Feind und Helfer

Also pass auf, ich muss dir was erzählen: Ich bin Samstagabend mit meiner Freundin zu Hause gesessen, in meiner Floridsdorfer 35 m²-Wohnung und haben uns, aufgrund des Wetters, mangels anderer Alternativen, „Wetten, dass..?“ im Fernsehen gegeben, während mein temperamentvoller Nachbar in ein emotionsgeladenes Streitgespräch mit seiner Freundin verwickelt war.
„So, meine Damen und Herren… Wir kommen jetzt zur Kinderwette.“
„DU HURE, DU SCHEISS SCHLAMPE, HALT DOCH EINFACH EINMAL DIE GOOOOSCHN, OIDAAAAA“
„Der kleine Maximilian wettet…“
„SCHLEICH DICH VON MIR DU GSCHISSANE DRECKSAU“
„…dass er 400000 Telefonnummern, im Handstand auf dem kleinen Finger, mit verklebtem Mund durch die Nase, gleichzeitig innerhalb von dreißig Sekunden aufsagen kann, und währenddessen mit dem rausrinnenden Rotz einen detailgetreuen Stadtplan von New York im Maßstab 1:10000 zeichnen kann, mit im Centralpark enthaltenen Breakdanceburschen, die optisch nur zwischen zwölf und dreizehn Jahre alt sein dürfen, während seine Oma den türkischen Marsch rückwärts singt und ihm mit einem Kärcher mit voller Kraft auf den Kehlkopf sprüht.“
„ICH WETT MIT DIR, DASS DU MICH NÄCHSTES WOCHENENDE NOCH DREIMAL BETRÜGST, DU SCHEISS SCHLAMPE“
„Topp, die Wette gilt.“

Dann war ein lautes POCK zu hören, wie wenn etwas Schweres auf den Boden gefallen wäre, und danach nur mehr Stille. Meine Freundin hat mich fragend angeschaut. Wir waren einiges gewöhnt aus der Richtung unseres Nachbarn über uns, aber POCK und anschließende Stille war neu.
„Sollen wir nicht doch sicherheitshalber die Polizei rufen?“, fragte mich meine Freundin und schaute mich unsicher an.
Da war durch das gekippte Fenster ein Telefongespräch auf der Straße zu hören: „Ja, da schlagt einer ärgstens seine Freundin, ich hab’s ja grad ganz genau gesehen. Er hat sie gerade an das Fenster gedrückt und dann ist sie auf den Boden gefallen und seitdem sehe ich sie nicht mehr. Ich hab ja wirklich für viele Sachen Verständnis, aber wenn einer Frauen schlägt, dann ist Schluss. Bitte schickt‘s einen Wagen her. Das ist im zweiten Stock…“ Dann gab er die Adresse bekannt.
„Na bitte, da ist uns schon jemand zuvorgekommen. Sonst schimpft man immer, dass sich keiner für irgendjemanden interessiert, aber wenn es hart auf hart kommt, sind ja doch alle füreinander da. Finde ich leiwand. Mir macht nur irgendwie Angst, dass man jetzt die ganze Zeit nichts mehr hört, aber wenn der Typ sie wirklich so geschlagen hat, wie der auf der Straße gesagt hat, dann wird das der Polizei ja auffallen. Naja, werden wir ja sehen, die machen das schon“, habe ich zu meiner Freundin gesagt, und sie hat verunsichert, aber zustimmend genickt.

Fünfzehn Minuten später sahen wir es blau flackern vor dem Fenster, und meine Freundin atmete auf: „Na bitte, jetzt braucht die Arme da oben nicht mehr lange leiden mit dem Wahnsinnigen.“
Ich nickte zustimmend, fühlte mich aber dennoch einfach unwohl und hörte gleichzeitig, wie die Polizisten bei uns im ersten Stock am Gang herumstapften. POKPOKPOK machte es an der Tür und zwar so laut, dass ich glaubte, dass mir die Wohnungstür gleich durch das gesamte Vorzimmer fliegen würde. Meine Freundin öffnete hektisch die Türe und die vor uns stehende Polizistin sah mich mit tiefem Hass in den Augen an und ließ ihren, mich verachtenden, Blick auf meine Freundin schweifen, wo dieser sofort in mütterlich liebevoll umschwenkte: „Ist mit Ihnen eh alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt.
Ich war kurz verwirrt, doch verstand dann gleich, was die Dame glaubte: „Achso, nein. Bei uns ist alles in Ordnung. Ich glaube, dass es da um die Nachbarn über uns geht. Wir haben nämlich von oben einen Streit gehört und haben uns schon Sorgen gemacht und dann durch das gekippte Fenster gehört, wie eh Gott sei Dank gerade jemand die Polizei gerufen hat.“

Meine Freundin nickte angespannt. Die Polizistin sah uns beide noch einmal an und beschloss dann doch, mir zu glauben: „Naja gut. Weil ich bilde mir ein, dass die Leute auf der Straße gesagt haben, im ersten Stock, aber vielleicht habe ich mich auch verhört. Heast Lisa, geh amoi auffe und klopf. Genau die Wohnung über Ihnen haben S‘ g’sagt, gell? DIE WOHNUNG ÜBER IHNEN HABEN S‘ G’SAGT, LISA.“
Und wieder war das unvergleichbar laute Wohnungstürdurchsvorzimmerfliegklopfen zu hören. Stille… Wie aus einem Reflex schaute ich nach oben, in der Hoffnung, durch die Decke durchschauen zu können, und da war schon wieder das laute Klopfen der Polizistin durch das Stiegenhaus zu hören. Stille… und wieder noch lauteres Klopfen: „Polizei, moch’n S‘ de Tia auf, heast, oder wir sind gezwungen, sie aufzubrechen.“ Stille…
Die Polizistin, die vor uns stand, zuckte mit den Schultern: „Ja, wenn das so ist, dann muss wohl die WEGA her. Ich melde das einmal an die Zentrale. Darf ich mir gleich einen Grundriss von Ihrer Wohnung aufzeichnen? Ihre Wohnung ist eh genauso wie die Wohnung über Ihnen, oder?“
Ich rang mit den Händen: „Keine Ahnung, ich glaube schon.“
Während die Polizistin ihre Meldung bei der Zentrale machte, ging sie durch die Wohnung und malte auf einen gelben, kleinen, an der Oberseite verklebbaren Zettel, ich glaube in der Bürofachsprache heißt so was Post-it oder so, den Grundriss der Wohnung auf und ging dann in den zweiten Stock zu ihrer Kollegin.

Unsere Mitte sechzigjährige, aber noch sehr rüstige Nachbarin im selben Stock, die die ganze Zeit fasziniert in ihrer Wohnungstür gestanden war, flüsterte, nachdem die Polizistin weg war: „Die Polizei war ja schon einige Male da und jedes Mal hat er sich heimlich vorher geschlichen, dieser Unmensch. Jedes Mal haben sie angeklopft und keiner war da und sie sind wieder gegangen. Diesmal machen sie hoffentlich endlich einmal was. Ich finde das sowieso komisch, warum sich dieses Mädl, das mit ihm zusammen ist, das überhaupt antut. Die ist hübsch und hätte so was ja gar nicht notwendig. Da hörst du sie tagein tagaus schreien und herumpoltern und am nächsten Tag gehen sie wieder wie ein frisch verliebtes Pärchen durchs Stiegenhaus.“
Ich nickte und machte einen auf kollegial und verständnisvoll, um mehr Informationen von ihr zu bekommen: „Ja, komisch. Warum haben Sie das nicht gleich der Polizei gesagt?“
Sie schüttelte den Kopf wie ein kleines trotziges Kind, dem sein Essen nicht schmeckte und das gerade von den Eltern gefüttert wurde: „Oh nein. Ich rede nichts mit der Polizei, da bekommt man nur Schwierigkeiten, das interessiert mich nicht. Da halte ich mich raus.“
Ich war verwundert: „Na geh, wieso? Die gibt’s ja extra dafür, dass wir uns alle sicher fühlen. Die machen das schon, da mach ich mir keine Sorgen. Man muss ihnen halt nur die Fakten erzählen, für den Rest sind die ja eh ausgebildet.“

Die Nachbarin war nicht zu überzeugen und winkte ab: „Nein, nein. Vertrauen Sie mir, ich habe schon so viel erlebt, es ist besser, man hält den Mund bei so was. Kaum ist bei irgendwelchen Sachen die Polizei dabei, hat man schon Schwierigkeiten.“
Irritiert von der Haltung der Nachbarin, wollte ich wieder dagegen argumentieren, aber da hörte ich schon lautes Getrappel von vielen schweren Stiefeln und da kamen auch schon die Herren von der WEGA in voller Montur angerannt und fragten mich wieder: „Dürfen wir uns kurz Ihre Wohnung anschauen? Ist die eh genauso wie die Wohnung über Ihnen?“
Ich zuckte wieder mit den Schultern und antwortete: „Keine Ahnung, aber ich glaube schon.“

Nachdem alle Leute von der WEGA freudig, wie gesagt in voller Montur, durch meine Wohnung getrappelt waren, schaute ich kurz auf meinen Boden, der ein Gemisch aus leicht feuchtem Straßenstaub und ein paar gatschigen Erdbröckerln geworden war, und dachte bei mir: „Egal. Da geht es um eine Frau, die wahrscheinlich halb erschlagen in der Wohnung liegt und von ihrem geistesgestörten Freund bedroht wird, da ist es wirklich egal, ob die eigene Wohnung dabei dreckig wird, wenn man die Herren, die da gut helfen wollen, noch ein bisschen unterstützen kann, indem man ihnen das Durchschauen der eigenen Wohnung ermöglicht“, und kam mir kurz wie ein Held und ehrenhafter Helfer in wichtigen Staatsangelegenheiten fürs Volk vor und als ich gerade Heldenpose einnehmen wollte, unterbrach meine Selbstbefeierung ganz lautes, schnelles Getrappel aus dem zweiten Stock und BUM.
Das Haus vibrierte. Getrappel… BUM.
Da kam die Polizistin wieder zu uns runter: „Die Kollegen von der WEGA brechen gerade mit dem Rammbock die Türe auf.“
BUM… Getrappel… BUM DOCK. Die Tür schlug gegen die Wand… ganz ganz schnelles Getrappel genau über uns.
Die Polizistin schaute zufrieden: „So, jetzt werden die Kollegen von der WEGA das gleich geklärt haben.“
Stille… dann relativ lange langsames Getrappel, da kamen schon zwei Leute von der WEGA wieder zu uns hinunter: „Da ist niemand in der Wohnung“, und schauten uns vorwurfsvoll an.

Die Polizistin seufzte und wurde zornig: „Wollt‘s ihr uns veroaschen? Was soll das? Wie gibt’s das bitte?“
Ich war überfordert: „Ja ich weiß es nicht. Ich hab ober mir lautes Herumschreien gehört und dann durch das gekippte Fenster, wie jemand die Polizei gerufen hat, ab dann war es ruhig und nach zehn Minuten oder so sind Sie dann gekommen.“
Die Polizistin schaute mich an, mit einem Gesicht wie eine Bürofrau, deren Aktenordner man falsch bezeichnet hat: „Wir waren bereits nach acht Minuten da. Na gut, wenn das so ist, dann werden wir wohl noch einmal ganz genau die Leute auf der Straße fragen, wie das wirklich war.“

Als die Polizistin dann unten war, hörte ich schon: „Ja genau, bei dem Fenster haben wir gesehen, wie er sie dagegen gedrückt hat, ganz sicher“, und dachte mir: „Na endlich, wenigstens ein Zweiter, der das Gleiche sagt wie ich.“
Die Polizistin kam wieder hinauf und schaute mich zornig an: „Die Leute auf der Straße sagen, dass der Vorfall bei Ihrem Fenster zu sehen war. Was haben Sie bitte getan?“
Ich war fassungslos: „Ich hab gar nichts getan. Ich habe mir mit meiner Freundin „Wetten dass..?“ angeschaut im Fernsehen und den Rest habe ich Ihnen schon erzählt.“
Plötzlich bekam die Polizistin einen mütterlichen Blick und sagte ganz ruhig und verständnisvoll: „Seid s‘ beide einfach ehrlich zu mir. Habt s‘ euch einen Spaß erlaubt? Habt s‘ vielleicht ein bissl spaßhalber herumgerangelt und die Leute auf der Straße haben das falsch verstanden?“
Ich konnte immer noch nicht fassen, was da gerade passierte: „Nein, haben wir nicht. Wir sind, wie schon gesagt, die ganze Zeit vorm Fernseher gesessen und den Rest habe ich, wie gesagt, schon erzählt.“
Die Polizistin schüttelte den Kopf: „Hach, das gibt’s ja nicht. Was reden die Leute auf der Straße dann für einen Blödsinn? Ich hol die jetzt rauf, wenn das okay ist, damit wir da endlich Klarheit haben.“

Ich schüttelte bemüht verständnisvoll und kollegial den Kopf und seufzte ein gequältes „Ok“. Fünf Minuten später kam die Polizistin mit den Leuten herauf in meine Wohnung. „So, meine Damen und Herren. Also, waren das jetzt der junge Herr und die junge Dame, die Sie beim Fenster gesehen haben?“
Ein Ende 20-jähriger, ziemlich fertig aussehender Mann sagte: „JA, ganz genau, die zwei sind das gewesen. Ich hab‘s ganz genau gesehen. Das finde ich echt scheiße von dir, was du deiner Freundin da antust. So was ist echt nicht ok.“
Ich schaute drein, als wäre vor mir gerade ein Raumschiff gelandet: „Bitte was soll das jetzt? Ich habe nichts gemacht. NICHTS!!!“
Er nickte ungläubig: „Ja, das hab ich eh gesehen, wie du nichts gemacht hast mit deiner armen Freundin.“
Ein Mann von der WEGA murmelte dazwischen: „Naja gut, also die junge Dame schaut nicht aus, als stünde sie unter Schock und blaue Flecken kann man auch keine erkennen.“
Entrüstet entgegnete der Anschuldigende: „Er braucht ihr ja nur in den Bauch hauen, da sieht man keine blauen Flecken.“

Sehr bemüht meine aufkommende Wut zu unterdrücken, antwortete ich halbwegs ruhig: „Wenn das, was du sagst stimmen sollte, dann müsste man ja beim Fenster irgendwelche Spuren davon sehen, dass ich sie angeblich dagegengedrückt haben soll, abgesehen davon, war nicht die ganze Zeit vom zweiten Stock die Rede?“
Der WEGA Beamte klinkte sich wieder ein: „Siegst, des is a Idee. Helfen S‘ ma bitte, dass wir das Kastl wegstellen vom Fenster, sonst komm ich ja gar nicht zum Fenster hin, dass ich es mir anschauen kann.“
Ich riss mich zusammen und schlug mir nicht vor den Leuten mit der flachen Hand auf die Stirn: „Wenn nicht einmal Sie als ausgebildeter WEGA Beamter ohne fremde Hilfe überhaupt zum Fenster hinkommen, wie kann ich dann meine Freundin dagegengedrückt haben?“ Meiner Freundin wurde es zu viel: „Mich hat niemand irgendwann irgendwohingedrückt. Ich bin vollkommen unverletzt und habe nirgends blaue Flecken noch sonst irgendwas. Wenn Sie wollen, können Sie mich alle gerne untersuchen. Es ist alles ganz genauso gewesen wie mein Freund gesagt hat. Abgesehen davon, wenn er das wirklich getan hätte, warum sollte ich ihn jetzt verteidigen?“

Der Anschuldiger wurde nervös: „Die Leute vom Fenster gegenüber auf der anderen Straßenseite haben es ja auch gesehen. Fragen Sie die doch, wenn sie mir nicht glauben.“
Die Polizistin verdrehte die Augen: „Jetzt gehen S‘ bitte alle einmal raus und wir werden uns um den Rest kümmern. Liebe Kollegen von der WEGA, ihr bleibts bitte da zur Sicherheit und ich geh rüber zu den Leuten von der anderen Straßenseite.“
Als die Polizistin weg war, stellte sich ein Herr von der WEGA breitbeinig vor mich hin und sprach: „So. Wir nehmen jetzt einmal Ihre Daten auf. Haben S‘ einen Ausweis da? Pass?...“
Von meiner Freundin wurden ebenfalls die Daten aufgenommen.

Nach fünfzehn Minuten kam dann die Polizistin wieder mit einem dunkelroten Kopf herein und brüllte meine Freundin an: „JETZT SAGEN SIE MIR ENDLICH DIE WAHRHEIT!!!“
Man konnte meiner Freundin ansehen, wie gleichzeitig Wut und Ärger über ihre Hilflosigkeit in ihr hochstiegen: „Was für eine Wahrheit? Wir haben Ihnen alles schon erzählt.“
Die Polizistin war außer sich: „SIE SIND DIE FREUNDIN VON DEM NACHBARN OBEN UND DER DA (sie zeigte auf mich) IST SEIN BRUDER UND SIE HABEN MIT BEIDEN WAS GEHABT UND DANN IST ES ZUM STREIT GEKOMMEN!!! DESWEGEN STIMMT AUCH DAS MIT DEM ZWEITEN STOCK, WEIL SIE NÄMLICH ZU DEM ZEITPUNKT, WO SIE GESEHEN WURDEN, ALLE OBEN WAREN!!!“

Die ganze Situation war derartig krank, dass ich gar nicht mehr aufgebracht, sondern wieder ganz ruhig war: „Also erstens bin ich ein Einzelkind. Zweitens kenne ich den oberen Nachbarn nicht und habe den vielleicht exakt zwei, drei Mal im Stiegenhaus gesehen, geschweige denn waren meine Freundin oder ich jemals in dessen Wohnung.“
Die Polizistin schaute Richtung Himmel: „Also Sie sagen, dass keiner von Ihnen den oberen Nachbarn kennt und Sie auch nicht mit ihm verwandt sind?“
Ich nickte zustimmend und die Polizistin legte sich selbst ihre Hand flach auf die Stirn: „Tun Sie mir einen Gefallen? Ich werde jetzt noch einmal hinuntergehen zu den Leuten vom gegenüberliegenden Haus, die Sie angeblich auch gesehen haben. Stellen Sie sich daweil zum Fenster und dann schauen wir, ob es sich nicht doch um einen Irrtum handelt.“

Ich nickte wieder bemüht freundlich und stellte mich zum Fenster. Als die Polizistin unten angekommen war, hörte ich sie fragen: „Meine Damen und Herren, Sie sehen dort beim Fenster im ersten Stock jetzt einen jungen Herren und eine junge Dame, waren es die beiden, die Sie gesehen haben?“
Wie wenn die Leute es geübt hätten, antworteten sie quirlig und hektisch: „JA, ganz genau die beiden waren es. Wir haben es ganz genau gesehen.“
Ich spürte wie sich mein Magen zusammenkrampfte, mir eiskalt auf Händen und Füßen wurde und ich zu zittern begann. Mir gingen dauernd Floskeln durch den Kopf wie: „Wenn du dich lang spielst, dann zeig ich dich an“ oder „Soll ich die Polizei holen, oder können wir uns auch ohne offizielle Hilfe weiter normal unterhalten?“
Wer sollte mir jetzt helfen? Zu wem sollte ich gehen? Man ist in fast allen Situationen im Leben gewöhnt, dass es noch einen letzten Rettungsanker gibt, noch eine letzte Möglichkeit, die einen, falls alles nichts mehr hilft, doch noch aus dem Dreck zieht. Was war es diesmal? Alle Leute, mit Ausnahme meiner Freundin, waren gegen mich, inklusive der Polizei und es gab nichts Handfestes, mit dem ich das Gegenteil beweisen konnte.

Da fiel mir wieder meine ältere freundliche Nachbarin ein: „Kaum ist bei irgendwelchen Sachen die Polizei dabei, hat man schon Schwierigkeiten.“ Dabei konnten die in dem Fall gar nichts dafür. Die hatten zwei Seiten, die das exakte Gegenteil voneinander behaupteten, zu einer wahrscheinlich doch sehr ernsten Angelegenheit, die dringend geklärt hätte werden sollen. Die Polizistin kam wieder herauf: „Also ich nehme an, dass Sie gehört haben, was die Leute unten gesagt haben.“
Jetzt meldete sich die Nachbarin doch zu Wort: „Hern S‘, das ist ein netter junger, höflicher Herr. Ich wohne seit vierzig Jahren in dieser Wohnung und habe noch nie einen so netten, zuvorkommenden Nachbarn gehabt. Noch nie hatten wir im Entferntesten ein Problem mit ihm, und ich hab auch noch nie irgendetwas Absonderliches gehört aus seiner Wohnung, also bitte. Da kann es sich wirklich nur um einen Irrtum handeln.“

Die Polizistin nickte mit routiniertem Zuhörgesicht: „Das mag alles sein, aber auch der freundlichste, netteste Mensch kann einmal durchdrehen.“
Sie wandte sich wieder meiner Freundin zu und schaute sie durchdringend an: „Also Ihnen fehlt nichts und Sie sagen, dass nichts von den Anschuldigungen gegen Ihren Freund stimmt?“
Meine Freundin nickte: „Ja, mir geht es gut und es stimmt nichts von den Anschuldigungen.“
Die Polizistin zuckte wieder mit den Schultern: „Gut. Dann werden wir alle wieder zurück aufs Revier fahren und einmal Ihre Daten überprüfen. Es kann sein, dass Sie eine Zeugenaussage machen müssen, aber da werden Sie dann eh schriftlich verständigt und da steht dann auch alles drin, was zu berücksichtigen ist. Guten Abend.“

Nachdem die Tür zu war, legten sich meine Freundin und ich ins Bett und zitterten. Wir waren beide eiskalt und trotzdem rann uns kalter Schweiß runter. Beide hatten wir das Gefühl, als müssten wir uns jeden Moment übergeben, weil unsere Mägen so verkrampft waren und so verbrachten wir die Nacht.

Am nächsten Tag in der Früh hörten wir, wie jemand im Stiegenhaus in den zweiten Stock ging, dann BUM: „OIDAAAAAAAAAAAAAAAA!!! WARUM HABEN DIE HURENKINDER MEINE WOHNUNG AUFGEBROCHEN? ICH BRING DIE UM OIDAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA, AAAAAAAAAAAAAAAAAAH"

Und man hörte, wie in der Wohnung über uns Sachen gegen die Wände flogen. Meine Freundin begann zu weinen: „Bitte, lass uns fahren. Ich mag nicht mehr hier sein. Bitte dürfen wir einfach wegfahren von hier. Ich mag weg. Ich hab Angst. Ich will nicht mehr. BITTE BITTE.“
Obwohl ich genau das Gleiche empfand, stieg Zorn in mir hoch. Wie kam ich dazu, obwohl ich absolut nichts Falsches gemacht hatte, wegen diesem Arschloch, aus Angst meine eigene Wohnung verlassen zu müssen. Der hatte eine schöne Nacht irgendwo anders, und ich hatte meine Nerven weggeschmissen, die ganze Nacht nichts geschlafen, die Polizei inklusive WEGA in der Wohnung, sechs Leute, die mich für etwas beschuldigten, das ich nicht getan hatte, und Angst um mich selbst und meine Freundin, in meiner eigenen Wohnung, und jetzt ging dieser Schwachsinn auch noch weiter mit dem Typen, der schuld an all dem war und gerade wieder einmal über uns durchdrehte.
Als er noch lauter zu schreien begann und man Glas zersplittern hörte, bekam meine Freundin einen Weinkrampf: „BITTE lass uns endlich fahren. Was ist, wenn der Wahnsinnige zu uns runterkommt? Ich will das nicht. Bitte fahren wir endlich.“
Ich konnte ein: „Na der soll sich hertrauen“ nicht zurückhalten, obwohl mir nur beim Gedanken daran, wie das dann tatsächlich wäre, wenn der wirklich herkommen würde, schon schlecht wurde, aber was tut man nicht alles, damit sich die Freundin sicher fühlt.

Nach: „OIDA ICH BRING DEN SO UM, DER DIE POLIZEI GERUFEN HAT. DAS WAR SICHER IRGENDEIN SCHEISS NACHBAAAAAAAAAAAAAAAR“, ließ ich mich dann aber dennoch relativ flott überreden, mit dem Auto durch die Gegend zu fahren.

Nach einigen Wochen und ein paar freundliche Stiegenhausbegrüßungen mit dem geistesgestörten Nachbarn später fühlte ich mich wieder sicher in meiner Wohnung. Im gewohnten Alltagstrott schaute ich in mein Briefkästchen und mir versetzte es gleich wieder einen Stich. Eine Zeugenladung der Polizei zu dem Vorfall am…blablabla. Ich zählte die Tage bis zum Datum der Zeugenladung und mich quälten die Fragen, die mir dauernd durch den Kopf gingen. Was ist, wenn die mich wirklich einsperren? Was ist, wenn das dort so weitergeht wie in der Nacht damals, dass weiterhin alle gegen mich sind und sich einig darin sind, dass ich meine Freundin geschlagen hab? Ich kam mir dabei so blöd vor. Wie in einem billigen Krimi, wobei wenn man darüber einen Film machen würde, würden die Leute sicher sagen: „Geh bitte, so ein Blödsinn, so was gibt’s ja gar nicht, naja denen fällt ja auch nichts mehr zum Verfilmen ein.“
Jetzt war der Tag da. 13:00 Uhr, beim Revier Floridsdorf.

Ich war zwanzig Minuten zu früh dort, also wartete ich mit schweißnassen Händen und wild hüpfendem Herz auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo ich ein Gespräch von einem kleinen Menschengrüppchen mithören durfte: „Und wie lange sperrens dich ein?“ „Naja, die haben gesagt, dass ich schon mindestens drei Jahre rein muss und ich jetzt aber noch auf die Gerichtsverhandlung warten muss. Vielleicht kann man es, wenn ich Glück habe, noch auf ein halbes Jahr verkürzen.“ „Ja super, und was mach ich jetzt? Ich hab zwei Kinder von dir und keinen Job.“ Mir wurde schlecht. Ich beschloss, noch eine Runde spazieren zu gehen, um nicht weiter zuhören zu müssen.
Endlich war es 12:59. Ich ging hinein und hörte von dem sympathischen Kollegen hinter dem Panzerglas: „Tag. Wos gibt’s?“ Ich antwortete mit zittriger Stimme: „Ich komme zur Zeugenladung um 13:00 Uhr.“
Die Tür schnappte auf, ich ging hinein und schaute mich ratlos um, da ich ja nicht wusste, wo ich hingehen sollte, also wandte ich mich wieder zum Panzerglaskollegen, doch bevor ich Luftholen konnte: „Der Kollege kummt glei, woatn S‘ do.“ Nach zwei Minuten kam ein diesmal tatsächlich sympathisch aussehender, Mitte vierzigjähriger Mann in T-Shirt und Jeans und begrüßte mich mit freundlichem Grinsen und einer Stimme, als würde er alle fünf Minuten zwanzig Zigaretten auf einmal rauchen und sich dazwischen fünf Stamperln Whiskey genehmigen. „Kommen S‘ bitte mit in mein Büro, mach ma das dort.“
Ich grüßte freundlich zurück und ging ihm nach wie ein schüchternes Hündchen, dem gerade sein neues Herrchen vorgestellt wurde. Sein Büro sah ganz unspektakulär aus. Nirgends hing eine Pinnwand mit Mordfallbildern noch sonstigen Klischees, die man immer in Fernsehserien zu sehen bekommt. „Nehmen S‘ bitte Platz.“ Dann fragte er mich nach meinen persönlichen Daten und sagte dann: „So, na dann erzähl’n S‘ einmal.“

Ich war so nervös, dass logisches Denken nur schwer möglich war: „Also einfach so von Anfang bis zum Schluss, wie es gewesen ist?“ Er nickte ruhig und routiniert, also begann ich zu erzählen, plötzlich fing er an zu tippen, wodurch ich aufhörte zu reden und fragte: „Achso, Entschuldigung, ich wusste nicht, dass Sie noch etwas erledigen müssen, oder soll ich eh trotzdem weitererzählen?“
Er nickte: „Jaja, erzählen S‘ nur weiter.“ Erst nach einiger Zeit kapierte ich, dass er einfach eins zu eins abtippte, was ich sprach und er das nicht gleich von sich aus sagte, damit die Leute dann nicht stundenlang herumüberlegen, was sie sagen sollen, also ließ ich mir von erzähltem Satz zu erzähltem Satz, einfach immer mehr Zeit, um auf keinen Fall irgendetwas zu sagen, was man missverstehen hätte können, aber da er andauernd bestätigend nickte und ihm anzusehen war, dass er sich das, was ich erzählte, in etwa so erhofft hatte, machte ich mir keine Sorgen mehr, bis ich mich selbst sagen hörte: „…ja und das wars dann eigentlich.“
Er nickte wieder zustimmend und schaute mir extrem ruhig, aber sehr durchdringend in die Augen: „Und Sie kennen den Herrn, der über Ihnen wohnt, nicht?“ Ich verneinte: „Nein, also halt nur vom Sehen im Stiegenhaus.“ Er nickte wieder: „Haben Sie eine weibliche Stimme bei dem Streit gehört?“ Ich verneinte: „Nein, eigentlich nicht. Ich habe immer nur ihn schreien gehört.“ Er nickte und schaute weiter durchdringend und ruhig: „Hätte es sein können, dass der Streit am Telefon stattgefunden hat?“ Ich hob die Schultern und drehte meine Handflächen nach oben: „Das kann ich nicht sagen.“
Er nickte wieder verständnisvoll: „Ja, das ist eh klar. Gibt es sonst noch etwas, das Sie mir sagen wollen?“ Ich zögerte ein bisschen und entschloss mich dann aber dennoch dazu: „Ich hab mir eigentlich vorgenommen, das nicht zu sagen, aber ich finde es einfach echt nicht lustig, dass ich von allen Seiten beschuldigt wurde, obwohl ich exakt genau nichts gemacht habe. Ich habe nicht einmal einen lauten Schas gelassen in meiner Wohnung.“
Ein mitfühlendes Grinsen war zu erkennen: „Ja, das verstehe ich schon, dass das nicht lustig ist.“ Ich schnaubte Zustimmung einfordernd: „Aber wie gibt es so was?“ Er hob die Augenbrauen und zuckte mit den Schultern: „Ich glaube, da hat sich einfach wer verschaut. Also danke, dass Sie bei den Ermittlungen geholfen haben. Nach der zweiten Tür links und dann sind S‘ eh schon beim Ausgang. Auf Wiedersehen.“
Er grinste mich freundlich an, ich grinste zurück, wir schüttelten uns die Hände und ich verließ das Revier.

Ich fühlte mich wie Gott, als ich die Straße hinunterging und wusste, dass es endlich geschafft war und gut ausgegangen ist. Die Ereignisse liefen in meinem Kopf noch einmal von Anfang an bis zum Schluss durch und Erleichterung machte sich breit, die sich aber plötzlich zu Ärger umwandelte. Ich habe doch eigentlich nichts gemacht, wie komme ich dazu, jetzt erleichtert sein zu müssen, obwohl ich es gar nicht verdient hatte, mich überhaupt schlecht zu fühlen? Wie gibt es das, dass so viele blöde unnötige Zufälle für so einen riesengroßen Schas sorgen? Das ist wieder einmal typisch mein Leben. Andere Leute fladern bei jedem Supermarkt den halben Einkauf und werden nie erwischt und ich mach gar nichts und werde beschuldigt, meine Freundin zu schlagen und muss als Dank dafür auch noch zu einer Zeugenladung. Andere schauen sich dafür „WEGA – Die Spezialeinheit der Polizei“ auf ATV an, weil sich sonst nichts Spannendes abspielt in deren Leben. Das kann ich bei mir wohl nicht behaupten, wobei es mich noch immer mehr ärgert als ich es unterm Strich lustig finde. Der unvergleichliche, sensationelle und geniale GUNKL hätte an dieser Stelle wohl „Gleichviel“ gesagt, um diese Geschichte mit einem Zitat von einem genialen Menschen zu beenden.

Lukas Lachnit
Kurzgeschichten: fiktiv, enorm, abnorm | Fleischlabel ©2012

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 15067

 

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