Aufgedeckt

Mitte der Woche im Café Bräunerhof. „Junger Mann“, fragte Carl Hofbauer den Kellner, „wo ist denn der Franz heute? Dienstfrei, oder was?“ Der Kellner kam langsam näher, mit einem Geschirrtuch ein Weinglas polierend. „Ja, wissen Sie nicht?“, fragte dieser mit ernster Miene. „Was ist passiert?“, Carl richtete sich neugierig auf. Der Kellner schluckte und räusperte sich, beinahe wie ein Prüfling, dann begann er stockend: „Am vergangenen Freitag – es war schon spät, da ist er gestürzt. Dort, beim Abgang – über die Treppe. Er hat noch gelacht. Zuerst haben wir geglaubt, es ist eh nichts. Aber dann – der Hofrat Meier war noch da – wir haben ihm aufhelfen wollen, aber er hat so gejammert, dass der Meier gesagt hat, da kann man nichts machen, und ich soll die Rettung anrufen. Das hab ich auch gemacht. Die sind gleich da gewesen – Oberschenkelhalsbruch, hat der Arzt gemeint. Sie haben ihn ins AKH gebracht.“ „Aber!“, sagte Carl und schüttelte mitleidig seinen Kopf. „Gestern früh – hat seine Nichte angerufen. Der Herr Franz – ist in der Nacht auf Sonntag – verstorben. Lungenentzündung dazubekommen und ...“
„Was?“ Carl erhob sich ganz langsam von seinem Sitz. „Was sagen S’?“ Carl starrte ins Leere. „Unser - Ober - Franz?“, flüsterte er, und setzte sich ebenso langsam wieder, so, als wäre er plötzlich um Jahrzehnte gealtert. Der Kellner trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Bringen Sie mir bitte – einen Kognak, Herr Rudolf!“, bat Hofbauer sanft, und starrte vor sich hin. „Sehr wohl“, antwortete der Ober und eilte davon, sichtlich erleichtert, von seiner unangenehmen Aufgabe entbunden zu sein.

Zwei Tage später. Josefstädterstraße, Ecke Stozzigasse. „Na alsdann! Jetzt hammas!“, rief Trafikant Hofer aufgeregt, als einer seiner Kunden eben um die Ecke bog, geradewegs auf Hofer zu.
Der konnte gerade noch ausweichen. „Na hallo, hallo!“, rief dieser erschrocken, „Sie rennen mich ja glatt über den Haufen, lieber Herr! Bleiben S’ ruhig! Wie is’ Ihna denn? Regn S’ Ihna net so auf!“
„Na hören Sie, jetzt, wo vielleicht die Russen wieder kommen, soll ich mich nicht aufregen?“
„Wer sagt denn, dass die Russen gleich kommen? Sie, übertreiben S’ nicht! Nur weil sich einer von denen nach Retzbach verflogen hat“, lachte Herr Huber.
„Also Ihren Humor möcht’ ich haben! Damals, im Sechsundfuffziger, da hat’s auch so begonnen. Und schon waren wir an der Grenze. Wissen Sie, was ich meine? Mobil gemacht haben wir. Heute Morgen – die aktive Truppe ist sofort in Alarmbereitschaft gesetzt, haben S’ das nicht gelesen? In den Kasernen ist alles abmarschbereit!“
„Ja, schon – aber, schau’n Sie, wir müssen uns ja ein bisserl wichtigmachen, sonst glauben die womöglich, es ist uns eh alles gleichgültig, wir sind ja ohnehin neutral, nicht? Natürlich müssen wir ein bisserl mit dem Säbel rasseln, aber doch nur zum Schein. Was wolln S’ denn mit unsere paar Mandln? Die Rettung können S’ hin schicken. Vielleicht gibt es ein paar Verletzte oder so. Aber glauben Sie mir, Herr Hofer, bei unserem Status, international gesehen versteht sich, traut sich kein Russ ungestraft über den Zaun spucken. Darauf können S’ Gift nehmen!“

Über diese unverschämte Relativierung blieb Hofer beinahe die Luft weg vor Empörung. „Ja sind Sie noch bei Trost? Ah, Sie glauben, wir haben unser Heer nur zum Spaß, was? Da oben ein bisserl die Geräte durchlüften fahren, oder? Schauen, dass uns der Kader nicht verrostet, wie? Sie möcht ich sehen, wenn Sie alles zusammenpacken müssten, warten Sie nur! Wie damals, im Vierundvierziger! Unsere Bundesregierung weiß sehr gut, was zu tun ist, glauben Sie mir! Das war ganz richtig, dass man die Soldaten hinschickt. Und nicht nur zum Repräsentieren! Merken Sie sich das!“

Huber musste schmunzeln. Er wollte den Hofer ja nicht unnötig strapazieren, also lenkte er reuig ein: „Sie haben ja Recht. Es ist empörend, was sich die Russen da wieder geleistet haben. Die Welt hat über Nacht ihr Gesicht verändert, wirklich! Unter diesem Eindruck - dieser, dieser Invasion - kann man nur erstarren. Ein Überfall ist das!“, sagte er. „Ein Überfall, sehr richtig!“, bestätigte Hofer.
„Wer hätte das gedacht?“, fragte sich Herr Huber, „jetzt haben sie uns den Zeiger der Geschichte wieder um zwölf Jahre zurückgedreht, könnte man meinen.“
„So is’ es!“, sagte Hofer und presste resigniert seine Lippen aufeinander, wobei sein stacheliges Kinn, mit den weißen Bartstoppeln, ein wenig zitterte.

„Wieso hat denn der Breschnew jetzt auf einmal so die Panik?“, fragte der Trafikant, „ich denk, durch wen will er denn den Dubcek und den Svoboda ersetzen?“
„Weiß nicht“, sagte Herr Huber, „das alles hat so den Modergeruch einer Scheinheiligkeit, dem Einmarsch eine gewisse Legalität verleihen zu wollen. Das kennen wir ja zur Genüge aus Moskau. Wir zwei sind ja lange genug auf dieser Welt, gell, Hofer?“
„Ja, ja! Und ich hab gedacht, dass der Kommunismus in den letzten Jahren vielleicht ein bisserl menschlicher und liberaler geworden ist. Einen Schmarren, lieber Herr Huber! Denen ihre Schwäche stützt sich immer noch auf Panzer und Kalaschnikows! Stimmt’s oder hab ich Recht, Herr Huber?“ Huber wiegte nachdenklich sein Haupt und beobachtete einen Hund, der soeben auf dem Gehsteig sein Geschäft verrichtete, während sein Frauerl völlig unbekümmert in die Luft blickte.

„Und wer wird die Sauerei da wegräumen?“, schrie  Huber sie völlig unerwartet an.
Die Hundebesitzerin zuckte erst zusammen, fasste sich aber sofort und konterte: „Kümmern Sie sich gefälligst um ihre eigenen Sachen, Sie Wichtigtuer!“, und zog mit ihrem Hund ab.
„Also Leut’ gibt’s!“, empörte sich nun auch der Trafikant.

Huber war fassungslos. „Unerhört, was?“, meinte er zu Hofer, „und unsereins steigt dann hinein! Die Josefstadt – total verschissen, Hofer! Ein einziges Hundeklo! Und die Politiker schau’n nur blöd. Machen tun sie nichts dagegen. So was! Aber – ich hab gehört, in Prag und Pressburg schießt man auf Zivilisten. Jetzt kommt’s natürlich darauf an. Sie haben ganz Recht gehabt vorhin, ich seh das ja auch so. Wir müssen jetzt eine entschlossene, besonnene und auf die Bewahrung der Unabhängigkeit und Neutralität ausgerichtete Haltung einnehmen. Ganz klar! Dass die alles vorbereiten, was zur Tradition unseres neutralen Landes gehört, damit alles gewahrt bleibt, Sie verstehen, auf dem Gebiet des Asylrechtes und der Hilfsbereitschaft, ist ja in Ordnung. Das wird immer allzu leicht vergessen, wissen Sie? Und einigen ist das überhaupt egal! Gott sei Dank gibt’s noch Grenzen und Zäune, was?“

Hofer nickte. „Natürlich erwarten wir, dass unsere Leute drüben in Sicherheit sind. Oder dass man ihnen ihre Ausreise ungehindert gewährleisten muss, nicht? Und wir mischen uns dafür eben nicht in die Angelegenheiten anderer Staaten. So ist das!“
„Ja“, sagte Hofer, „wir schauen nur zu.“ Huber sah ihn für kurze Zeit verständnislos an. „Na, was wollen Sie denn dagegen machen?“, fragte er. „Ja, eh!“, meinte Hofer.
Sie gingen langsam in Richtung Trafik. „Ich muss wieder. Mein Herr Sohn da drinnen wird schon nervös sein, weil ich so lange weg bin“, lachte Hofer. „ Ja? Na, hoffentlich hat der sowjetische Hubschrauberpilot wieder zurückgefunden, sonst wird er ein paar Schwierigkeiten kriegen“, meinte Herr Huber abschließend, „und es geht ihm so wie den verschleppten Reformkommunisten – ab nach Sibirien!“, lachte er, „in guter alter Kommunistenmanier! Ha ha!“

Vor dem Verteidigungsministerium am Franz-Josefs-Kai hielt eine schwarze Mercedes-Limousine. Der Chauffeur, in Heeresuniform, niedrigere Charge, kaum dreißig, war bemüht, so rasch er konnte auszusteigen, um das Fahrzeug herum zu eilen und blitzschnell die rückwärtige rechte Türe aufzureißen. Haltung angenommen, mit der Rechten zackig salutierend. Aus stieg ein graumelierter Mittfünfziger im Range eines Oberst, der lässig dankte, indem er mit zwei Fingern an den Rand seines Kappenschildes tippte und, eine schwarze Ledermappe unter den Arm geklemmt, die Treppen zum Ministerium hinaufschritt. Der Chauffeur war inzwischen längst wieder eingestiegen und um die Ecke in Richtung hauseigener Garage abgebogen.

Der Oberst bestieg den Paternoster und fuhr in den dritten Stock, die Ebene des Ministerbüros. Zwei Ordonanzen schlugen die Hacken zusammen. „Geh’n S’, melden S’ mich dem General“, nasalierte der Oberst gelangweilt einem von beiden zu. „Jawoll, Herr Oberst!“ Er machte kehrt und klopfte an die hohe Zweiflügeltür. „Herrrein!“, hörte man von drinnen. Der Gefreite trat ein. Hörbares kurzes Gemurmel. Der Gefreite kam wieder heraus auf den Flur. „Der General lässt bitten, Herr Oberst!“, schnarrte er, Nase nach oben, Blick gerade aus, Kopf in den Nacken geworfen. „Is’ scho’ recht, junger Mann“, antwortete der Oberst und trat ein.
Man hörte Absätze aneinanderknallen. Drinnen: „Servus Ferdinand! Was ist? Wo brennt’s?“, fragte der General seinen alten Freund. „Servus. Wie geht’s dir? Hast was g’hört vom Schorschi? Der Gute ist angeblich geschieden, hab ich gehört. So eine liebe Frau, die Hanni. Na, ich sag’s ja, so eine Ehe ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.“ „Na, das kannst laut sagen. Und du, sag einmal, wo warst du denn am Samstag? Warum bist nicht nach Baden gekommen? Die Partie war doch lange ausg’macht?“ „Weißt, Fritz, ich war ein bisserl derangiert, vom Freitag noch. Roulette mit dem Oberstleutnant Langstein, du weißt schon, der von der Sophie“, antwortete der Oberst. „Die hübsche Blonde? Die Tochter vom Konsul Müller?“
„Ja, genau die! Siehst du, das merkst du dir“, lachte der Oberst und sah sich im Zimmer ein wenig um. „Noch ist ja nicht alles verloren mit dir, ha ha! Willst mir nichts anbieten, Fritz? Ich hab so eine Migräne! Den ganzen Tag über schon.“
„Verzeih bitte meine Unaufmerksamkeit. Aber hier herinnen - da vergisst sehr schnell deine gute Kinderstube, verstehst? Was willst denn haben? Ich kann die Ordonanz um ein Sekterl in die Kantine schicken, wenn’s d‘ magst?“ „Geh, das wär lieb von dir. Bitte, ja?“

Der General klingelte. Es klopfte. „Herein!“ Der Gefreite von vorhin nahm Haltung an, Kopf nach hinten, in Erwartungshaltung. „Sind S’ lieb, und gehen S’ mir in die Kantine zur Frau Prihoda. Ich lass um einen Pommery bitten, brut, wenn sie hat. Und - lieber Freund, nehmen Sie bitte zwei Sektglasl mit, ich hab ja gar nichts da derzeit!“ Der Gefreite krächzte sein „Jawoll“ und eilte davon.

„Setz dich doch, Ferdi. Erzähl! Was ist? Wenn du schon einmal da aufkreuzt, gibt es sicher einen besonderen Anlass, stimmt’s?“, forderte ihn der General auf. „Da hast auch wieder Recht. Pass auf, es gibt da eine unangenehme Sache, mit so einem Zeitungsreporter. Hat sich mit internen wehrpolitischen Angelegenheiten befasst. Kein Mensch weiß, woher er die Informationen hat. Jetzt ist die Sache nun einmal draußen und der Minister hat Wind davon bekommen. Ich will ja nix sagen, aber wenn’s d ’ mich fragst, steckt der mitten drinnen in dem Schlamassel“, erklärte der Oberst. „Was du nicht sagst?“, tat der General erstaunt. „Und worum geht’s eigentlich? Hat er sich was zu Schulden kommen lassen?“, fragte er. „Bis jetzt noch nicht. Aber wer weiß? Rein vom Gefühl her würd’ ich sagen, es riecht nach Landesverrat.“
„Für den Minister?“
„Nein, für den Journalisten“, betonte der Oberst.

Es klopfte. Die Ordonanz brachte Sekt und Gläser auf einem silbernen Tablett. „Bitte sehr, Herr General. Und die Frau Prihoda lässt schön grüßen und schickt eine paar Sachen zum Knabbern mit!“, sagte der Gefreite und stellte Getränke, Gläser und ein Schüsselchen mit Salzgebäck artig auf einen kleinen Tisch vor der alten Ledercouch. „Jö, dös is’ aber lieb von ihr. Na, ich geh dann eh noch rüber. Zigaretten sind mir auch ausgegangen. Ich dank schön, junger Mann. Können S’ wegtreten“, sagte der General. „Jawoll, wegtreten!“, wiederholte der Soldat zackig, und war zur Tür hinaus.

„Schau, Ferdi! Is’ sie nicht lieb, die Prihoda? Die mag mich ein bisserl, das hab ich eh schon lang bemerkt. Hübsch is’ sie auch noch. Nicht mehr ganz jung, aber knackig! Was, Ferdi?“ Der General kicherte. Der Oberst zündete sich eine Zigarette an.
In der Zwischenzeit machte sich der General am Korken des Pommery zu schaffen. Es knallte. Vorsichtig füllte er beide Gläser, ein jedes nur bis zum ersten Drittel. „Prost Ferdi!“ „Prost Fritz!“ Das erste Glas tranken sie ex. Dann wurde nachgeschenkt. „Also, was is’ jetzt mit dem Journalisten?“, wollte der General weiter wissen. Der Oberst blies den Rauch lässig aus seinem Mundwinkel in die Luft. „Schau, Fritz. Im Arsenal wollen sie die alten amerikanischen Geschütze loswerden. Du weißt schon, die alten SM 43iger. Das hab ich auch schon länger gewusst.“ „Wer tritt als Verkäufer auf?“, fragte der General. „Das is’ es ja eben. Ich weiß es nicht, und das Mil-Kommando weiß auch von nix. Mir kann das ja gleich sein wie nur was. Trotzdem! Blöd is’ nur, dass irgendein Informant aus unseren Reihen die G’schichte an die Journaille weitergegeben hat. Und ich soll das untersuchen. Als ob unsereins sonst nichts zu tun hätte.“ „Also wirklich! Wozu haben wir denn den Abwehrdienst? Sollen die sich doch damit die Finger verbrennen.“

Der General sah eine kurze Zeit zum Donaukanal hinunter und beobachtete ein vorbeifahrendes Ausflugsschiff. „Dort an Deck, in der Sonne liegen, Ferdi, das wär jetzt fein, wie?“, sagte er. „Fahrt eins vorbei?“, fragte der Oberst. „Ja! Die Vindobona. Kann man halt nix machen. Prost, Ferdi! Um halb vier geh ich, dass steht fest. Was willst du jetzt machen?“ Der Oberst ließ sich den Champagner schmecken und meinte dann schließlich: „Na ja, ich werd einmal im Planungsstab fragen, wer ihrer Meinung nach eventuell infrage kommen könnte, tät ich einmal sagen.“ „Sehr richtig!“, bestärkte ihn der General, „ich glaub, das ist das G’scheiteste. Und die sollen das an das Kommando melden und der Rest, Ferdi, der wird sich schon finden, nicht wahr?“ „Hoffentlich ist das so einfach, wie du dir das vorstellst. Wenn der Minister drinnensteckt, dann möchte ich nicht in seiner Haut ...“ Der Oberst stockte. „Hört man uns da draußen?“, fragte er. „Geh! Wie kommst denn da drauf? Sind ja alte Türen. Die halten dicht!“, lachte der General.

Es konnten drei Wochen vergangen sein, auch vier. Dienstagvormittag. Sollten die Blicke zufällig auf den Parkettboden vor Hans Kleins Bett in dessen Schlafzimmer gefallen sein, ließen sich hier ganz leicht offensichtlich hastig ausgezogene, weibliche Kleidungsstücke erkennen, wie etwa eine eilig hinabgerollte Strumpfhose, in Manier einer Schlangenhäutung, mit dazugehörigem Slip samt Einlage, eingebettet in ausgewaschene Jeans, einem friedlichen Nest gleich, aus dem soeben geschlüpft worden war, wobei sich das Küken offensichtlich direkt in das geräumige Doppelbett des Herrn Klein verirrt hatte. Daneben kleinnummrige Tennisschuhe, nicht mehr so ganz blütenweiß, aus Leinen, nebst einem knallgelben T-Shirt mit Mick-Jagger-Kopf -Aufdruck, unter dem die Worte standen „Make Love, Not War!“
Über dem Bett hing ein vielversprechendes Plakat mit einer spärlich angezogenen jungen Dame darauf, auf dem gleichfalls ein Spruch stand, allerdings etwas länger als jener auf dem T-Shirt: Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment! Daneben hing ein Plakat mit der Silhouette des Kopfes von Che Guevara. „Sag mir, dass du mich liebst!“, säuselte eine verschlafene Stimme neben Hans Kleins Ohr. Klein zog die Bettdecke über seinen und den Kopf des jungen Mädchens. „Jaaa! Total, echt!“, seufzte er, woraufhin seine Hände offensichtlich erfolgreich, im Schutz der Daune, nach ganz bestimmten Stellen ihres verführerischen Körpers zu suchen begonnen hatten, wie mühelos den anfangs noch hysterisch quietschenden, schon bald aber sich eher lustvoll steigernden Seufzern der jungen Dame zu entnehmen war, die sich nach und nach unter Kleins infernalisches Bariton-Geächze zu mischen begonnen hatten.

In der Folge entstand bald darauf ein Gewühl, welches in scheinbar qualvoll ansteigender, dann auch wieder abfallender Intensität Ekstase signalisierte, die wohl eine gute dreiviertel Stunde oder auch länger gedauert haben mochte, als plötzlich die Türglocke schrillte. „Wer is’n das?“, wunderte sich Klein und hielt in einer eben erst heftig ausgeführten Bewegung jäh inne. „Bitteee!“, hauchte die Stimme unter dem Bettzeug flehend, „nicht aufhören – jeeetzt!“ Hans wurde unruhig. Es läutete abermals. Diesmal länger. „Verdammt!“ Hans kroch aus dem Bett, raffte seinen Schlafrock zusammen, schlüpfte ungeschickt hinein und eilte ins Bad. Draußen läutete es wie verrückt. „Aufmachen! Herr Klein? Sind Sie zuhause? Machen Sie auf! Staatspolizei! Öffnen Sie!“
Dann wurde an die Tür gepocht. Wieder schrillte die Glocke. Hans wurde mulmig in der Magengegend. Was wollte die Staatspolizei bei ihm? Weswegen? Falschparken konnte es nicht sein. Ausgeschlossen! Hans eilte zur Tür. Die Polizisten trommelten wie verrückt. „Ja, ja! Ich komm ja schon. Sie schlagen ja die Tür ein!“, rief Hans und öffnete. „Sind Sie Johann Klein?“, fragte ein Staatspolizist in Zivil. „Ja, ja. Bitte?“ „Zieh’n Sie sich an! Es liegt ein Haftbefehl gegen Sie vor!“ „Was?“ „Fragen S’ nicht lang, zieh’n sie sich an und kommen S’ mit!“, sagte der Beamte forsch. „Sofort, gleich“, antwortete Hans leise und lief ins Schlafzimmer. „Annemarie! Ich bin verhaftet!“, keuchte er und zog sich hastig die Hose an. „Spinnst du, oder was?“, fragte das Mädchen, wobei sie Hans ungläubig ansah. „Los! Aufstehen. Komm, komm, komm! Du musst weg!“

Hans hatte nicht bemerkt, dass die Beamten längst im Flur standen. Es klopfte an der Schlafzimmertüre. Die beiden fuhren erschrocken zusammen. „Hausdurchsuchung! Wer sind Sie denn?“, fragte der mit der Igelfrisur. „Annemarie ...“„Sind Sie die Gattin?“ „Äh, nein ...“, „Aha! Dann raus, aber ein bisschen dalli, ja?“ „Ich geh ja schon“, sagte Annemarie verstört und zog sich hinter dem Kleiderschrank an. „Darf man fragen, wie alt Sie sind, Fräulein?“, fragte derselbe noch einmal. „Neunzehn“, antwortete Annemarie. „Da schau her! Haben wir einen Ausweis dabei?“ „Ja, ja, sicherlich. Studentenausweis. Hier!“ Sie reichte dem Polizisten den gelben, leicht zerknitterten Karton. Dieser warf einen Blick drauf. „Na, zum Studieren kommen Sie wohl nicht so viel, was?“, bemerkte der Beamte zynisch, und gab ihr den Ausweis zurück. Sie verabschiedete sich von Hans und schlug die Tür hinter sich zu. „Fertig, Herr Klein?“, fragte der mit der Igelfrisur. „Ja.“ „Dann setzen Sie sich einen Augenblick hier hin. Wir machen jetzt eine Hausdurchsuchung“, sagte er und zeigte Hans den schriftlichen Befehl. „Das können Sie nicht machen! Das ist ja unerhört!“, rief Hans und sprang auf. „Sitzenbleiben, sonst lernen S’ mich kennen! Wir können auch ganz anders, verstehen Sie, lieber Herr?“, drohte der Polizist.

Gleichzeitig begannen vier Beamte, Kleins Wohnung von unten nach oben zu durchwühlen. Schubladen wurden herausgezogen, Papiere durchforstet, Schränke geöffnet und untersucht. Hin und wieder landete ein Schriftstück in einem mitgebrachten Karton. „Ah, da schau her! Der Herr Redakteur liest Playboy und solche Sachen!“, lachte einer von ihnen. „Seit wann kann man denn das lesen?“, scherzte ein anderer. Hans kochte innerlich vor Wut. Aber es half nichts. Da musste er durch. Nach einer halben Stunde waren sie offensichtlich fertig. „Nichts zur Sache gefunden, Herr Major!“, meldete einer der Polizisten. „Gut. Herr Klein, wir können gehen!“

Sie versperrten die Türe, und verklebten sie mit einem Siegel. Vis-à-vis steckte die Nachbarin neugierig den Kopf zur Türe heraus. Hans schnitt ihr eine Grimasse. Dann gingen sie die Treppen hinunter zu den Fahrzeugen, die am Gehsteigrand parkten. Hans Klein wurde auf einen Rücksitz geschubst, links und rechts je ein Beamter, wie bei einem Schwerverbrecher. „Vielleicht legen Sie mir noch Handschellen an, was?“, ärgerte er sich. „Können S’ haben, wenn Sie wollen“, sagte einer von ihnen ruppig, „ich hab rein zufällig welche dabei!“ Dann fuhren sie ab.

Etwa zur selben Zeit in einer Kaserne im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Ein VW-Variant Kombi der Militärstreife näherte sich dem Wachposten. Ohne besondere Formalitäten ging der Balken hoch. Der diensthabende Wachsoldat stand stramm und salutierte. Das Fahrzeug führ in den rückwärtigen Hof der Kaserne und hielt an jenem Platz, wo zwei militärgraue Blechbaracken standen. Zwei Polizisten stiegen aus. Weiße Schirmmützen, weiße Lederriemen und Pistolentaschen, Armbinden der Militärstreife - und gingen in die zweite Baracke. Der dort sitzende Korporal vom Dienst sprang wie von einer Tarantel gestochen auf. Eine Kaffeeschale auf seinem kleinen Tischchen kippte um. Der Kaffee ergoss sich auf die Standesliste und tränkte sie gelbbraun. „Melde – Wehrmann Dunst als KVT – 2. Kompanie, 1. Zug“, stotterte der junge Waldviertler, dem allein schon beim Anblick der Militärpolizisten die Luft weggeblieben war, ganz zu schweigen von den Geschichten, die sich um die Militärstreife rankten, und von denen er gehört hatte. „Alle auf ihren Dienststellen – bis auf den diensthabenden Unteroffizier!“, fügte er hinzu, kreidebleich.

Einer der beiden Polizisten grinste. „Jetzt können S’ die Listen noch einmal schreiben, was?“ Der Rekrut war verunsichert. Sollte er lächeln? Oder gar schon bequem stehen? Nein, er blieb bei seiner starren Haltung. Man konnte ja nicht wissen. „Wo ist der Spieß?“, erkundigte sich der andere. „Hinten, in der Kanzlei“, verwies ihn der Soldat, schon etwas erleichtert. Der Polizist bedankte sich. Sie gingen nach hinten. Offizierstellvertreter Weiß hatte sie kommen hören und stand schon auf dem asphaltierten Flur. Auch er grüßte sofort militärisch, etwas verunsichert vielleicht, und nicht ganz so zackig wie der Jungmann hinter seinem Tisch, aber immerhin. „Kommt’s ihr zu uns?“, fragte er auch gleich, um ihnen zuvorzukommen. „Servus, Weiß“, grüßte der eine, „ist der Oberleutnant Kosazky anwesend?“ „Ach der, nein. Soviel ich weiß, müsste er in seiner Dienststelle sein. Aber wart einmal, der hat heute OVT. Die Übergabe ist jetzt um halb. Eigentlich sollte er schon da sein. Ich schau gleich.“

Weiß lief zum letzten Zimmer der Baracke, drehte aber gleich wieder um, denn plötzlich war ihm eingefallen: „Er war ja im Ministerium heute, das weiß ich bestimmt!“, teilte er ihnen mit, völlig außer Atem. „Danke“, sagte der eine, „warten wir eben hier bei dir auf ihn. Gibt’s einen Kaffee?“ „Kaffee? In der Küche. Ordonanz!“, brüllte er auf den Gang hinaus, „Dunst, Sie Depp! Holen S’ zwei Kaffee aus der Kantine. Und ja nichts ausschütten! Verstanden?“ „Jawoll!“ Der junge Mann eilte über den Kasernenhof in Richtung Küchengebäude. „Was? Den aus der Blechkanne? Habt’s ihr keine Espressomaschine da?“, fragte der Oberwachtmeister enttäuscht. „Tut mir leid! Ist nicht bewilligt worden. Unser Chef hat eine beantragt. Aber – ist leider nicht bewilligt worden.“ „Vielleicht ist er nicht gut angeschrieben beim Wirtschaftler?“, lachte der Polizist, „euer Oberstleutnant? Wundern tät’s mich nicht, was, Eder?“ Der andere nickte verständnisvoll und grinste.

Offizierstellvertreter Weiß hob nur seine Schultern und machte eine Miene, als ob er überhaupt nicht wüsste, was die beiden meinten. In diesem Augenblick ging die Türe zur Baracke auf. Oberleutnant Kosazky eilte in Richtung Dienstzimmer den Gang entlang. Als er an der Kanzlei vorbeikam, verstellten ihm plötzlich die zwei Militärpolizisten den Weg. „Oberleutnant Kosazky?“, fragte der eine. „Ja?“ „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie ...“, der Vizeleutnant stockte, er räusperte sich, „verzeih’n Sie, Herr Oberleutnant, wir haben Befehl, Sie mitzunehmen.“ Kosazky zog die Brauen hoch. „Was sagen S’ da?“ „Wir müssen Sie – äh, in Gewahrsam nehmen und dem Generalmajor Hohenegg vorführen.“ „Und darf ich auch erfahren, worum’s geht?“, fragte der Oberleutnant, sichtlich nervös. „Tut mir Leid. Das wollen Ihnen die Herren selber sagen. Ersuche höflich, dass Sie Ihre Sachen gleich mitnehmen. Und ...“, er griff nach Kosazkys Aktentasche, „die muss ich leider beschlagnahmen. Vorschrift!“

Offizierstellvertreter Weiß stand hinter den beiden Militärstreifenpolizisten und hob und senkte in einem fort seine Schultern, so, als wollte er bedauern und zeigen, und dass er nichts dafür konnte, und dass alles so plötzlich gekommen war. Kosazky warf seinen Kopf stolz in den Nacken und wollte seinen Weg in Richtung Dienstzimmer fortsetzen. Die beiden Polizisten folgten ihm. „Sie warten hier!“, befahl er streng, „das wär ja noch schöner.“ Die beiden schreckten zurück. „Komm, Eder, wir trinken derweil den Kaffee“, sagte der Vizeleutnant gedämpft. Sie kehrten um. Soeben brachte Wehrmann Dunst zwei Tassen Kaffee. „Bitte sehr!“, sagte er und stellte sie auf den Schreibtisch. Weiß wollte protestieren, da saßen die Polizisten bereits am Tisch und bedienten sich. „Dankeschön, junger Mann!“, sagte Oberwachtmeister Eder. Der KVT kehrte zufrieden wieder an sein Tischchen zurück, und versuchte umständlich, das durchtränkte Standesführungsblatt zu trocknen. Schließlich war Kosazky zum Abmarsch bereit. „Gehen wir!“, sagte er trocken.

Die Militärstreifen-Männer hatten ausgetrunken und erhoben sich. Gemeinsam gingen sie nach draußen, wo das Fahrzeug stand. Eder schaltete das Blaulicht ein. „Drehn S’ das ab!“, befahl Kosazky, „wir sind ja hier nicht in Chicago!“
Nachdem die Wohnung Oberleutnant Kosazkys ebenso durchsucht worden war wie die des Redakteurs Hans Klein, kam es einige Wochen später im Straflandesgericht bereits zu ersten Verhandlungen. Verteidiger Wolfgang Braun ging mit den Anklägern ziemlich hart ins Gericht. Unter der Anwesenheit Kleins, Kosazkys und dessen Verteidiger, wie auch von zahlreichen Angehörigen von Militär und Presse sagte er: „Und ich meine, verehrte Anwesende, das, was hier passiert, ist ein schwerwiegender Eingriff in die Freiheit der journalistischen Berufsausübung seitens der Behörden! Faktum ist nun eines: Ein Journalist hat sich ganz offensichtlich mit wehrpolitischen Angelegenheiten beschäftigt und äh - einen brisanten Artikel verfasst. Daraufhin wurden Pressepolizei, Staatspolizei, Staatsanwaltschaft und sogar der militärische Abwehrdienst auf ihn angesetzt.

Man hat den Informanten ausfindig gemacht. Auch gut. Das hat dem Militär intern sehr geschadet. Das sehe ich auch ein. Was ich nicht einsehe, ist, dass man beiden Herren in einer Art zugesetzt hat, die, kann ich nur sagen, menschenunwürdig ist! Jawohl! Menschenunwürdig! Man hat sie aus ihren Dienststellen geholt ...“, „Ja, aus dem Bett!“, rief einer der Zeugen, ein Staatspolizist. „Ruhe!“, schnitt ihm der Richter das Wort ab. „... sie in ein Einsatzfahrzeug verfrachtet und dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Das soll doch wohl ein Witz sein?“ Der Verteidiger war noch lauter geworden. „Je sechs Mann haben die Wohnungen der beiden Angeklagten durchsucht. Auch den Landsitz des Herrn Oberleutnant! Und die Wohnung von Herrn Kleins Eltern. Peinlich, sowas, finden Sie nicht?“ Der Verteidiger schnäuzte sich.

Die Anwesenden unterhielten sich leise. „Ruhe!“, forderte sie der Richter auf, „Herr Verteidiger, fahren Sie fort!“ „Zwei Tage später hat man die beiden fünf Stunden lang verhört. Klein hat man nicht einmal gestattet, in seiner Dienststelle anzurufen, damit er sich entschuldigen konnte. Herr Oberleutnant Kosazky unterliegt in seinem Vorgehen als Informant selbstverständlich der Dienstaufsichtsbehörde, das ist mir schon klar. Ich finde es nur kurios, verehrte Anwesende, dass die wahren Urheber dieser Angelegenheit heute nicht zu unserer Verfügung stehen können. Das sind – nämlich der Herr Verteidigungsminister und noch ein paar sehr prominente Persönlichkeiten!“, donnerte der Verteidiger.

Im Saal wurde es laut. „Ruhe!“, rief der Richter abermals und griff zum Hammer. Der Verteidiger ergriff abermals das Wort. „Wir sind ein neutrales Land. Oder etwa nicht? Wie kommt es, dass sich Politiker und Militärs dieses Landes am Waffengesetz vergehen? Wo sind hier die wahren Schuldigen, die in dieser Sache zur Verantwortung gezogen werden müssten, Herr Rat?“, er blickte den Richter fragend an. „Ich teile vollkommen Ihre Ansicht“, sagte der Richter. „Nun verstehe ich auch die Übereifrigkeit des Verteidigungsministeriums“, sagte der Verteidiger etwas gemäßigter als vorhin, „ damit wollte man einer bereits geahnten Vorverurteilung wohl zuvorkommen, wie? Da hat man Herrn Klein ganz einfach der Ausspähung bezichtigt! So einfach ist das. Ihn hat man stundenlang verhört, unter erschwerten Bedingungen. Es ist an der Zeit, und ich bin längst dafür, sich in dieser Angelegenheit dringend an die Öffentlichkeit zu wenden, meine Herren von der Presse!“, sagte er zu den Reportern gewandt.
„Die Vorgangsweise der Behörden, die sich vor allem gegen das grundlegende Recht der Wahrung des Redaktionsgeheimnisses und den Schutz der journalistischen Informationsquelle gerichtet hat, ist hiermit entschieden zurückzuweisen! Handelt es sich dabei doch immerhin um die Grundsäulen der journalistischen Arbeit! Wer an ihnen rüttelt, öffnet Türen für die Farce einer Rechtsprechung, die in einer Demokratie nichts zu suchen hat! In diesem Sinne schlage ich daher vor, in erster Linie den Paragraphen über die Ausspähung als nicht geeignetes Mittel im Sinne der Pressefreiheit zu behandeln und plädiere in logischer Konsequenz seiner Unanwendbarkeit für die Entlastung meines Klienten. Ich danke Ihnen, meine Herren!“, schloss der Verteidiger und setzte sich erschöpft, Schweißperlen auf der Stirn.

Das Gericht zog sich zur Beratung zurück. Nach einer halben Stunde war man zurück und verkündete das Urteil. Oberleutnant Kosazky und Hans Klein wurden beide freigesprochen. Die Justizbehörden stellten das Verfahren ein. Kosazky fasste seitens seiner Dienststelle ein Disziplinarverfahren wegen unerlaubter Einsichtnahme eines Aktes aus, wurde jedoch nicht degradiert. Hans Klein wechselte bald danach zu den „Nachrichten“, und entging so dem jämmerlichen Ende der „Kleinen Österreichischen“.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 16078

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