Schlagwort-Archiv: fantastiques

Ein Sommermärchen

Jedes Kind hatte früher einmal einen Zauberkasten. Und wenn es keinen hatte, dann hat es sich doch immer einen gewünscht. Heute scheint so etwas ja aus der Mode gekommen zu sein. Ich könnte nicht einmal genau sagen, wann das war, aber es hängt wahrscheinlich mit dem Aufkommen  des Computers und des Internets zusammen.

Doch zurück zu meiner Geschichte: Damals war ich im Ferienlager und es gefiel mir leidlich gut. Ich mochte zwar die täglichen Wanderungen und Ausflüge, aber je mehr ich mit den anderen zusammen war, entpuppte sich ihr kindisches Gehabe. Das ging mir gehörig auf die Nerven und es trübte auch meine ansonsten durchaus schönen Erinnerungen: das frische Grün und die schattenspendenden Bäume bei den Waldwanderungen. Die Naturerlebnispfade und die eine oder andere Stadtrallye – oder besser gesagt: Städtchenrallye. Natürlich war das das erste Mal, dass ich die Schönheiten der Provinz kennenlernte. Damals war ich zehn oder elf.

Aber es tat sich noch etwas auf, was ich, wenn man es altmodisch ausdrücken wollte, durchaus als „Aufbruchstimmung“ beschreiben konnte. Ich erahnte eine schöne, erfolgversprechende Zukunft, die sich aus imaginierten Welten speist. Das Erwachen der eigenen Jugend, der Bildungshunger, das Fernweh und natürlich das erste, schüchterne Interesse am anderen Geschlecht. Dieses Gefühl tat sich in einigen Momenten auf und es machte mich auch ein bisschen stolz, wenn ich die Geschichten aus früheren Zeiten las. Ich wusste nicht, ob es heutzutage noch möglich wäre, solche Abenteuer zu erleben und irgendwie kamen mir die Gleichaltrigen, die vielleicht 15 Jahre vor mir in diesem Alter waren, viel reifer, viel „erwachsener“ vor.

Wie gesagt, fand ich das Gehabe der anderen kindisch, und als die langersehnte Nachtwanderung anstand, war ich schon vorher aufgeregt. So etwas Spannendes hatte ich davor noch nicht gekannt. Die Enttäuschung kam aber, als die anderen anfingen, Kindergartenlieder zu singen. So kann man die Stimmung auch ruinieren …

Nach einigen Tagen fiel mir aber eine Erzieherin von einer anderen Gruppe auf. Sie gefiel mir sehr gut und sie spielte abends vor ihrer Gruppe immer Gitarre. Leider wäre es für mich unmöglich gewesen, sie anzusprechen, da sie eine Autoritätsperson war und zu einer anderen Gruppe gehörte. In den nächsten Tagen plagte mich immer wieder ein ungutes Gefühl, das von einer vagen Verliebtheit, aber auch dem Schmerz der Unmöglichkeit geprägt war.

Eines Tages aber, als es besonders heiß war, gingen meine Zimmerkameraden zum Fußballspielen, ich aber blieb alleine im Zimmer und las am Schreibtisch ein Buch. Da klopfte es auf einmal an der Tür. Es war die von mir bewunderte Erzieherin und fragte, ob sie sich kurz ausruhen dürfe, da es ihr schwindlig sei und sie es nicht mehr auf ihr Zimmer schaffen würde. Ich war zunächst baff, dann bot ich ihr aber an, sich in mein Bett zu legen, und sie nahm mein Angebot an.

Sie legte sich in voller Montur auf das Bett, lediglich den Hosenknopf öffnete sie und machte ein Nickerchen. Andächtig schaute ich ihr beim Schlafen zu und überlegte, was ich zu ihr sagen oder womit ich sie beeindrucken könnte. Da entdeckte ich den Zauberkasten im Schrank, den ein früherer Gast dagelassen hatte. Eifrig las ich mich durch die Spielanleitung und entdeckte bald einen Zaubertrick, den ich lernen wollte und, sobald die Erzieherin aufgewacht wäre, ihr zeigen wollte. Es war der Trick, wie man ein Kaninchen aus dem Hut zaubert. Einen Hut hatte ich keinen und erst recht kein Kaninchen. Wie sollte das also funktionieren? Hektisch suchte ich nach einem anderen Trick. Da hörte ich eine Stimme „Du suchst wohl nach einem Zaubertrick, nicht wahr?“, sagte die Erzieherin und schaute mich verdutzt an. „Da gebe ich dir einen Rat: Mach nicht mit bei dem, was deine Gleichaltrigen als „erwachsen“ ansehen, und begib dich auf die Suche nach dem, was dich in deinem Innersten am meisten bewegt, schreib es auf und warte, vielleicht fünf, zehn Jahre und begib dich dann nochmals auf die Suche und du wirst sehen, dass du dann diese Zeit mit anderen Augen sehen wirst.“ Da mir das Herz noch zu stark klopfte, brachte ich keine Antwort heraus. In diesem Moment erkannte ich die ganze Magie dieses Moments. Dass mir so etwas Unwahrscheinliches geschah, mit dem ich nie und nimmer gerechnet hätte. Als ich versuchte zu antworten, musste ich tief Luft holen. Aber ich brachte keinen einzigen Laut heraus. Also versuchte ich es nochmal. Und nochmal. Plötzlich sprang die Tür auf und die lärmenden Zimmergenossen kamen zurück. Von der Erzieherin keine Spur. Ich merkte, dass ich eingenickt war und das Ganze eine Traumphantasie war.

Von der Erzieherin nahm ich in der nächsten Zeit nichts mehr wahr. Es war möglich, dass sie und ihre Gruppe schon abgereist waren. Ich behielt aber die Worte aus dem Traum in Erinnerung und versuchte mich „fünf oder zehn Jahre später“ wieder daran zu erinnern. Als ich das später tat, kam mir der Ausflug fast märchenhaft vor: Welche tollen Abenteuer wir erlebt hätten und wie aufregend das Ganze doch gewesen sei. In diesem Moment wurde ich mir aber auch bewusst, dass dies nur die Arbeit der Phantasie gewesen ist, die der Realität auf die Sprünge geholfen hat …

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques| Inventarnummer: 23079

Beltane und ihre Pferde

Beltane holte Pfeil und Bogen aus dem Schuppen, band geschickt mit einem grünen Samtband ihre wilden roten Locken im Nacken zusammen und ging zu den Stallungen. Die Holztür knarzte und die Pferde im Stall richteten aufmerksam ihre Blicke auf die Frau. Elwood wieherte leise und scharrte mit einem Vorderhuf.

„Elwood, wir haben einen Auftrag! Du weißt es schon, oder?“ Beltane lächelte und klopfte dem prachtvollen Tier sanft den Hals. Der Hengst schüttelte sachte den Kopf auf und ab, seine Muskeln spannten unter dem glänzenden Fell und seine Nüstern waren geweitet.

Beltane öffnete nun alle Tore und die Pferde folgten ihr langsam ins Freie. Die Frau war in ein langes pinkfarbenes Kleid gehüllt und an einer Kordel um die Taille hing ein großer Leinenbeutel. Sie richtete den Blick Richtung Dach des Stallgebäudes und pfiff mit zwei Fingern.

„Falco, du kommst auch mit!“ Mit einem rauen Rufen landete der Wanderfalke auf Beltanes Schulter.

Athletisch schwang sich die Frau auf Elwoods Rücken, hielt sich mit einer Hand an der Mähne des Pferdes, drückte sachte ihre nackten Fersen an seinen Bauch und so setzten sich alle langsam in Bewegung.

„Du weißt, was zu tun ist? Gib mir immer ein Zeichen, mein Guter.“

Beltane richtete sich den Bogen, der mit dem Pfeilköcher über ihren Rücken hing, blickte den Falken auf ihrer Schulter von der Seite an und schnalzte mit der Zunge. Elwood gehorchte auf das Zeichen, galoppierte an und ein Dutzend Pferde folgte dem Leithengst.

So zogen sie in der Abenddämmerung über die Länder, mit wehenden Mähnen, donnernden Hufen und den Rufen des Falken. Beltane sang auf dem Rücken des Pferdes ein Lied in fremder Sprache und der Vollmond zeigte sich bereits am Horizont.

In der Nähe einer Kleinstadt verlangsamten sie ihr Tempo und erreichten einige Siedlungen. Elwood übernahm weiterhin die Führung, er näherte sich den Vorplätzen langsam, schritt durch Garteneingänge, hielt an und wartete ab. Die Einwohner kamen neugierig aus ihren Wohnungen, betrachteten die seltsamen Gäste und staunten. Viele waren spärlich gekleidet, hatten kranke Kinder auf dem Arm und wirkten verwahrlost. Elwood trat vorsichtig an die Kinder heran und mit seinen Nüstern blies er sachte seinen Atem über ihre Köpfe. Seine Augen leuchteten wie die Sonne und spendeten Trost und Zuversicht. Die anderen Pferde taten es ihm gleich und bald schon lachten und tanzten die Einwohner auf den Straßen und Plätzen. Falco zog einige Kreise über die Kleinstadt und landete anschließend wieder auf Beltanes Schulter.

Sie zogen weiter im Galopp in ferne Länder und Gebiete. Dort, wo Armut herrschte, hinterließen die Hufabdrücke der Tiere sofort fruchtbaren Boden. Der Schweiß, der den Pferden vom Fell tropfte, füllte ausgetrocknete Brunnen wieder mit quellklarem Wasser. In Gegenden, wo Menschen traurig und krank waren, schwebten besonders viele Schweif- und Mähnenhaare in die Lüfte. Diese Haare flochten sich die Bewohner in ihr eigenes und bald waren sie wieder mit Frohsinn und Hoffnung erfüllt.

Später in der Nacht erreichten sie eine noble Wohngegend mit pompösen Häusern und meterhohen Zäunen rund um deren Anwesen. Elwoods Atem beschleunigte sich, er stampfte mit dem Vorderhuf, stieg und wieherte laut. Falco hob sich in die Lüfte und schrille Warnrufe weckten die Menschen aus ihren Betten, die anschließend wild gestikulierend in noblen Nachtgewändern umherliefen. Beltane konnte es riechen, hier waren Macht, Gier und Respektlosigkeit zuhause. Hier lebten Menschen, die Tiere und die Natur nicht achteten. Flink griff sie nach dem Bogen und schoss gezielt ihre Pfeile auf Ferse und Knie, die die Verletzten am Davonlaufen hinderten. Die Pferde sprangen über die Zäune, zerstörten Gärten und Wohnräume und hinterließen große Verwüstung.

Der Vollmond stand hoch am Himmel, als sie dem Flug des Falken folgend in ein entferntes Land gelangten. Beltane verstreute aus ihrem Leinenbeutel Kardamom, Salbei und Veilchenwurzel, Moschus und Myrrhe. Elwood brummelte und wieherte leise und die Menschen erfüllte tiefe Liebe, Sinnlichkeit und Fülle.

Und so geschah es, dass sich in der Vollmondnacht vor dem ersten Maitag Himmel und Erde vereinten, die Menschen sich wieder liebten, Kranke geheilt wurden, die Erde wieder fruchtbar und heil war und Kriege, Pandemien, Hungersnot und Elend keinen Platz mehr fanden.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23070

Haus

Im 1. Stock herrscht eine andere Jahreszeit als im Erdgeschoß.

Sieht man im Erdgeschoß aus den Fenstern und Türen und tritt man hinaus, ist da heißer Sommer, die Sonne ist weiß, und es ist windstill. Es lädt ein zum Baden, die Kinder haben Sommerferien, die Arbeitnehmer Urlaub. Man bewegt sich auch langsam, um Kraft zu sparen. Auch im Erdgeschoß ist es warm.

Hinter den Fenstern und Türen des 1. Stocks regiert der Herbst. Nebelschwaden und feuchte Luft, die Laubbäume entkleiden sich, die verbliebenden Blätter haben unterschiedliche Farben. Man braucht schon einen Pullover. Im 1. Stock muss man bereits heizen. Seine Bewohner würden sich jetzt lieber im Erdgeschoß aufhalten, aber ihnen sind bestimmte Zimmer zugeteilt, in denen sie leben sollen.

Die Jahreszeiten in den Stockwerken wechseln ja auch. Und wenn im 1. Stock der Sommer Einzug gehalten hat, wird es im Erdgeschoß der Frühling gewesen sein.

Sommerbilder im August 2021

Sommerbilder im August 2021

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23066

Maske

Die Frau im Harlekinkostüm trägt eine Maske mit einem fröhlichen Gesicht. Sie lüftet sie. Jetzt sieht man eine Maske mit einem erschrockenen Gesicht. Sie lüftet die neue Maske wieder. Und was sieht man? Eine Maske mit einem erstaunten Gesicht. Es folgt eine Maske mit einem traurigen Gesicht, einem wütenden Gesicht, einem schmerzverzerrten Gesicht. Viele Masken. Bis sie die letzte abnimmt. Was erscheint nun? Schwärze. Wo das Gesicht sein müsst, sieht man nur Schwärze.

Venezianische Maske

Venezianische Maske

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23039

Verlorene Seelen oder Der Mann im Mond

Im lautlosen Dunkel der tiefschwarzen Nacht
ist er es, der über uns Menschen wacht.
Von silbernem Sand glitzert sein Rücken,
der sich sacht unter prüfenden Himmelszeltblicken
aus der hellgelben Sichel löst, der blanken,
um die sich Sterne als Lichtblitze ranken,
wie ein hohler Kern aus der schützenden Schale,
in die er sich schmiegte. Bei fahlem Licht sich wohlig wiegte.

Mit zwei glühenden Perlen die Welt beäugend,
den funkelnden Rücken vor Hingabe beugend,
sodass seinem Blick kein Kummer entkommt,
und hat er sich noch so krumm gemacht.
Und während er schon mit viel Geschick
die schmale Sichel mit Perlen bestickt, in Silbergrau,
da rollt die Strahlenfrau ihr Abendrot ein
und lacht, weil die Arbeit vollbracht.

Nun ist es perfekt, das Glitzermeer,
zufrieden und stolz blickt er umher.
Schnell fegt er noch den schimmernden Hof,
bevor er sich auf das Silberlicht schwingt,
zur Erde hinabschießt, das Mondlicht bringt
für alle, die ihn schon wimmernd erwarten,
die rastlos irren, in leeren, vernarbten
Hüllen jagen, nach dem einen Körper, in den sie passen,
wie die Hand in den Handschuh. Und erst dann gibt die liebe Seele Ruh.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 22145

Stellvertreter

Ich weiß nicht ganz genau, wann es geschah, dass ich ersetzt wurde, doch ich erinnere mich genau, wie es vor sich ging.

Morgens vor einigen Monaten zog ich mich an, Hemd, Anzughose, Krawatte, Sakko, da stand er zirka einen Meter links von mir und sah mir zu. Er war durchsichtig, an seinen Konturen war er erkenntlich. Er war so groß wie ich. Als ich den Raum verließ, verschwand er.

Aber er kam wieder. Nächsten Abend saß er neben meiner Frau auf dem Sofa und sah anscheinend mit ihr fern. Ich hörte währenddessen in der Küche mit meinem Laptop und Kopfhörern Musik. Diesmal war er etwas weniger durchsichtig. Er sprach nicht, er bewegte sich nicht viel. Gerrit, meine Frau, reagierte nicht auf ihn. Auch unser fünfjähriger Sohn Mickie nahm keine Notiz von ihm. Offensichtlich sah nur ich ihn. Er war der Eindringling.

Am nächsten Morgen stand ich früh auf. Ich wollte einiges im Büro erledigen, bevor das Tagesgeschäft losgehen würde. Gerrit schlief noch. Als ich das Schlafzimmer verlassen und die Tür hinter mir geschlossen hatte, erblickte ich ihn, den Eindringling. Er war halb durchsichtig. Er versperrte mir den Weg ins Badezimmer. „Geh weg!“, sagte ich, worauf er ins Wohnzimmer ging und sich auf einen Stuhl setzte.

„Warum löst er sich nicht einfach auf?“, fragte ich mich. „Weil er es nicht will“, antwortete ich mir selbst. „Er beabsichtigt zu bleiben.“ Ich hatte aber gerade nicht den Kopf, mich um den Eindringling zu kümmern. Ich musste mich fertigmachen, ich sollte möglichst früh im Büro sein. Bevor ich die Wohnung verließ, bemerkte ich, dass der Eindringling immer noch auf dem Stuhl saß. Er hatte die Stehlampe eingeschaltet und las ein Buch.

Ich tat mir schwer beim Arbeiten im Büro. Ich wurde nicht fertig mit dem, was ich mir vorgenommen hatte. Dabei sollte ich mich ranhalten, ich bin nicht der Überflieger unter den Büroangestellten, sondern derjenige, der seinen Arbeitsplatz verteidigen muss. Aber mir war bewusst, dass der Eindringling eine wachsende Gefahr darstellte. Natürlich konnte ich mich unter diesen Umständen schwer konzentrieren. Ich durfte über ihn klarerweise auch kein Wort verlieren. Was sollte ich auch sagen: „Mein Alter Ego ist im Begriff, bei mir einzuziehen. Und ich bin im Begriff, aus unserer Wohnung auszuziehen?“ Das Mindeste, was mir dann gedroht hätte, wäre wohl die Nervenheilanstalt gewesen.

Gegen achtzehn Uhr war ich wieder zuhause. Auch der Eindringling war anwesend, er spielte mit Mickie in seinem Zimmer Lego. Nun war er gänzlich sichtbar, und – er sah aus wie ich, genau gleich. Er sprach mit Mickie mit einer Stimme, die genau klang wie meine. Ich stand in der offenen Tür zu Mickies Zimmer und sagte: „Hallo!“ Mickie sagte auch: „Hallo!“, ebenso wie der Eindringling, der sich zu meinem Stellvertreter weiterentwickelt hatte. Mickie wunderte sich gar nicht, dass mein Stellvertreter mit ihm spielte, genauso wenig, wie sich Gerrit beim Abendessen wunderte, dass es da nicht nur mich, sondern auch meinen Stellvertreter gab, der mitaß und Gespräche führte. Es war, als wäre er schon immer hier gewesen.

Am nächsten Morgen, als ich gerade den Wagen startete, klopfte er an das Fenster der Beifahrerseite. Er war gekleidet wie ich. Was sollte ich tun? Ich ließ ihn einsteigen. Er wollte sogar mit mir plaudern, da fiel mir auf, dass seine Zähne besser waren als meine, weißer und vor allem vollständig. Ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte. Ich dachte auch, dass ich das Recht hätte, auf den Smalltalk aus Höflichkeit verzichten zu dürfen.

In der Firma begleitete er mich auf allen Wegen. Er lernte, was ich arbeitete. Ich hatte die Vermutung, besser gesagt die Befürchtung, dass er sehr sich schnell und exakt mein Wissen und meine Tätigkeiten aneignete.

Niemand nahm Notiz von ihm. Ich weiß nicht, wie das funktionierte, ich habe keine Ahnung. Es geht offensichtlich automatisch: Wo mein Stellvertreter unsichtbar sein soll, ist er unsichtbar. Wo man ihn sehen soll, ist er sichtbar.

Würde es jetzt so laufen, dachte ich am Abend, dass er statt mir meine Arbeit im Büro erledigte? Es gäbe Schlimmeres als das, logisch, doch ich vermutete nicht, dass ich mir die Rosinen aus dieser Situation herauspicken können würde.

Nach dem Abendessen blieb Gerrit mit ihm am Tisch sitzen. Er erzählte ihr von Reisen, die er unternommen haben wollte, als jugendlicher Tramper und zuletzt mit dem Motorrad. Er sprach mit ihr über Mode und über Musik, er kannte sich dabei augenscheinlich sehr gut aus. Gerrit saß ihm gegenüber, ihre Augen strahlten.

Je stärker er wird, desto schwächer werde ich.

Ich sitze nun vor meinem Computer und bemerke, als ich an mir heruntersehe, dass ich durchscheinend werde.

Die Morgensonne über dem Dach in Krumpendorf

Die Morgensonne über dem Dach in Krumpendorf

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 22146

Mein Land

Mein Land ist nicht auf diesem Boden.
Es liegt über den Gipfeln, über den höchsten Wolken.
Ich bin sein einziger Bewohner.
Die Winde sind schnell.
Wenn ich weiter steige, lebe ich in der ewigen Nacht.
Und ich benötige keine Luft, weil ich nicht atme.

Der Blick über Klagenfurt bis nach Lipizach am 6. Juli 2022

Der Blick über Klagenfurt bis nach Lipizach am 6. Juli 2022

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23018

Wie Herr Zeitlos die Zeit wiederfand

Vor nicht allzu langer Zeit, da erzählte man sich von einem Land, in dem es alles im Überfluss gab.

Es gab so viele Bananen, dass die Äste von Früchten schwer beladen bis zum Erdboden hinabhingen. Die Bäume beschwerten sich mit Klagemienen, weil sie die Last nicht mehr tragen konnten. Da ihr Wehklagen tagein und tagaus unerträglich schrill durch das ganze Land tönte, fingen die Leute an, die Bananen in den Himmel zu werfen, wo sie zu lauter Monden wurden und schon bald so zahlreich am Himmel standen wie die Sterne.
Es gab so viel Papier, dass man sich angewöhnte, nur einen Buchstaben auf ein Blatt zu schreiben, weshalb die Bücher so dick wurden wie alte Burgmauern.
Und es gab so viele Autos, dass man sie in einer riesig langen Kette, die bis zum entferntesten Planeten des Weltalls reichte, eines nach dem anderen zusammenschweißte. So konnte man ein- und aussteigen, wo man wollte, und sich im gesamten Universum fortbewegen.

Von allem gab es mehr als genug in diesem Land. Nur eines gab es nicht: ZEIT!

In den riesigen Lagerhallen der Zeitfabriken standen abertausende von leeren Säcken, die einst bis oben hin gefüllt waren mit genug Zeit und nun schlaff zusammenfielen. Es gab einfach zu viele Menschen in diesem Land, die mit Zeit versorgt werden mussten.
„Es wird höchste Zeit, dass wir uns um eine bessere Zeitproduktion kümmern!“, mahnten die einen.
„Dazu fehlt uns die Zeit“, erkannten die anderen.
Quer durch das Land, wohin man auch kam, fehlte die Zeit an allen Ecken und Enden. Einige sehr kluge Menschen waren bereits auf der Suche nach ihr: „Zeieiit! Wo biist du?“, riefen sie laut und eindringlich. Vielleicht gab es irgendwo noch geheime Vorräte? Doch hinter Mauern sahen sie kleine, grässliche Zeitmonster lauern, vollgefressen mit den letzten Resten an Zeit, die sie noch finden konnten.

Zweifellos! Die ganze Zeit war verbraucht. Und das wurde langsam zu einem echten Problem.
Die Kinder des Landes hatten plötzlich keine Zeit mehr, Kind zu sein. Und die Eltern fanden keine Zeit mehr, sich um ihre Kinder zu kümmern, weshalb sie sie gleich nach der Geburt in Erziehungsanstalten brachten. Niemand nahm sich mehr die Zeit, ganze Sätze zu sprechen. So warfen sich die Menschen im Vorbeigehen nur noch Buchstaben zu. Sie hatten keine Zeit mehr, einander anzusehen, oder zu fragen: „Wie geht es dir?“
Auch zum Altwerden fehlte die Zeit. Die Alten starben allmählich aus, und es lebten nur noch junge Leute im Land.
Aus Zeitnot vergaßen sie sogar, an besondere Zeiten im Jahr zu denken. „Geburtstagsfeiern kosten zu viel Zeit“, hörte man die Menschen reden. „Weihnachten? Nein, Weihnachten fällt dieses Jahr aus. Keine Zeit!“

In diesem armen, trostlosen Land lebte Herr Zeitlos. Er stand ständig unter Druck, hetzte ziellos von hier nach da und hatte nie die Zeit anzuhalten. Seine Zunge, die ihm vor lauter Erschöpfung ständig zum Hals heraushing, wurde so groß und schwer, dass sie schließlich bis zu seinem Bauchnabel hinunterreichte.
Herr Zeitlos hatte aus Mangel an Zeit das Nachdenken verlernt. „Das Essen raubt mir meine Zeit!“, verkündete er empört. Deshalb hörte er auf damit und wurde so dünn wie ein Strich. Weil er keine Zeit mehr zum Schlafen fand, war er nur noch mürrisch und schlecht gelaunt.
Und das tägliche Waschen? Das war ihm zu zeitaufwändig. Darum sprang er schließlich aus Zeitnot in den Ozean und durchschwamm ihn, bis es nicht mehr weiterging. Wie gut, dass die Haie überhaupt keine Zeit hatten, ihn zu fressen!

So kam es, dass Herr Zeitlos, als er den Ozean zum wiederholten Male unbeschadet verlassen hatte, sich eines Tages auf einer fernen Insel wiederfand. Zwei Zeitgeister bewachten mit strengem Blick den Zutritt durch ein stattliches Tor, das so groß und fest war wie eine Burg und etwas sehr Kostbares hinter sich vermuten ließ.
Herr Zeitlos, der in gewohnter Eile unterwegs war, rannte an den Geistern vorbei und sprang mit einem Satz über das Tor hinweg. Da er nur ein Strich in der Landschaft war, hatten sie ihn nicht kommen sehen. „Hinterher!“, brüllten sie wütend. „Ein Zeitloser! Schnell, einfangen!“ Doch ehe sie bis drei zählen konnten, war der raketenschnelle Herr Zeitlos – ach du liebe Zeit! – gegen das Ausgangstor der Insel geprallt, stürzte zu Boden und versank für Stunden in eine Ohnmacht. Wie war es möglich, für etwas derart Nutzloses seine Zeit zu verschwenden? Und wieso war sie plötzlich da, die Zeit?

„Ich habe keine Zeit!“, schrie Herr Zeitlos, aus seiner Ohnmacht erwacht, die Zeitgeister ungeduldig an, die unbekümmert neben ihm saßen. „Haben die Gruselköpfe zu viel Zeit?“, dachte er noch, als er schon im Begriff war, wie gewohnt loszulaufen, doch dann spürte er die Ketten. „Was für eine Unverschämtheit!“, zeterte Herr Zeitlos wenig zimperlich, „Bindet mich gefälligst los! Mir läuft die Zeit davon!“ Unruhige Wellen durchzuckten wie Stromschläge seinen zeitlos jugendlichen Körper.
Die Geister amüsierten sich köstlich. „Keine Panik!“, beschwichtigten sie ihn und grinsten. „Zeit gibt es hier mehr als genug.“
„Äh, wie? In welcher Zeit lebt ihr?“, rätselte Herr Zeitlos verwirrt. „War ich mit einer Zeitmaschine unterwegs?“ Und gleich einen Atemzug später fiel ihm auf, dass er seit langer Zeit wieder einmal Zeit zum Nachdenken hatte.

„Nimm dir Zeit und gehe ein zweites Mal über unsere Insel!“, vernahm Herr Zeitlos die Anweisung der Zeitgeister, die sorglos über ihm schwebten. Sie ließen ihn angekettet ziehen, so dass er, von ihnen geführt, nur langsam vorankam und sehr zeitintensiv wahrnehmen konnte, was ihn umgab.
„Dass man die Menschen aber auch immer zu ihrem Glück zwingen muss“, hörte man den einen Geist noch verständnislos zum anderen sagen, bevor er auf einer Wiese landete, um ein kleines Nickerchen zu machen.

Herr Zeitlos blickte sich unsicher um. „Soll ich jetzt die Zeit totschlagen?“, fragte er sich. Doch kaum waren seine Worte verhallt, da fühlte er schon den magischen Sog, der ihn antrieb, aufzustehen und weiterzugehen. Und dann kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Auf der Insel gab es Unmengen an Zeit! Überall Zeit, wohin man auch schaute.
Sie hing wie Blätter an den Bäumen, thronte wie Blüten auf Blumenstängeln und lag wie Ziegeln auf den Dächern. Aus den Erdspalten quoll sie hervor, die Zeit, selbst die Wolken am Himmel waren voll davon und hingen schwer bepackt herab.
„Meine Güte, so viel Zeit auf einem Fleck!“, staunte Herr Zeitlos und gaffte nach allen Seiten. Noch nie in seinem Leben hatte er so viel Zeit gesehen. Und noch nie in seinem Leben hatte er so viel Zeit gehabt, genau hinzusehen. Man konnte sich in diesem Zeitschlaraffenland frei bedienen, sich die Taschen mit Zeit vollstopfen. Man konnte davon nehmen, so viel man brauchte und so viel man tragen konnte.

„Ich bin im Paradies!“, schrie Herr Zeitlos euphorisch, pflückte die Zeit, warf sie hoch in die Luft, tanzte und sprang. Im nächsten Moment fing er sich wieder und wurde nachdenklich. „Oh weh! So viel Zeit kann einem ja richtig Angst einjagen!“ Immerhin hatte er jetzt genug Zeit, seine Fesseln zu lösen.
Er sah sich um wie jemand, der etwas Verbotenes im Schilde führt, hielt kurz inne, blickte noch ein letztes Mal zu den friedlich schnarchenden Zeitgeistern, nahm dann all seinen Mut zusammen und stopfte sich die Taschen voll mit Zeit. Gierig nahm er sich so viel davon, wie er nur kriegen konnte. Als er auch noch den Bauchnabel und die Nasenlöcher mit Zeit ausgefüllt hatte, nahm er seine Beine in die Hand, lief davon wie ein gewöhnlicher Dieb und schwamm durch den Ozean zurück nach Hause.
Dort angekommen, machte er alle Truhen und Körbe randvoll mit der erbeuteten Zeit. „Das dürfte für eine Weile reichen“, sprach er erleichtert zu sich, „vielleicht sogar, bis ich sterbe.“

Und plötzlich hatte er alle Zeit der Welt!
Zeit, in der Nase zu bohren.
Zeit, mit dem Finger im Sand zu malen.
Zeit, mit den Augen Wolkenspaziergänge zu machen.
Er hatte sogar so viel Zeit, dass er sie auch mal eine Weile sinnlos verstreichen lassen konnte. Doch trotzdem fehlte noch etwas, damit es bis in die Fingerspitzen kribbeln konnte. Etwas, das sein Herz zum Hüpfen brachte.

„Die reine Zeitverschwendung!“, dachte Herr Zeitlos, als er gerade dabei war, ziellos aus dem Fenster zu sehen, denn so ganz hatte er sich noch nicht an den Luxus gewöhnt, auch dafür genügend Zeit zu haben. Er beobachtete die Menschen, wie sie vor seinem Haus gestresst auf und ab liefen, den Blick abwesend in die Ferne gerichtet, gehetzt und getrieben wie ein gejagtes Reh.
Und er sah sich selbst, wie er noch vor kurzer Zeit genau wie sie die Straßen entlanggerannt war, dicht gefolgt von der Zeit und immer auf der Hut davor, von ihr überholt zu werden. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich!

Wie sollte er mit all seiner kostbaren Zeit glücklich werden, wenn er der Einzige im Land war, der großzügig darüber verfügen konnte? „Ich werde allen Menschen in diesem Land Zeit schenken“, beschloss Herr Zeitlos. „Nur so können wir besseren Zeiten entgegensehen.“
Und kurzerhand packte er viele kleine Päckchen voll mit Zeit. Er umwickelte sie mit Goldfolie, damit jeder sofort erkennen konnte, wie kostbar sie waren. Dann stellte er sich damit auf den größten und belebtesten Platz des Landes und pries sie an: „Zeit! Ich verschenke Zeit! Kostenlos kostbare Zeit!“
„Ach du liebe Zeit!“, dachten die wenigen Menschen, die, obwohl sie in großer Eile waren, Herrn Zeitlos bemerkten. Sie waren zunächst skeptisch, tuschelten miteinander und näherten sich nur vorsichtig, so wie man sich eben verhält, wenn jemand etwas ganz und gar Ungewöhnliches tut. Doch dann wurden sie neugierig. Und als die Ersten begannen, ein goldenes Geschenk anzunehmen und sich über dessen Inhalt klar wurden, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer, und die Menschen strömten in Scharen herbei.

„Zeit! In den Päckchen ist Zeit!“ – „Was, Zeit? Die fehlt mir schon so lange!“ – „Endlich! Ich hatte schon geglaubt, wir müssten ohne sie weiterleben!“ –  „Verpackte Zeit? In Zeiten wie diesen?“ – „Dann lasst uns keine Zeit verlieren!“
Und in kürzester Zeit wurde Herr Zeitlos zu einem Helden seiner Zeit. Von nun an hatten alle Menschen im ganzen Land genug Zeit. Und wenn die Päckchen verbraucht waren, wusste man, wo man Nachschub bekam. Kurz gesagt, konnte sich niemand mehr bis zu seinem Lebensende über Zeitnot beklagen.
Da gab es sie plötzlich wieder, die längst in Vergessenheit geratenen Zeitgenossen, Menschen, die einem die Zeit raubten, Zeitlöcher, Zeitmaschinen und die Gezeiten, Zeitfüller, Zeitzonen und Zeitraffer, die Zeitmesser und Zeitverschwender … Und alles hatte wieder seine Zeit.

Doch da man sie einst schmerzlich vermisst hatte, die Zeit, blieb sie stets ein kostbares Gut. Und jeder war glücklich darüber, dass er mit denen, deren Herz im gleichen Takt wie das eigene schlug, endlich ausreichend Zeit verbringen konnte, so glücklich, dass all der Überfluss im Land überflüssig wurde.
Wie gut, dass man nun genug Zeit hatte, alles, was zu viel war, über die gesamte Welt gleichmäßig zu verteilen! Der ganze Erdball hüpfte vor Freude. Fast hätte er mit diesem gewaltigen Ruck die Zeit durcheinandergebracht …
Nur die Bananen warf man auch weiterhin in den Himmel, weil sie dort oben so schön strahlten. Und ihr Licht erhellte die Nacht. Für alle Zeit.

Ersterscheinung in:
Schubladengeschichten 2, Eine Anthologie der Textgemeinschaft,
Verlag epubli, Berlin 2019.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 22104