel.

So ein See stirbt nicht, und so wie ich ihn mir hier als persönliche Neuerscheinung aneigne, taten das vor mir die Kelten, die jetzt überall hier im Salzkammergut als Dreck auf meinen Schuhen kleben, völlig ausgeerzt, so wie ich irgendwann auf irgendjemandes Schuhen kleben werde.
Langmut kann den Bissen kaum schlucken und merkt, dass er keinen Speichel hat, dass er großen Durst hat. Du musst trinken! Sofort! Dein Körper hält das nicht aus! Er legt sich mühsam auf den Bauch und versucht, aus dem See zu trinken. Spuckt aber den ersten Schluck wieder aus. Alles verseucht!, denkt er und: Ich hätte das Glas Wasser doch trinken sollen und lässt den Rest der Semmel aus seiner vorgestreckten Hand in den See fallen. Er beobachtet, wie der Rest der Semmel im Seewasser aufquillt, sich auflöst und seine festeren Teile absinken und erinnert sich: Immer war ich ein begehrter Tänzer!

Immer war ich ein begehrter Tänzer, flüstert Langmut.
Und flüstert weiter: So zeigt sich uns dieser See, so wie auch die anderen hier ortsansässigen Seen, als sein eigenes Denkmal, als eine gewaltsame Transformation zur Größe, geboren aus dem Wunsch nach Veränderung, ermöglicht durch Verschiebungen noch wesentlich größerer Natur, Verschiebungen unterirdischer Art.
Ab einem gewissen Punkt allerdings, tut dieses See-Monster wieder so, als ob nichts gewesen wäre, plätschert dahin als unschuldiges Flüsslein, als Ache oder Ischl, ganz nach Wunsch.

Langmut richtet sich auf, geht weiter, verfällt plötzlich in den Walzerschritt, bricht ab, und eilt auf den Campingplatz zu.
Langmut wird langsamer vor der Terrasse einer Campingplatz-Raststätte.
Langmut steigt neben rohbetonierten Stufen auf die noch zaunlose Terrasse der Campingplatz-Raststätte. Er bestellt noch im Gehen Kaffee „…und ein großes Glas Wasser dazu!“, ruft er der Kellnerin nach und setzt sich mit Blick auf die Bleckwand. So sieht sie aus!, vergewissert er sich, die Bleckwand sieht aus wie eine Riesin in der Sonne kniend, wie eine gierig trinkende dicke Frau, die ihren Kopf ins Wasser steckt, eine Riesin, erstarrt beim gierigen Trinken, eine grüne Riesenfrau, die beim gierigen Trinken ihr gewaltiges Hinterteil frivol gen Himmel reckt – vielleicht, in naher Riesenzukunft, begattet wird, wenn’s der Rinnkogel oder der Rothstein nicht mehr aushält, dieses riesige Riesinnenhinterteil. Und trinkt den Kaffee in einem Zug aus.
Sie hat das Glas Wasser vergessen, denkt Langmut.

So sieht das aus, denkt Langmut, von der Terrasse der Campingplatz-Raststätte her gesehen, sieht das so aus. Ein Campingplatz im Übrigen, der voller Deutscher ist, voller abgezirkelter, dobermannbewachter Miniparzellen, eine fußbreitdichte Anhäufung von Privatgrund. Langmut fühlt das Blut im Mund pochen.
Leitungswasser würde hier leider nicht serviert, das sehe der Chef nicht gern, wird Langmut von der Servierkraft erklärt. Italienischer Akzent!, denkt Langmut. Über die Alpen geworfen, strampelt sich nun mit ihrer Identität ab. Hab Erbarmen mit dir!, denkt Langmut und starrt die Servierkraft beschwörend an.
Ja, wenn er unbedingt Leitungswasser haben wolle, erklärt sie durch sein schweigendes Starren irritiert, könne er sich ja am Campingplatzbrunnen bedienen.
Langmut steht ruckartig auf.

Eine germanische Wohnwagen-Burg zwischen grüner Riesin und St. Wolfgang am Wolfgangsee!, denkt Langmut, während er sich einen Weg zum Trinkwasserbrunnen bahnt, und: Waschechte Kimbern und Teutonen befinden sich hier! – Dieser Kaffee hat mich außerdem furchtbar durstig gemacht! Kaffee dehydriert!
Denkt er – und: wie schrecklich! Und stolpert über Zeltschnüre und Campingstühle, durch die Dobermanns und Schäfers, durch die psychisch völlig zerstörten, privatgrundschützenden Hunde, durch die schneidigen „Guten Morgens!“.

Befestigte Wohnwagensiedlung!
Denkt er.
Und: alles durchdrungen von der verschlagenen Vorsichtigkeit der Niederlassung. Und weiter: ein völlig unwirkliches Nachleben eines längst in dieser Form nicht mehr möglichen Gesellschaftsmodells. Einem Gesellschaftsmodell leben die vorgeblich campierenden Teutonen hier nach, das schon vor zweitausend Jahren von dem römischen Druck, aus dem Süden kommend, besiegt wurde. Und immer wieder besiegt, schlägt das Alemannische, das Teutonische und das Vandalische dann doch in irgendeine Spalte der alpinen Überwerfungen zurück, verschlägt italienische Servierkräfte herüber und seine Zelte auf.

Und weiter: Eine Art Keimzelle ist das hier, und die wird weiterwachsen, so imperial groß wird das hier werden, wie die Wohnwagensiedlungen in Florida. Wohnwagen an Wohnwagen reiht sich dort in Florida. Silbrig glitzernd in der Sonne bis zum Horizont. Neben den „Retires“, den in Wohlstand und Ehren gealterten Gesellschaftsamerikanern, erwarten dort den Tod in der brühwarmen Krokodil- und Stechmückenatmosphäre, die dem Alter so gut tut, wohlhabende Deutsche mit nationalsozialistischer Vergangenheit.
Ausgerechnet in Florida, wo ich das Licht der Welt erblickte – gezwungenermaßen.
Und manchmal kommt daher dem erwarteten Tod ein gewaltsamer zuvor.
Und manchmal ist der Tod noch ein halbes Kind, denkt Langmut. Und: Schrecklich, ich fühle meinen Mund nicht mehr!
Ich muss unbedingt diesen Brunnen finden!

Dann: Das haben sie hier auch vor, denkt Langmut, dieser Campingplatz ist erst der Anfang. Sich ihres Erbes besinnend, das schließlich wieder durchschlägt im Alter, wo nichts zu tun ist als zu sterben, nehmen sie Land. Dieses Erbe fordert, noch einmal rücksichtslos ausgelebt zu werden, noch einmal tief in der Erde sich festkrallen, nie – von hier vertrieben werden. Langmut fällt über eine Zeltschnur.
„Wohnwagen an Wohnwagen reiht sich dort in Florida – bis zum Horizont! Alle glänzen silbern in der Sonne, so dass es das Auge schmerzt!“
Erschrocken bemerkt Langmut, dass er mit diesem Satz gerade einen der Camper anschreit. Langmut presst sich die Hände vor den Mund.
Wie ein Schulkind!, denkt Langmut und reißt die Augen auf. Und sieht, dass er neben dem laufenden Brunnen steht.
Der Camper und Langmut stehen sich gegenüber. Der Campingplatz endet hier in einer Sumpfwiese zum Seeufer hin. Der Trinkwasserhahn rauscht weiter. Der Camper nimmt einen Plastikkanister und hält ihn unter den Trinkwasserhahn.
Langmut lässt die Hände fallen und sieht, dass sie blutig sind.

„Wo, in Florida?“, erkundigt sich plötzlich der Camper, und beiläufig: ob Langmut denn schon mal dort gewesen wäre?
Langmut schüttelt den Kopf und wartet ungeduldig auf das Freiwerden des Wasserhahns.
Der Camper füllt einen weiteren Kanister mit Trinkwasser und bedauert Langmut, noch nicht in Florida gewesen zu sein, denn er selber sei schon in Florida gewesen, traumhaft! Drei Monate im Van unterwegs! Aber im Unterschied zu Langmut wisse er, so der Camper, nichts von solchen Wohnwagensiedlungen, da müsse Langmut sich irren und da müsse man doch was davon gehört oder gesehen haben, von solchen riesigen Siedlungen, bei drei Monaten im Van! Aber er habe, wenn er nachdenke, nichts davon gesehen oder gehört. Nie!

Schlau!, denkt Langmut und reibt sich den Nacken.
Aber das wäre ja auch schon alles so lange her, schwächt der Camper ab, Jahrzehnte sei das alles schon her. Und der Wasserhahn werde bald frei, dass man da schon durstig werden kann bei dieser Hitze, verstehe er gut, lacht der Camper und hält einen neuen Kanister unter den Hahn und der Strahl prasselt in den leeren Behälter.
Und seit er damals dieses traumhafte St. Wolfgang am Wolfgangsee entdeckt habe, käme er nur noch hierher – mit seiner ganzen Familie!
Langmut stammelt die Wörter „Notfall!“ und „Wasser!“
Der Camper, sehr laut, um den Wasserstrahl zu übertönen: „Was?“
Und: Dazu die ganze kulturelle Vergangenheit hier, das glaube man ja gar nicht! Diese ganzen Schriftsteller! Ein Nietzsche! Habe er gehört, sei hier gewesen, ja sogar der Hofmannsthal-Hugo-von! – das wäre ja auch einer von denen gewesen, man wisse ja!

Dann holt der Camper tief Luft und ruft schallend:
„Jedermann!“, und lacht und fragt „Na klingelt‘s?“
„Jedermann!“, ruft der deutsche Camper ein zweites Mal und freut sich am Echo. Dann lacht er: „Das glaubst du ja nicht!“
Langmut lässt die Hände sinken und öffnet den Mund. Jetzt könnte ich trinken!, denkt er und macht eine Bewegung auf den Wasserhahn zu.
Doch der Camper setzt einen dritten Kanister an und fährt fort: „Also am liebsten bliebe ich ja das ganze Jahr hier! Aber Sie wissen ja: die Arbeit, die Arbeit! – Das lässt einen nicht los! Wissen Sie? – Was?“
Ich weiß!, denkt Langmut und hält den Mund fest geschlossen.
„Also es ist ja nicht so, dass ich das ganze Jahr hier sein könnte?“, brüllt der Camper in fragendem Ton.

Langmut beobachtet, wie sich der Kanister füllt, sieht auf zum See, auf die Sumpfwiese.
Ich könnte zum See gehen, denkt er, – aber der Boden dorthin ist viel zu weich!
Er sieht auf seine Füße und die von Wasser satte Erde um den Trinkwasserhahn. Aufgeweicht!, denkt er, alles aufgeweicht!
Der Camper überlegt und befindet: „Also sozusagen nur temporär bin ich hier, bei diesem schönen Wolfgangsee! Sozusagen ein temporärer Wolfgangseer bin ich!“, lacht der Camper und winkt seiner Frau zu, die mit weiteren leeren Kanistern kommt. Er nimmt mit der hohlen Hand einen Schluck Wasser vom Trinkhahn.
Zwei Temporäre sind wir!“, beschließt er, nachdem er geschluckt hat und sieht Langmut erwartungsvoll an. Langmut sieht regungslos auf die feuchten Lippen des Campers. Der Camper spricht mit unvermitteltem Ernst: „Andere bleiben ja das ganze Jahr hier, also sozusagen per-ma-nent! – Das sind dann die Per-ma-nent-en!“
Und meint nachdenklich: „Aber vielleicht ziehe ich auch mal ganz hierher – wegen des gesunden Klimas!“ Seine Frau stellt die weiteren Kanister ab und der Camper freut sich:
„Das ist alles richtig gut organisiert hier – wir kennen uns alle untereinander – kannten uns schon vorher!“ Ich wusste es!, denkt Langmut und lässt den Kopf sinken.

Langmut sieht nur noch das Stück aufgeweichten Boden neben dem Trinkwasserhahn und denkt: einen Schluck Wasser, nur einen Schluck – und:
Er trinkt das ganze Wasser aus! Vielleicht zieht er ganz hierher, ist in Florida gewesen und zieht jetzt ganz hierher und weiß von nichts, nie geseh‘n, nie gehört, nie etwas gewesen. Behaupten alle: von nichts wissen! Das ist alles! Und mehr Kanister kommen! Hierher werden alle kommen und sozusagen Permanente werden und dann… ein Stückchen weiter zur Sumpfwiese hin, zur trinkenden Riesin hin, immer ein Stückchen näher auf den Riesenarsch zukrabbeln, auf die brünftige Riesin zu, die trinkt den Wolfgangsee aus! Die trinken alle den Wolfgangsee aus! Und auftaucht alles aus dem Schlamm!
Die Sumpfwiese, denkt er. Ich muss sie warnen!, denkt er, und denkt: Das ist es! Und dreht sich dorthin, wo er den Camper vermutet, denn er sieht plötzlich nichts, nimmt noch einmal seine letzte Kraft zusammen und brüllt es solange er kann und fällt in den aufgequollenen Boden und merkt, wie er fällt und merkt, wie er es brüllt, in den Boden brüllt, der so weich ist, dass er nicht weiß, ob er noch fällt oder schon in der Erde liegt. Aber er weiß, dass er es schreit, in die Erde hinein schreit, so lange er kann. Es in den Himmel schreit, dieses eine unsägliche Wort.

Der Camper und seine Frau, befragt, ob Langmut noch etwas gesagt hätte, geben nach kurzem Zögern zu Protokoll: Sie hätten wohl den Eindruck gehabt, dass der Herr Langmut noch etwas habe sagen wollen, aber richtig verständlich machen hätte er sich nicht können.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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Eine jagdliche Szene

Eine neoklassizistische Villa im Salzkammergut. Das Haus, umgebaut zur Privatpension, beherbergt eine Reihe illustrer Gäste. Unter ihnen eine attraktive junge Dame mit Namen Sybilla Trinks, in die sich Norman Moll, Kurgast, Individualist und Einzelgänger, spontan verliebt hat. Man nimmt einen Drink zusammen auf der Terrasse des Hauses. Thema eines angeregten Gesprächs ist Bodo Rabitsch, gleichfalls Kurgast, genannt der Lodenbaron, und ein Ekel, das in der Lage ist, Norman Moll mit seiner widerlichen Art in der Öffentlichkeit stets aufs Höchste zu verunsichern.

„Was sagen Sie dazu?“ Moll zuckte mit den Schultern. „Also gut. Ich kann Ihnen versichern, Ihre Paranoia diesem Menschen gegenüber scheint mir völlig unbegründet. Dieser Mann, vor dem Sie so unheimlich Schiss haben, ist im Grunde genommen ein Emporkömmling, ein Parvenü.“ Moll hob die Augenbrauen. „Dieser Mensch hat im Grunde in seinem ganzen Leben noch nichts anderes getan, als auf die Butterseite zu fallen, und das aus Kalkül.“ „Und woher wollen Sie das wissen?“, fragte Moll zweifelnd. „Ich weiß es eben, das muss genügen und tut nichts zur Sache. Dieser Rabitsch hat einfach in eine vermögende Familie eingeheiratet. Loden! Sie verstehen. Das war’s auch schon. Zufällig hat sich die Tochter seines Lehrherren, eines Schneiders, in ihn, den Lehrbuben, verliebt. Romantisch, nicht wahr? Ihre Eltern waren allerdings von Anfang an dagegen, dass sich hier was anbahnt.
Aber da war eben nichts zu machen. Der Herr Schwiegersohn in spe hat daraufhin seine handwerkliche Lehre abgebrochen, hat das Mädel geheiratet und ist sofort zum Prokuristen im schwiegerelterlichen Betrieb aufgestiegen.“ „Ah!“ Hodenlose Lodenhose, erinnerte sich Moll an eine Silbenverdrehung und schmunzelte. „Ein paar Jahre waren dem Betrieb noch Umsatzhochs beschieden, bis man eines Tages Konkurs anmelden musste, weil die Konkurrenz auch nicht geschlafen hat, und aus war‘s.

Tatsache ist, dass eine Menge Geld da war, trotzdem, und dass man in dem Häuschen, das man als Jungvermählte bekommen hatte, weiterhin hervorragend domizilierte, und von der Mitgift, beziehungsweise aus Veräußerungen der betrieblichen Reste unbekümmert leben konnte, auch ohne zu arbeiten.“ „Beneidenswert“, seufzte Moll lächelnd, „und ich hab‘ geglaubt, er ist zumindest Wirtschaftsprofessor oder so etwas Ähnliches. so, wie er stets doziert!“ Beide lachten. „Immerhin haben   S i e   ihn neulich ja selbst geadelt, wenn man bedenkt, wie Sie ihn immer nennen, den Lodenbaron eben“, lachte Sybilla Trinks und nahm ein Schlückchen Sekt zu sich. „Naja, Ökonomieadel! In Deutschland oder in Polen wurden im neunzehnten Jahrhundert ganze Dörfer auf diese Weise zu Baronen gemacht“, bemerkte Moll zynisch.
Die Trinks fuhr fort: „Die Geschichte geht noch weiter. Als die Kinder aus dem Haus waren, fuhr der Herr einmal auf Kur. Das Ergebnis dieser Reise hat sich in Person der Frau Linda Maar niedergeschlagen. Seither tritt sie offiziell als sein Schatten auf. Dort, dort drüben – der Schatten, den Sie ja bereits seit Nachmittag neben ihm nicht übersehen können.“ „Also, ein Schatten ist sie nun wirklich nicht“, lachte Moll, „weder von der Physis her noch vom Charakter. Was ich mir da vorhin anhören musste, war eine …“.
„Hat sie Ihnen etwa die neue Rolle der modernen Frau als Führungskraft zu vermitteln versucht?“ „So könnte man es ausdrücken, ja!“ „Verstehe! Also, der Baron ist ein Meister der Doppelrolle, wie Sie unschwer erkennen können. Arm ist nur seine Gattin. Ich habe schon einmal angedeutet, dass sie eine ganz liebenswerte Person ist. Sie würde sich nie über ihre Situation beschweren, glauben Sie mir. Eine Frau, die stets versucht hat, nur das Gute in diesem Menschen zu sehen, und niemals seine Fehler.“
„Ach!“, kam es Moll so über die Lippen. „Aus welchen Gründen sie das tut, ist mir noch unklar. Ein wesentlicher Grund aber dürfte sicher der gesellschaftliche Status sein. Das heißt, man lässt sich nicht scheiden in dieser Welt, aus der sie kommt. Die Pracht der Tracht, wenn Sie verstehen!“ „Und so duldet sie still.“ „Wie viele von uns“, sagte Norman Moll nachdenklich. Sybilla Trinks lehnte sich in ihrem Korbsessel zurück, mitleidig lächelnd. Blitzschnell dachte Moll an einen Rückzieher. Zu spät! „Das habe ich erwartet, dass Sie jetzt so etwas sagen würden. Sieht Ihnen ähnlich, wirklich!“

Moll hob erstaunt seinen Kopf. „Wieso?“, fragte er, „was hab‘ ich schon wieder gesagt?“ Und beinahe befürchtete er die Beziehung zu ihr im Kippen, wie auch eine gewisse Nüchternheit sich seiner ihr gegenüber bemächtigen wollte, äußerst unangenehm, bedachte er seine bisherige Situation mit ihr, das Tänzchen vorhin und überhaupt! Es wollte ihm nicht konvenieren, dass sich die Sache nun in eine Art psychotherapeutische Séance zu wandeln begonnen hatte, noch dazu in eine, in der er den Patienten spielen sollte. Unerhört! Da läutete ihr Handy. Moll schreckte hoch. Sybilla Trinks war aufgestanden und spazierte ganz langsam auf der Terrasse auf und ab, telefonierend.
Über dieser höchst störenden Unterbrechung hatte Moll aufgehört, irgendwelche Schlüsse aus ihrer letzten Bemerkung zu ziehen, so echauffierte ihn diese und seine Erinnerung an das Schöne, das Romantische, ja, das Ideal des Menschseins schlechthin, die Leidenschaft der, beinahe hätte er Liebe gedacht, nein, Liebe war es eigentlich nicht, der Neugierde – zerstörte sich mit einem Male ganz von selbst, und er saß da, ein Häuflein Elend, mit runden Schultern, die nach vorne fielen, in der Hand das Sektglas, das leere, der Patient – ausgeliefert, krank in der Seele, unrettbar verloren!
Ein Blick zu Lodenbaron Rabitsch. Man unterhielt sich prächtig dort drüben. Die Trinks telefonierte noch immer.
Jetzt war Rabitsch aufgestanden und die Treppen in den Park hinuntergegangen. Sein helles Lodensakko strahlte im Mondlicht. Wieso geht er in den Park? Die Toiletten waren doch …? Moll dachte an seine Lendenwirbelsäule und wagte nicht, sich ruckartig zu erheben, und doch zehrte eine unbändige Neugierde an seinen Nerven. Er stützte sich mit beiden Händen auf die Lehnen und erhob sich ganz langsam. Keine Ahnung, wie lange er hier schon gesessen hatte, auf alle Fälle zu lange! Die Schmerzen in seinem Rücken waren erheblich.

Aber der Drang, dem Trachtenbaron unauffällig zu folgen, war stärker. Wer Moll so sah, den musste unweigerlich tiefes Mitgefühl befallen, ihn so leidend zu sehen, und es gelang ihm erst nach einigen mühevollen Schritten, sich selbstständig aus der weit nach vorn gebückten Haltung vollständig aufzurichten, begleitet von einer seufzenden Interjektion, aahhh, Ausdruck einer spontanen Gefühlsbewegung, leicht ablesbar aus dem Gesichtsausdruck sowie der Stellung seines Mundes, welche Schmerz signalisierte. So begab er sich, unbeobachtet von Trinks, die mit dem Gesicht in jene von ihm aus entgegengesetzte Richtung stand, ganz langsam, scheinbar völlig ohne bestimmtes Ziel, den Baron dabei nicht aus den Augen lassend, in Richtung der Treppen, die in die Parkanlage führten und an denen er nun vorsichtig hinunterstieg.
Zunächst waren seine Augen noch von der Terrassenbeleuchtung geblendet und konnten im Dunkel der Bäume und Büsche nichts ausrichten. So verharrte er vorläufig im Schutze einer mächtigen Thuje. Dort vorne war Rabitsch, ganz deutlich auszunehmen, in strahlend weißer Tracht, und offensichtlich bemüht, authentische Laute der Natur nachzuahmen. Vielleicht jene der Nachtigallen? Rabitsch übte das Modulieren des Klanges, erst hoch, dann etwas tiefer – das klang aber nicht nach Nachtigall – eher wie die Tritonschnecke – das Herakleumrohr – eine Nuance zerbrechlicher und etwas zu leise – aber er machte es geschickt – platzierte den Ruf so, dass zu erwarten war, das Wild würde in den nächsten Minuten zustehen – galt es doch als wahrscheinlich, es vom Rudel wegzulocken, was zwar nur in ganz seltenen Fällen gelang, aber bitte!

Dieser Teil des Rabitsch´schen Reviers, mit seinen Niederungen und Dickungen, beanspruchte den erfahrenen Fährtenleser voll und ganz, wies es doch zumeist kurz geschnittene Rasenflächen auf, dazwischen eingesprengt etliche Blumenbeete, in denen zweiundfünfzig Rosenarten ihr bunt duftendes Dasein fristeten. Doch immerhin gestattete es der kleinkörnige weiße Kies durch tiefere Abdrücke der Hufe, das Abfährten leichter erkennbar zu machen, welche Richtung das Wild letztlich genommen hatte. Moll schlich unauffällig hinter Rabitsch her, auf leisen Sohlen. Vor Rabitsch etwas Helles, das Tier – unvorsichtig und überhaupt nicht darauf bedacht, sich zu tarnen oder gar vor seinem Jäger verstecken zu wollen, nein, es fühlte sich offenbar völlig sicher in seinem dichten, mit trockenen Zweigen übersäten Bestand, ja, verursachte dabei sogar noch heftige Geräusche, derart, als ob es mit einem Mülleimerdeckel spielte.
Aber es stand noch nicht zu, trotz Rabitsch´s heftigster Lockungen. Und dieser war noch zu weit entfernt und musste wohl näher heran. Schwierig, in diesem dichten Unterwuchs, obwohl – der Wind stand günstig, wenn auch schwach – so könnte er es anpacken! Etwas störend dabei schien das helle Trachtensakko. Nicht unbedingt ein Tarnkleid. Doch, was gab es Aufregenderes, als so nahe der Beute zu sein, um sie in ihrem Einstand mit dem Ruf anzugehen? Und selbst wer niemals Jäger war, musste ihn spätestens jetzt empfinden, den Urinstinkt jagdlicher Triebhaftigkeit! So standen sie, hintereinander, in atemberaubender Stille und in unmittelbarer Nähe der geweihten Beute. Da brach es aus dem Unterholz! Fräulein Trixi, die Haushaltshilfe, mit einem Biokübel in der Hand.
„Ach! Jetzt bin ich aber erschrocken!“, rief sie Rabitsch zu, „haben Sie mich aber…“. Moll verschwand blitzschnell hinter einem Rosenstrauch und ging in Deckung. Diese Niedertracht! Moll war empört. Das hier sollte sozusagen zum „Wildbret“ werden! Schau dir an, dachte er, dieser Gauner! „Also, das tut mir jetzt aber leid“, log Rabitsch, „nie im Leben hätte ich daran gedacht, Ihnen Angst einzujagen, ehrlich! Ach, darf ich Ihnen behilflich sein? Geben S‘ her, das Küberl ist ja viel zu schwer für Sie!“, worauf Trixi diesen dem perfekten Gentleman mit zuckersüßem Lächeln übergab. Beide kehrten scherzend zur Villa zurück.

Moll krachten die Knie vom Hinhocken. Ein stechender Schmerz durchfuhr beide Minisken, das musste der Plural sein, schien ihm, sodass er schier aufschreien wollte, als er plötzlich nach hinten umkippte und auf dem Rücken zu liegen kam, wie ein Käfer in der Morgenstarre, das Laufwerk in die Höhe gerichtet. Gott sei Dank hatten sie ihn nicht wahrgenommen. Äußerst peinlich das Ganze! Als er ihre Stimmen kaum mehr hören konnte, drehte er sich in Bauchlage, um sich aus der Stellung „auf allen Vieren“ langsam zu erheben. Gottlob hatte seine Garderobe keinen Schaden genommen.
Also schlenderte er ebenso unauffällig, wie er gekommen war, der belebten Terrasse zu. Er stieg die Treppe hinauf, vorbei am Tisch der übrigen Gäste, die sich immer noch prächtig unterhielten. Vorbei am Lodenbaron, der ihn anlächelte und seinen Platz neben Lindakind wieder eingenommen hatte. Diese hatte, dank ihrer Naivität, natürlich nichts von seinem waidmännischen Ausflug bemerkt. Moll lenkte seine Schritte in Richtung einsame Rattansitzgarnitur am anderen Ende der Terrasse, gleich neben der Music-Band, wo Sybilla Trinks bereits auf ihn zu warten schien.
Bis auf das Getratsche und Gelächter der anderen war nichts zu hören, vielleicht ein wenig Tellerklappern und Gläserklirren aus der Küche, aber die Grillen waren lauter und der Wind säuselte noch immer leise in den Ästen der gewaltigen Bäume rund ums Haus und im rückwärtigen Teil der Parkanlage. Die Musiker bekamen soeben im Salon ihr Nachtmahl serviert.

„Wo sind Sie denn auf einmal hergekommen?“, fragte Sybilla Trinks ganz erstaunt. „Ich war ein wenig auf der Pirsch“, lächelte Moll und setzte sich. Trinks schüttelte ungläubig ihr hübsches Köpfen, während die Wellen ihres luftig leichten Haares das zarte, schmale Gesicht umspielten. Da waren sie wieder, diese Impulse ihrer Haut, die sein körpereigenes Radarsystem bereits mehrfach geortet hatten, wenn er ihr plötzlich wieder so nahe war, und versetzten ihn in einen Schwebezustand unerhörter Selbstverständlichkeit, Besitzender zu sein, Eigentümer ihrer geheimsten Gedanken und gar Wünsche, Momente, an denen man eben an die unglaublichsten Dinge zu denken imstande war, ohne auch nur ein Jota Logik zu gebrauchen.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 15118

 

Feind und Helfer

Also pass auf, ich muss dir was erzählen: Ich bin Samstagabend mit meiner Freundin zu Hause gesessen, in meiner Floridsdorfer 35 m²-Wohnung und haben uns, aufgrund des Wetters, mangels anderer Alternativen, „Wetten, dass..?“ im Fernsehen gegeben, während mein temperamentvoller Nachbar in ein emotionsgeladenes Streitgespräch mit seiner Freundin verwickelt war.
„So, meine Damen und Herren… Wir kommen jetzt zur Kinderwette.“
„DU HURE, DU SCHEISS SCHLAMPE, HALT DOCH EINFACH EINMAL DIE GOOOOSCHN, OIDAAAAA“
„Der kleine Maximilian wettet…“
„SCHLEICH DICH VON MIR DU GSCHISSANE DRECKSAU“
„…dass er 400000 Telefonnummern, im Handstand auf dem kleinen Finger, mit verklebtem Mund durch die Nase, gleichzeitig innerhalb von dreißig Sekunden aufsagen kann, und währenddessen mit dem rausrinnenden Rotz einen detailgetreuen Stadtplan von New York im Maßstab 1:10000 zeichnen kann, mit im Centralpark enthaltenen Breakdanceburschen, die optisch nur zwischen zwölf und dreizehn Jahre alt sein dürfen, während seine Oma den türkischen Marsch rückwärts singt und ihm mit einem Kärcher mit voller Kraft auf den Kehlkopf sprüht.“
„ICH WETT MIT DIR, DASS DU MICH NÄCHSTES WOCHENENDE NOCH DREIMAL BETRÜGST, DU SCHEISS SCHLAMPE“
„Topp, die Wette gilt.“

Dann war ein lautes POCK zu hören, wie wenn etwas Schweres auf den Boden gefallen wäre, und danach nur mehr Stille. Meine Freundin hat mich fragend angeschaut. Wir waren einiges gewöhnt aus der Richtung unseres Nachbarn über uns, aber POCK und anschließende Stille war neu.
„Sollen wir nicht doch sicherheitshalber die Polizei rufen?“, fragte mich meine Freundin und schaute mich unsicher an.
Da war durch das gekippte Fenster ein Telefongespräch auf der Straße zu hören: „Ja, da schlagt einer ärgstens seine Freundin, ich hab’s ja grad ganz genau gesehen. Er hat sie gerade an das Fenster gedrückt und dann ist sie auf den Boden gefallen und seitdem sehe ich sie nicht mehr. Ich hab ja wirklich für viele Sachen Verständnis, aber wenn einer Frauen schlägt, dann ist Schluss. Bitte schickt‘s einen Wagen her. Das ist im zweiten Stock…“ Dann gab er die Adresse bekannt.
„Na bitte, da ist uns schon jemand zuvorgekommen. Sonst schimpft man immer, dass sich keiner für irgendjemanden interessiert, aber wenn es hart auf hart kommt, sind ja doch alle füreinander da. Finde ich leiwand. Mir macht nur irgendwie Angst, dass man jetzt die ganze Zeit nichts mehr hört, aber wenn der Typ sie wirklich so geschlagen hat, wie der auf der Straße gesagt hat, dann wird das der Polizei ja auffallen. Naja, werden wir ja sehen, die machen das schon“, habe ich zu meiner Freundin gesagt, und sie hat verunsichert, aber zustimmend genickt.

Fünfzehn Minuten später sahen wir es blau flackern vor dem Fenster, und meine Freundin atmete auf: „Na bitte, jetzt braucht die Arme da oben nicht mehr lange leiden mit dem Wahnsinnigen.“
Ich nickte zustimmend, fühlte mich aber dennoch einfach unwohl und hörte gleichzeitig, wie die Polizisten bei uns im ersten Stock am Gang herumstapften. POKPOKPOK machte es an der Tür und zwar so laut, dass ich glaubte, dass mir die Wohnungstür gleich durch das gesamte Vorzimmer fliegen würde. Meine Freundin öffnete hektisch die Türe und die vor uns stehende Polizistin sah mich mit tiefem Hass in den Augen an und ließ ihren, mich verachtenden, Blick auf meine Freundin schweifen, wo dieser sofort in mütterlich liebevoll umschwenkte: „Ist mit Ihnen eh alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt.
Ich war kurz verwirrt, doch verstand dann gleich, was die Dame glaubte: „Achso, nein. Bei uns ist alles in Ordnung. Ich glaube, dass es da um die Nachbarn über uns geht. Wir haben nämlich von oben einen Streit gehört und haben uns schon Sorgen gemacht und dann durch das gekippte Fenster gehört, wie eh Gott sei Dank gerade jemand die Polizei gerufen hat.“

Meine Freundin nickte angespannt. Die Polizistin sah uns beide noch einmal an und beschloss dann doch, mir zu glauben: „Naja gut. Weil ich bilde mir ein, dass die Leute auf der Straße gesagt haben, im ersten Stock, aber vielleicht habe ich mich auch verhört. Heast Lisa, geh amoi auffe und klopf. Genau die Wohnung über Ihnen haben S‘ g’sagt, gell? DIE WOHNUNG ÜBER IHNEN HABEN S‘ G’SAGT, LISA.“
Und wieder war das unvergleichbar laute Wohnungstürdurchsvorzimmerfliegklopfen zu hören. Stille… Wie aus einem Reflex schaute ich nach oben, in der Hoffnung, durch die Decke durchschauen zu können, und da war schon wieder das laute Klopfen der Polizistin durch das Stiegenhaus zu hören. Stille… und wieder noch lauteres Klopfen: „Polizei, moch’n S‘ de Tia auf, heast, oder wir sind gezwungen, sie aufzubrechen.“ Stille…
Die Polizistin, die vor uns stand, zuckte mit den Schultern: „Ja, wenn das so ist, dann muss wohl die WEGA her. Ich melde das einmal an die Zentrale. Darf ich mir gleich einen Grundriss von Ihrer Wohnung aufzeichnen? Ihre Wohnung ist eh genauso wie die Wohnung über Ihnen, oder?“
Ich rang mit den Händen: „Keine Ahnung, ich glaube schon.“
Während die Polizistin ihre Meldung bei der Zentrale machte, ging sie durch die Wohnung und malte auf einen gelben, kleinen, an der Oberseite verklebbaren Zettel, ich glaube in der Bürofachsprache heißt so was Post-it oder so, den Grundriss der Wohnung auf und ging dann in den zweiten Stock zu ihrer Kollegin.

Unsere Mitte sechzigjährige, aber noch sehr rüstige Nachbarin im selben Stock, die die ganze Zeit fasziniert in ihrer Wohnungstür gestanden war, flüsterte, nachdem die Polizistin weg war: „Die Polizei war ja schon einige Male da und jedes Mal hat er sich heimlich vorher geschlichen, dieser Unmensch. Jedes Mal haben sie angeklopft und keiner war da und sie sind wieder gegangen. Diesmal machen sie hoffentlich endlich einmal was. Ich finde das sowieso komisch, warum sich dieses Mädl, das mit ihm zusammen ist, das überhaupt antut. Die ist hübsch und hätte so was ja gar nicht notwendig. Da hörst du sie tagein tagaus schreien und herumpoltern und am nächsten Tag gehen sie wieder wie ein frisch verliebtes Pärchen durchs Stiegenhaus.“
Ich nickte und machte einen auf kollegial und verständnisvoll, um mehr Informationen von ihr zu bekommen: „Ja, komisch. Warum haben Sie das nicht gleich der Polizei gesagt?“
Sie schüttelte den Kopf wie ein kleines trotziges Kind, dem sein Essen nicht schmeckte und das gerade von den Eltern gefüttert wurde: „Oh nein. Ich rede nichts mit der Polizei, da bekommt man nur Schwierigkeiten, das interessiert mich nicht. Da halte ich mich raus.“
Ich war verwundert: „Na geh, wieso? Die gibt’s ja extra dafür, dass wir uns alle sicher fühlen. Die machen das schon, da mach ich mir keine Sorgen. Man muss ihnen halt nur die Fakten erzählen, für den Rest sind die ja eh ausgebildet.“

Die Nachbarin war nicht zu überzeugen und winkte ab: „Nein, nein. Vertrauen Sie mir, ich habe schon so viel erlebt, es ist besser, man hält den Mund bei so was. Kaum ist bei irgendwelchen Sachen die Polizei dabei, hat man schon Schwierigkeiten.“
Irritiert von der Haltung der Nachbarin, wollte ich wieder dagegen argumentieren, aber da hörte ich schon lautes Getrappel von vielen schweren Stiefeln und da kamen auch schon die Herren von der WEGA in voller Montur angerannt und fragten mich wieder: „Dürfen wir uns kurz Ihre Wohnung anschauen? Ist die eh genauso wie die Wohnung über Ihnen?“
Ich zuckte wieder mit den Schultern und antwortete: „Keine Ahnung, aber ich glaube schon.“

Nachdem alle Leute von der WEGA freudig, wie gesagt in voller Montur, durch meine Wohnung getrappelt waren, schaute ich kurz auf meinen Boden, der ein Gemisch aus leicht feuchtem Straßenstaub und ein paar gatschigen Erdbröckerln geworden war, und dachte bei mir: „Egal. Da geht es um eine Frau, die wahrscheinlich halb erschlagen in der Wohnung liegt und von ihrem geistesgestörten Freund bedroht wird, da ist es wirklich egal, ob die eigene Wohnung dabei dreckig wird, wenn man die Herren, die da gut helfen wollen, noch ein bisschen unterstützen kann, indem man ihnen das Durchschauen der eigenen Wohnung ermöglicht“, und kam mir kurz wie ein Held und ehrenhafter Helfer in wichtigen Staatsangelegenheiten fürs Volk vor und als ich gerade Heldenpose einnehmen wollte, unterbrach meine Selbstbefeierung ganz lautes, schnelles Getrappel aus dem zweiten Stock und BUM.
Das Haus vibrierte. Getrappel… BUM.
Da kam die Polizistin wieder zu uns runter: „Die Kollegen von der WEGA brechen gerade mit dem Rammbock die Türe auf.“
BUM… Getrappel… BUM DOCK. Die Tür schlug gegen die Wand… ganz ganz schnelles Getrappel genau über uns.
Die Polizistin schaute zufrieden: „So, jetzt werden die Kollegen von der WEGA das gleich geklärt haben.“
Stille… dann relativ lange langsames Getrappel, da kamen schon zwei Leute von der WEGA wieder zu uns hinunter: „Da ist niemand in der Wohnung“, und schauten uns vorwurfsvoll an.

Die Polizistin seufzte und wurde zornig: „Wollt‘s ihr uns veroaschen? Was soll das? Wie gibt’s das bitte?“
Ich war überfordert: „Ja ich weiß es nicht. Ich hab ober mir lautes Herumschreien gehört und dann durch das gekippte Fenster, wie jemand die Polizei gerufen hat, ab dann war es ruhig und nach zehn Minuten oder so sind Sie dann gekommen.“
Die Polizistin schaute mich an, mit einem Gesicht wie eine Bürofrau, deren Aktenordner man falsch bezeichnet hat: „Wir waren bereits nach acht Minuten da. Na gut, wenn das so ist, dann werden wir wohl noch einmal ganz genau die Leute auf der Straße fragen, wie das wirklich war.“

Als die Polizistin dann unten war, hörte ich schon: „Ja genau, bei dem Fenster haben wir gesehen, wie er sie dagegen gedrückt hat, ganz sicher“, und dachte mir: „Na endlich, wenigstens ein Zweiter, der das Gleiche sagt wie ich.“
Die Polizistin kam wieder hinauf und schaute mich zornig an: „Die Leute auf der Straße sagen, dass der Vorfall bei Ihrem Fenster zu sehen war. Was haben Sie bitte getan?“
Ich war fassungslos: „Ich hab gar nichts getan. Ich habe mir mit meiner Freundin „Wetten dass..?“ angeschaut im Fernsehen und den Rest habe ich Ihnen schon erzählt.“
Plötzlich bekam die Polizistin einen mütterlichen Blick und sagte ganz ruhig und verständnisvoll: „Seid s‘ beide einfach ehrlich zu mir. Habt s‘ euch einen Spaß erlaubt? Habt s‘ vielleicht ein bissl spaßhalber herumgerangelt und die Leute auf der Straße haben das falsch verstanden?“
Ich konnte immer noch nicht fassen, was da gerade passierte: „Nein, haben wir nicht. Wir sind, wie schon gesagt, die ganze Zeit vorm Fernseher gesessen und den Rest habe ich, wie gesagt, schon erzählt.“
Die Polizistin schüttelte den Kopf: „Hach, das gibt’s ja nicht. Was reden die Leute auf der Straße dann für einen Blödsinn? Ich hol die jetzt rauf, wenn das okay ist, damit wir da endlich Klarheit haben.“

Ich schüttelte bemüht verständnisvoll und kollegial den Kopf und seufzte ein gequältes „Ok“. Fünf Minuten später kam die Polizistin mit den Leuten herauf in meine Wohnung. „So, meine Damen und Herren. Also, waren das jetzt der junge Herr und die junge Dame, die Sie beim Fenster gesehen haben?“
Ein Ende 20-jähriger, ziemlich fertig aussehender Mann sagte: „JA, ganz genau, die zwei sind das gewesen. Ich hab‘s ganz genau gesehen. Das finde ich echt scheiße von dir, was du deiner Freundin da antust. So was ist echt nicht ok.“
Ich schaute drein, als wäre vor mir gerade ein Raumschiff gelandet: „Bitte was soll das jetzt? Ich habe nichts gemacht. NICHTS!!!“
Er nickte ungläubig: „Ja, das hab ich eh gesehen, wie du nichts gemacht hast mit deiner armen Freundin.“
Ein Mann von der WEGA murmelte dazwischen: „Naja gut, also die junge Dame schaut nicht aus, als stünde sie unter Schock und blaue Flecken kann man auch keine erkennen.“
Entrüstet entgegnete der Anschuldigende: „Er braucht ihr ja nur in den Bauch hauen, da sieht man keine blauen Flecken.“

Sehr bemüht meine aufkommende Wut zu unterdrücken, antwortete ich halbwegs ruhig: „Wenn das, was du sagst stimmen sollte, dann müsste man ja beim Fenster irgendwelche Spuren davon sehen, dass ich sie angeblich dagegengedrückt haben soll, abgesehen davon, war nicht die ganze Zeit vom zweiten Stock die Rede?“
Der WEGA Beamte klinkte sich wieder ein: „Siegst, des is a Idee. Helfen S‘ ma bitte, dass wir das Kastl wegstellen vom Fenster, sonst komm ich ja gar nicht zum Fenster hin, dass ich es mir anschauen kann.“
Ich riss mich zusammen und schlug mir nicht vor den Leuten mit der flachen Hand auf die Stirn: „Wenn nicht einmal Sie als ausgebildeter WEGA Beamter ohne fremde Hilfe überhaupt zum Fenster hinkommen, wie kann ich dann meine Freundin dagegengedrückt haben?“ Meiner Freundin wurde es zu viel: „Mich hat niemand irgendwann irgendwohingedrückt. Ich bin vollkommen unverletzt und habe nirgends blaue Flecken noch sonst irgendwas. Wenn Sie wollen, können Sie mich alle gerne untersuchen. Es ist alles ganz genauso gewesen wie mein Freund gesagt hat. Abgesehen davon, wenn er das wirklich getan hätte, warum sollte ich ihn jetzt verteidigen?“

Der Anschuldiger wurde nervös: „Die Leute vom Fenster gegenüber auf der anderen Straßenseite haben es ja auch gesehen. Fragen Sie die doch, wenn sie mir nicht glauben.“
Die Polizistin verdrehte die Augen: „Jetzt gehen S‘ bitte alle einmal raus und wir werden uns um den Rest kümmern. Liebe Kollegen von der WEGA, ihr bleibts bitte da zur Sicherheit und ich geh rüber zu den Leuten von der anderen Straßenseite.“
Als die Polizistin weg war, stellte sich ein Herr von der WEGA breitbeinig vor mich hin und sprach: „So. Wir nehmen jetzt einmal Ihre Daten auf. Haben S‘ einen Ausweis da? Pass?…“
Von meiner Freundin wurden ebenfalls die Daten aufgenommen.

Nach fünfzehn Minuten kam dann die Polizistin wieder mit einem dunkelroten Kopf herein und brüllte meine Freundin an: „JETZT SAGEN SIE MIR ENDLICH DIE WAHRHEIT!!!“
Man konnte meiner Freundin ansehen, wie gleichzeitig Wut und Ärger über ihre Hilflosigkeit in ihr hochstiegen: „Was für eine Wahrheit? Wir haben Ihnen alles schon erzählt.“
Die Polizistin war außer sich: „SIE SIND DIE FREUNDIN VON DEM NACHBARN OBEN UND DER DA (sie zeigte auf mich) IST SEIN BRUDER UND SIE HABEN MIT BEIDEN WAS GEHABT UND DANN IST ES ZUM STREIT GEKOMMEN!!! DESWEGEN STIMMT AUCH DAS MIT DEM ZWEITEN STOCK, WEIL SIE NÄMLICH ZU DEM ZEITPUNKT, WO SIE GESEHEN WURDEN, ALLE OBEN WAREN!!!“

Die ganze Situation war derartig krank, dass ich gar nicht mehr aufgebracht, sondern wieder ganz ruhig war: „Also erstens bin ich ein Einzelkind. Zweitens kenne ich den oberen Nachbarn nicht und habe den vielleicht exakt zwei, drei Mal im Stiegenhaus gesehen, geschweige denn waren meine Freundin oder ich jemals in dessen Wohnung.“
Die Polizistin schaute Richtung Himmel: „Also Sie sagen, dass keiner von Ihnen den oberen Nachbarn kennt und Sie auch nicht mit ihm verwandt sind?“
Ich nickte zustimmend und die Polizistin legte sich selbst ihre Hand flach auf die Stirn: „Tun Sie mir einen Gefallen? Ich werde jetzt noch einmal hinuntergehen zu den Leuten vom gegenüberliegenden Haus, die Sie angeblich auch gesehen haben. Stellen Sie sich daweil zum Fenster und dann schauen wir, ob es sich nicht doch um einen Irrtum handelt.“

Ich nickte wieder bemüht freundlich und stellte mich zum Fenster. Als die Polizistin unten angekommen war, hörte ich sie fragen: „Meine Damen und Herren, Sie sehen dort beim Fenster im ersten Stock jetzt einen jungen Herren und eine junge Dame, waren es die beiden, die Sie gesehen haben?“
Wie wenn die Leute es geübt hätten, antworteten sie quirlig und hektisch: „JA, ganz genau die beiden waren es. Wir haben es ganz genau gesehen.“
Ich spürte wie sich mein Magen zusammenkrampfte, mir eiskalt auf Händen und Füßen wurde und ich zu zittern begann. Mir gingen dauernd Floskeln durch den Kopf wie: „Wenn du dich lang spielst, dann zeig ich dich an“ oder „Soll ich die Polizei holen, oder können wir uns auch ohne offizielle Hilfe weiter normal unterhalten?“
Wer sollte mir jetzt helfen? Zu wem sollte ich gehen? Man ist in fast allen Situationen im Leben gewöhnt, dass es noch einen letzten Rettungsanker gibt, noch eine letzte Möglichkeit, die einen, falls alles nichts mehr hilft, doch noch aus dem Dreck zieht. Was war es diesmal? Alle Leute, mit Ausnahme meiner Freundin, waren gegen mich, inklusive der Polizei und es gab nichts Handfestes, mit dem ich das Gegenteil beweisen konnte.

Da fiel mir wieder meine ältere freundliche Nachbarin ein: „Kaum ist bei irgendwelchen Sachen die Polizei dabei, hat man schon Schwierigkeiten.“ Dabei konnten die in dem Fall gar nichts dafür. Die hatten zwei Seiten, die das exakte Gegenteil voneinander behaupteten, zu einer wahrscheinlich doch sehr ernsten Angelegenheit, die dringend geklärt hätte werden sollen. Die Polizistin kam wieder herauf: „Also ich nehme an, dass Sie gehört haben, was die Leute unten gesagt haben.“
Jetzt meldete sich die Nachbarin doch zu Wort: „Hern S‘, das ist ein netter junger, höflicher Herr. Ich wohne seit vierzig Jahren in dieser Wohnung und habe noch nie einen so netten, zuvorkommenden Nachbarn gehabt. Noch nie hatten wir im Entferntesten ein Problem mit ihm, und ich hab auch noch nie irgendetwas Absonderliches gehört aus seiner Wohnung, also bitte. Da kann es sich wirklich nur um einen Irrtum handeln.“

Die Polizistin nickte mit routiniertem Zuhörgesicht: „Das mag alles sein, aber auch der freundlichste, netteste Mensch kann einmal durchdrehen.“
Sie wandte sich wieder meiner Freundin zu und schaute sie durchdringend an: „Also Ihnen fehlt nichts und Sie sagen, dass nichts von den Anschuldigungen gegen Ihren Freund stimmt?“
Meine Freundin nickte: „Ja, mir geht es gut und es stimmt nichts von den Anschuldigungen.“
Die Polizistin zuckte wieder mit den Schultern: „Gut. Dann werden wir alle wieder zurück aufs Revier fahren und einmal Ihre Daten überprüfen. Es kann sein, dass Sie eine Zeugenaussage machen müssen, aber da werden Sie dann eh schriftlich verständigt und da steht dann auch alles drin, was zu berücksichtigen ist. Guten Abend.“

Nachdem die Tür zu war, legten sich meine Freundin und ich ins Bett und zitterten. Wir waren beide eiskalt und trotzdem rann uns kalter Schweiß runter. Beide hatten wir das Gefühl, als müssten wir uns jeden Moment übergeben, weil unsere Mägen so verkrampft waren und so verbrachten wir die Nacht.

Am nächsten Tag in der Früh hörten wir, wie jemand im Stiegenhaus in den zweiten Stock ging, dann BUM: „OIDAAAAAAAAAAAAAAAA!!! WARUM HABEN DIE HURENKINDER MEINE WOHNUNG AUFGEBROCHEN? ICH BRING DIE UM OIDAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA, AAAAAAAAAAAAAAAAAAH“

Und man hörte, wie in der Wohnung über uns Sachen gegen die Wände flogen. Meine Freundin begann zu weinen: „Bitte, lass uns fahren. Ich mag nicht mehr hier sein. Bitte dürfen wir einfach wegfahren von hier. Ich mag weg. Ich hab Angst. Ich will nicht mehr. BITTE BITTE.“
Obwohl ich genau das Gleiche empfand, stieg Zorn in mir hoch. Wie kam ich dazu, obwohl ich absolut nichts Falsches gemacht hatte, wegen diesem Arschloch, aus Angst meine eigene Wohnung verlassen zu müssen. Der hatte eine schöne Nacht irgendwo anders, und ich hatte meine Nerven weggeschmissen, die ganze Nacht nichts geschlafen, die Polizei inklusive WEGA in der Wohnung, sechs Leute, die mich für etwas beschuldigten, das ich nicht getan hatte, und Angst um mich selbst und meine Freundin, in meiner eigenen Wohnung, und jetzt ging dieser Schwachsinn auch noch weiter mit dem Typen, der schuld an all dem war und gerade wieder einmal über uns durchdrehte.
Als er noch lauter zu schreien begann und man Glas zersplittern hörte, bekam meine Freundin einen Weinkrampf: „BITTE lass uns endlich fahren. Was ist, wenn der Wahnsinnige zu uns runterkommt? Ich will das nicht. Bitte fahren wir endlich.“
Ich konnte ein: „Na der soll sich hertrauen“ nicht zurückhalten, obwohl mir nur beim Gedanken daran, wie das dann tatsächlich wäre, wenn der wirklich herkommen würde, schon schlecht wurde, aber was tut man nicht alles, damit sich die Freundin sicher fühlt.

Nach: „OIDA ICH BRING DEN SO UM, DER DIE POLIZEI GERUFEN HAT. DAS WAR SICHER IRGENDEIN SCHEISS NACHBAAAAAAAAAAAAAAAR“, ließ ich mich dann aber dennoch relativ flott überreden, mit dem Auto durch die Gegend zu fahren.

Nach einigen Wochen und ein paar freundliche Stiegenhausbegrüßungen mit dem geistesgestörten Nachbarn später fühlte ich mich wieder sicher in meiner Wohnung. Im gewohnten Alltagstrott schaute ich in mein Briefkästchen und mir versetzte es gleich wieder einen Stich. Eine Zeugenladung der Polizei zu dem Vorfall am…blablabla. Ich zählte die Tage bis zum Datum der Zeugenladung und mich quälten die Fragen, die mir dauernd durch den Kopf gingen. Was ist, wenn die mich wirklich einsperren? Was ist, wenn das dort so weitergeht wie in der Nacht damals, dass weiterhin alle gegen mich sind und sich einig darin sind, dass ich meine Freundin geschlagen hab? Ich kam mir dabei so blöd vor. Wie in einem billigen Krimi, wobei wenn man darüber einen Film machen würde, würden die Leute sicher sagen: „Geh bitte, so ein Blödsinn, so was gibt’s ja gar nicht, naja denen fällt ja auch nichts mehr zum Verfilmen ein.“
Jetzt war der Tag da. 13:00 Uhr, beim Revier Floridsdorf.

Ich war zwanzig Minuten zu früh dort, also wartete ich mit schweißnassen Händen und wild hüpfendem Herz auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo ich ein Gespräch von einem kleinen Menschengrüppchen mithören durfte: „Und wie lange sperrens dich ein?“ „Naja, die haben gesagt, dass ich schon mindestens drei Jahre rein muss und ich jetzt aber noch auf die Gerichtsverhandlung warten muss. Vielleicht kann man es, wenn ich Glück habe, noch auf ein halbes Jahr verkürzen.“ „Ja super, und was mach ich jetzt? Ich hab zwei Kinder von dir und keinen Job.“ Mir wurde schlecht. Ich beschloss, noch eine Runde spazieren zu gehen, um nicht weiter zuhören zu müssen.
Endlich war es 12:59. Ich ging hinein und hörte von dem sympathischen Kollegen hinter dem Panzerglas: „Tag. Wos gibt’s?“ Ich antwortete mit zittriger Stimme: „Ich komme zur Zeugenladung um 13:00 Uhr.“
Die Tür schnappte auf, ich ging hinein und schaute mich ratlos um, da ich ja nicht wusste, wo ich hingehen sollte, also wandte ich mich wieder zum Panzerglaskollegen, doch bevor ich Luftholen konnte: „Der Kollege kummt glei, woatn S‘ do.“ Nach zwei Minuten kam ein diesmal tatsächlich sympathisch aussehender, Mitte vierzigjähriger Mann in T-Shirt und Jeans und begrüßte mich mit freundlichem Grinsen und einer Stimme, als würde er alle fünf Minuten zwanzig Zigaretten auf einmal rauchen und sich dazwischen fünf Stamperln Whiskey genehmigen. „Kommen S‘ bitte mit in mein Büro, mach ma das dort.“
Ich grüßte freundlich zurück und ging ihm nach wie ein schüchternes Hündchen, dem gerade sein neues Herrchen vorgestellt wurde. Sein Büro sah ganz unspektakulär aus. Nirgends hing eine Pinnwand mit Mordfallbildern noch sonstigen Klischees, die man immer in Fernsehserien zu sehen bekommt. „Nehmen S‘ bitte Platz.“ Dann fragte er mich nach meinen persönlichen Daten und sagte dann: „So, na dann erzähl’n S‘ einmal.“

Ich war so nervös, dass logisches Denken nur schwer möglich war: „Also einfach so von Anfang bis zum Schluss, wie es gewesen ist?“ Er nickte ruhig und routiniert, also begann ich zu erzählen, plötzlich fing er an zu tippen, wodurch ich aufhörte zu reden und fragte: „Achso, Entschuldigung, ich wusste nicht, dass Sie noch etwas erledigen müssen, oder soll ich eh trotzdem weitererzählen?“
Er nickte: „Jaja, erzählen S‘ nur weiter.“ Erst nach einiger Zeit kapierte ich, dass er einfach eins zu eins abtippte, was ich sprach und er das nicht gleich von sich aus sagte, damit die Leute dann nicht stundenlang herumüberlegen, was sie sagen sollen, also ließ ich mir von erzähltem Satz zu erzähltem Satz, einfach immer mehr Zeit, um auf keinen Fall irgendetwas zu sagen, was man missverstehen hätte können, aber da er andauernd bestätigend nickte und ihm anzusehen war, dass er sich das, was ich erzählte, in etwa so erhofft hatte, machte ich mir keine Sorgen mehr, bis ich mich selbst sagen hörte: „…ja und das wars dann eigentlich.“
Er nickte wieder zustimmend und schaute mir extrem ruhig, aber sehr durchdringend in die Augen: „Und Sie kennen den Herrn, der über Ihnen wohnt, nicht?“ Ich verneinte: „Nein, also halt nur vom Sehen im Stiegenhaus.“ Er nickte wieder: „Haben Sie eine weibliche Stimme bei dem Streit gehört?“ Ich verneinte: „Nein, eigentlich nicht. Ich habe immer nur ihn schreien gehört.“ Er nickte und schaute weiter durchdringend und ruhig: „Hätte es sein können, dass der Streit am Telefon stattgefunden hat?“ Ich hob die Schultern und drehte meine Handflächen nach oben: „Das kann ich nicht sagen.“
Er nickte wieder verständnisvoll: „Ja, das ist eh klar. Gibt es sonst noch etwas, das Sie mir sagen wollen?“ Ich zögerte ein bisschen und entschloss mich dann aber dennoch dazu: „Ich hab mir eigentlich vorgenommen, das nicht zu sagen, aber ich finde es einfach echt nicht lustig, dass ich von allen Seiten beschuldigt wurde, obwohl ich exakt genau nichts gemacht habe. Ich habe nicht einmal einen lauten Schas gelassen in meiner Wohnung.“
Ein mitfühlendes Grinsen war zu erkennen: „Ja, das verstehe ich schon, dass das nicht lustig ist.“ Ich schnaubte Zustimmung einfordernd: „Aber wie gibt es so was?“ Er hob die Augenbrauen und zuckte mit den Schultern: „Ich glaube, da hat sich einfach wer verschaut. Also danke, dass Sie bei den Ermittlungen geholfen haben. Nach der zweiten Tür links und dann sind S‘ eh schon beim Ausgang. Auf Wiedersehen.“
Er grinste mich freundlich an, ich grinste zurück, wir schüttelten uns die Hände und ich verließ das Revier.

Ich fühlte mich wie Gott, als ich die Straße hinunterging und wusste, dass es endlich geschafft war und gut ausgegangen ist. Die Ereignisse liefen in meinem Kopf noch einmal von Anfang an bis zum Schluss durch und Erleichterung machte sich breit, die sich aber plötzlich zu Ärger umwandelte. Ich habe doch eigentlich nichts gemacht, wie komme ich dazu, jetzt erleichtert sein zu müssen, obwohl ich es gar nicht verdient hatte, mich überhaupt schlecht zu fühlen? Wie gibt es das, dass so viele blöde unnötige Zufälle für so einen riesengroßen Schas sorgen? Das ist wieder einmal typisch mein Leben. Andere Leute fladern bei jedem Supermarkt den halben Einkauf und werden nie erwischt und ich mach gar nichts und werde beschuldigt, meine Freundin zu schlagen und muss als Dank dafür auch noch zu einer Zeugenladung. Andere schauen sich dafür „WEGA – Die Spezialeinheit der Polizei“ auf ATV an, weil sich sonst nichts Spannendes abspielt in deren Leben. Das kann ich bei mir wohl nicht behaupten, wobei es mich noch immer mehr ärgert als ich es unterm Strich lustig finde. Der unvergleichliche, sensationelle und geniale GUNKL hätte an dieser Stelle wohl „Gleichviel“ gesagt, um diese Geschichte mit einem Zitat von einem genialen Menschen zu beenden.

Lukas Lachnit
Kurzgeschichten: fiktiv, enorm, abnorm | Fleischlabel ©2012

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 15067

 

Unfair, fair

Vivien durfte sich von dem erbärmlichen Anblick, den Jeremiahs Eltern abgaben, nicht täuschen lassen. Der erste Schock würde bald überwunden sein und sie würden sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass sie einen Sohn hatten. Seine Mutter hatte verheulte Augen und zitterte am ganzen Körper in den Armen ihres Mannes, der offensichtlich seit Tagen nicht geschlafen hatte. Er hob seinen Kopf und starrte Vivien mit leeren Augen an.
Er wusste es. Viviens Herz raste. Sein Blick schien durch sie hindurchzugehen. Er wandte sein Gesicht ab und vergrub es in den zerzausten Haaren seiner Frau. Nein, er konnte es nicht wissen. Dazu war er viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Im ganzen Turnsaal der Schule wuselten andere Eltern herum und versuchten, sich gegenseitig in ihrer Anteilnahme zu übertreffen, während sie heilfroh darüber waren, dass nicht das Foto ihres eigenen Kindes als Plakat an der Wand hing.
Seit fünf Tagen wurde Jerry vermisst, mittlerweile beteiligte sich fast die ganze Vorstadt an der Suche. Auch von außen wurde zusätzliche Hilfe angefordert, Helikopter kreisten über den Wäldern und Suchhunde schnüffelten sich durch die Gegend. Jeremiahs Eltern hatten wirklich Talent, Menschen für ihre Sache zu gewinnen, das musste man ihnen lassen.
Aber sie würden ihn nicht finden.

Vivien wusste, dass es falsch war, einen Lieblingsschüler zu haben, aber diesen aufgeweckten Sechsjährigen konnte man nur gern haben. Sie hatte immer versucht, ihn nicht den anderen Kindern vorzuziehen, was ihr manchmal mehr, manchmal weniger gelang. Im Laufe des letzten Jahres war Jerry immer stiller geworden und Vivien musste mit ansehen, wie sich eine gewisse Traurigkeit über seine kindliche Neugier legte und sie zu ersticken drohte.
Sie war in den ersten drei Tagen immer auf den Beinen, stapfte mit den Suchtrupps durch die Landschaft und heuchelte Jerrys Eltern ihre Anteilnahme vor. Mittlerweile musste sie fast nichts mehr vorheucheln, das Mitleid war echt geworden. Das hatte sie nicht erwartet. Eng umschlungen saßen sie in der Mitte des Turnsaales auf einer alten Turnbank, während um sie herum die Suchtrupps koordiniert wurden und Freiwillige deren Verpflegung herbeischafften. Die Turnbank stand tatsächlich fast genau auf der Mittellinie des im Saal aufgezeichneten Fußballfeldes, genau darüber hing eine Natriumdampflampe und leuchtete den Mittelkreis aus. Vivien hatte sich schon gefragt, ob das Zufall war oder wirklich einer absichtlichen Inszenierung zugrunde lag.
Ihr Herz raste noch immer. Sie riss ihren Blick von Jeremiahs Eltern, steuerte mit schnellen Schritten auf den Hinterausgang zu und stürzte atemlos in die kalte Herbstnacht. Sie wollte sich übergeben, aber der Brechreiz blieb aus. Sie musste jetzt stark bleiben, sie hatte das Richtige getan.
Vivien atmete ein paar Mal tief durch und zwang sich, wieder den Turnsaal zu betreten. Barbara, die Direktorin der Schule, legte im Vorbeigehen ihre Hand sanft auf Viviens Schulter und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie musste ziemlich mitgenommen aussehen. Das war ihr nur recht, als Jerrys Lehrerin musste sie natürlich besonders betroffen wirken. Das wäre sie auch wirklich gewesen, wüsste sie nicht, dass er jetzt an einem besseren Ort war.
Den Rest des Abends verbrachte Vivien damit, die sich abwechselnden Suchtrupps mit Essen und warmen Getränken zu versorgen. Sie versuchte dabei, Jeremiahs Eltern so fern wie möglich zu bleiben, weil sie deren Anblick nur schwer ertragen konnte.

Nach einer fast schlaflosen Nacht saß sie mit einer starken Tasse Kaffee an ihrem Küchentisch und dachte an Jeremiah. Ein herzensgutes Kind, von seinen ignoranten Eltern im Stich gelassen. Man weiß etwas erst zu schätzen, wenn man es verloren hat, dachte Vivien. Im Fall der zwei war dieses Etwas ihr Sohn.
Nun war es zu spät.
Viviens Mitleid für Jerrys Eltern schwand wieder, jetzt, wo sie ihnen nicht in die Augen sehen musste. Sie starrte in die dampfende Kaffeetasse. Warum hatte sie überhaupt Kaffee gemacht, sie war viel zu aufgekratzt, um an Schlaf auch nur zu denken.
Sie sprang auf und rannte ins Badezimmer. Als sie sich über die Kloschüssel beugte, blieb der Brechreiz wie am vorigen Abend wieder aus. Die Spannung zerriss sie innerlich, und es gab nur einen Weg, diese Qual etwas zu lindern.

Vivien musste wissen, wie die Dinge standen, auch wenn das bedeutete, die Vereinbarung zu brechen. Sie musste Lisa fragen. Hastig zog sie ihren braunen Parka an und setzte sich die Pelzkapuze und eine große Sonnenbrille auf. Von ihrer Wohnung bis zum Internetcafe waren es mit dem Auto fünfzehn Minuten. Erleichtert kam sie, ohne jemanden von der Polizei gesehen zu haben, dort an. Sie und ein junger Asiate, der sie nicht beachtete, waren die einzigen dort so früh am Morgen. Auch vom Besitzer war keine Spur zu sehen. Leise arabische Musik drang durch die Lautsprecher aus der Decke. Ohne die Kapuze oder ihre Sonnenbrille abzusetzen, ging sie auf den PC in der Ecke zu und bemühte sich, dabei so gelassen wie möglich auszusehen. Sie warf ein paar säuberlich abgewischte Münzen in den Zähler und loggte sich in das E-Mail Postfach ein, das sie für diesen Zweck angelegt hatte.
Eine neue Nachricht. Vivien starrte auf die Meldung.
Nur Lisa kannte diese Mailadresse. Das bedeutete, sie hatte sich auch nicht an die Abmachung gehalten. War etwas passiert?
„Was haben wir getan. Warum habe ich mich von dir dazu überreden lassen? Wir kommen niemals damit durch. Wir müssen es zugeben. Ich drehe hier noch durch ohne dich. – B“
Es wäre gelogen gewesen, wenn Vivien behauptet hätte, nicht dasselbe gedacht zu haben. Sie überlegte kurz. Hoffentlich hatte Lisa noch nichts Unüberlegtes getan.
„Für Reue ist es zu spät. Es ist auch für mich sehr schwer, aber wir müssen stark bleiben. Erinnere dich daran, warum wir es getan haben. Es ist für alle das Beste, das weißt du. Er wird es auch bald verstehen. Bleib stark, es wird alles gut. – A
P.S.: Ich weiß, dass es ihm bei dir gut geht, du musst auch für ihn die Nerven bewahren. Ich werde bei dir sein, sobald es möglich ist.“

Vivien loggte sich aus, wischte mit ihrem Ärmel die Tastatur ab und verließ das Cafe. Der andere Gast hatte nicht ein einziges Mal den Blick von seinem Bildschirm abgewandt.
Auf dem Weg zur Schule fuhr sie an einer Hundestaffel und einer Gruppe Freiwilliger vorbei. Sie blieb am Straßenrand stehen und versuchte durchzuatmen.
Vivien umklammerte fest das Lenkrad und musste an ihr letztes Gespräch mit Jerrys Eltern denken, drei Monate bevor er verschwunden war.
Zu mehreren Anlässen schon hatte sie Jeremiahs Eltern darauf aufmerksam gemacht, dass ein so aufgewecktes und neugieriges Kind besondere Aufmerksamkeit und Zuwendung brauchte und dass sie als seine Lehrerin nur als Unterstützerin in seiner kindlichen Entwicklung dienen könnte. Für seine Erziehung und Förderung waren sie selbst zuständig. Und jedes Mal kam Vivien vor, als würde sie an den beiden vorbeireden. Ihnen war die Entwicklung ihres Sohnes scheißegal.
Sie beteuerten anfangs noch, Jeremiah in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, aber je öfter Vivien mit ihnen redete, desto weniger strengten sie sich an, dieser lästigen Lehrerin auch nur vorzumachen, um die Entwicklung ihres Sohnes besorgt zu sein. Jeremiahs Vater war mittlerweile sichtlich genervt von den Belehrungsversuchen. Er machte keinen Hehl daraus, dass er mit der Frechheit, die Vivien sich herausnahm, ihm vorzuschreiben, wie er seinen Sohn zu erziehen hatte, nicht wirklich einverstanden war. Er blieb zwar immer höflich, ließ aber keinen Zweifel daran, dass er dieses Gespräch vergessen haben würde, sobald er den Raum verlassen hatte.
Das selbstgefällige Grinsen war im Turnsaal von seinem Gesicht verschwunden. Jeremiahs  Mutter gab sich zwar immer besorgt, war schlussendlich aber die gleiche Ignorantin wie ihr Mann. Was sollte man auch von Eltern, die beide in der Werbung unverschämt viel Geld verdienten, erwarten.

Vivien konnte sich nicht erklären, warum ihr gerade Jerry so am Herzen lag, es gab in ihrer Klasse auch ein paar andere Kinder, denen etwas mehr Aufmerksamkeit guttäte. Er hatte einfach etwas an sich, dem Vivien nicht widerstehen konnte. Warum seine Eltern das nicht so sahen, war ihr rätselhaft. Seine Eltern schlugen ihn nicht, sie ließen ihn nicht ohne Aufsicht allein, sie taten nichts, was eine Intervention von außen rechtfertigte. Sie taten einfach gar nichts.
Wenn er nicht in der Schule war, verbrachte Jerry die meiste Zeit mit den ständig wechselnden Kindermädchen, die sein Vater an- und vermutlich auch abschleppte. Das letzte Gespräch hatte wieder denselben Ausgang genommen. Jerry Eltern versprachen, sich mehr um ihn zu kümmern und schwebten mit ihrem typisch herablassenden Grinsen aus dem Klassenraum. Jerry wäre an der Gleichgültigkeit seiner Eltern noch zugrunde gegangen.

Als sie nach dem Elternabend zuhause ankam, musste sie ihren Frust loswerden. Robert war noch im Büro, also musste sie ihre beste Freundin anrufen.
„Jerry mal wieder, hm?“, wurde sie von Lisa begrüßt.
„Woher wusstest du das?“
„Es ist jetzt kurz nach sechs und wenn ich mich recht erinnere, hattest du heute Elternsprechtag.“
„Es ist einfach nicht fair, die können das arme Kind doch nicht ungestraft so vermurksen.“

Samuel Deisenberger

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 15064

Das Verhör

In einer stürmischen Gewitternacht entdeckt das Stubenmädchen eines privaten Kurheimes, Fräulein Trixi, beim abendlichen Zimmerdurchgang die Leiche einer älteren Pflegebedürftigen. Wurde sie erstickt? Womöglich mit einem Polster? Während sich die übrigen Gäste im Salon des Hauses beim Bridgespiel vergnügen, ruft man unterdessen diskret Polizei und Rettung. Ein Kommissar wird noch in derselben Nacht zur Untersuchung des Falles abgestellt. Kommissar Braumüller beginnt sein Verhör konsequent und nimmt sich systematisch jeden vor, der ihm verdächtig erscheint. Sein Hauptverdacht gilt nicht zuletzt dem Gatten der Ermordeten, der überdies noch mit seiner Geliebten in ein und demselben Hause weilt, wie auch einer gewissen Frau Trinks, die er durch seine konsequenten Fragen in die Enge zu treiben versucht.

„Frau Trinks“, fragte Braumüller, „waren Sie an diesem Abend im Zimmer von Frau Rabitsch oder nicht?“ Die Trinks stockte, und flüsterte nach längerem Warten ein leises „ Ja“. „Na bitte, also drüben waren Sie bei ihr, das steht wohl jetzt eindeutig fest.“ Der Kommissar zündete sich die nächste Zigarette an. Jetzt wurde Professor Ebner wieder etwas munterer. Er konnte sich nicht mehr zurückhalten und hob zögernd die Hand, als ob er etwas sagen wollte, reine Gewohnheit, ein ewiger Schulmann eben.
Aber der Kommissar bemerkte es nicht. Er inhalierte in tiefen Zügen und rannte wieder auf und ab, stoppte jäh vor einer Topfpalme, die als Raumteiler diente und kehrte wieder um. Hin und her, wie ein Tier in seinem Käfig. „Hm! Was könnte das zu bedeuten haben“, fuhr der Kommissar fort, und diesmal fixierte er die Trinks mit stechendem Blick, „Frau Trinks, wenn eine Person, die mit einem Polster erstickt werden soll, ihre Hände nicht in Abwehrstellung gegen den Polster erhebt, sondern die Hände so hält, als wollte sie dem Täter dabei noch behilflich sein, den Polster sozusagen von oben her noch zu sich heran drückt?“
Sybilla Trinks starrte ihn lange an und sagte nichts. „Frau Trinks, ich habe Sie etwas gefragt?“ Braumüller ließ nicht locker. Professor Ebner fiel vor innerer Erregung beinahe vom Stuhl. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, schnappte nach Luft wie ein frisch gefangener Karpfen und sein Gesicht glühte förmlich und war blutrot. „Ich bin kein Kriminalist“, sagte Sybilla Trinks plötzlich zögernd. „Sind Sie nicht, ich weiß. Aber ich bin einer. Und ich könnte daraus Verschiedenes schließen. Aber ich tue es nicht. Ich stelle es einfach in den Raum – einfach in den Raum, ja!“

Es folgte eine unerträgliche Stille, in der Professor Ebner Moll ansah, Moll den Professor. Traunstein beobachtete beide. Manon hatte die Augen geschlossen und döste so vor sich hin. Die Maar blickte beinahe siegessicher und mit hoch erhobenem Haupt zu Sybilla Trinks hinüber, während Irene Hase unentwegt in ihren kleinen, rosafarbenen Schminkspiegel starrte. Fräulein Trixi sah unruhig von einem zum anderen und verstand die Welt nicht mehr. Von draußen hörte man eine Nachtigall schlagen und von weiter her ein Käuzchen rufen. Unüberhörbar – die Pendeluhr.
Der Kommissar sah auf seine eigene Uhr und seufzte. Aber seine Gedanken waren schon wieder ganz wo anders, denn schließlich war er ja hier nicht zur Kur. Er ging auf Manon zu. „Schlafen Sie schon, junger Mann?“, fragte er. Manon, aus seinem kurzen Nickerchen gerissen, stammelte ein „Nein, nein“. „Gut. Ich möchte von Ihnen noch etwas wissen. Haben Sie jemals mit Herrn Rabitsch gesprochen? So – Belangloses, muss gar nicht wichtig gewesen sein?“ Manon fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes, dunkles Haar. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Dann dachte er an den Vortrag, den ihm Rabitsch gehalten hatte. Er zögerte noch. „Haben Sie, oder haben Sie nicht?“, fragte Braumüller erbarmungslos. „Herr Rabitsch hat schon …“ „Was?“, fragte der Kommissar ungeduldig. „Na, er hat mich – äh, er hat mir die Situation am Arbeitsmarkt erklärt.“
„Was waren Sie von Beruf?“, fragte der Kommissar Rabitsch. „Ich? Ich war Prokurist in einer Lebensmittelfirma.“ „Wie lange ist das her?“ „Ungefähr – zwanzig Jahre“, sagte Rabitsch. „Da sind Sie eigentlich weg vom Fenster, was?“, lachte Braumüller. „Wie kommen Sie in diese beratende Funktion, würde mich interessieren?“ Rabitsch war grantig, das sah man ihm an. „Nun, ich lese Zeitung“, sagte er, ohne seinen Ärger zu verheimlichen. „Zeitung lesen Sie? Glauben Sie, dass Ihnen das die notwendige Legitimation gewährt, Arbeitsmarktberichte abzugeben?“, grinste der Kommissar. Die anderen schmunzelten. „Was hat er noch gesagt?“, erkundigte sich Braumüller bei Manon. „Ja, irgendwie hat er gemeint, dass die jungen Leute heutzutage nichts mehr angreifen wollen, und gleich viel Geld verdienen wollen und so. Und er hat auch gesagt, dass er und Frau Maar die Sonne und das Meer lieben.

Das war alles.“ Braumüller zog eine Zigarette aus der Packung, zündete sie an, und blies den Rauch in kleinen Wölkchen vor sich her. „Wer nicht, Herrschaften, wer nicht, was?“, meinte er. „Aber leider, heute sind wir hier, und nicht in – Bibione! Dorthin fahren Sie ja so gerne, Herr – Rabitsch?“ Braumüller hob die Brauen und sah Rabitsch scharf an. „Das soll ja nicht gerade gratis sein, wie ich immer höre. Unsereiner kann sich das nicht leisten“, sagte er mit leiser Stimme. „Mit einer kleinen Rente ist das überdies nicht möglich. Darf ich fragen, wer Ihre Reisen zu finanzieren pflegt?“
Rabitsch begann sich aufzuplustern wie ein Truthahn. „Ich glaube nicht, dass das für Sie von Belang ist“, meinte erbost. „Oh doch, lieber Herr, das ist sehr wohl von Belang für mich. Frau Maar, bezahlen Sie das, wenn ich so frei sein darf?“, wandte er sich an die Geliebte Rabitschs. Sie wurde rot wie eine Tomate. „Nein. Ja, natürlich. Also, halb halb“, stotterte sie. „Hervorragend, das war wieder eine Antwort! Darf ich es mir jetzt aussuchen, wie die Sache liegt, oder was?“
Jetzt setzte sich Rabitsch in Position. „Natürlich bezahle ich das, das ist doch selbstverständlich.“ „Sie sind ja schließlich der Gentleman, ich verstehe. Die Rechnungen hier in der Pension bezahlt alle Ihre Gattin, soweit ich das in der kurzen Zeit feststellen konnte. Sie sind also von ihr eingeladen, wenn ich das richtig verstehe, oder?“ Rabitsch zerknüllte nur sein Taschentuch mit den Buchstaben B.R. „Ich habe geerbt“, sagte er plötzlich. „Schön für Sie. Und von wem, wenn man fragen darf?“
„Dürfen Sie nicht!“, sagte Rabitsch schlagfertig. „Gut! Ich habe in Ihrem Zimmer eine Dokumentenmappe gefunden. Darin befindet sich unter anderem auch ein Testament Ihrer Gattin.“ Rabitsch wurde noch eine Stufe blasser.
Die anderen hoben ruckartig ihre Köpfe. Professor Ebner wollte schon seine Hand heben, ließ sie aber wieder sinken. „Haben Sie dazu eine Order?“, fragte Rabitsch erbost. „Ich brauche keine Order. In so einem Fall darf ich alles, beinahe alles“, brummte Braumüller. „Ich habe in dieser Mappe hochinteressante Dinge entdeckt, Herr – Rabitsch!“, fuhr der Kommissar fort. „Und welche, wenn erlaubt ist, zu fragen?“, zischte er. „Nun, Sie sind darin beispielsweise in einer Ablebensversicherung als Universalerbe eingesetzt, Herr Rabitsch!“
Dieser Satz fuhr wie ein Donnerschlag in die Runde ein. Rabitsch war aufgesprungen. „Was wollen Sie damit sagen?“, fragte er ganz langsam, gepresst. Alle anderen redeten heftig aufeinander ein. Der Kommissar schien den allgemeinen Aufruhr aufs Höchste zu genießen und sog genüsslich an seiner Zigarette, die beinahe schon bis zum Filter glühte. „Was, zum Donnerwetter, soll das? Was bezwecken Sie mit dieser Bemerkung? Wollen Sie mich hier als – Mörder bloßstellen, wie? Ich möchte sofort meinen Anwalt anrufen! Jetzt! Mitten in der Nacht! Das ist unerhört, was ich mir hier bieten lassen muss! Unerhört!“

Er ging jetzt aufgeregt auf und ab, zu aufgebracht, um seinen Platz beizubehalten. „Beruhigen Sie sich wieder, Herr Rabitsch. Ich habe doch gar nichts gesagt, außer, dass ich dieses Dokument vorgefunden habe. Sonst nichts! Was regen Sie sich denn so künstlich auf?“ „Soll ich nicht? Soll ich mich nicht aufregen? Sie legen mir ja förmlich in den Mund, dass ich es gewesen sein muss, oder etwa nicht? Jetzt haben Sie Ihr verdammtes Indiz! Jetzt haben Sie es gefunden! Darauf wollten Sie doch von Anfang an hinaus, nicht wahr?“
Braumüller dämpfte seelenruhig seine Zigarette im Aschenbecher aus. „Noch ist hier niemand schuldig gesprochen, ja? Stellen wir das einmal fest. Wie Sie sehen konnten, ist die Wirkung dieser Mitteilung nicht ganz unbemerkt geblieben“, meinte der Kommissar ostentativ. „Eine unerhörte Bloßstellung, das! In diesem Haus kann ich mich ja nicht mehr sehen lassen!“, tobte Rabitsch und zog an seiner Schalkrawatte, um sich etwas Luft zu verschaffen. „Nun verlieren Sie doch nicht gleich die Contenance“, riet ihm Graf Traunstein, „das ist ja unerträglich, welcher nervlichen Belastung man uns hier aussetzt. Schließlich sind wir allesamt nicht gesund und zur Rehabilitation hier. Ich würde sagen, man sollte dieses Verhör am Tage anberaumen, das muss man sich ja nicht gefallen lassen, nicht wahr?“
Da schien Kommissar Braumüller auf einmal etwas verunsichert, ob er nicht doch zu weit gegangen war. „Vielleicht haben Sie recht, Herr – Traunstein“, sagte er, „ich brauche nicht mehr lange. Morgen ist ja auch noch ein Tag, ja, Sie haben völlig recht.“ Er verschränkte seine Arme über dem Sakko mit den Lederflecken an den Ärmeln und schickte sich an, wieder seinen Marsch zu beginnen, hin zur Topfpalme, wieder zurück bis zum Sofa und so fort.

Die Anwesenden verdrehten enerviert die Augen. „Man bietet hier alle Arten von Massagen an, höre ich. Bäder, Moorbäder, Schönheitspackungen. Gesichts- und Körperbehandlungen oder – Vital-Pakete und so ein Zeug. Waren Sie schon einmal in der Gradieranlage?“, fragte Braumüller Rabitsch. „Was soll das jetzt? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“, sagte dieser verunsichert. „Nur so. Ich wollte fragen, welche Art von Behandlungen Sie hier machen.“ „Keine“, antwortete Rabitsch kurz. „Warum nicht?“ „Weil ich nicht krank bin, deshalb. Ich bin mit meiner Gattin hierher gefahren, damit ich für sie …“. „Herr Rabitsch“, lächelte der Kommissar plötzlich, „Sie haben mit Ihrer Gattin doch hier gar nichts zu tun. Sie wohnen in einem anderen Zimmer, Sie gehen tagsüber ihre Wege und spielen des Nachts hier herunten Karten und geben sich dem Gesellschaftsleben hin. Wieso sind Sie nicht woanders hingefahren? Ihre Frau braucht Sie ja gar nicht?“
„Sie sind wirklich unverschämt“, sagte Rabitsch und wandte sich von ihm ab. „Ja, ja. Das ist so meine Natur. Gegenüber der Gradieranlage ist ein Reisebüro. Im Zimmer von Frau Maar liegen zwei Karten für eine Schiffsreise. Ich denke, es war eine Kreuzfahrt. So genau habe ich es nicht gelesen. Und wenn ich mich nicht getäuscht habe, dann fahren Sie morgen ab. Ist das richtig? Ihre Frau bleibt aber noch zwei Wochen. Allein, wie ich annehme? Oder?“ Rabitsch sagte nichts.

Linda Maar rieb sich die müden Augen mit den Fingern beider Hände. „Wann werden Sie fahren?“, fragte Braumüller, „es ist ziemlich weit bis Genua. Sie nehmen doch Ihr Auto, nicht wahr? Es ist noch kein Jahr alt. Hat Ihnen das Ihre Gattin zum Geburtstag geschenkt? Für das aufopfernde Verhalten ihr gegenüber?“, ätzte der Kommissar. „Pff!“, machte Rabitsch. „Also gut. Das gehört nicht hierher. Ich weise Sie allerdings darauf hin, dass Sie ab sofort den Ort nicht zu verlassen und sich alle zwei Stunden im Kommissariat zu melden haben. Ist das klar?“
Rabitsch kochte vor Wut. Aber er nickte zustimmend. Die Maar schluchzte einmal kurz auf.

Moll bemerkte ein anderes Plakat, ebenfalls in Türnähe. Die Jagd- und Naturausstellung wäre ab jetzt täglich geöffnet, oben, auf der Alm. Das könnte er morgen schaffen, nach dem Gang um den See. Wenn man doch endlich schlafen gehen könnte! Professor Ebner bat, austreten zu dürfen. Das kam dem Kommissar sehr gelegen und er ging gleich mit ihm. So trat eine Weile Ruhe ein im Salon. Rabitsch wich den Blicken der anderen unentwegt aus. Der Graf flüsterte etwas mit Frau Hase. Die Trinks gähnte gelangweilt vor sich hin. Die architektonische Pracht des postromantischen Salons begann unter der Müdigkeit seiner Betrachter immer mehr zu verblassen und die Faszination des von dunklen Holzbalken umgebenen Kamins schwand mit jedem Schlag der dominierenden Pendeluhr, die ihm den Rang abzulaufen begann.
Da betraten Ebner und der Kommissar wieder den Salon. Ebner setzte sich artig, erleichtert, als hätte er eben gebeichtet. Aber vielleicht war es auch nur wegen des Wasserlassens. Kommissar Braumüller stellte sich provozierend in die Mitte des Raumes, hüstelte ein wenig und griff dann in seine Rocktasche, um sich abermals eine Zigarette zu angeln und sie anzuzünden. „Frau – äh, Frau Trinks“, begann der Kommissar. Moll spitzte die Ohren. Hatte der Professor irgendetwas Dummes gesagt, da draußen? Das sähe ihm ähnlich, dachte er.

„Ich habe noch eine kleine Frage an Sie.“ Sybilla Trinks sah ihn erwartungsvoll an. „Finden Sie, dass es richtig ist, das Leben eines Menschen nicht um jeden Preis zu erhalten, oder sagen wir, zu verlängern, wenn beispielsweise – nehmen wir einmal an, ja? Wenn also beispielsweise der Leidenszustand des oder der Kranken nicht mehr, äh – behoben werden kann? Wenn das Leben zur Qual geworden ist, ja, nicht mehr lebenswert ist? Frau Trinks?“ Der Kommissar sah sie lange und ganz genau an. Sybilla Trinks verzog keine Miene. Sie dachte nach, was sie antworten sollte. Braumüller ließ ihr diesmal Zeit. Viel Zeit. Schließlich gab sie ihm folgende Antwort: „Wenn ich Sie recht verstehe, fragen Sie aus einer ganz bestimmten Absicht heraus?“ Der Kommissar nickte: „Ich frage stets in einer bestimmten Absicht, ja, das ist mein Beruf!“, sagte er. „Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass man ein so unlebenswertes Leben unter besonderen Umständen beenden könnte, wenn eine todkranke Person das so will, vorausgesetzt, dass sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist, so einen Schritt für sich selbst entscheiden zu können, ja!“, sagte sie entschlossen.
Moll wurde ganz schwach in den Beinen. Jetzt ist sie dran, dachte er! Sie muss verrückt geworden sein. Es gibt überhaupt keine Beweise dafür, dass sie … Wahnsinn, das alles! „Aha! Sie meinen also, Euthanasie hätte Berechtigung, lebensunwertem Leben aus Gründen des, äh, wie auch immer man es bezeichnet, nennen wir es – Mitleid – durch den Gnadentod zu – wie soll ich es ausdrücken – eben ein Ende zu bereiten. Ist das richtig?“ „Ja, durchaus. Könnte ich mir vorstellen. Wenn die Schmerzen unerträglich werden – ja ja, ich würde das für mich beanspruchen.“

Der Kommissar ging rascher auf und ab. Er kratzte sich jetzt einmal an seiner Glatze, dann wieder am Kinn. Er strich seinen Schnurrbart, um sich hinterher wieder an der Glatze zu kratzen. Seine Zigarette glimmte wie ein Hochofen. Die Anwesenden wurden unruhig. Die Augen des Professors glühten wie Kohlen und sein Mund schnitt eine Grimasse nach der anderen. Seine Zähne mahlten und er schwitzte auf seiner roten Stirn, als ob er in der Sauna säße. Graf Traunstein hatte sich aufgesetzt und vergaß beinahe, zu atmen.
Die Damen wischten ihre feuchten Hände in Servietten und Papiertaschentücher, während Manon blöde vor sich hingrinste. Fräulein Trixi aber verstand die Welt noch immer nicht und schüttelte ihr brünettes Köpfchen vor Verwunderung über das, was hier ablief. „Ist Ihnen bekannt, Frau Trinks, dass schon einmal in diesem, nein, im vorigen Jahrhundert im Zusammenhang mit unheilbar kranken Menschen von…“, er machte eine kleine Pause, „leeren Menschenhülsen und Ballastexistenzen die Rede war?“ Sybilla Trinks lachte kurz auf. „Nein, tut mir leid. So etwas hab‘ ich noch nie gehört, ehrlich!“ Dann lachte sie abermals. „Sollten Sie aber, Verehrteste, sollten Sie aber!“

„Wie meinen Sie das?“, fragte sie naiv. „Damals war davon die Rede, man müsse solche Menschen abstoßen, wie verfaulte Organismen, und das war nicht nur gegen verblödete Kinder gerichtet, oder Psychopathen, durchaus nicht. Man hatte daran gedacht, nicht nur alle möglichen Geisteskrankheiten auszurotten – durch Euthanasie –, sondern auch anderen Erbkrankheiten auf diese Weise den Garaus zu machen.“ Er blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Runde.
„Jetzt gehen Sie aber wirklich zu weit!“, rief der Graf erbost, „was fällt Ihnen ein, solche Assoziationen zwischen diesen ekelhaften Dingen und Frau Trinks herzustellen? Wer glauben Sie, dass Sie sind?“ Der Graf war außer sich.
„Bleiben S‘ ruhig, Herr Traunstein. Ich stelle wie immer nur Dinge in den Raum, die für mich durchaus relevant sind – in meinen Überlegungen, wenn Sie verstehen, was ich meine?“ Traunstein hatte sich wieder Irene Hase zugewandt und flüsterte ihr abermals etwas ins Ohr. „Wenn Sie was zu sagen haben, Herr Traunstein, dann tun Sie es laut, damit wir alle was davon haben, ja?“, ermahnte Braumüller den Grafen. „Ist nicht von Belang für Sie!“, antwortete Traunstein trotzig. „Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, Frau Trinks, stellen Sie sich vor, das macht Schule! Die Billigung einer Art Gnadentod-Aktion, z z z , stellen Sie sich das alle einmal vor, Herrschaften. Ja, wo kämen wir denn da hin? Wer sollte denn das entscheiden, wann so etwas legitim ist? Haben Sie sich das schon einmal gefragt? Ganz zu schweigen davon, dass sich jeder Dahergelaufene dazu berufen fühlen könnte, so einem Wunsch auf eigene Faust nachzukommen, oder etwa nicht, Frau Trinks?“
Syblla Trinks legte ihre linke Hand auf die Brust und atmete schwer. „Wie reden Sie denn mit mir?“, fauchte sie den Kommissar an, „oder – halten Sie mich etwa für die…“. „Ich habe mit keinem Wort angedeutet, dass ich Sie in irgendeiner Form belasten würde. Ich habe lediglich versucht, Ihnen ein Beispiel zu nennen. Was den Tod von Frau Rabitsch betrifft, so habe ich hier meine eigene Theorie und ich werde sie Ihnen bekannt geben, sobald ich meine Befragung für beendet erklärt habe. Punktum!“
Frau Trinks lehnte sich empört zurück. „Ich werde Ihre Fragen nicht mehr beantworten!“, sagte sie entschlossen und warf ihren Kopf stolz in den Nacken. „Bitte, kann ich Ihnen nicht verübeln. Sie haben das Recht als Zeuge, die Auskunft über solche Fragen zu verweigern, wenn Sie der Auffassung sind, deren Beantwortung könnte für Sie die Gefahr einer Strafverfolgung in sich bergen. Gestehe ich Ihnen zu. Ich mache Sie aber darauf aufmerksam“, und der Kommissar hob die rechte Hand und streckte seinen Zeigefinger senkrecht empor, „dass Sie dazu verpflichtet sind, den ordnungsgemäßen Ablauf dieser Befragung hier, der für den späteren Beweis der Wahrheitsfindung erforderlich ist, nach bestem Wissen und Gewissen zu unterstützen und über Ihre konkreten Wahrnehmungen bezüglich diverser vergangener Tatbestände und Zustände, und darauf lege ich besonderen Wert, Zustände!“, er wiederholte dieses Wort langsam und mit besonderem Nachdruck, „Zeugnis ablegen. Ist Ihnen das klar, Frau Trinks?“
Sybilla Trinks sagte nichts. „Gut“, begnügte sich Braumüller vorläufig damit, „werde ich meine Gedanken eben alleine weiterspinnen und dabei hoffen, einigermaßen Ihrem Geschmack zu entsprechen“, setzte er zynisch hinzu. „Übrigens wollte ich vorhin noch ergänzen, dass sich damals Ärzte, die Kirche und vor allen Dingen die Juristen absolut dagegen ausgesprochen haben. Und, Frau Trinks, glauben Sie mir, das würde heute nicht anders sein. Es kann niemand von uns auf diese Weise über Leben und Tod entscheiden, das sollten Sie sich einprägen. Haben Sie gehört? Sich einprägen – einprägen!“

Moll war, als verhallten die Worte des Kommissars wie ein Echo. Er meinte, geschlafen zu haben, und – plötzlich erwacht zu sein, dann aber wieder – aber nein, da waren sie ja alle, der Graf, die Maar und die Hase, Manon, Fräulein Trixi, und dieser entsetzliche Kommissar, der ständig vor ihnen auf und ab lief, zum Greifen nahe, alle, wie sie lebten.
„Und noch etwas, Frau Trinks, nach dem Krieg hat es zahlreiche Prozesse gegeben, zahlreiche, sag ich Ihnen, in denen sowohl Ärzte als auch das Pflegepersonal einiger Heilanstalten, welche für die Tötungen maßgeblich beteiligt waren, zur Verantwortung gezogen worden sind. Haben Sie das gewusst?“
Doch Sybilla Trinks blickte nur demonstrativ zur Decke hoch. Als ob sie das Fries betrachtete, dachte Moll, und er bekam wieder diese Angst, eine unsägliche Angst vor dem nächsten Tag, an dem er sich wieder selbst ertragen musste, solange, bis ihn am Abend endlich der Schlaf überwältigte und in eine andere Welt hinübertrug, in eine, in der er sich nicht mehr selbst zur Last fiel und von sich erholen konnte.

Aber der Kommissar ging noch immer auf und ab und rauchte in einem fort. Professor Ebner hingegen schien gar nicht zufrieden zu sein mit dem Ergebnis der letzten Befragung von Trinks durch den Kommissar, und Moll quälten die Gedanken zu Tode, worüber dieser entsetzliche Schulmensch wohl mit ihm gesprochen haben mochte? Es musste irgendwo einen Schlüssel in die Vergangenheit geben, ja, ganz offensichtlich, die in Molls Gegenwart eine wichtige Rolle zu spielen schien, eine Art Mythologie, die sich in seinem Inneren abzuspielen anschickte, ausgehend von einem wichtigen Ereignis, dessen er sich augenblicklich nicht zu entsinnen vermochte, ob es im Zusammenhang zu seiner momentanen individuellen Entwicklung stünde, gar aus einem Bedürfnis heraus, einem unerfüllten Wunschdenken vielleicht, dessen Ursachen er sich nicht erklären konnte. Aber eines spürte er, dass es sich aus einer konflikthaften Anregung um das Tagesgeschehen handeln musste, von der er meinte, dass sie sich ihm bewusst darstellte und er all diese Verdrängungen, die damit in unmittelbarem Zusammenhang standen, auf irgendeine Weise gelöst haben wollte. Die Geschehnisse des Tages und diese – diese Reize der Vergangenheit, waren nicht identisch mit dem, was ihm hier widerfuhr, dachte er.
Er konnte mit der Person dieses Kommissars nichts anfangen. Und Moll bemühte sich, dessen Gesicht zu erkennen, was ihm nicht gelingen wollte. Einmal meinte er, kurz jenes eines guten Freundes in ihm zu sehen, dann wiederum eine Figur aus einem Film, ja, aus irgendeinem Film wahrscheinlich. Diese Schranke zur bewussten Wahrnehmung konnte und konnte er in diesem Fall nicht überschreiten, aber andererseits war ihm, als würde ihm alles Unbewusste von einer fremden Macht aus dem Bewussten entzogen. Für Moll hatte alles Wahrheitsgehalt, was hier vor sich ging, keine Frage. Nichts kam ihm dabei wirr oder unzusammenhängend vor, oder gar widersprüchlich, auch wenn die Person des Kommissars durch eine andere Person ersetzt schien, für Augenblicke zumindest.
Die Zeugeneinvernahme lief vor seinen Augen ab wie eine Art Halluzination, in der er gewissermaßen die Wunscherfüllung sah, aber wessen? Das war doch nicht sein Wunsch, dass jemand Sybilla Trinks derart belastete? Er bangte um sie, obwohl er nichts mehr für sie empfinden konnte, sie nicht mehr fühlte und merkwürdigerweise sich selbst auch nicht. Doch löste dieses Verhör des Kommissars in ihm eine weitere Angst aus, anders als jene, sich vor sich selbst zu Tode zu langweilen, nein, es war eine Angst vor dem Unbewussten, welches Gefahr lief, in seine Wahrnehmung der eigenen Wirklichkeit einzudringen.
Moll diagnostizierte eine verstärkte Gehirntätigkeit, tatsächlich, dieser Fall beschäftigte ihn unverhältnismäßig heftig, und er fühlte eine unglaubliche Aktivität seiner Augäpfel, was ihm sonderbar vorkam. Eine Halluzination – kam es ihm nochmals in den Sinn – sollte es ihm möglich sein, eine derart anschauliche Vorstellung von etwas zu haben, ohne entsprechenden Sinnesreiz, wie beim Übergang vom Wachsein in den Schlaf, oder umgekehrt, wie es von jedem erlebt werden konnte? Eine Vorstufe zum Delirium tremens etwa, oder zu manisch depressivem Irresein? Aber nein – da waren ja alle wieder – vollzählig – wie ihm vorkam.

Der Kommissar war da. Ging auf und ab, die ganze Zeit über. „Wenn ich nun zu dem Schluss kommen würde, Frau Trinks, dass Sie, als Vertraute – als einzige Vertraute hier im Hause, in einer Stellung, und ich wage zu behaupten, eine, die nicht einmal ihr Gatte Herr Rabitsch eingenommen hatte – Frau Gertrude Rabitsch einen Wunsch erfüllt hätten? Einen unerfüllbaren Wunsch – nämlich den, die unglückselige Frau Rabitsch von ihrer entsetzlichen Atemnot zu befreien – für immer, Frau Trinks! Was würden Sie mir da zur Antwort geben?“ Sybilla Trinks war blass geworden, sehr blass. Norman Moll wollte von seinem Sessel aufspringen, konnte sich aber nicht bewegen, um diesem Kommissar an die Gurgel zu fahren, es war ihm völlig unmöglich, seine Hand gegen ihn zu erheben, so als ob er gelähmt wäre.
Sybilla Trinks bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Der Kommissar schritt hoch erhobenen Hauptes auf und ab. Er schien sich seiner Sache nun völlig sicher. Bodo Rabitsch schlug das Herz bis zum Halse. Er war in seinem Sessel die ganze Zeit tiefer und tiefer nach unten gerutscht, und saß schon mehr auf der Lendenwirbelsäule als auf seinem Gesäß. Sollte nicht Rabitsch…?

Moll verstand nichts mehr. Rabitsch war doch das Rabenaas. Wieso die Trinks? Von Anfang an spielte für ihn nur dieser aufgeblasene Kerl die Rolle des Bösewichts. Und nun sollte die Gute die Böse sein? Moll warf sich hin und her und er geriet zunehmend in einen inneren Konflikt, nicht mehr unterscheiden zu können zwischen dem, was nunmehr Ordnung war, was Traum, Chaos oder Wirklichkeit hätte sein sollen. Er war nicht mehr dazu in der Lage, sich durch die Vorstellung sinnvoller Nachfolgebeziehungen vorzustellen, was ablief. Er hatte sich erwartet, dass durch das Verhör diejenigen Personen in ihren wesentlichen Merkmalen zusammengefasst würden, die tatsächlich für die Durchführung jener schrecklichen Tat verantwortlich gemacht werden konnten.
Aber doch nicht Sybilla Trinks! Aber – so viele kämen eigentlich gar nicht infrage, kam ihm in den Sinn. Ordnung schaffen musste man! Gemeinsame Merkmale suchen, die den Täterkreis auf ein Minimum der Infragekommenden schrumpfen und dadurch selektionsfähig machen würde, und diesen an gemeinsamen Charaktereigenschaften festmachen und zuletzt eben …

Und Moll suchte verzweifelt nach den Ursachen für den furchtbaren Irrtum Braumüllers, sie dem Chaos – jenem universalen Gähnen dieser Welt – zuzuordnen, so, wie es von der griechischen Wortbedeutung abgeleitet worden war, was Martin Luther mit Wirrwarr, mit der Unordnung bezeichnet hatte, und er fand einen unermesslichen Raum um sich vor, einen Raum, der vor allen Dingen gewesen schien und vor dessen Existenz der Mythos regiert hatte, form- und gesetzloser Urzustand des Tohu-wa-bohu.
Nur der Geist wäre jetzt dazu befähigt, die Logik der Regelmäßigkeit und vor allem der Gerechtigkeit zu erkennen, jenen Punkt, an dem die Naturphilosophen die göttliche Schöpferkraft erwarteten, wenn schon die Wirklichkeit nicht erklärbar war. Und er war überzeugt davon, der Kommissar irrte, irrte deshalb, weil er die Differenz zwischen dem Subjekt Bodo Rabitsch und der unschuldigen Sybilla Trinks nicht erkennend, für ihn, Norman Moll, zumindest, verarbeiten konnte.

Doch hier ging es um mehr als nur um die naive und sentimentale Aufklärung eines dubiosen Mordfalles. Das Erstellen eines naturalistischen Täterprofils, so wie es sich Braumüller vorstellte, als Kopie einer Wirklichkeit, wie sie diesem genehm gewesen wäre, entbehrte jeglicher realistischen Gestaltung, zwar wirklichkeitstreu und den natürlichen Tatsachen eines solchen Rechnung tragend, jedoch – wo blieb die Kunst des Urteils über die gesellschaftlichen und seelischen Befindlichkeiten jener unverwechselbaren Sybilla Trinks?
Moll erschrak. Hatte er sie jetzt eben selbst kriminalisiert? War das ein unbewusstes Zugeständnis an Braumüller, diesen kriminalistischen Dilettanten? Es pochte und hämmerte in ihm wie verrückt und aus dem Stimmengewirr, das an seine Ohren drang, vernahm er die Worte: „Sie haben die Pflicht, als Zeuge in einem Verhör auszusagen und die Richtigkeit Ihrer Aussage zu beeiden. Dem kann sich niemand entziehen, auch Sie nicht, Frau Trinks!
Es ist meine Pflicht, verehrte Anwesende, hier und jetzt im Mordfall Gertrude Rabitsch die objektive Wahrheit zu ergründen und es steht mir jederzeit zu, auch Zeugen anzuhören, deren Vernehmung von niemandem sonst beantragt wurde außer von mir, und wiederum nur von mir! Ich habe bisher auf Ihre eidesstattlichen Aussagen verzichtet, und zwar aus guten Gründen, die ich hier nicht nennen möchte.“

Moll versuchte sich, dem ohrenbetäubenden Schall dieser ihm völlig unbekannten Stimme zu entziehen, da blieb es auch schon still um ihn. Nur sein Herz hörte er pochen, nicht regelmäßig, eher hinkend, eins, zwei, drei, dann nichts, dann eine doppelter Schlag, und das Atmen fiel ihm schwer, das Atmen, und er versuchte sich vorzustellen, wie Frau Rabitsch unter dem Polster, Todesängsten ausgesetzt, es konnte unmöglich ihr Wunsch gewesen sein … auf diese Weise … ums Weiterleben gekämpft haben musste.
Und unmöglich, dass Sybilla Trinks – völlig ausgeschlossen, dass eine Frau wie sie auf so entsetzliche Weise… nein und noch einmal nein! Auf der Ebene fünf des Wiener AKH hatte er selbst das Notfallspraktikum absolviert, im ersten Semester seines später abgebrochenen Medizinstudiums, als ein Assistent erschienen war, sich auf das Katheder setzte und genüsslich, so, als ob es um die Erzählung eines Rezeptes für die Herstellung eines Apfelstrudels gegangen wäre, erklärt hatte: „Herrschaften, heute lernen wir über das Erwürgen und Erdrosseln. Stellen Sie sich vor, Sie möchten jemanden erwürgen, dann kann ich Ihnen gleich sagen, das ist ein mühseliges Unterfangen. Wie würden Sie es anstellen? Mit bloßen Händen? Also, davon würde ich abraten. Sie haben nicht die Kraft dazu! Mit einer Drahtschlinge gelingt das schon eher, glauben Sie mir, ich empfehle eine Drahtschlinge! Aber, damit allein ist es noch nicht getan. Sobald Sie nämlich beginnen, diese zuzuziehen, nutzen Sie die Hebelwirkung. Man benötigt einen Gegenstand, um die Schlinge zusammenziehen zu können, einen Schraubenzieher oder was eben greifbar ist, Sie verstehen?
Also, drehen Sie das Opfer weg von sich. Es ist furchtbar, mitanzusehen, wie nach und nach die Augen aus den Höhlen quellen, ein Blutsprühregen wird sich über Sie ergießen, also, nein, das ist alles unappetitlich! Drehen Sie das Opfer von sich weg, kann ich Ihnen nur dringend empfehlen.“ Einige Studentinnen und Studenten in den ersten Reihen waren blass geworden. Der Assistent fuhr fort. „Sehen Sie, der Atmungsapparat ist die Kontaktstelle zwischen Blut und Luft. Im Inneren des Körpers ist eine Stelle vorhanden, an der die Blutgefäße engsten Kontakt zur Luft bekommen, aus der sie den Sauerstoff entnehmen.
Übrigens wird dort auch Kohlendioxyd abgegeben. Also, die Lungen besorgen den Gastransport, klar? Und die Lunge ist auch der eigentliche Ort, an dem Sauerstoff aufgenommen und Kohlendioxyd abgegeben wird. Sie werden verstehen, dass die Luftwege aus ganz bestimmten Gründen relativ starrwandig sein müssen, damit sie nicht so leicht abgedrückt werden können.“

Der Assistent lachte. „Und schließlich gibt es auch noch Verstärkungen, zum Beispiel durch die Knorpelringe der Luftröhre. Genau dort müssen Sie natürlich stärker zudrücken, wenn Sie zu einem zielführenden Ergebnis kommen wollen.“ Er lachte abermals. „Wenn Sie also entsprechend lange und fest zugedrückt haben, dann platzen die Bläschen in der Lunge. Und das gibt dann einen feinen Sprühregen, der eben durch die Nase austritt. Und wenn Sie Ihr Opfer also dummerweise nicht von sich weggedreht haben, dann schauen Sie schön aus, was?“ Einige Studenten hatten nur dumm gelacht. Die meisten anderen aber hatten das gar nicht lustig gefunden.
Auch Norman Moll nicht, und er erinnerte sich, dass er sich fürchterlich darüber geärgert hatte, über die fehlende Ethik dieses dozierenden Kurpfuschers und daran, dass man solchen Leuten irgendwann einmal völlig ausgeliefert sein würde. Und wenn es auch nur ein Polster gewesen sein sollte, ließ Moll die Vorstellung über den Erstickungstod Frau Rabitschs die kalten Schauer über den Rücken laufen.

Norman Moll suchte indessen erneut, beinahe fieberhaft, nach jenem Schlüssel in die Vergangenheit, welcher ihn in die Gegenwart zurückführen sollte, um diesen unerträglichen Zustand so rasch wie möglich zu beenden. Das Gesicht des Kommissars war jetzt wieder verschwommen, die Konturen seiner Gestalt diffus und Moll meinte, er wäre für kurze Zeit unsichtbar, aber – nein, da war er ja wieder, strich seinen Schnurrbart und kratzte sich – diesmal am Kinn. Jetzt aber kam ihm die ganze Sache doch etwas wirr und unzusammenhängend vor, ja, sogar widersprüchlich, vor allem in den Hypothesen Braumüllers, nun eine bereits abgelegte Variante erneut auszubauen und zu erhärten.
Obwohl – diese kam ihm gelegener als jene, welche Sybilla Trinks belastet hatte, richtete sie sich doch gegen Rabitsch, und damit auch gegen alles, was dieser für ihn repräsentierte, Autorität, in gewissem Sinne auch Macht und irgendwie die unterschwellige Angst, diesem Menschen, worin auch immer, unterlegen zu sein.

Frau Maar verfiel zusehends und Bodo Rabitsch versuchte verzweifelt, ihr durch übertriebene Gestik irgendwelche Botschaften zu vermitteln, die sie nicht entschlüsseln konnte. Es war für alle das Bild einer Welt entstanden, die ihre Vergänglichkeit in den verzweifelten Handlungen eines Menschen widerspiegelte, der offenbar versucht hatte, sein kümmerliches Leben, und damit auch seine Haut, auf eigene Art und Weise zu retten, indem er, in falschem Glauben gehandelt, noch einen allerletzten Vorteil für sich herauszuschinden gedachte, jenen der absoluten materiellen Unabhängigkeit etwa?
Dieser Mann hatte doch bereits alles? Mehr noch, denn er hatte sich mit der Liaison zu Linda Maar Freiräume geschaffen, die normalerweise streng tabu waren in einer Gesellschaft, die er repräsentierte, und sonst üblicherweise klammheimlich passierten. Aber so?
Rabitsch hatte sich nicht einmal bemüht, die Sache mit der Maar auch nur irgendwie zu verbergen. Mit über siebzig war an sich so ziemlich alles gelaufen, sollte man meinen. Aber es war doch nicht genug, wie hier festgestellt worden war. Immerhin bezog er eine kleine Pension, seine Gattin war nicht gerade arm, und er hatte überdies auch noch den einen oder anderen Besitz veräußert, um seinen Lebensstandard zu erhöhen.
Welche Rolle konnte da noch eine ausbezahlte Lebensversicherung spielen? Rabitschs Mercedes war neu, er konnte auch nicht mehr essen, als er vertrug, noch mehr reisen, vielleicht? Und trotzdem schien Norman Moll die ganze Angelegenheit eher unglaubwürdig. So ein Mensch war er nicht, dieser Rabitsch, dass er einen Mord begehen könnte! Anstatt seine Pension zu genießen… Moll erinnerte sich, als er ihn gefragt hatte, ob er selber schon in Pension wäre. Als ob das heutzutage so leicht ginge, ärgerte er sich.
In seinem Alter musste man mit dem Kopf unterm Arm vorweisen, dass man zu nichts mehr taugte. Die verschwenderischen Jahre des Wirtschaftswunders waren eindeutig vorüber und der konservative Flügel der letzten Legislatur hatte dem Frührentnertum ein für alle Mal das Handwerk gelegt. Was wäre überhaupt passiert, wenn Fräulein Anna noch einmal bei Gertrude Rabitsch vorbeigeschaut hätte? Sie hatte tagsüber ja auch des Öfteren nach ihr gesehen. Vielleicht könnte Frau Rabitsch noch am Leben sein? Und schließlich war Fräulein Anna auch ausgebildete Krankenschwester und Pflegerin.

Ja, dachte Moll, nachsehen hätte man sollen – einen Hilferuf loslassen – den rettenden Hilferuf – vielleicht war sie nur bewusstlos gewesen, anfangs – man hätte den Puls fühlen können, ob noch Leben in ihr war – dann hätte alles ganz rasch gehen müssen: Das Festlegen des Herzmassagepunktes – vom Sternum aus, drei bis fünf Zentimeter am Brustbein nach oben – Massagefrequenz sechzig bis achtzigmal pro Minute – ihre Rippenansätze würden gekracht haben – Serienbrüche wären in diesem Alter unvermeidbar gewesen – schmerzhaft zwar, aber wenn es der Sache diente – nein, dem Leben! Und sofort wieder Puls fühlen – zwei Atemstöße – Carotis, am besten beidseitig ertasten – Thoraxkontrolle, ob er sich hebt und senkt – nach der Carotis tasten – Zirkulation? Keine! Kreislauf weg – also los! Fünfzehn zu zwei! Fünfzehnmal Luft einblasen – zweimal Massage – Vorsicht! Nicht ruckartig – krachen tut es immer – nach dem ersten Zyklus sollte sie erwachen – dann stabile Seitenlage – der Assistent!
Mein Gott! Der Assistent fiel ihm ein! Würgen ist schlecht, hatte der gesagt, zu anstrengend! Besser erdrosseln! Das Gesicht schwillt an! Blutverblasungen! Das freut den Gerichtsmediziner, wenn der Erwürgte krampft! Im Affekt erwürgen ist nicht möglich, hat er noch gesagt! Dafür dauert es zu lange! Das sind sechs bis neun Minuten schwere Arbeit – hat er gemeint.

Moll zuckte mit den Augenlidern. Langsam wird die Hautfarbe rosiger – die Pupillen verkleinern sich – es wäre ein Fehler, den Thorax auf zu weicher Unterlage zu betten – man hätte sie aus dem Bett nehmen müssen – auf den harten Boden legen – hätte, hätte! Und wenn es nun doch ein Asthmaanfall gewesen war? Hervorgerufen durch eine plötzliche Schwellung der Bronchialschleimhaut – in Verbindung mit einem Spasmus der Bronchialmuskulatur? Einhergehend mit Sekreteindickung? Grund genug hätte sie ja gehabt, für eine psychische Aufregung, wegen ihrem Mann und der Maar natürlich! Das konnte ihm niemand weismachen, dass sie die ganze Situation kalt gelassen hätte!
Niemanden lässt so etwas kalt, dachte Moll. Und in der Angst ihrer Hyperaktivität hatte sie vielleicht selbst einen Polster über ihr Gesicht gelegt, zu sich her gedrückt – vor Verzweiflung gar? Und ist erstickt? Aber sicher nicht am Gewicht des Polsters! Er könnte nicht mehr an diesem Zimmer vorbeigehen, sagte er sich. Zu schwer lastete der Tod Gertrude Rabitschs auf seiner Brust. Norman Moll war irgendwie unruhig geworden.
Er war davon überzeugt, dass Getrude Rabitsch auferstehen würde, oder zumindest nicht ganz verschwunden war. Die Tote war gegenwärtig, das spürte er, und sie würde es auch sein, wenn ihr Bodo sich des Nachts der drallen Linda näherte, oder auch in den Träumen ihres Gatten. In diesen Augenblicken zweifelte Norman Moll nicht an der Existenz des Jenseits und er war davon überzeugt, dass nichts aufhörte, so plötzlich, was jemals am Leben war, und dass es sich in alle Ewigkeit fortsetzte, irgendwie. Die Erwartung des Weltendes, Bestandteil irdischen Seins, fixe Vision in Molls Denken, würde Klarheit darüber bringen und ein Tag würde der letzte sein, dann würde eine unvorstellbare, eine ewige und unendliche Zeit anbrechen.

Und es käme zum Gericht, so hatte der Kaplan es damals erklärt, und diese Erklärung war aus seinem kindlichen Gemüt nicht mehr auszulöschen gewesen. Dann würde die Wahrheit ans Licht kommen mit diesem Rabitsch, und schon malte er sich die Höllenqualen aus, die jenem erwachsen müssten, verschlungen vom weit aufgerissenen Schlund der ewigen Verdammnis, durch den Kamin des Kraters Ätna zum Beispiel, in dessen Innerem er von den ewigen Flammen gepeinigt und mit unvorstellbaren Folterinstrumenten misshandelt werden würde. Aber was, wenn Frau Rabitsch nun doch eines natürlichen Todes gestorben war?
Moll erlebte ganz plötzlich das Versetztwerden auf irgendwie außernatürliche Weise in einen anderen Raum, der ihm unbekannt war, den er hätte beschreiben können, dessen Inhalt er erleben konnte, als ob in ihm eine außerirdische Macht agierte. Ein Zustand der Ekstase, des Traumes, der Vision extra corpus, wie er meinte, denn er konnte sich selbst dabei beobachten. Ein Erlebnis, in dem er den normalen Bewusstseinsstrom unterbrochen, unterbunden glaubte, quasi den Sinnen entschritten!
Er durchwandelte das Stiegenhaus der Villa Langstein, am roten Sisal, einen irdischen Raum, durchaus nicht eschatologischer Natur, nein, ganz profan. Sogar die Bilder am Stiegenaufgang waren dieselben wie er sie schon einmal gesehen hatte, im vollen Bewusstsein des Tages, wie er meinte. Frau Rabitsch, die er nie zuvor gesehen hatte, stand an der obersten Treppe und winkte ihm zu, durchsichtig, blass, von wehendem Seidenstoff umhüllt.

Moll warf sich herum. Die letzten Zweifel an der Existenz des Jenseits schienen für ihn beseitigt und er fühlte Gänsehaut am ganzen Körper, die Härchen an Armen und Beinen stellten sich ihm steil auf und er wurde von einem heftigen Schüttelfrost geplagt. Der Tod, dachte er, ist nur ein Übergang, obwohl störend, weil bedrohlich. Er versuchte, sich gegen diese Vision zu wehren und in dem krampfhaften Suchen nach einer Welt des goldenen Moments, in dem die Triebkraft des Augenblicks dominierte, flüchtete er in wirren Gedanken wieder zurück ins Leben, aus den Albträumen von gestern in eine Welt, zurück zur Sinnlichkeit der „Lust auf mehr“, in eine Gastronomie des Herzens, um rasch im Geiste all die kultigen Treffpunkte, die ihm in der Eile einfielen, zu frequentieren, die angesagtesten Hotspots seiner Lieblingsstadt zu durchstreifen, um so schnell wie möglich diesem Horror zu entfliehen. Nur noch peripher, am Rande dieser Kulisse dieses Schauspiels des Todes, empfand er Gertrude Rabitschs Tod als Überschreitung, die ihn dem Alltagsleben und seiner verstandesgeprägten Gemeinschaft, wie auch seinen Erinnerungen und Phantasien, jäh entrissen, und den Banalitäten Kommissars Braumüllers, wie auch dessen endlosen und höchst peinlichen Verhören, hoffnungslos ausgeliefert hatte.

Ist Sterben denn eine Belohnung?, fragte er sich benommen. War der Tod das Glück?, als er mit seinen Beinen an etwas Hartes stieß. Instinktiv zog er die Füße zu sich heran. Irgendetwas drückte ihn im Bereich seines Bauchnabels, etwas wie ein Gürtel. Er wälzte sich unruhig hin und her und öffnete plötzlich die Augen. Es war mit einem Male Tag geworden. Ja, er konnte die Sonnenstrahlen auf seinem Bett sehen. Und er lag da, im dunklen Sakko, samt den Stiefletten, die er am Abend noch getragen hatte.
Entsetzt setzte er sich auf und rieb seine Augen. Wie war er hierhergekommen, aus dem Salon so plötzlich…? Er sprang aus dem Bett, vergaß seine entsetzlichen Rückenschmerzen, eilte zur Tür und riss sie auf. Sie war nicht versperrt gewesen.
Auf dem Flur stand Fräulein Trixi, eben im Begriff, den Staubsauger zu betätigen, um den roten Sisalteppich zu saugen. „Einen schönen guten Morgen“, lächelte sie, als ob nichts … „Morgen! Wo ist Frau Rabitsch?“, stotterte Moll. „Behandlungen! Schon seit sieben, wie immer“, wunderte sich Fräulein Trixi. Moll traten die Schweißperlen auf die Stirn. „Haben Sie vielleicht schlecht geschlafen?“, fragte sie mitleidig. Moll sah sie lange an. „Nein. Nein nein“, hauchte er, und schloss langsam die Tür zu seinem Zimmer, ganz langsam, völlig geräuschlos.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 15052

Dienst nach Vorschrift oder Die Geschichte der „Os“

Ausgesprochen nervös schien sie zu sein, aber das konnte nur er bemerken, weil er sie sehr gut beobachtet hatte in all den Jahren, seit sie seine Vorgesetzte geworden war. Ihr Businessanzug saß perfekt, das helle Haar war hochgesteckt und untadelig frisiert worden, darauf achtete sie immer. Eine Abweichung in dieser Hinsicht hätte Alarmstufe rot bedeutet. So aber konnte er aus ihren fahrigen Handbewegungen und der hektischen Art, das nun zu Erledigende zu erklären, schließen, dass die Ampel für sie wohl bereits kurz davor, auf Dunkelorange, stand.

Es war in seinem Verantwortungsbereich schon länger gemunkelt worden, dass die Finanzprüfung, die sie in Kürze zu durchlaufen haben würden, nun besonders gründlich vorgenommen werden würde, von ihnen unbekannten Personen diesmal, und dass die Geschäfte mit einer bestimmten osteuropäischen Einrichtung wohl besser ungeprüft bleiben sollten. Irgendjemand hatte Insiderinformationen zugespielt bekommen, die Spekulationen blühten.
Ihm war es recht, wenn alles vage blieb und er sich nicht äußern musste. Wozu hatte er denn beim Aufstieg auf der Karriereleiter zurückhaltend agiert, anderen den Vortritt gelassen und sich selten explizit geäußert? Er hatte gewusst, warum. Dass das dicke Ende irgendwann kommen musste, war ihm klar. Ihr, seiner Chefin, war das offensichtlich erst in den letzten Tagen zur Gänze bewusst geworden.

So stand sie nun vor ihm und erläuterte kurz, dass jene Dokumente vom Frühjahr, die mit einem „O“ versehen seien, gesondert behandelt und auf keinen Fall so wie die anderen einfach an die Prüfer weitergegeben werden sollten. Vielmehr sollten die „Os“, wie sie diese Dokumente nannte,  unwiederbringlich verschwinden. Unleserlich gemacht werden für alle Zeiten. Sonst käme das die Firma teuer zu stehen, und einzelne Personen desgleichen. Ob er das verstanden habe?

Und wie er verstanden hatte. Sie war schön, wenn sie aufgeregt war. Er hatte sie immer begehrt. Vielleicht noch mehr, seit er einen unmissverständlichen Korb von ihr bekommen hatte, damals, zu Beginn ihres Aufstiegs. Sein Kollege hatte mehr Glück gehabt als er, der konnte sich zumindest ein paar Monate ihrer Gunst erfreuen. Soweit er wusste, war danach niemand mehr in den Genuss gekommen, zumindest keiner aus der Firma.
Allerdings hätte es wirklich nicht sein müssen, dass sie seine per E-Mail erfolgte Essenseinladung vor allen anderen Anwesenden ausgeschlagen hatte, das war kränkend für ihn gewesen. War ihr das nie klar geworden? Zumindest hätte sie danach ein bisschen freundlicher sein können.
Und selbst jetzt, wo er der Einzige war, den sie ins Vertrauen zog bei diesem wichtigen Unterfangen, bemühte sie sich nicht gerade um ausgesuchte Höflichkeit.
Egal, er würde seinen Job schon erledigen, das hatte er immer getan. Und das sagte er ihr auch.
Sie erwiderte nur kurz, das sei gut so, sie hätte mit der Löschung der elektronischen Daten wahrlich mehr als genug am Hals. Und Abgang.

Kurz darauf ging er ans Werk, schleppte, nachdem die anderen alle gegangen waren, die Stapel mit den Ausdrucken des fraglichen Zeitraums auf seinen Schreibtisch, sortierte gewissenhaft nach „O“-Dokumenten und normalen, bis er zwei schöne Stapel hatte, der „O“-Stoß etwa halb so hoch wie der andere. Die anderen legte er beiseite, dann nahm er sich die „Os“ vor.

Der Prüfer fand zwei Wochen später auf seinem Schreibtisch jede Menge Material vor. Das hatte er schon vorhergesehen und daher die Tage davor Platz geschaffen. Er freute sich auf diesen Fall.
Was immer diese Firma zu verbergen hatte, er würde sich auf dessen Spur begeben. Und dass da etwas war, was er nicht sehen sollte, davon ging er aus.
Nach einem Vormittag emsigen Sichtens und Systematisierens lachte der Prüfer plötzlich laut auf.
In Händen hielt er ein Dokument, auf dem offensichtlich geschwärzt worden war, eine kleine Stelle rechts oben war so unleserlich gemacht worden. Abgesehen davon, dass so etwas jeden Prüfer stutzig machen würde, war ihm sofort klar, worauf er da bereits nach dieser kurzen Sichtung gestoßen war.
Den Rest des Tages suchte er einfach diejenigen Blätter heraus, die Schwärzungen zeigten, und der Fall war gelöst. Fast war er ein bisschen enttäuscht, dass ihm die allermeiste Arbeit bereits abgenommen worden war.
Irgendjemand hatte es ihm da verdammt einfach gemacht.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 15029

Der Fall Obernhuber

Wir wissen nicht viel über Manfred Obernhuber: Er soll am 17. Oktober 1942 in der Gegend der Rax das Licht der Welt erblickt haben, als erstes und einziges Kind der Martha Obernhuber. Kein Vater, kein Religionsbekenntnis. Die Mutter ist nur unter dem Namen des Hofs (‚Obernhuberhof‘) bekannt, für den sie sich bis zur Entbindung abgerackert hat, nachdem sie als Kleinkind von einem Flüchtlingspaar da vergessen wurde.
Die Hebamme kennzeichnet in ihrer Werkliste Manfred mit einem Herz, was in der ansonsten sehr schwer lesbaren Niederschrift ein Erfolgserlebnis bedeutet. Aus den Eintragungen geht allerdings nur der Zustand des neuen Erdenbürgers hervor – wie es diesbezüglich mit der Mutter aussieht, ist da nicht herauszulesen – doch kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass Martha Manfreds Geburt nicht überlebt hat.
Die Eintragung ins Pfarrregister erfolgt erst ein knappes halbes Jahr später, sein Geburtsdatum wird mit Mitte Oktober 1942 angegeben, das Wort ‚Mitte‘ ist offensichtlich später durch ‚am 17.‘ ersetzt worden, die Geburtszeit war ursprünglich mit ‚gegen Abend‘ vermerkt und wurde durch ‚18.00 Uhr‘ ersetzt.
Die Hebamme ist heute längst tot, schon längst unter die Räder gekommen, im konkreten Fall unter die wuchtigen Pneus eines Traktors, den seinerzeit der Gruberbauer etwas unvorsichtig durch die Landschaft gelenkt haben soll, aber auch er liegt längst schon klaftertief im Gottesacker.

Manfred hat auch keine Kinder oder sonstigen lebenden Verwandten: Wer die Vollwaise Manfred Obernhuber über die Runden gebracht hat, bis sie die örtliche Volksschule besucht und absolviert hat, weiß niemand im Ort. Niemand weiß auch, was er nach seinem Abgang eigentlich die ganze Zeit so getrieben hat, wo er gewohnt und womit er seinen Unterhalt bestritten hat – bis er dann letzte Woche aus der Pitten gefischt worden ist: aufgeschwemmt, tot, viel zu viel Wasser getrunken im Bach.
Alltag für die Kommissare Koller und Hauer. Es war Mord – zumindest muss Obernhuber in eine gewalttätige Auseinandersetzung verwickelt gewesen sein, bevor er ins Wasser gefallen ist.
Anhaltspunkt dafür sind die Blutspuren am Brückengeländer in Pitten selbst, dem mutmaßlichen Tatort. In der Berichterstattung in Presse und Funk wird die Bevölkerung um Mithilfe gebeten, auch jeder Hinweis zum Mordopfer, Manfred Obernhuber, sei wertvoll, heißt es in den Aufrufen. Obernhuber war laut Zeugenaussagen angeblich seit Jahren von Zeit zu Zeit im neuen Supermarkt gesehen worden, wo er sich mit einigen langlebigen Lebensmitteln und alkoholischen Getränken eingedeckt hat, die er dann in einem alten Einkaufswagerl abtransportiert hat. Mehr ist aber aus den Leuten nicht herauszukriegen, keiner will sonst etwas über den Mann wissen, niemand hat ihn persönlich gekannt.
Koller und Hauer nehmen die Informationen lustlos auf, betreiben ein paar Tage lustlos Recherchen und schließen nach wenigen Tagen lustlos die Akte – schließlich gibt es in einem Kommissariat Besseres zu tun, als sich mit unlösbaren Fällen aufzuhalten. Koller öffnet also die Lade mit der vergilbten Aufschrift: ‚Ungelöste Fälle‘.

Im selben Augenblick – der Fall Obernhuber fliegt gerade auf einen Stapel alter vergammelter Akten zu – läutet das Telefon. Hauer hebt gelangweilt ab, wirkt aber nach wenigen Sekunden plötzlich hellwach. Geistesgegenwärtig schaltet er die Mithöreinrichtung an: ‚Ich war‘s, der den Obernhuber runtergekippt hat!‘ ruft ein Mann ins Telefon, den Verkehrslärm übertönend. Es raschelt in Hörer und Lautsprecher und eine andere Stimme ertönt aus dem Hintergrund: ‚Nein! Ich war es! Glauben Sie ihm nic …!‘. Die Beamten vernehmen ein dumpfes Geräusch, nach einiger Zeit meldet sich wieder der ursprüngliche Anrufer und spricht jetzt leise, aber eindringlich: ‚Glauben Sie mir: Ich war es. Ich hab den Obernhuber noch nie leiden können. Sie können den Fall abschließen – ich komme ins Kommissariat. Ich bin gleich da.‘
Der Anrufer legt auf, Hauer sieht zu Koller, der achselzuckend die Akte Obernhuber wieder aus der Lade holt. Nachdenklich legt er sie auf seinen Schreibtisch und schlägt sie wieder auf.
‚Naja,‘ meint er ‚da wird der Oberkommissar ja sehr zufrieden mit uns sein. Erfolgreiche Lösung eines Gewaltverbrechens in …‘, er macht einen Blick auf den Kalender der örtlichen Sparkasse, blättert zwei, drei Mal … den wievielten haben wir eigentlich?‘
Koller blättert vor und zurück und fasst dabei den begonnen Satz noch einmal zusammen: ‚Naja, da wird der Oberkommissar ja wirklich sehr zufrieden mit uns sein. Erfolgreiche Lösung eines Gewaltverbrechens in ein paar Stunden. Das soll uns erst einmal wer nachmachen.‘

Wenige Minuten später klopft es an der Tür. ‚Herein‘ sagen Koller und Hauer ungewollt unisono. ‚Grüß Gott.‘ – Ein Mann, so um die fünfzig, tritt ein, seine Haare sind es, die sein Alter vermuten lassen, es sind nicht mehr so viele, wie es einmal gewesen sein mussten, sind sicherlich heller, als sie einmal waren, auch die Spannkraft hat mit der Zeit gelitten.
‚Sie heißen?‘
‚Ewald Baumann‘ antwortet Ewald Baumann und nimmt seine saubere Brille ab, um sie zu putzen. ‚Und Sie wünschen?‘, fragt Koller, der nach den Regeln im Polizistenspiel ‚Der Aggressive und der Verständige‘ den Verständigen spielt.
‚Ich möchte eine Selbstanzeige erstatten.‘
‚Dann nehmen Sie doch bitte Platz‘, fordert Koller Baumann auf, während er einen zerbrechlich wirkenden Stuhl, der schon viele andere Kommissare gesehen haben muss, neben seinen Schreibtisch schiebt: ‚In welcher Angelegenheit wollen Sie Selbstanzeige erstatten?‘, fragt Koller freundlich.
‚Ich habe den Obernhuber umgebracht.‘
‚Warum?‘, knurrt nun Hauer von seinem Arbeitsplatz herüber – doch er wird keine Antwort auf diese Frage bekommen: Vor dem Büro gibt es einen unüberhörbaren Tumult, schon wird die Tür aufgerissen und ein unrasierter älterer Herr in einem vergammelten Mantel stürmt herein: ‚Ich hab Sie vorhin angerufen. Ich war es. Wenn Sie mich jetzt bitte festnehmen würden.‘

Die beiden Kommissare sind kurz sprachlos und perplex und verwundert und irritiert. Koller fasst sich zuerst, erkennt aber auch gleich, dass es keinen Sinn hat, die beiden mutmaßlichen Täter parallel zu befragen und meint daher: ‚Dann … kommen Sie doch bitte mit.‘
Koller verlässt mit einem der geständigen Mörder das Büro, Hauer weiß nun nicht recht, wie er dieses seltsame Verhör alleine bestreiten soll und ist so fast erleichtert, dass jetzt wieder das Telefon läutet. ‚Oberinspektor Hauer, hallo?‘
‚Guten Tag, mein Name ist Unterbrunner. Ich bin die Mörderin vom Obernhu … ‚ ertönt eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher, den Kropatschek geistesgegenwärtig aber etwas zu spät abschaltet. Konzentriert hört er der Anruferin zu, meint schließlich zu ihr: ‚Dann kommen Sie bitte aufs Kommissariat.‘
Noch im Auflegen blickt Hauer Herrn Baumann konzentriert und lauernd in die Augen, beginnt langsam und leise: ‚Nun zu Ihnen, Herr Baumann …‘
‚Die Anruferin lügt. Ich war es … ich kann Ihnen die ganze Geschichte erzählen.‘
In diesem Augenblick kommt Koller zurück, meint an Baumann gewandt: ‚Warten Sie bitte einen Moment draußen bei den anderen – ich muss kurz mit meinem Kollegen sprechen.‘
‚Aber, …‘
‚Nix da! Raus!‘

Widerwillig verlässt Herr Baumann das Büro, Hauer wartet einige dramatische Sekunden und enthüllt schließlich seinem Kollegen die neuesten Informationen: ‚Eben hat wieder wer angerufen. Eine Frau. Sie will die Mörderin vom Obernhuber sein.‘
‚Draußen warten auch schon fünf oder sechs. Ganz versteh‘ ich das nicht: Warum wollen die alle den Obernhuber umgebracht haben?‘
‚Keine Ahnung – normalerweise bin ich froh, wenn wir einen Verdächtigen haben. So viele vereinfachen die Sache nicht wirklich.‘
‚Und – wie geht‘s jetzt weiter?‘
‚Na, was sollen wir schon machen? Wir werden sie der Reihe nach verhören, die Aussagen protokollieren, unterschreiben lassen – und sie bei einem Geständnis nach Neustadt bringen. Ich erwarte mir zwar außer viel Arbeit von der Aktion nicht viel, aber – was sollten wir sonst tun?‘
‚OK. Mir fällt auch nix Besseres ein.‘

Es wird ein anstrengender Abend im Kommissariat Reichenau. Es melden sich weitere Geständige, es gibt ein unüberschaubares Gedränge – schließlich müssen Nummernzettel für die Reihenfolge der Verhöre verteilt werden. Einige Mörder gehen dann doch nach Hause, versprechen aber, am nächsten Tag wiederzukommen, wenn nicht mehr so viel los ist. Dabei ist das Spektrum an Mördern weit gestreut: Ursprünglich vor allem der Sandlerszene und dem Rotlichtmilieu zuzuordnen, kommen schließlich auch immer mehr Handwerker, Kaufleute, Gastronomen, Architekten, Behördenvertreter, Künstler, Bankangestellte, Hausfrauen, Anwälte und sonstige Vertreter bürgerlicher Berufe – auch ein Bürgermeister einer angrenzenden Gemeinde ist dabei und ein Landtagsabgeordneter.

Und sie alle behaupten, ein Tatmotiv zu haben, aber kein Alibi, alle wollen es gewesen sein. Die Verhöre reduzieren sich schon aus Zeitgründen bald auf die beiden Fragen ‚Waren Sie es?‘ und ‚Warum?‘, gefolgt von der Aufforderung, das Protokoll mit dem Geständnis zu unterschreiben.
Die meisten unterschreiben auch gleich, einige bestehen darauf, dass auch Details der Tat ins Geständnis aufgenommen werden, was die Prozedur weiter verzögert. Manche melden Sonderwünsche an wie beispielsweise der Anwalt, der sich selbst verteidigen will – zum Zeitpunkt aber über seine Verteidigungsstrategie noch nichts verraten will: Er will sie sich in den Wochen der Untersuchungshaft zurechtlegen. Oder der Bauarbeiter Franz Holler, der zusammen mit dem Lindorfer Eduard eingesperrt werden will: ‚Ich war´s und der Lindorfer Eduard auch.‘

Schließlich überschwemmt eine Welle an Selbstbezichtigungen Reichenau: zuerst regional, später landesweit, schließlich international: Die Mordkommission hat es schließlich mit um die 17.800 Menschen zu tun, die sich selbst der Mordtat bezichtigen – Stand: Ende Jänner. Anfang März sind es bereits 96.700 Täter, die schwören, Manfred Obernhuber in jener trüben Nacht den entscheidenden Stoß versetzt zu haben.
Es ist kein Fall wie jeder andere, noch nie hatte es eine derart unglaublich große Anzahl an Geständnissen gegeben. Am 5. März ist die 100.000er-Marke erreicht, der glückliche Jubilar ist ein 84-jähriger Eskimo – die Bilder der Unterzeichnung seines Geständnisses gehen um den Erdball.
Auch sonst lauert in diesem Fall natürlich überall die Presse: Hauers stereotyp-bissige Antwort auf die bohrenden Fragen der Journalisten ist jeweils: ‚Den Großteil der Täter haben wir bereits gefasst.‘
Anfang April brüstet sich auch der Gouverneur von Ohio, ein ehemaliger Sheriff namens Links, bei den Vorwahlen zu den Präsidentschaftswahlen für die Liberalen mit dem Slogan ‚I did it‘ und erreicht mit dieser Aussage eine überwältigende Mehrheit, obwohl ihm davor von den Meinungsumfrageinstituten keinerlei Chancen, auch nur die 2%-Marke zu erreichen, eingeräumt worden waren.
Hierzulande beteiligen sich nahezu alle Leser an einer Umfrage der reichweitenmäßig größten Tageszeitung und knapp über 8o Prozent davon wollen den Mord selbst begangen haben, der Rest bezichtigt sich zumindest der Mittäterschaft.

Ende August legt sich die Aufregung etwas, nachdem sich herausstellt, dass die ermittelnden Behörden schlampig gearbeitet haben: Manfred Obernhuber selbst war schon Jahre zuvor im Allgemeinen Krankenhaus eines natürlichen Todes gestorben, wenn Leberzirrhose aufgrund unmäßigen Alkoholgenusses als natürlicher Tod bezeichnet werden kann. Bei dem Toten aus der Pitten handelt es sich vielmehr um Friedhelm Pflaster, einen depressiven Lehrer, der einen mehrere Seiten langen Abschiedsbrief hinterlassen hat, den er persönlich seiner Frau – und in Kopie auch seinem Anwalt und der Polizeidienststelle – zukommen hat lassen. Die Verletzungen hatte er sich auf seiner Unterwasser-Flussfahrt zugezogen, das Blut am Brückengeländer stammt nicht von ihm, sondern von einem Jugendlichen, der mit seinem Moped und überhöhter Geschwindigkeit unterwegs gewesen war.
Koller und Hauer werden vom Dienst suspendiert und später – auch aufgrund von weiteren haarsträubenden Ermittlungsfehlern – selbst angeklagt und sind so im Dezember die Einzigen, die im Zusammenhang mit dem Fall Obernhuber inhaftiert werden.

Christoph Stantejsky

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