Schlagwort-Archiv: hardly secret diary

Hintertreppen

ist es ein Beginn
das Träumen vom Erwachen
und ist es Wiederholung (es zu äußern)

die Möglichkeiten
auf Vogelfedern
zwischen Buchseiten
unter Baumrinden
zu leben

das Verlangen
nach Zwischentönen und
das Bemüht-Sein

wer weiß schon, woher
die Gedanken an Sicherheiten kommen
und wo sie zerfallen

am Anfang steht
immer (und)
ein blühender Baum

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23165

Der Mann, der sein Butterbrot nicht aufaß. Ein Kurzkrimi

Schon eine Woche zuvor, als noch Licht gebrannt hat, oben, im schwarzgewordenen Betonneubau. Die Nacht rauschte und einige vergrabene Gedanken flackerten klammheimlich zum Mond, dem einen. Über dem lieben langen Tag lag nun ein Schatten und deine Wünsche auf den Lippen, die dich aus dem Innersten durchstiegen, glucksten heraus aus dem Fenster. Eulenschlau dachtest du die halbe Nacht in irgendeiner Logik, die das Ganze aber zu ernst machen würde.

Neun Stunden später krachte regennass der Briefträger in das Haus und der schlaftötende Lärm machte mir deutlich, dass auch aus diesem Morgen ein Tag werden würde. Und zeitweilig hatte es ja so ausgesehen, dass dieser ganze Mummenschanz seine Daseinsberechtigung gehabt hätte mit einer Sprache, die das Ganze noch zusammenhalten sollte: Da lag sie nun, die Papierantwort auf die letzten Briefe von mir. Meine Augen begannen sich über deinen Brief herzumachen. Ich begann, meine Butterstulle anzubeißen, nebenbei öffnete ich das Salzfass und strich eine Prise heraus:

Einen Haufen Unsinn schreiben, den ich dir zum Lesen ausborgen werde: Aus meinen Worten spricht das ichgewordene Erzählen, das Erzweifeln nach dem Sinn, das Herausgraben der Wahrheit, das Abschälen des Schönen. Ach, und was war denn mit dir?

Deine zittrige Handschrift in dem Wutbrief, der deshalb seine Adresse knapp verfehlt hat. Doch ich hatte Glück. Glück, das ein anderer in dieser Situation nicht hatte. Unsere Nachbarin hatte unmittelbar nach dessen Lektüre gestern einen Nervenzusammenbruch und ist an den Rosinen erstickt, die sie dabei geknabbert hat.

Was dich beinahe überführt hätte: Das Durchstreichen deines Namens in der Liste. Die Graphitspur deines HB-Bleistiftes, einem Kardiogramm ähnlich, das auf ebenso eindeutige Weise dir zugeordnet werden könnte wie ein Fingerabdruck der rechten Hand.

Ein Messer ist keine Kneifzange, das sollte man als Erwachsener gelernt haben. Etwas, das da war, ließ sich nicht einfach aus der Welt schaffen, indem man es wegbrüllte. Die Zeilen, die dir nicht in den Sinn gekommen wären, hättest du zu deinem Leben das hinzugenommen, was auch ohne deinen Ehrgeiz zu erreichen gewesen wäre.

Du aber, du über den Bierkrug Gebeugter, dir fehlt es. Du kannst nicht den vertagten Tag heute, der nicht blau zu werden droht, in den ersten Abendstunden mit einer Flucht retten, die genauso schön zu sein verspricht wie die stille Anwesenheit des anderen. Gierte es dich zu mir hin? Du hast es in der Hand: das schönere Leben oder das verbrauchte Irgendetwas. Du armseliger, was dir dein Alter noch versüßt, sind zerstobene Erinnerungen und der Krimskrams, ohne den das Leben nicht geht: Schmerztabletten, Ausweis, Geldbörse, Erdnüsse, Schlüsselanhänger. Was dir dein achtunddreißigjähriges Leben beschert hat. Jeden Tag die gleichen Sonnenaufgänge und -untergänge in deiner Wohnung. Die leeren Worthülsen. Der Aktenstapel und Guten-Tag-Herr-Kollege-Alltag. Genauso wie sich die anderen Gleichaltrigen in der Zwischenzeit in ihrem Leben eingerichtet haben. Ein jedes Kind hat, glaube ich zumindest, einmal in seinem Leben gut malen können. Wie der Alltag jenen Idealen standhält von außen, dass immer noch alles so unzulänglich ist, nachdem ich seit dreiundvierzig Jahre lang das Licht der Welt erblickt habe. Die Zwischenzeit unseres Sehens, unseres Daseins und das alles unter dem blaugrauen Himmel. Gäbe es keine Zeit. Hätte es doch nie eine Zeit gegeben!

Sieh es dir heute noch an, zweiundzwanzig Jahre später. Das Getane einiger weniger Stunden, das über dich noch immer einen so langen Schatten wirft. Hereinbrach in unsere Welt, als ich nur aufgrund deiner Fiktionen Deutsch zu lernen begann und du eventuell meine Ergebnisse brauchtest, um ernst genommen zu werden als Mensch. Du kamst herein damals, schon nach einer Weile und meine Sinne waren mit etwas ganz anderem beschäftigt. Die vergehende, vergangene Zeit. Mir kam die Gewissheit, dass die Welt ihre ganze tausendjährige Existenz nur für diesen einen Moment ausgehalten hat. Das andere, vormals laut Niedergeschriebene: Ich gierte noch nach allem. Wie Perlen die Erfahrungen auf eine Kette reihen, ich gierte nach der Welt, nach dem Leben.

Armut, äußere, die ich als Bereicherung verstand von meinem Für-sich-Sein, und es waren immer die Nächte und das andere Sein der Nacht. Du konntest es, ich meine nicht, wofür man dir Geld in die Hand drücken konnte, du konntest dich noch frei artikulieren: Ein Baum war für dich ein Baum, ein Haus war für dich ein Haus. Manche Ziele waren noch klar und unverrückbar.

Sieh dich doch an! Dir, dem, der so oft keine Worte benötigt und dem, der doch noch einfache Worte findet, wo anderen längst Zweifel gekommen wären, dir würde ich sagen, dass das Leben mehr ist als das in seine scheinbare Ordnung Gebrachte. Wenn alles auf Deutsch gelesen werden müsste, müsste das hier ein Deutschlehrbuch sein! Man gibt seinen Fingern keine Namen, sondern ist jemand, der die in der Postmoderne abgeschnittenen Zungen sammelt. Polyphonie. Bewusstsein, dass sich auch die letzten Gewissheiten in Staub reden ließen.

Warum nicht jeder Mensch dazu verpflichtet wäre, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben? Genauso wie er Ausweis, Steuerkarten und Ähnliches besitzen würde. Nicht nur die, die es schlussendlich taten: die großen Menschen und wer sonst auch immer den ganzen Alltag gemacht hat, den stummen, den gehassten, den gewohnten.

Als der Singsang noch anderen überlassen war: Erzählgöttinnen, Zornesgöttinnen. Sprache, unsere Achillesverse imitierte tatsächlich noch Geräusche: Vögel, Donner, menschliche Stimmen. Geräusche: Schritte. Ausdruck, sprachlicher Ausdruck in irgendwelchen Farben. Du kannst es nicht beschreiben wie damals noch, 1998. Farben, die immer noch dieselben sind. Manche Wörter, die sich nicht mehr als dieselben identifizieren lassen und dazwischen das Ganze.

Wie viel Farbe das Leben heute noch lässt. Du hättest dir selbst gegenüber konsequenter sein müssen und genau das Gegenteil davon ist der Fall geworden. Du in den Erscheinungen Vertiefter. Du unter Sternenzelten Behüteter. Schon die alten Griechen pflegten ja bekanntlich zu behaupten, Rettung und Schutz für das Ganze sei demnach nur zu bekommen, wenn die Sprache auch schön sei. Was mir der heutige, zugegebene sehr warme und sonnige Tag versprochen hat am Morgen. Vergangen ist seitdem dieser Akt meines Lebens: besser für dich, besser für uns. Das innewohnende Produktive dieser Zeilen: Trost für vieles, Trost für alles!

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23125

Für meine Eltern

Ihr seid der Stamm, aus dem meine Äste sprießen
und der Fluss, in dem meine Träume fließen,
habt mich unermüdlich mit Liebe betankt,
mein Herz geformt und mich mit Dornen umrankt,
um meine Blüten zu schützen, die auf knallbunten Blättern sitzen,
und ich sah euch unentwegt durch das Leben flitzen,
weil ihr sie mühevoll angemalt habt, mit satten Strichen und samtweichen Borsten
und in leuchtenden Tönen aus eurem unerschöpflichen Farbvorrat.

Eure Wärme hat sich unter meine Haut gelegt,
und euer Atem hat meine Seele reingefegt.
Ihr wart voller Verständnis, habt meine Schwächen gesehen,
doch mich nie kritisiert und stattdessen meine Stärken gemessen,
mich für alles gelobt, was ich kann, und eure Worte haben mein Herz bewegt.
Ihr habt mich mit Vertrauen gedüngt, immer an mich geglaubt,
für mich Edelsteine geraubt und nie vergessen, mir Halt zu geben,
so konnte ich mich an euch hochziehen, mit aller Kraft aufblühen und mein Leben leben.

Ihr seid die Wörtersammlung für die Geschichte, die mein Leben schreibt,
und schlagt den Rhythmus in meinem Lieblingslied,
seid die Insel, die in meinem Hafen treibt,
auf der ich ausruh’n kann, wenn mein Herz ins Strudeln geriet.
Formt meine Heimat, in der ich Wurzeln fühle, bedingungslose Liebe spüre
und Energie auflade. Für alle Zeit.

Mein ganzes Leben seid ihr wie selbstverständlich für mich da,
hämmert mir Stützpfeiler in den Rücken und baut mir Brücken
über tobende Flüsse, streut Zuversicht in meine Träume und macht mir jeden Tag klar,
wie wichtig es ist, für sich selbst einzustehen, den eigenen Weg zu gehen,
den ihr mit Bleistift vorgespurt habt. Und wenn ich mal abgeschweift bin,
kam es euch nie in den Sinn, mit mir zu hadern, habt mich immer noch gesehen,
wie ich bin, habt an meinem Wegesrand Bäume gepflanzt, die mir Schatten spenden,
in dem ich rasten kann, um mich nach innen zu wenden und nicht so viel Kraft zu verschwenden.

Ihr hieltet mich aus, wenn ich mich selbst nicht mehr ertrug,
seid mir in die Verzweiflung gefolgt, habt um mich gezittert,
die Gefahren gewittert, als ich eine falsche Richtung einschlug,
mir klammheimlich Antikörper in mein Blut injiziert, und ich habe lange nicht kapiert,
dass ihr immer mein Bestes wollt, und weiß, seitdem ich eigene Kinder hab,
was ihr da ausgehalten habt mit mir, danke euch von Herzen dafür
und stehe jeden Tag vor eurer Tür, um euch was zurückzugeben,
euch mit liebenden Worten zu verpflegen und von meinem Segen und dem Glanz in meinem Leben abzugeben.

Denn ihr seid die Wörtersammlung für die Geschichte, die mein Leben schreibt,
und schlagt den Rhythmus in meinem Lieblingslied,
seid die Insel, die in meinem Hafen treibt,
auf der ich ausruh’n kann, wenn mein Herz ins Strudeln geriet.
Formt meine Heimat, in der ich Wurzeln fühle, bedingungslose Liebe spüre
und Energie auflade. Für alle Zeit.

Nun seid ihr alt und mir wird bewusst, dass ich mich bald
von euch verabschieden muss, dass ihr vorausgeht in eine andere Welt,
und ich zurückbleibe, elternlos bin, versuche mit aller Gewalt
den Gedanken zu verjagen, ihn mir aus dem Kopf zu schlagen und will ihn um keinen Preis
zulassen, weil ich weiß, dass er der Anfang ist von dem, was ich fühle,
das als Ahnung schon mein ganzes Leben in mir ruht, wie eine drohende Flut,
die Angst, euch zu verlieren, ohne euch zu existieren, dass ohne euren Schutz
meine ganze Welt zusammenfällt, mein Mut und mein Vertrauen an den Klippen zerschellt.

Denn wenn ihr geht, dann ist das ein Wechsel der Gezeiten, und ich
werde eine Grenze überschreiten, eine Felsspalte überspringen müssen, in eine
andere Zeitzone ziehen. Mein Leben ist dann zweigeschnitten, und ich kann nicht wissen,
wie sie sich anfühlt, die Trauer, die meiner Liebe folgt, ahne Unabwägbarkeiten,
die mir Angst machen. Und ihr sagt, sie wird sich irgendwann geben, die Zeit
wird feine Fäden um sie weben, und ihr seid dann immer noch da, um über mich zu wachen,
meine Welt zu überdachen, mir ganz nah, das könne ich fühlen, jederzeit.
Doch ich habe schon jetzt die Sicherheit, dass der Schmerz in meinem Herz bleibt.

Denn ihr seid die Wörtersammlung für die Geschichte, die mein Leben schreibt,
und schlagt den Rhythmus in meinem Lieblingslied,
seid die Insel, die in meinem Hafen treibt,
auf der ich ausruh’n kann, wenn mein Herz ins Strudeln geriet.
Formt meine Heimat, in der ich Wurzeln fühle, bedingungslose Liebe spüre
und Energie auflade. Für alle Zeit.

Doch ich verspreche euch, nach vorne zu sehen, meinen Weg weiterzugehen,
den ihr im Tiefschnee gespurt habt, die Weichen, die ihr gestellt habt, nicht zu übersehen,
atme euren Lebenshauch und lasse eure Wörter in meinem Bauch fortklingen,
werde ein Lied daraus formen und für euch singen, in das der Wind mit einstimmt,
mit hoch zu den Wolken nimmt, werde eure Gedanken fortspinnen und in die Ewigkeit schicken,
auf eure Spuren im Sand blicken, sie freilegen, ausgießen und für immer haltbar machen,
mir damit Halt geben, mich jeden Tag an das Bild von euch besinnen.
Lass eure Werte in meinem Herzen weiterleben und fühle tiefe Dankbarkeit,
weil ihr meine Eltern seid.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23124

Nur noch einen Augenblick

Nur noch einen Augenblick, bis deine Seele fliegt
und deinen Namen durch den Nachthimmel zieht,
wo er neongelb aufblinkt,
wenn der Mond sich noch schont
und vom Sonnenlicht trinkt,
bevor die Ewigkeit dann irgendwann
in seinem Schein Funken sprüht,
kunterbunt aufblüht
und dich stolz in ihren Armen wiegt,
weil sie das Leben besiegt.

Dann steht die Welt ganz kurz still,
pausiert in ihrem Drehen,
weil sie vor dir den Hut ziehen will
für deinen Mut,
das Leben zu überstehen.
Und jeder Stern am Firmament brennt
lichterloh, nur für dich.
Spricht Bände. Und ich erwärm mich
ein letztes Mal
an dem Lächeln in deinem Gesicht.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23138

Wenn das Herz bricht

Wie schon so oft, bricht wieder mir das Herz
obwohl ich dachte, dass ein neuer Schmerz –
und sei er noch so monströs – ihm nichts mehr machte,
dass es als Spezialist des Leids ihn beherzt verachte,
und durch Erfahrung gescheit aus seinem Bannkreis verlachte.
Ja, ich dachte wirklich, ich wär jetzt so weit.

War überzeugt, ich wär vor allem gefeit.
Wär taub, wenn mein Herz in aller Dringlichkeit
um Hilfe schreit, und legte mir vorsorglich
einen Schutzpanzer zu, der in aller Ruh genau dann,
wenn das Tor weit offen steht, tut, was er kann,
sodass mir ein Schmerz nicht mehr so tief zu Herzen geht.

Mir stellt sich die Frage, wie oft mein Herz
noch brechen kann und ob es nicht dann und wann
zu voll wird darin, ich des Leidens müde bin,
weil ich eh schon so viel Unrat in mir trag,
der mich, ganz ohne Wert, sinnlos beschwert, im Herzen gärt
und drückt bei jedem Schlag.

Der meine Freude, die vor Angst zittert, in die Ecke schiebt
und mein Herz innerlich knittert und deformiert,
sodass ich staune, weil es überhaupt noch so gut funktioniert.
Kommt da noch mehr? Ein Schmerz, der mich entliebt,
der so groß ist, dass es nie wieder Ruhe gibt,
an dem es zerbricht, weil es sonst sein Gesicht verliert?

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23112

Am Rand der Nacht

Am Rand der Nacht ist der Schlaf leicht.
Oder wachst du?, du weißt es nicht.
Du siehst den Mond durch das Fenster,
doch das kann auch im Traum geschehen.
Wie alt bist du?
Bist du deutlich jünger, dann schläfst du.

Du erhebst dich aus dem Bett und gehst umher.
Schlafwandeln oder das normale Leben?
Diese Nacht ist anders, oder ist sie stets dieserart?
Man kann sich sein Leben nicht aussuchen.

Nein, das ist ein Irrtum, man kann es drehen,
es besser machen, als es ist.
Der Mensch ist kein Tier mehr,
er ist vernunftbegabt und kann entscheiden.

Der kleine Mond und die Lichter des Pyramidenkogels in der Nacht

Der kleine Mond und die Lichter des Pyramidenkogels in der Nacht

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23092

Vier im roten Kreis

Siddharta Gautama, der Buddha, zeichnete mit roter Kreide einen Kreis und sagte: Wenn es vorherbestimmt ist, dass Menschen einander wiedersehen sollen, was auch immer ihnen geschieht, auf welchen Wegen sie auch wandeln, am gegebenen Tag werden sie einander unvermeidlich „im roten Kreis“ begegnen. Rama Krischna[1]

Wann mein Interesse für Mädchen genau begonnen hat, weiß ich nicht. Wenn ich mich recht erinnern kann, dann hatte ich im Kindergarten eine Zeit lang eine bisexuelle Einstellung, bevor ich Gefallen an Annika fand. Diese mochte mich überhaupt nicht und sperrte mich einmal sogar in ein Gartenhäuschen ein (ähnlich ist es übrigens auch Mozart gegangen, das war 1787 in Prag). Zum Schulanfang hatte ich einen Schulranzen und den farblich dazu passenden Regenschirm bekommen. Als wir vom Kindergarten zum Schulgebäude, das uns gezeigt wurde, marschierten, regnete es.
Ich hatte den Regenschirm parat und bekam Annika zugeteilt. Auf dem Weg zur Schule hielt ich ihr den Regenschirm und merkte, dass sie nicht aggressiv zu mir war, sondern dankbar, dass ich ihr den Regenschirm hielt. Außerdem war sie schön gekleidet. Dies war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich erwachsen fühlte. Leider ging Annika in eine andere Schule und ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.

Mein nächstes Erlebnis war Christine, die ich im Gymnasium kennenlernte. Sie war nicht nur die Klassenbeste, sondern  auch eine der wenigen Personen, die sehr freundlich zu mir waren. Wenn ich eine schlechte Note bekommen hatte, lieh sie mir ihre Lösung aus, damit ich das korrekte Ergebnis sehen konnte. Bei einer Führung durch die Schulbücherei lobte sie mich, da ich das älteste Buch, noch in Fraktur  geschrieben, gefunden hatte. Leider wechselte auch Christine früh die Schule und ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt.

Im Studium war es Nataliya, auf die ich immer wieder während des Spanischkurses einen Blick warf, als sie auf der hintersten Bank saß. Und ich war überwältigt, als sie sich einmal unvermittelt neben mich setzte und mir sogar ihre E-Mail-Adresse gab, da ich in der nächsten Stunde etwas für sie mitschreiben sollte. Leider war ich damals noch zu schüchtern und wechselte, da mir der Kurs nicht gefiel, im nächsten Semester das Fach.

Als das nächste Semester kam, lernte ich in der ersten Vorlesung Adina kennen, die eine schicke, gestreifte Hose trug. Erstaunlicherweise wusste sie, dass ich in den Semesterferien ein Auslandspraktikum absolviert hatte und das Gespräch verlief sehr anregend. Nach der ersten Einheit der Lehrveranstaltung brach sie diese aber ab und der Kontakt verflüchtigte sich.

Andere Begegnungen waren noch flüchtiger. Mir sind Frauen aufgefallen, die sehr freundlich zu mir waren, aber ich hatte merkwürdigerweise auch Frauen gern, die anfangs zu mir abweisend waren. Langsam begann sich bei mir ein bestimmter Frauengeschmack zu entwickeln.

Es gibt Gesichter, die mir gefallen, Frisuren, die schön sind. Auch Vorlieben für bestimmte Kleidungsstücke und Accessoires mag ich. Was mir jedoch keine Sicherheit gibt, ist dieses:

Wie konnte ich sicherstellen, dass Frauen, die mir gefielen, mich auch im Gegenzug mochten. Gab es eine gegenseitige Anziehungskraft? Da war ich mir nicht so sicher und vermied oft Begegnungen, da in mir eine Blockade aufkam.

Doch noch einmal zurückdenken: Es waren meistens flüchtige Begegnungen, die mir in Erinnerung geblieben sind. Seltsam, dass sich nie ein Kontakt herstellen ließ.

Aber einige kleinere Erfolge gelangen mir doch, und es erübrigt sich zu erwähnen, dass ich auch das Mittel der Flaschenpost eingesetzt habe.

Gerne würde ich wissen, was Annika, Christine, Nataliya und Adina heute machen. Ob es ihnen gut geht. Von Annika möchte ich gerne wissen, wie ihre Schullaufbahn war, ob sie ihre geheimnisvolle Aura bewahrt hat und ob sie nun freundlicher zu mir wäre. Von Christine möchte ich wissen, ob sie es damals schon erkannt hat, dass ich sie toll fand, es aber nur nicht hatte zeigen können. Gerne möchte ich ihr heute versichern, dass ich ihre weiblichen Reize sehr geschätzt habe, auch wenn sie von anderen Schülern verspottet wurde.

Nataliya habe ich geschrieben, leider erst Jahre später, als ich zufällig die Adresse wiederfand. Ich war mir nicht sicher, ob sie wirklich Kontakt mit mir haben wollte und ob sie sich geärgert hatte, da ich ihr Kontaktangebot nicht angemessen aufgenommen hatte.

Adina hatte ich nach langer Zeit eine Postkarte geschrieben, als ich durch Zufall auf ihre Postadresse stieß. Auch diese Karte blieb unbeantwortet. Jedoch tröstete mich der Gedanke, dass die Karte angekommen war.

All diese Begegnungen haben mein Leben beeinflusst. Und ich war es mir zum Zeitpunkt nicht immer unbedingt klar, welche Auswirkungen auf meine Zukunft das haben sollte. Es waren Weichenstellungen, und mir wurde klar, dass das Poetische sehr wohl in den Alltag hereinbrechen kann. Diese Begegnungen hatten für mich einen höheren Sinn und ich bin mir nicht sicher, ob es stimmt, wie es im anfangs erwähnten Zitat heißt, dass ein Wiedersehen vorherbestimmt sei. Wer weiß, vielleicht endet es für mich wie für Sappho:

Versunken im Meer ist Selanna, und versunken sind die Plejaden. Aber ach! Wieder ging Mitternacht vorbei, und obwohl die Zeit für die Liebe kommt – doch allein lege ich mich nieder zum Schlaf. [2]

Allen vier Frauen sei meine Erzählung gewidmet.

 

[1]     Erfundenes Zitat aus dem Film: Vier im roten Kreis (Le cercle rouge). Regie: Jean-Pierre Melville, 1970

[2]     Sappho: Und ich schlafe allein. Übersetzung von Gerda Kazakou https://gerdakazakou.com/2015/12/20/griechische-dichtung-am-sonntag-sappho/

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23082

Lasst uns …

wieder Schmetterlinge im Bauch spüren,
galoppierende Pferde in der Brust hören.
Lasst uns wieder Gänsehaut über den Körper laufen,
den Ruf von Bussard und Falke im Ohr haben.
Ich will wieder Hummeln sausen sehen,
das Schweifschmeicheln des Hundes auf dem Bein fühlen.
Wir sollten wieder wie junge Geparde über Steppen flitzen,
uns im hohen Gras verstecken, wie kleine Rehkitze.
Lasst uns wieder Kunstwerke kreieren, wie die Spinnen,
oder, wenn notwendig, uns im Laub einigeln.
Gerne wieder ein fröhliches Lied trällern, wie ein Zaunkönig,
gurrend wie die Taube über den Frieden erzählen.
Heimlich, wie ein Steinmarder, durch Nächte ziehen,
und die Lauscher in den Wind recken, wie der Feldhase.
Ich würde gerne klug und scheu sein wie eine Füchsin,
und manchmal lautlos wie die Schleiereule die Umgebung erkunden.
Hie und da wär ich gerne frech, wie ein Eichhörnchen,
um mich wieder zu spüren.
Könnten wir nicht wieder ein Lächeln in das Gesicht der
Mitmenschen zaubern, wie es der Marienkäfer kann?
Wir lächeln zu wenig, grübeln zu viel, sind unsere Herzen
kalt und träge geworden, Gefühle tabu?
Wer liebt, ist verletzlich!
Aber, verdammt – das ist es mir wert.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23072