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Am Weg

Die zufällige Anordnung der Songs und Tondokumente raubte ihr den letzten Nerv. Wer immer diese Shuffle-Funktion erfunden hatte, er hatte die Höchststrafe verdient. Und diese war klarerweise das stundenlange Anhören dieser niederträchtigen Mischung aus (wenn auch gutem) Heavy Metal, Spanischlektionen, Gedichtrezitationen und dazwischen schon mal dem einen oder anderen ausgelutschten Popsong aus den Neunzigern.
Auch das gemeinsame eifrigste Mitsingen bei Letzteren half nichts: Es war und blieb ein völlig anödendes Ausharren in dieser Mistkarre, die sie von A nach B bringen sollte, wobei das B hoffentlich einladender sein würde als das nun eiligst zu verlassende A.
Aushalten, durchhalten, bis zum Anhalten an sich halten mit Ausfällen aller Art. Der Fahrer des Kleinlieferwagens bestach nicht nur durch die Vielfalt seiner MP3-Inhalte, sondern auch durch beharrliches Schweigen, um ebendiesen Hörgenuss nicht zu gefährden. Ihr Versuch eines Gesprächsbeginns wurde unterbunden, gleich am Anfang, und dann traute sie sich auch nicht mehr.
Als er, der Karl hieß, schließlich nach zwei oder drei Stunden begann, ein One-Hit-Wonder – nicht gänzlich unmusikalisch übrigens – durch Mitsummen zu unterstützen und schließlich lauthals bei dessen Refrain mitzusingen,  witterte sie ihre einzige Chance, auf dieser mehrstündigen Fahrt endlich auch einmal den Mund aufmachen zu dürfen. Sie stimmte also ein, es harmonierte nicht gerade bestens, und falls dieses Duo jemals eine Chance auf Erfolg haben sollte, so war diese damals jedenfalls noch nicht abzusehen.

So fuhren sie in die Nacht, die düster war. Dunkelheit auch in Elviras Herz und Hirn. Sie war niemals zuvor so unsicher gewesen, was sie erwarten würde. Der freundliche Idiot neben ihr kostete sie keine enervierenden Gedanken, der tat, was getan werden musste: Er fuhr, und das nicht schlecht. Kein einziges Mal hatte sie sich bisher gefürchtet, und das sollte etwas heißen, denn sie war ängstlich, um nicht zu sagen überängstlich, was den Straßenverkehr und seine Tücken betraf. Der Mann fuhr routiniert, er schien auch nicht müde zu werden, und falls doch, gab es ja da diesen Lautstärkeregler, der noch lange nicht ausgereizt war. Und die nächste Metal-Nummer kam bestimmt.

Sie hatte nicht ahnen können, dass sie, nach nur drei Monaten an Ort A, diesen mit Grausen vor ihr selbst und dem, was sie sich hatte antun lassen, verlassen würde, fluchtartig und mit einem schalen Geschmack im Mund, der ihr signalisierte: wieder nicht rechtzeitig gewehrt, neuerlich zu viel mit sich geschehen haben lassen, Ja signalisiert statt Nein! geschrien, die Hände hinter dem Rücken zu Fäusten geballt, nach vorne hin gelächelt, das falsche Lächeln, das sie selbst aufs Gröbste schwächende, das sie längst hatte ablegen wollen. So einfach war das alles nicht. Alte Gewohnheiten, die lauerten überall. Beim Einstellungsgespräch, wo ungehörige Fragen gestellt und leider auch von ihr beantwortet wurden (Kinderwunsch? Natürlich nicht…); bei der Vermieterin der supergünstigen Wohnung, die nur „inländische und saubere Bewohner“ haben wollte; bei der durch die Mitfahrbörse vermittelten Fahrerin, die immer nur gestichelt und gewitzelt hatte über Elviras Ambitionen (aber die Mitfahrgelegenheit war eben günstig…). Elvira schien es, als sei die Liste endlos. Und so wurde Elvira im Laufe der Zeit immer kleiner und dünner, fast unsichtbar, und jedes Ja kostete sie das nächste Nein, als ob sie ein Guthaben aufbrauchen würde, die Widerstandskraft schwand völlig und so war sie an Bert geraten, in diesem geschwächten Zustand, allein und ohne Verbündete in A, so konnte er das nutzen, zu seinen Gunsten, was sonst.

Nun war sie also auf der Flucht aus A, vor Bert, dem Mann ihrer Träume, im Auto mit Karl, und wusste nur, sie wollte nach B. In B sollte alles anders werden. Sie wollte stark sein, für sich einstehen, nichts und niemandem zustimmen, das oder der ihr zuwider war. Was für ein Leben! Ein freies, ein selbstbestimmtes Leben würde es sein, nicht mehr gelenkt durch den Willen anderer, solcher, die sie zwangen, sich zu verbiegen. Nein, nicht einmal zwangen, die es einfach als gegeben hinnahmen, dass sie sich beugen würde. Und wie recht sie hatten. Aber nicht in B. Ein Ortswechsel, das war der Anfang. Und dann ein neuer Job. Ein neuer Mann eher nicht, noch nicht. Für so etwas musste man stark genug sein, gefestigt, um sich diesen Versuchungen nicht gleich wieder auszusetzen. Ach, was war eine starke Schulter für eine Verlockung für eine unsichere Frau. Unglaublich, aber wahr.

Elvira hatte genug Zeit, vor sich hin zu grübeln. Die Musikquälerei ließ sich ganz gut ausblenden, nach der langen Fahrt. Vielleicht hätte sie doch den Zug nehmen sollen. Aber dann wäre ihr Hab und Gut alleine unterwegs nach B, und den Fahrer, den Karl, den kannte sie ja kaum. Was, wenn er ihr Zeug einfach irgendwo abstellte, um es später einem windigen Dealer zum Verkauf anzubieten? Obwohl, Tante Erikas Tassen und Onkel Edwins Ohrensessel, naja, ein richtig gutes Geschäft wäre es wohl ohnehin nicht geworden. Sei es wie es sei, sie war eben jetzt am Weg. Warum nach B?

In B, wurde ihr gesagt, sei alles anders. Da hätten die Einwohner ein neues Modell entwickelt, ein Dorf, in dem alles geteilt würde, vom Einkommen angefangen bis zu den Häusern, der anfallenden Arbeit, den Kindern. Ackerbau, Viehzucht, Wald- und Wiesenpflege sowie Wildhege gehörten zur Ausbildung der Neuankömmlinge. Darauf aufbauend Koch-, Näh- und Schusterkurse für jedermann und kreative Betätigung beim Dekorieren der Häuser, innen und außen, und bei Bedarf spirituelle Führung durch jene, die in dieser Materie (oder war es Nicht-Materie?) schon weit vorangeschritten waren. Wer darüber hinaus auswärts tätig sein wollte, im Sinne von Erwerbsarbeit, wurde ermutigt, und wer in der dörflichen Gruppe bleiben mochte, war ebenso willkommen.

So stellte sie sich das Leben vor. Entscheidungsfreiheit. Keine Arbeitgeber, die alles ausreizten, was zu holen war, keine Immobilienbesitzer, die sie zu ebenjenem Frondienst bei den Blutsaugern zwangen, keine Kreditgeber, die pressten und quetschten, was möglich war, und selbst das noch, was eigentlich schon längst nicht mehr mach- und leistbar war.
Man könnte es sicher auch Flucht nennen, was sie hier angetreten hatte. Aber es war eher ein Befreiungsschlag. Und nicht Bert, dem ja nicht einmal bewusst gewesen war, was er da angerichtet hatte, wollte sie davonfahren, sondern ihr selbst, der Elvira der Vergangenheit, und ihrer Vernetzung in den unglaublichen Abhängigkeiten, die A für sie bereitgehalten hatte.

Elvira erschrak, als Karl plötzlich die Regler runterdrehte und sich räusperte. Er schlug eine Pause vor, sei müde geworden. Dass sie sich mitten in einem Waldstück befanden, befremdete Elvira etwas. Wo wollte er hier rasten? Sie hätte sich eher eine Raststation ausgesucht, oder ein Gasthaus am Weg, aber er wollte ein Nickerchen machen, dazu war der kaum erleuchtete Straßenabschnitt wohl die beste Wahl. Da hatte er schon recht, der Karl. Elvira überlegte gerade, ob das schon zu ihrer neuen Entscheidungsfreiheit gehören sollte, hier zu protestieren, überlegte es sich aber anders. Karl parkte am Straßenrand, da war eine Ausweichstelle, so schmal war die Fahrbahn hier.

Er drehte an seinem Fahrersitz herum, um ihn in eine angenehme Schlafposition zu bringen, Elvira überlegte, wie sie die Pause sinnvoll nutzen könnte, an Schlaf war nicht zu denken, denn Karl wollte seine MP3-Files weiterhören, das brauche er zum Dösen. Eigenartig, dass das, was zum Fahren und Wachsein gut sein sollte, auch dem Gegenteil, der Entspannung, dienen konnte. Anscheinend machte da die Lautstärke den gravierenden Unterschied, denn er stellte nochmals etwas leiser, just als Klaus Kinski anhob, das schöne Villon-Gedicht mit dem Erdbeermund auf seine völlig unnachahmliche Art zu rezitieren.
Elvira erstarrte. Die Shuffle-Funktion hatte ihr dieses Meisterwerk bisher vorenthalten, es war neu für sie und doch eindeutig nicht. Es gehörte der alten Elvira an, das Erinnern an die letzte Situation, in der sie es gehört hatte. Bert war es gewesen, der das Gedicht ganz bewusst ausgewählt hatte. In dem besonderen Moment, bevor er um ihre Hand angehalten, ihr die Sterne vom Himmel und dazu passend den Himmel auf Erden versprochen hatte. Wie gerne hätte sie ja gesagt, zur Ehre Kinskis, zu der Aussicht auf Berts gemeinsamen Himmel für alle Zeiten. Allein, es war zu viel. Sie konnte nicht, nicht das letzte Bisschen, das von ihr noch übrig war, an Bert verschenken, für immer. Lieber weg. Ganz woanders hin. Nach B.

Der Karl, natürlich, der hatte keine Ahnung von der Vorgeschichte, die Elvira gerade bewegte, Elvira, die sich ja eigentlich von A hatte entfernen wollen und nun zumindest geistig wieder genau dort gelandet war, wo der Ausgangspunkt zu finden war. Karl nahm ihre Unruhe wahr und interpretierte sie falsch. Er dachte, Elvira hätte das Gedicht inspiriert, sich ihm anzunähern, und er wollte ihr den Weg etwas verkürzen, indem er ein Stückchen nach rechts in ihre Richtung rutschte, mit einem wohligen Seufzer, der sie ermuntern sollte. Elvira bemerkte die Zeichen, hörte die Einladung, sah sein Becken sich ihr entgegenrecken, und sie erstarkte. Das war es, was sie gewollt hatte. Sie wusste es nun. Keine Heirat. Keine gemeinsame Eigentumswohnung. Keinen immerergebenen, angetrauten Bert. Einen einladenden Kleinlastkraftwagenfahrer, der nichts von ihr wollte als ihren Erdbeermund. Wie wunderbar einfach doch das Leben sein konnte. Vielleicht blieb er ja dann auch noch ein bisschen, der Karl, mit ihr, in B.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15089

Der amerikanische Traum

Der Airbus 320 kreiste unaufhörlich über Manhattan, ohne bis jetzt eine Landeerlaubnis erhalten zu haben. Langsam wurden die Passagiere in ihren Sitzen unruhig. Immerhin saßen sie bereits seit neun Stunden auf ein und demselben Platz. Da und dort waren schon nervöses Öffnen und Schließen der Sicherheitsgurte aus den Sitzreihen zu hören. Es waren mehrheitlich Geschäftsleute unter ihnen, Sklaven ihrer Terminkalender, deren Eintragungen mehr Macht über sie besaßen, als sie sich je eingestanden hätten. Hier und da auch ein paar Exileuropäer, die ihre alte Heimat besucht hatten. Manche von ihnen sicherlich zum letzten Mal. Einer unter ihnen mit künstlichem Darmausgang, Uncle Ed. Neben ihm, Aunt Mary, eine Achtzigjährige mit Herzschrittmacher.

Seit mehr als zehn Minuten zog der Flieger nun schon seine konzentrischen Kreise über dem Big Apple. Der Kapitän war sehr nett. Er werde das Luftschiff ein wenig mehr in den Wind legen als üblich, damit auch die Passagiere, die in der Mitte näher zum Gang hin saßen, die Stadt durch die Fenster sehen könnten, hatte er durch die Lautsprecher verkündet.
Einen Moment lang fühlte Marcel, dass seine Reise den Beginn eines neuen Lebens bedeutete, eines Lebens, in dem der Freiheit angeblich keine Grenzen gesetzt waren. So hatte man zumindest in den Fünfzigern des vorigen Jahrhunderts gedacht. Die Schräglage des Fliegers erlaubte einen flüchtigen Blick in die Häuserschluchten von Midtown Manhattan. Hier sollte es sein, wo angeblich alles viel früher und schneller begann als anderswo, dachte Marcel. Hier also, ein paar Hundert Meter unter ihm, sollte das Epizentrum jener finanziellen und kulturellen Beben liegen, von denen aus die Welt ihre Impulse bekam. Von hier aus würde dieser wackelige Planet in seiner Entwicklung so gesteuert, wie er morgen auszusehen hätte, und von hier aus wurde der Rhythmus des globalen Atems bestimmt, weiterzuatmen oder angehalten zu werden.
Jetzt konnte man durch die schmalen Fenster das Empire State Building erkennen. Das ist Amerika! Oder auch nicht, mochten manche sagen. Mein Gott!, durchfuhr es Marcel. Ich bin in New York! Beinahe zumindest. Dabei wäre er lieber mit dem Schiff angekommen. Wie alle Emigranten damals aus Europa, mit Ellis-Island-Prozedur und so. Es ging ihm alles viel zu rasch. Acht Stunden! Was waren schon acht Stunden? Früher war man drei Wochen auf See, früher. Schlecht untergebracht, unter Deck, Tiefdeck womöglich, ohne Bullauge. Stets dem stetigen Dröhnen der Motoren ausgesetzt, dem Geruch von Öl, Diesel, nach nassen Sachen riechend, die nie trocken wurden.

Im Flieger konnte es wirklich ein jeder schaffen, dachte Marcel, sogar er. Aber vielleicht würde er hier und heute gar nicht mehr vorfinden, was Generationen vor ihm an dieser Stadt so attraktiv und lebenswert gefunden hatten? Und doch, was sollte es, dachte er. Nun hatte er soviel investiert, um hierher zu kommen. Hatte all sein Tun, sein Schaffen, seine Träume darauf ausgerichtet, seine Vergangenheit hinter sich und der unüberwindbaren Mauer des Vergessens zu lassen.
Nun würde ein anderes Leben kommen, eines ohne den Drill längst überholter Dimensionen. Niemand würde ihn mehr zur Räson zwingen können, wenn ihm schon einmal danach war, zu sagen, was ihn störte. Hier konnte man alles sagen, ohne sich gleich die Hand vor den Mund zu halten oder bloß hinter schützenden Winkeln und Ecken darüber zu reden, was einem seit Langem schon so furchtbar auf den Sack gegangen war, diese ganzen Verlogenheiten eines verlorenen Idealismus, der niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken konnte.

Marcel war kein Flüchtling im herkömmlichen Sinn, und doch war er einer. Obschon – heutzutage brauchte man nicht mehr von dort zu fliehen, von wo er gekommen war. Im Gegenteil, man war heilfroh, jeden unnützen Fresser loszuwerden. Blieb den Dagebliebenen mehr. Es gab ja ohnehin keine Jobs. Nichts hielt einen hier länger, als es unbedingt notwendig gewesen wäre. Die Kinder hatten längst das Weite in Richtung Westen gesucht. Deretwegen brauchte man nicht hier zu bleiben. Es war nicht mehr erforderlich. Man war entbehrlich geworden.
Die Frage war, was war überhaupt noch notwendig? War dieses ganze Theater mit der Volksverblödung überhaupt für etwas gut gewesen? Tausende Tote für die sozialistische Idee? War hier auch nur irgendjemand noch bei Verstand gewesen?, fragte sich Marcel verärgert. Jetzt konnte ohnehin jeder gehen, wohin er wollte.
Nicht so wie damals, als gleich geschossen wurde, wenn du deinen Arsch nur in die Nähe des Zaunes oder jener Mauer geschoben hattest, welche das Wahre vor dem Dekadenten zu trennen versucht hatte. Aber heute? Heute war alles anders. Heute war alles egal. Kein Aas scherte sich mehr darum, wenn irgendwo irgendeiner abhauen wollte. Wer hätte das jemals aus seiner Generation gedacht?, flüsterte Marcel so für sich. Der Staat pflegte seine Bürger als Gefangene zu halten, sich ihrer Fähigkeiten zu bedienen, zum Wohle aller, wie einem vorgelogen wurde, um von seinen eigenen Unfähigkeiten abzulenken. So leicht war das.
Und vom ewigen Geschwätz über Patriotismus und Solidarität war nichts als ein Haufen stinkender Scheiße geblieben, die sich über Jahrzehnte hindurch aus den Mäulern einiger hirnloser machtgeiler Parteibonzen gleichmäßig über das Land verteilt hatte, die nichts anderes zu tun hatten, als anderen Ängste aufzudrücken und sie ständig an ihre Pflichten zu erinnern, während sie selbst gut daran taten, Stillschweigen über den eigenen, illegal zusammengerafften verbotenen Besitz zu üben.

Ach, diese Welt war Millionen von Jahre alt und es war hinlänglich bekannt, dass ihre Bewohner zu allen Zeiten Schweine waren! Korrupt und gemein! Und aller Widerstand gegen das System wäre zwecklos, ja, gefährlich gewesen. Passiver Widerstand, innere Emigration, das einzige legitime Mittel, sich diesem Kasperltheater zu entziehen!
Marcel nickte triumphierend. Das Flugzeug zog unaufhörlich seine Kreise. Der Kapitän signalisierte den Stewardessen: Kling! Kling! Was mochte er wollen? Alle Augen waren auf eine Stewardess gerichtet, die nach vorne eilte. Es wurde getuschelt, gedeutet, in den Gesichtern zeichneten Falten Fragezeichen. Marcel aber war weit weg in Gedanken.

Es würde alles gut sein hier. Die alten Wunden würden verschorfen, neue hoffentlich nicht geschlagen. Er, der 45 geboren worden war, hatte früh lernen müssen, anderen etwas abzugeben, nicht Egoist zu sein, für Freunde da zu sein. Als die Panzer kamen, war er gerade acht, und er hatte Angst. Alle hatten Angst, furchtbare Angst, auch dass der Krieg wieder neu aufflammen könnte, dass man wieder nichts zu essen hätte, dass man sich wieder würde verstecken müssen, vor den Bomben, vor den Spitzeln, vorm eigenen Nachbarn, der einen denunzierte. Es war ja ohnehin alles beim Teufel, was konnte noch Schlimmeres geschehen?
Und man hätte sich gegen den Irren aus Braunau am Inn eher wehren sollen, dachte Marcel. Keiner hatte ohnehin je verstanden, wieso Millionen einem Geisteskranken gefolgt waren. Wohl ein spezielles Phänomen, Schwachsinn gepaart mit Wirtschaftskrise am richtigen Ort mit den richtigen Leuten. Eine Art Hors d`Oeuvre der Weltgeschichte, als Vorgeschmack auf die Apokalypse. Aber hinterher war man ja immer klüger. Genauso verrückt und kopflos hatten sich die anderen in den Sozialismus verrannt! Bis heute hatte er es nicht verstanden, wie so etwas möglich gewesen war. Warum sie damals nicht schon in den Westen gezogen waren, war einzig und allein Vaters Schuld gewesen. Ach was, der hätte sich ganz einfach in die Hosen gemacht, sich mit seiner Familie in so ein Abenteuer zu begeben, obrigkeitshörig, wie er war, der Herr Assessor. Beamtenseele.

Das Flugzeug begann, unruhig auf und ab zu taumeln. Turbulenzen! Die Tragflächen schwankten bedrohlich. Der ganze Rumpf schien sich zu verbiegen. Zeitweise sah man von den hinteren Reihen die vordere Cockpit-Tür nicht. Einige schrien laut auf vor Angst. Marcel wurde aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Kam ihm allemal schon zu langsam vor, die Maschine, und das in dieser geringen Höhe! Jetzt wurde es aber wieder ruhiger.
Kling! Please fasten seatbelts, stop smoking. Haben wir doch schon, knurrte Marcel vor sich hin. Geht endlich runter, verdammt noch mal!

Vater war nie Parteigenosse. Aktiv, versteht sich. Trotzdem. Man verließ seine Heimat nicht so ohne weiteres. Und der Papa hatte an der Meinung seines Sohnes nie besonderes Interesse gezeigt. Aber für ihn selbst galt, was die da oben dachten, wäre Gesetz, und damit basta. Könnte er ihn jetzt bloß sehen! Da hatte er seine leeren Parolen, hohlen Phrasen! Wie leicht durchschaubar war das alles gewesen.
Die Herren von der Partei hatten allesamt feine Autos aus dem Westen, nicht die stinkenden Zweitakt-Plastikbomber wie wir. Mit der Mauer hatte sich dann alles geklärt. Erledigt! Basta! Ach so sind die, sagten die Leute. Ja, so sind die! Alle falsch und verlogen. Damit musste man nun leben.
Immerhin, in dieser Welt hatte er irgendwann einmal selbst denken lernen müssen, weil er es sattgehabt hatte, dass allein der Staat für ihn dachte. Maulhalten war angesagt. Stillhalten wurde zur pädagogischen Methode. Karriere fremdbestimmt. Auf jener Stufe, auf der man stand, war man festgenagelt, ohne Chancengleichheit!

Kling! Der Captain wandte sich an die Passagiere, man hätte endlich die Landeerlaubnis erhalten und würde in wenigen Minuten landen. Alles anschnallen, wer´s bis jetzt nicht war, Stewardessen hinsetzen, es konnte also losgehen.
Die Maschine machte eine letzte Ehrenrunde um Manhattan und ging in Position zum Landeanflug auf Kennedy Airport. Marcel spürte im Magen, wie rasch der Flieger sank und hoffte, dass dieses Manöver bald beendet sein würde. Das war das Letzte, was er noch bewusst gefühlt hatte. Im selben Augenblick dachte er noch einmal an die Mauer und daran, wie er sich gefreut hatte, als sie endlich gefallen war.
Das wäre ja vorauszusehen gewesen. Nun aber konnte für ihn endlich die große Freiheit beginnen! Und, allen widrigen wirtschaftlichen Umständen zum Trotz, hatte er etwas Erspartes anlegen können. Die Wohnung war verkauft, die Kinder erwachsen, versorgt und voll Erwartung, was denn der Vater da auf seine alten Tage in der Neuen Welt noch alles anstellen würde. Und er müsste sogleich schreiben, beschwor ihn seine Enkelin Jana. Ja, das hatte er versprochen, und so einem entzückenden Wesen konnte man seinen sehnlichsten Wunsch nun wirklich nicht abschlagen.

Genau heute aber war der Jahrestag jener grandiosen Abtragung des Walls, einer der furchtbarsten Barrieren gegen die Menschlichkeit. Nun würde wieder gefeiert werden, drüben im Westen genauso wie im Osten. Aber es interessierte Marcel nicht im Geringsten, die ganze Angelegenheit auch noch ritualisiert zu wissen. Alles war längst vorbei, war bereits wieder zu Geschichte geschrumpft.
Die Zeit hatte bloß Erinnerungen zurückgelassen, und vielleicht blieben diese darüber auch noch auf der Strecke. Schließlich war er, Marcel, selbst nie ein Mann des Widerstandes gewesen, überlegte er, eher einer, der sich mit der Strömung hatte treiben lassen, also waren die Vorwürfe an den Vater obsolet und er brauchte sich auch nicht mit Selbstvorwürfen herumschlagen.

Egal, das hatte hier und jetzt alles keine Bedeutung mehr. In Kürze würde er amerikanischen Boden betreten und damit ein lang gehegter Wunsch in die Tat umgesetzt. Punktum! Kein Wiederstand mehr. Und wenn Widerstand darin auch nur bestanden hatte, alle paar Jahre irgendwo an einem Wahlzettelchen ein Kreuzchen zu malen, so war dieser Widerstand für ihn genug gewesen und hätte nur seine wertvolle Zeit in Anspruch genommen, die ihn allzu lange von seinen Lieblingsbeschäftigungen weggelockt hätte.
Als gewöhnlicher Bürger war er ohnehin ohne jegliche Möglichkeiten, sich an politischen Entscheidungen zu beteiligen, außer irgendeiner Person seine Stimme zu geben. Wer wusste, wohin es jetzt mit der so gepriesenen Volksdemokratie nun ginge, wenn westliche Einflüsse sie zersetzten. Im Übrigen konnte ihm auch dieses gleichgültig sein. Aufgrund seiner Beziehungen zu einem Diplomaten hatte er ein Dauervisum in der Tasche, die Pension, wenn auch nicht allzu üppig, konnte er von jeder New Yorker Bank aus der Heimat anfordern.

Es ging rasch tiefer. Man spürte es in der Magengrube. Beinahe hätte er schon gejubelt, du Stadt meiner Träume, ich komme, als er feststellte, dass er keine Stimme hatte. Überhaupt fehlte ihm plötzlich jegliches Gefühl einer Erinnerung an das Zuletzt, wie auch daran, überhaupt je gelandet zu sein, und von den Passagieren war kein einziger zu sehen, weder der alte Ed mit dem künstlichen Darmausgang, noch Mary mit dem Herzschrittmacher, als er sich plötzlich allein an der Fifth Avenue, Ecke 42. Straße wiederfand, wo sich East Street und West Street trafen und er soeben an einem Straßenschild hochsah.
Zunächst versuchte er, den Menschen, die da so in ihrer Hast und Eile auf dem belebten Gehsteig auf ihn zuströmten, auszuweichen. Aber sie schienen ihn gar nicht wahrzunehmen, mehr noch, sie gingen ganz einfach durch ihn hindurch, so als ob er Luft für sie wäre, woraufhin er schließlich gar nicht mehr versuchte, ihnen aus dem Weg zu gehen. Merkwürdigerweise hinterfragte er seinen Zustand nicht, sondern fand sich zu seiner Verwunderung ganz einfach damit ab.
Ihm war, als hätte er irgendwie die sogenannte letzte Stufe des Seins erreicht. Immerhin, er konnte alles sehen und hören, auch wenn ihm diese neue Welt etwas seltsam vorkam. Das also wären die legendären Jellow Cabs, die an ihm vorüberfuhren, und über die er so viel gelesen hatte, staunte er.
Marcel starrte gebannt auf die Blechlawine, die sich durch die Straßen wälzte. Es war alles so wie in den Filmen, die er über New York gesehen hatte. Die zahllosen Häuserriesen und die Schluchten, die sie dazwischen hinterließen. Die nie endenwollenden Polizei-, Rettungs- und Feuerwehrsirenen und das permanente Gehupe der Autos auf den mehrspurigen Straßen. Zwischen den Autos fuhren Männer in schwarzen Anzügen auf Inlineskatern zur Arbeit in Richtung Bankenviertel.
Unvorstellbar! Was für eine Welt! Seiner eigenen, kleinen, im alten Europa noch nicht völlig entbunden, zogen Schleier einer vagen Erinnerung an ihm vorüber, im Land seiner Väter sein Leben verschwendet zu haben. Als diese schreckliche Mauer gefallen war, wurde er Zeuge dessen, wie diesem Land die Zukunft davonlief. Dort war er zu diesem „Ich-will-hier-raus-Menschen“ geworden.

Marcel starrte auf ein Graffito, dessen Sinn er nicht verstand. Rasch hingeworfen auf einer Feuermauer, an welcher der Zahn der Zeit längst den Putz hatte abbröckeln lassen. Chiffren unbekannter Wesen, mitteilungsbedürftig und aufregend, irgendeinen Zeitgeist transportierend, der ihm fremd war. Marcels Gefühle waren doch nicht vollkommen erstarrt, immerhin war er fähig, das Hier mit dem Dort zu vergleichen. Zumindest aber fühlte er keine Angst mehr vor der Sowjetunion, trotzdem konnte er über diesen Gedanken nicht lachen. Sein Mund war ihm fremd geworden, als hätte er keinen.
Marcel betrat einen Parfümerieladen, um sich zu vergewissern, dass ihm nicht auch noch sein Geruchssinn abhandengekommen war. Er schritt auf ein Regal zu, seine Hand näherte sich einem Tester. Joop, es konnte auch ein anderer gewesen sein. Seine Hände berührten die Flacons, einen nach dem anderen. Er roch an seinen Händen. Nichts. Völlig geruchlos.
Vor der Kassa eine Warteschlange. Plötzlich sprang die Kassiererin wie von der Tarantel gestochen auf. Ein baumlanger Farbiger löste sich aus der Mitte der Wartenden und stürmte auf den Ausgang zu. „This man had his hand in your pocket!“, rief sie aufgeregt einem in der Warteschlange zu, der verdutzt in seine Manteltasche griff, um seine Ein-Dollarscheine zu zählen, die er in einem kleinen Bündel bei sich trug. Dann ging sie hinter ihrer Registrierkassa in Deckung. Doch nichts geschah. Der Dieb war längst entflohen. Die ganze Zeit über hatte ein gleichfalls farbiger Security vor dem Geschäftsportal Wache gehalten. Regungslos stand er immer noch da. Was ist, er musste den Dieb doch gesehen haben? Aber der unternahm nichts, gar nichts.
Marcel verstand diese Welt nicht. Die Kassierin war aus ihrer Verschanzung aufgetaucht und setzte ihre Arbeit fort, als wäre nichts geschehen. Die Warteschlange löste sich auf. Alles ging seinen gewohnten Gang.

Marcel war sich darüber im Klaren, dass er diese Stadt bisher mit keiner anderen zu vergleichen vermochte, die er bis jetzt kannte. Er bemerkte zwar ihre diffizilen Charaktereigenschaften, die ihm im Grunde alles zu vereinen schienen, was eine Ansiedlung dieser Größe nur aufbieten konnte. Und wenn er sie aufmerksam durchkämmte, würde sie ihm wohl kaum langweilig. Nach diesem Erlebnis ahnte er, was ihn in dieser Stadt erwarten würde. Trotzdem dachte er daran, sich ohne Mühe in jener übersteuerten Immobilie ansiedeln zu können, und, auch wenn ihn hier ein gewisser Wahnsinn umgeben würde, war es für ihn klar, er würde um nichts in der Welt noch anderswo leben wollen.
Ein Gefühl sagte ihm, hier wäre Endstation. Er konnte es nur nicht begründen, aber es kam ihm vor, als ob sein Innerstes, seine Gefühlswelt, das Einzige wäre, was er von seinem vorigen Leben hierher herübergerettet hatte.

Während Marcel, völlig unberührt vom Lärm der Rushhour, durch den Madison Square Park schlenderte, war ihm, als versuchte hier ein jeder, der Erste vor dem anderen zu sein, ohne es selbst zu bemerken. Alle hatten es offensichtlich sehr eilig. Niemand spazierte nur so zum Vergnügen durch die Gegend.
Kurz danach, nachdem er den Park verlassen hatte, bemerkte er eine junge Frau, die ein Taxi für sich angehalten hatte und soeben im Begriff war, einzusteigen, als sie von einem Typen in Nadelstreif, der plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war, sanft zurückgeschubst wurde. Der bestieg selbst rasch das Taxi und tauchte darin im Sog des Verkehrs unter. „Sorry, das sollte nicht persönlich gemeint sein!“, hatte er der jungen Frau noch zugerufen.
Marcel musste diesem Schauspiel voller Empörung tatenlos zusehen. Er wollte dem Nadelstreif noch etwas nachrufen, doch seine Stimme versagte abermals. Um wenigstens in der Auslagenscheibe einen Blick seiner eigenen Mundbewegungen zu erhaschen, wandte er sich rasch dem Glas zu.
Aber er konnte sich darin nicht sehen. Marcels Hand fuhr an seinen Hals. Er fasste sich an die Kehle, versuchte, sie zu umfassen. Sein Griff ging ins Leere. Es war ihm nicht gelungen, irgendeinen Teil seines Körpers anzufassen, wie auch der Versuch, sich aus Verwunderung über sein mangelndes Körperempfinden an die Stirn zu greifen, fehlschlug. Irritiert drehte er sich um seine eigene Achse, als hätte er völlig die Orientierung verloren.
Die junge Frau konnte in kurzer Zeit ein neues Taxi zum Anhalten bringen und wurde von diesem aufgelesen. Marcel konnte auch den alles durchdringenden Gestank der Straße nicht riechen, diesen Mief aus Diesel, Pizzabrot und dem üblen Hauch des Abwassers, der aus den Kanalgittern drang, dampfend, sichtbarer Atem der Pestilenz aus den Eingeweiden des großen, faulen Big Apple.
Umso aufmerksamer aber betrachtete er den Unrat auf den Gehsteigen, zerbeulte leere Plastikflaschen, die Zeitungsfetzen und all das weggeworfene Zeug bis hin zu den zahllosen MacDonalds-Tüten, die überall herumlagen, und die Zigarettenstummel, die seinen Weg zu pflastern schienen. Dazwischen eingebettet plattgetretene Kaugummis, die sich wie runde, weiße Kiesel vom ölig schwarzen Asphalt abhoben.
Schwarze Beine ragten aus alten Kartonagen, deren Besitzer, zurückgezogen wie Schnecken, in ihren portablen Häusern schliefen, unweit von Fünf-Sterne-Hotels und den unmittelbar davor parkenden Limousinen.

Nicht, dass ihm das alles fremd gewesen wäre, er war schließlich genug in der Welt herumgekommen, aber hier, so dachte er, sähe alles noch ein wenig hoffnungsloser aus als anderswo. Vielleicht hätten die Leute, die hier lebten, bis jetzt doch einen ungeheuren Vorteil gegenüber anderen gehabt, wenn man in Erwägung zöge, dass sie in einer Gesellschaft lebten, in die sich der Staat nicht so penetrant hineindrängte, wie dies bei ihm zu Hause gewesen war.
Es befriedigte schon die Tatsache, dass die Kinder hier in der Schule nicht zu lügen brauchten, was zu Hause gesprochen wurde. Wo man Kinder im Wohnzimmer etwas fragen durfte, ohne bestehende Doktrinen zu verletzen, wo man in einen Buchladen gehen und jedes Buch erstehen konnte, das man wollte, und man Noten für gewisse Musikstücke nicht erst heimlich kopieren musste, um sie dann daheim im stillen Kämmerlein möglichst leise spielen zu dürfen.
Das alles verstand Marcel unter dem Begriff der Freiheit, das alles hatte ihm zum Glücklichsein gefehlt, das alles wollte er hier für sich neu entdecken.

Erstaunlich, wie rasch es dunkel wurde, dachte er, als er die alten Hauseingänge im langsam schon absterbenden Tageslicht betrachtete, vor denen alle möglichen Typen herumlungerten, gerade im Begriff, nervöse Laufkundschaft mit ihrem gefährlichen Zeug zu beliefern. Manche von ihnen mit stummen, hohlen Augen, dumm glotzenden Blicken. Andere, randvoll mit aufputschender Chemie bis unter die Mütze, die vor lauter Unruhe im eigenen Leib keine Sekunde stillzustehen vermochten.
Allesamt wirkten sie, als wäre jeder von ihnen sechzig Jahre und mehr. Tatsächlich mochten sie fünfundzwanzig oder dreißig sein. Auf einer Treppe lag ein Bündel Dollarscheine, unweit davon eine Einwegspritze mit verbogener Nadel. Ein dunkelhäutiger Typ saß mit verklärtem Blick daneben, der Kopf weit in den Nacken gefallen, regungslos, atemlos.
Marcel trat auf ihn zu. Er musste ihn doch bemerken, seine Augen standen weit offen. Aus seinem ausgetrockneten Mund drangen flüsternd die sich ständig wiederholenden Worte: „Ehj, Mann, ich fliege, Mann, verstehst du, ich fliege!“ Und dennoch waren seine Worte nicht an ihn gerichtet.
Einen Augenblick nur hatte Marcel sein eigenes Schicksal vergessen. Es konnte ihn ja doch keiner sehen! Ein gewisser Vorteil, so konnte er nicht überfallen werden und brauchte nicht wegzurennen vor den Totschlägern, Einbrechern, Autodieben und kriminellen Amateuren, wenn sie ihm an den Säckel wollten. Aber was hätte man ihm nehmen können? Er besaß ja nichts. Nicht einmal seine Reisetasche hatte er bei sich. Marcel gelang es wieder nicht, über diesen Gedanken zu schmunzeln.
Eine Polizeistreife fuhr vorüber. Einer der Polizisten kurbelte das Seitenfenster herunter und rief einem Mann in ballonseidener Jacke zu: „Pass auf, Mann, da vorne prügeln sich ein paar Verrückte!“, und lachte laut dabei, während der Wagen mit quietschenden Reifen und heulender Sirene um die Ecke bog.

Marcel merkte, dass er langsam aber sicher unter seinem Zustand, nicht mehr dazuzugehören, sich nicht mehr verständigen zu können, zu leiden begonnen hatte. Zwar fühlte er keinen seelischen Schmerz, jedoch blieb ihm nicht verborgen, dass ihm etwas fehlte. Er wusste aber auch, dass es in seinem Zustand nicht zulässig war, zu leiden, denn es war der Endzustand, eine Art des Seins, in der schließlich auch dem ewigen Leid ein Ende gesetzt sein sollte. Aber um ganz sicher zu gehen, dass sein Befinden endgültig sei, versuchte er ab und zu, wenigstens einen leisen Brummton zu erzeugen, mit dem er sich hätte verständigen können, im Abstand ähnlich wie Morsezeichen. Aber es gelang ihm nicht.
Was hätte es ihm auch gebracht, dachte er, damit könnte es schwerlich für eine Kommunikation reichen, es könnte kein Informationsaustausch stattfinden, das war ihm nun klar geworden. Er würde wohl seine vorhandenen Möglichkeiten als stiller Beobachter dieser Welt den neuen Gegebenheiten anpassen müssen. Die Frage war nur, ob man sich damit endgültig abfinden konnte.

Am Ende der Straße stand der Polizeiwagen mit seinen glühend roten Blitzlichtern. Rundherum eine Menge Leute, die sehr aufgebracht schienen. Marcel kam näher. „Der Nigger ist tot, Mann!“, rief einer der Umstehenden, „Da ist nichts mehr zu machen!“ Andere nickten zustimmend. Von Ferne hörte man einen Ambulanzwagen herannahen. Marcel überlegte fieberhaft, einen Zeichencode zu erfinden, um sich bemerkbar, sich damit verständlich machen zu können. Lächerlich! Er konnte sich selbst im Spiegelbild nicht sehen. Niemand konnte ihn sehen, was sollten also ein paar Zeichen? Und wenn er welche fände, in die Luft konnte man sie doch nicht blasen. Jedoch der Gedanke an die Möglichkeit eines übereinstimmenden Zeichenvorrates zwischen ihm und – nun, egal, irgendeiner anderen Person, ließ ihn nicht mehr los. Immerhin konnte er hören und sehen, er verstand sogar die Sprache mühelos, konnte sich von A nach B bewegen, obwohl ihm nicht klar war, wie dies eigentlich geschah. Zumindest aber nicht durch Gehen. Sein Wille genügte, ihn in schwebende Fortbewegung zu versetzen.

Wollte er das jemals? Marcel dachte an ein blindes, taubes Mädchen, welches in seiner Nachbarschaft gelebt hatte. Wenn sie sich bemerkbar machen wollte, strampelte sie mit den Beinen. Nicht zu strampeln hieß, sie hätte im Augenblick alles, was sie brauchte. Aber Marcel fühlte seine Beine nicht, als ob er keine hätte. Also hätte Strampeln nichts genützt, um sich verständlich zu machen.
Er versuchte, sich ihre Welt vorzustellen, die dunkel gewesen sein musste. Oder hatte ihre Fantasie die Finsternis überwunden und sie erhellt, belebt gemacht? Es musste eine Welt der Nähe gewesen sein, die dieses Mädchen erlebt hatte. Näher als jene, mit der er nun konfrontiert war.
Hätte er ein Instrument spielen können, überlegte Marcel, würde er eine Kombination aus verschiedenen Intervallen zu einem Buchstabencode erfinden und sich vielleicht mit einem Spielzeugklavier auf die Straße stellen. Er würde „He, du, kann ich mit dir reden?“ spielen oder so ähnlich. Man müsste nur jemanden dazu bringen, sein Geklimper verstehen zu machen.

Marcel stand nun ganz nah am Unfallort. Polizei und Helfer hasteten mal hierhin mal dahin. Einer sperrte das Gelände mit einem Plastikstreifen symbolisch vor dem Gedränge der Leute auf dem Trottoir ab, als sicherte er für sich und seine Mannschaft die alleinigen Nutzungsrechte auf diesem Katastrophenclaim.
Marcel trat artig hinter die Sperre, obwohl er auch davor nicht hätte gesehen werden können. Er tat, wie er es von damals gewohnt war, als die Stasi seinen Bruder auf der Flucht in den Westen, ganz knapp vor Erreichen der Mauer, erschossen hatte, und gleichfalls das Gelände ringsum absperrte, um die Gaffer nicht allzu nahe heranzulassen. Auch da war er hinter der Absperrung gestanden, kochend vor Wut, die Fäuste geballt in den Manteltaschen. Und um ein Haar wäre er damals so unvernünftig gewesen, einem Polizisten die Waffen zu entreißen und…

Die Tage vergingen. Marcel entdeckte, wenn am Morgen der Verkehr in Midtown begann, kaum angelaufen, war er auch schon nach kurzer Zeit bereits wieder zum Stillstand gekommen, dramatisch verbrämt durch den Lärm aus ohrenbetäubendem Gehupe und aufdringlichen Motorengeräuschen. Verzweifelte, die versuchten, die verlorene Zeit wieder aufzuholen, indem sie sich in waghalsige Abkürzungen stürzten, wurden in ihren aussichtslosen Bemühungen jäh gestoppt, als auch die Nebenstraßen ihr dicht geschlossenes Autochaos präsentierten.
Dieser Zustand übertrieben bienenartiger Emsigkeit spiegelte das Ergebnis einer Lebensweise der letzten Jahrzehnte, in denen man ausschließlich darum bemüht war, die linken Gehirnhälften zu trainieren, Leistung zu erbringen und es zu schaffen, in einer Gesellschaft bestehen zu können, die ausschließlich auf Erfolg ausgerichtet war, während die rechten Hirnhälften zusehends zu verkümmern drohten, welche die Emotionen bargen, wie auch die Fähigkeiten zur Empathie, Verantwortung und des moralischen Bewusstseins.
Unter diesen Bedingungen hatte der Leidensdruck der Massen ungeheuer zugenommen, Politik war an einem kaum mehr zu unterbietenden Niveau angelangt und längst nicht mehr in der Lage, den Schwächsten und Schwachen zu helfen, wie er überall feststellen musste. Ein Umschwung war nicht in naher Sicht, ein Sich-Zurückziehen aus der Überfrachtung nicht möglich.
Skrupellose Manager verschleuderten indes Milliarden, die ihnen nicht gehörten, in Projekte, die keiner brauchte. Arbeitgeber schikanierten ihre Angestellten und setzten sie unter Druck. Sie trieben sie in die Enge und damit in die innere Emigration. So war man einsam geworden unter Millionen anderen.
Und die amerikanische Mission? Frieden bringen, wenn er im eigenen Land selbst nur schwer zustande zu bringen war? Von hier aus flossen stets ungeheure Impulse westlicher Ideologie als auch eine gewisse Arroganz in die ganze Welt und bestimmten den Herzrhythmus globalen Bewusstseins. Anstelle der Arroganz wären besser Diplomatie und Verständnis für die unterschiedliche Entwicklung der Völker getreten, dachte Marcel.

Wieder einmal war Marcel als blinder Subway-Passagier ein paar Stationen weiter mit dem Menschenstrom zum Ausgang Central Park mitgeschwommen und immer noch überwältigte ihn die Skyline der Hochhäuser jenseits der Grünflächen, wenn er zu ihnen hochblickte.
„Don´t follow any street, when it turns into bad“, erinnerte er sich der Worte eines Fremdenführers. Aber sie galten nicht für ihn. Für kurze Zeit vermeinte er den Swing von Gershwin-Sound zu hören, als ob man sich in einem Woody-Allen-Film befände.
Unglaublich sanft die Grenzlinien dieses Parks im Verhältnis zur straffen, eckigen Architektur rundum. Ein paar Rollerblade-Läufer, eine junge Frau mit Kinderwagen, ein paar Dunkelhäutige, die Rugby spielten. Ein Ort zum Nachdenken, zum Durchatmen, wer sich vom Wahnsinn der Straßen hier herein absichtlich oder unabsichtlich verlaufen hatte.

Den Central-Park lieben setzte voraus, ihn in- und auswendig zu kennen. „Kevin allein in New York“ war zu wenig, dachte Marcel und erinnerte sich daran, seiner Enkelin Jana versprochen zu haben, ihr gleich nach seiner Ankunft eine Ansichtskarte zu schreiben. Nun war ihm auch das unmöglich geworden. Stattdessen verbrachte er seine Zeit im Park, im Central-Park, dieser Laube für Verliebte, Safe nervöser Dealer, Trainingslager des Volkes für Jogger, Baseball-Spieler und Rollerblade-Fahrer.
Dann wieder Mittagszeit in Manhattan. Wie auf Kommando erbrachen die Häuser Menschen aus ihren Pforten, Drehtüren und Toren, als wollten sie im Zustand überreizter Übelkeit plötzlich alle auf einmal loswerden. Mittagszeit, Zeit, Luft zu holen. Zeit, für eine knappe Stunde Mensch sein zu dürfen, akustisch dramatisiert durch das Sirenengeheul zahlloser Einsatzfahrzeuge.
An der Ecke wickelte ein Dealer seine Geschäfte ab. Niemand schien sich dafür zu interessieren. Gegenüber Latinos, die gefälschte Rolex-Uhren verkauften und unruhig nach links und rechts blickten. Einer von ihnen begann plötzlich, sein Zeug hastig zusammenzupacken. Kurz darauf rannte er die Straße hinunter. Hinter ihm zwei Cops mit dunklen Sonnenbrillen.

Wenn es wieder Abend wurde, war man vom Lichtermeer am Times Square geblendet. Wie diese Stadt dröhnte, strahlte und vor unsichtbarer Energie, die nie zu Ende gehen schien, pulsierte! Hierher hätte man kommen müssen, als man jung war, als man noch verliebt war, dachte Marcel. Mein Gott, die Liebe! „Wanna get laid?“, pflegte man hier so ganz locker zu sagen, wenn zwischen den Geschlechtern was abging. Wanna get laid! Überall klebten kleine Logos mit der Aufschrift „I love N.Y.“, an Postkästen, an Autohecks, an Auslagenscheiben und Parkbänken.

Empire State Building war verpflichtend. Marcel war schon so oft da gewesen, auch an einem Sonntag. Gut erkennbar am nichtabreißenwollenden Touristenstrom. Am Sonntag hatte King-Kong Dienst. Immer dann, wenn sich die Schiebetüren am obersten Aufzug öffneten, sprang plötzlich ein als überdimensionaler schwarzer Gorilla verkleideter Mann mit lautem Gebrüll vor die zu Tode erschrockenen Leute, die eben im Begriff waren, den Lift zu verlassen. Einmal beobachtete Marcel, wie eine zierliche Japanerin vor Schreck in Ohnmacht fiel.
Vom obersten Stockwerk aus hatte man eine umwerfende Aussicht auf Manhattan. Wandte man den Blick den dunklen Abgründen darunter zu, konnte man die aufgespannten Netze sehen, welche Selbstmörder noch in letzter Minute vor ihrem Unheil bewahren sollten. Schlimm genug, wer in diese Luftschaukel fiel, wie ein Fisch im Fangnetz strampelnd, um dann in aufwendigen Rettungsaktionen geborgen zu werden. Bestaunt von der gaffenden Menge da oben und unter dem Beschuss Hunderter Fotoapparate. Aber die Netze hielten dem jähen Fall nicht immer stand und so klatschten hin und wieder einige nach dem freien Fall von gut vierhundert Metern unten am Gehsteig auf, flachgedrückt wie Flundern. Man konnte von Glück reden, wenn dabei niemand getroffen wurde.

Seine Blicke fielen auf Fetzen einer New York Times, vor ihm am Boden liegend. Er überflog die Überschrift. Der siebte November. Er überlegte. Er war am sechsten von Frankfurt weggeflogen. Unmöglich. Konnte es sein…? Der obere Teil des Textes hatte arg gelitten, da er in einer kleinen Pfütze aus Regenwasser gelegen war. Alles, was noch zu lesen war, schien die Schlagzeile zu sein und ein paar Zeilenfragmente. Oder doch! Dort, dieses Stück konnte noch dazugehören. In völliger Ruhe, als ob es die natürlichste Sache der Welt gewesen wäre, buchstabierte Marcel den lückenhaften Text: „… die Mitternachtsmaschine aus Frankfurt a. Main, die Ortszeit um 16 Uhr in New York J. F. Kennedy hätte landen sollen, meldete um 15 Uhr 52 den Totalausfall beider Triebwerke. Im Sinkflug gelang es dem Piloten gerade noch, den Crash über dem Stadtgebiet zu verhindern, um kurz darauf im …“ Hier fehlte abermals ein Stück Papier. Die letzten Stellen des Textes lauteten: „… wobei die Notwasserung zwar geglückt war, die Maschine aber auseinandergebrochen und binnen Sekunden in den Fluten …“ Damit endete der Text. Marcel starrte ins Nichts.
Gedankenfetzen: Er müsse sogleich schreiben, hatte ihn seine Enkelin Jana beschworen. Ja, er hätte gleich schreiben sollen, flüsterte Marcel noch, für niemanden hörbar. Und es wurde noch stiller um ihn, das Licht noch schwächer. Im selben Augenblick dachte er noch einmal an die Mauer, und daran, wie er sich gefreut hatte, als sie endlich gefallen war. Das wäre ja vorauszusehen gewesen. Aber nun war alles ganz anders gekommen. Er ahnte, als hätte für ihn eine Art letzte große Freiheit begonnen!
Marcel hätte tief durchatmen wollen, aber es war physisch nicht vonnöten. Also richtete er sich auf und betrachtete lange den grünen Streifen des Central-Parks am Horizont. Es würde alles gut sein hier. Die alten Wunden würden verschorfen, neue nicht geschlagen werden.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15077

Amsterdam oder Der Vorteil, Clowns als Eltern zu haben

Gott sei Dank sind seine Eltern Clowns, dachte ich, als das Gras näher kam. Es berührte mein Gesicht, kalt, ein bisschen nass, hoffentlich nicht von dem Erbrochenen. Nein, nur nass. Wenn sie nämlich keine Clowns wären, hätten sie das bestimmt ein bisschen ernster genommen. Das war das, was mir dann in den nächsten Tagen einfiel. Die eigene Mutter anzurufen und ihr zu sagen, dass man glaube, man müsse sterben, muss um einiges einfacher sein, wenn man Clowns als Eltern hat. Glücklicherweise hatte sie auch schon mit diversen Substanzen experimentiert und konnte ihn einigermaßen beruhigen. Beide hießen Thomas, im Übrigen. Also nicht die Mutter, sondern auch mein zweiter Freund, der das Glück hatte, an diesem denkwürdigen Tag ein Teil unserer kleinen Gruppe zu sein. Wir schafften es ins Zimmer, wo ich mich noch einmal übergab, was eigentlich komisch war, da ich bis dahin der einzige unserer Gruppe gewesen war, der noch ein bisschen Bezug zur Realität hatte.

„Jetzt sollten wir dann langsam etwas spüren“, sagte ich. Nach ungefähr einer Stunde, in der wir durch die Stadt gewandert, in den lustigen öffentlichen Toilettenhäuschen uriniert, Essen gekauft und die Kanäle bewundert hatten, beschlossen wir, uns an eben einem dieser Kanäle niederzulassen und zu essen. Das Essen war typisch für unsere Reise, Baguette mit Käse und Tomaten. Geschmacklich und preislich gut, auf Dauer aber ein bisschen einseitig. Die Kanäle hatten mir schon von Anfang an extrem gut gefallen. Vor allem aber auch die Häuser, die an beiden Seiten ebenjener Kanäle standen. So schmal und braun-rot und warm, fast zu schön, die der Stadt ebenjenes Gefühl von Intimität vermitteln, das sie so einzigartig macht. Das Familiäre eines Dorfes, mit den Touristen einer Großstadt. Überall würzig, freundliche Menschen, Wasser, teures Essen. Was will man mehr?

Da wir am Anfang unserer Reise standen, schmeckte das Baguette mit Käse und Tomaten noch. Und plötzlich fing Thomas an zu lachen. Also der blonde Thomas, dessen Eltern keine Clowns sind. Und wir stiegen in dieses Lachen ein und lachten eine Minute oder mehr. Währenddessen, obwohl kein Mensch an uns vorbeigegangen war, fiel mir auf, wie eigenartig dieses Lachen auf einen Außenstehenden wirken müsste und dieser Gedanke machte mir Angst. Und wie um diese Stimmung, die gerade so unverhofft von mir Besitz ergriffen hatte, noch zu verstärken, sagte Thomas: Bitte passt auf mich auf, mir geht’s nicht gut.

Mehr hatte es nicht gebraucht. Ich hob ab. Flog aus meinem Körper hinaus, wieder hinein, der Wind viel zu kalt, das Wasser zu nah, die Häuschen zu klein, zu rot, zu schön. Menschen, die sich hinter Autos versteckten, Straßenlaternen, die auf den ersten Blick wie Menschen aussahen, und ich flog. Leider gegen meinen Willen. Keine Ahnung, wie sich das anfühlen sollte. Das Unbekannte macht Angst; so wie immer. Jeder in seinem eigenen Universum, seinem Dschungel. Dagegen ankämpfen, vollkommen zwecklos, emotionaler Tunnelblick. Wir gingen zu Stiegen, auf denen Menschen saßen. Ein Mann, der vertrauenswürdig erschien, sagte uns: ruhig bleiben, viel Zucker essen, geh Cola kaufen. Selten habe ich mich in einem Supermarkt so unwohl gefühlt, die Gänge, das viel zu grelle Licht, Münzen zählen müssen, alle beobachten mich. Süßigkeiten halfen leider nicht wirklich. Und dann sagte Clown-Thomas, dass er glaube, sterben zu müssen. Seine ganze linke Seite strahle, sagte er. Und es schmerze unglaublich, vielleicht ein Herzinfarkt. Zwanzig Minuten später war die Rettung da; und Polizei auf Pferden. Ich beobachtete durch das Fenster, wie sie Thomas im Wagen untersuchten, während tausend Ameisen über meine Haut liefen. Oder in meiner Haut; und ich versuchte, sie wegzustreicheln, was nur bedingt von Erfolg gekrönt war. Währenddessen verkrampfte sich Thomas neben mir und knirschte mit den Zähnen. Wie soll ich ihren Eltern erklären, dass meine beiden besten Freunde tot sind, schoss mir durch den Kopf. Keine Ahnung. Das Gefühl, selbst gleich ohnmächtig zu werden und am nächsten Tag im Krankenhaus zu erwachen, wurde stärker. Mit  Thomas ist alles ok, sagen die Sanitäter. Kein Herzinfarkt. Plötzlich stand das Mercedes-Taxi vor uns. Ich verschmolz mit der Rückbank, kämpfte mit den Ameisen und als ich ausstieg, kam die Wiese sehr schnell näher und verschlang mich mit ihrer Nässe. Die ganze Welt drehte sich um mich. Oben und Unten tauschten ihren Platz, ich konnte mich nicht mehr halten. Gott sei Dank sind seine Eltern Clowns, dachte ich.

Als wir aus dem Zug ausstiegen, schien die Sonne. Verschwitzt von einer Nacht im Schlafabteil, hungrig, nicht ausgeschlafen. Die Stadt hatten wir schnell erkundet, so klein fühlte sie sich an, so intim. In einer Seitengasse rauchten wir, husteten aber die meiste Zeit. Und dann ließen wir uns an dem Fluss nieder und sahen auf die weiße Plastiktüte auf unserem Schoß. Eine weiße Plastiktüte als Versprechen eines Abenteuers, Gefühle, die man sonst nie erlebt, Freiheit, Wildnis, Traum. Ich sah mich um, blickte auf die Häuser, mit den roten Ziegeln, das Wasser. Sah Straßenlaternen und Menschen. Dann sah ich Thomas und Thomas an. Die Furcht vor dem Unbekannten wird überdeckt von der Vorfreude, wie eine schlecht übermalte Ziegelwand, hinter deren vordergründigem Weiß noch das Rot der Ziegel durchblitzt. Wir standen auf und gingen zu dem großen Supermarkt. Wir entschieden uns für Baguette mit Käse und Tomaten als Abendessen. Das war günstig und geschmacklich auch sehr in Ordnung. Als wir den Supermarkt verließen, beschlossen wir, zum Wasser zu gehen und dort zu essen. Die erste Aufregung war verschwunden, aber eine gewisse Anspannung war doch vorhanden. „Jetzt sollten wir dann langsam etwas spüren“, sagte ich.

Gott sei Dank sind seine Eltern Clowns, dachte ich. Thomas hatte seine Mutter angerufen. Als wir dann schon oben im Hotelzimmer waren und ich mich zum zweiten Mal übergeben hatte. Und er sagte ihr, dass er glaube, sterben zu müssen. Sie konnte ihn beruhigen, da sie auch schon mit diversen Substanzen experimentiert hatte. Die eigene Mutter anzurufen und ihr zu sagen, man glaube sterben zu müssen, muss um einiges einfacher sein, wenn man Clowns als Eltern hat. Das war das, was mir dann später einfiel.

Maximilian Eberharter

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15051

Das Schiff

Das Leben ist eine immerwährende Verwandlung. Dennoch besteht unser Hauptbemühen darin, den flüchtigen Augenblick festzuhalten und zu bewahren. Wir suchen Sicherheit gegenüber Veränderungen, die unweigerlich über uns hereinbrechen. Wie jämmerlich ist unsere Angst, wie überflüssig unsere Anstrengung, wie lächerlich unsere Hybris.
Verwandlung geschieht unmerklich und ständig, auch wenn wir die Augen davor verschließen und uns festhalten wollen am Bekannten und Sicheren.
Dabei ist die Fähigkeit zur Verwandlung unser größtes Geschenk. Nehmen wir es an, wird uns der Himmel zuteil, verweigern wir uns ihm, bleiben wir gefangen oder binden uns selbst die Fesseln. Wollen wir die Zeit nützen, machen wir uns zu Sklaven. Lernen wir, uns verwandeln zu lassen, werden wir frei.

In meiner Kindheit gab es eine entlegene Einöde, in der ein Mann lebte, der eines Tages damit begann, ein Schiff zu bauen. Man redete davon, wie verrückt es sei, an einem Hang, einem sanften Hügel im Bayrischen Wald ein Schiff zu bauen. Trotzdem ließ der Pionier sich nicht beirren und werkelte unverdrossen auf der Wiese neben seinem Haus. So entstand eine Arche. Das ging langsam vorwärts und zog sich jahrelang hin. Er muss Pläne studiert und Bücher gewälzt haben, um diese Idee in die Tat umsetzen zu können.
Lange habe ich nur davon gehört und mir das Wachsen dieses Schiffes in meinem Inneren ausgemalt. Es ergab sich keine Gelegenheit, es anzuschauen. Vielleicht wollte ich es auch gar nicht ansehen. Mir genügte das Bild, das ich davon im Kopf hatte. Davon ging so viel Kraft aus und es lebt bis heute in mir.

Ich stellte mir vor, im Bauch dieses Schiffes zu sein, als eine Passagierin im Zwischendeck. Im Deutschen Museum in München gibt es dazu eine eigene Abteilung, die meine diesbezügliche Vorstellung speiste. Ärmliche Familien, die nach Amerika auswandern und wochenlang darben. Ich bin an Bord und breche in die Neue Welt und ein neues Leben auf, voller Hoffnung, dem alten für immer zu entrinnen, sobald Manhattan am Horizont erscheint. Dabei gibt es keinen anheimelnderen Ort als den Bauch des Schiffes, der trotz der Enge, der Dunkelheit und des Dröhnens so viel Geborgenheit besitzt. Auch der Ozean erscheint mir nicht als Gefahr. Das Wasser schaukelt meist sanft, manchmal auch etwas fester, auf dass ich seekrank werde, aber das macht mir keine Angst. Das Schiff trägt mich über den Ozean und eigentlich will ich nie ankommen. Die Bilder der Neuen Welt können gar nicht so verlockend sein.

Einmal kam ich aber dann doch am Schiff auf der Wiese vorbei. Es war auch schon fast fertig und grau verschmiert. Ich wunderte mich über die Höhe des Rumpfes. Zum ersten Mal wurde mir klar, wie tief ein Schiff im Wasser liegt. Ich sah es auf der Wiese neben dem kleinen Wohnhaus stehen, festgezurrt, allzeit bereit zum Stapellauf. Dieses Bild hat sich eingeprägt. Ob es jemals zum fernen Meer gelangt ist, hab‘ ich nie mehr erfahren. Ich wollte es auch nie mehr wissen. Vielleicht steht es ja immer noch dort und wartet auf den rechten Augenblick. Was kann einem noch passieren, wenn man ein Schiff im Garten hat, wohlgemerkt ein seetaugliches.

Jahre später las ich den Leviathan von Joseph Roth und erinnerte mich wieder an das Schiff auf der abschüssigen Wiese. Der Korallenhändler Nissen Piczenik aus Progrody will nach Kanada auswandern, um dem Unglück zu entfliehen, aber es kommt zum Schiffbruch. Anstatt sich zu retten, folgt er dem Sog der Korallen, um neben dem Leviathan Frieden zu finden. Wie fix kann doch eine Idee werden, dass man der rufenden Stimme folgen muss, und sei es bis auf den Grund des Meeres. Auch den Schiffbauer aus dem Bayrischen Wald muss ein ähnlicher Ruf erreicht haben.

Insgeheim hoffe ich, dass der graue Rumpf unverändert auf der Wiese wartet, inzwischen schon verwittert und etwas morsch geworden. Das Schiff steht sicher da und kann keinen Passagier der Verlockung der Fluten aussetzen und dem Ruf der Meerestiefen. Und dann möchte ich wieder darin wohnen, losgelöst von der Zeit, im seligen Dämmern des Halbdunkels, ohne das geringste Bedürfnis, nach draußen zu gehen.
Einfach zu stehen, zu sitzen, zu liegen und zu horchen. Den anderen Sinnen bieten sich keine Reize. So höre ich auf ein Knacksen im Holz als Zeichen der Bewegung im Außen. Ein Klopfen macht mich neugierig und ich bewege mich in die Richtung, aus der es kommt. Vielleicht klopfe ich zurück, aber ich glaube eher nicht. Ich fühle mich ja nicht gefangen, sondern geborgen. Dann höre ich ein sanftes Rauschen, ein Wind streichelt die Außenwand. Die Umarmung ist auch innen zu spüren. Selbst ein Sturm kann dem Schiff nichts anhaben, er will nur auf sich aufmerksam machen. Es gibt die Bewegung im Außen, das darf man nicht vergessen.
Und nach dem Hauch sehne ich mich dann auch, so wie der Korallenhändler Nissen in Joseph Roths Geschichte sich nach dem Leviathan sehnt.

So kehre ich immer wieder mit meinen Gedanken zu dem Schiff auf der Wiese zurück und habe mich dort längst eingerichtet. Zu einem Stapellauf wird es wohl nie mehr kommen, der wird ja auch von niemandem mehr erwartet.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15006

Vom Stangl g’haut

Der alte Pauli ist auf Malta in den Armen seiner Geliebten verstorben, im Hotelbett, sagt die Moni, seine Tochter. Dabei hatte er schon auf dem Schiff so eine Ahnung gehabt, wie sein Gspusi später erzählte. „Wird’s mich doch jetzt nicht vom Stangl hau’n! Wer zahlt denn dann die Überführung?“ Solche Worte graben sich tief in die Erinnerung ein und bleiben in der Seele hocken und lassen sich nicht abschütteln und später martern sie einen und man wird sie nicht mehr los und es plagt einen das Gewissen. So ging es der Berti, die den Oberforstrat Pauli nach Malta begleitet hat. Sie hat ihn geliebt und war die Freude seines Alters. So sagt man wenigstens und redet sich schön, was eigentlich gar nicht schön ist. Sei’s drum. Die beiden fuhren gemeinsam nach Malta, um dort Urlaub zu machen, natürlich heimlich, inkognito, niemand durfte es wissen, denn zuhause wartete die Frau Pauli, und obwohl sie schon seit Jahren getrennt lebten, war sie doch eifersüchtig auf die Berti, die fette!
Prompt trat in der Nacht genau das ein, was nicht hätte eintreten sollen. Den alten Pauli ereilte ein Herzinfarkt. Er krampfte sich im fremden Bett zusammen und ahnte den Tod nahen. Die Berti stand ihm bei, so gut sie konnte. Sie war ihm wirklich nahe, wagte aber keinen Arzt zu rufen, damit die heimliche Reise nicht aufflöge. Lange, immer sollte sie sich deswegen Vorwürfe machen, bis die Vergesslichkeit des Alters sie davon eigentlich erlöste.
Schließlich half kein sanftes Streicheln der starken Stirn, die viele Jahrzehnte große Gedanken beherbergt hatte, und auch kein gutes Zureden mehr. Auch den Druck der Hand erwiderte er nicht mehr. Völlig reglos lag er da und es war vorbei mit dem alten Pauli. Es hatte ihn tatsächlich vom Stangl gehauen! Ausgerechnet auf Malta hat der Herrgott ihn den Lebensatem aushauchen lassen. Im Hotelbett ist er abberufen worden, mitten aus dem Leben, unerwartet, überraschend, plötzlich, grausam für die Berti, die überhaupt nicht mehr wusste, was zu tun sei. Die neben ihm saß und ihm nicht helfen konnte, die aber auch die Schmach und Schande der illegitimen Beziehung, die nun öffentlich werden würde, erwartete und über sich hereinbrechen sah.

Nachdem sie genug geweint hatte über den geliebten Toten und über ihre eigene missliche Lage, fasste sie sich doch ein Herz und tätigte die notwendigen Anrufe. Es wird nun alles rauskommen und alle werden ihr die Schuld geben, aber was hilft’s. So ist zunächst die Strafrede der Frau Pauli über sie hereingebrochen, die sie aufs Übelste beschimpfte und ihr jegliche Ehre absprach. Dem Arzt musste sie bei der Totenschau das entwürdigende Geständnis machen – nein, sie sei nicht die Ehefrau.  Auch die Kondolenzworte des Hoteldirektors verlangten nach einer Richtigstellung. Die scheinheilig-überraschten Blicke musste sie ertragen und gut vernehmbares Tuscheln hinter ihrem Rücken. Das war die Vorbereitung auf die Beerdigung, das wusste sie. – Nicht einmal die kurze Freude mit dem Pauli, diesem g‘standenen Mannsbild, war ihr vergönnt gewesen. Jetzt musste sie so bitter dafür bezahlen. Schließlich organisierte sie die Überführung, nahm stumm Abschied, packte überstürzt und nahm das nächste Schiff.

Unterdessen kümmerte sich die Frau Pauli um die Beerdigung im oberbayrischen Faistenhaar. Zuerst dachte sie, der Lump, der alte Depp, aber eigentlich war ihr doch das Herz recht schwer. Zu lange waren sie verheiratet gewesen, zu viel hatten sie gemeinsam erlebt. Zu oft hatten sie sich im Streit gezeigt, dass da immer noch eine gewaltige Spannung zwischen ihnen war. Ja, so ist das mit der Liebe!
Jetzt ging es aber darum, ihn anständig unter die Erde zu bringen, den Oberforstrat Pauli, ihren Mann und Vater ihrer Töchter. Es sollte eine schöne Beerdigung werden und alle sollten kommen und und und … Nun wollte doch tatsächlich auch die Berti kommen. Unterwürfig, kleinlaut brachte sie telefonisch diese Bitte vor, eine letzte Bitte, aber die Frau Pauli verstand jetzt überhaupt keinen Spaß mehr. Da hört sich doch wohl alles auf, dass sich die Leute am Grab auch noch das Maul zerreißen, so weit kommt’s noch. Schluss, aus, ich will nichts mehr davon hören. Schluss, Schluss! Und sie schnaubte noch und rang nach Atem, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. Diese Person schreckt ja vor gar nichts zurück, der ist wohl gar nichts heilig, nicht der Ehestand und nicht der Tod!

Der alte Pauli war inzwischen aufgebahrt in der Faistenhaarer Dorfkirche. Das stattliche, ja stolze Familiengrab war ausgehoben und erwartete den Neuankömmling. Bald würden goldene Lettern den schwarz geschliffenen Granit mit Namen, Titeln und Daten des lieben Verstorbenen zieren. Eine ehrenvolle Grabstelle, die lange die Erinnerung wachhalten würde. Der Oberforstrat erwartete wohlgerüstet mit Janker, Gamsbart am Hut und Haferlschuhen die Besucher. Stattlich war er beieinand‘ und es kamen viele, sehr viele, die sich von ihm verabschiedeten. Ein ganzer Bus treuer Freunde aus Simbach reiste zum Begräbnis an. Schließlich hatte er dort lange die Forstdienststelle geleitet und zwar hervorragend. Er war sehr beliebt gewesen. Jagdhornbläser gaben ihm das letzte Geleit, der Pfarrer hielt eine schöne Predigt, die Familie hatte sich einträchtig versammelt. Auch seine Schwester Mathild war gekommen, immer schon eine patente Person. Zur Überraschung der Trauergäste schleppte sie einen Sack mit sich, drängelte sich selbstbewusst durch die Menschenmenge und positionierte sich schließlich vor dem ausgehobenen Grab, in das der Sarg ihres Bruders eben hinabgelassen worden war. Raschelnd öffnete sie den Sack und holte eine Schaufel voll Erde hervor, die sie in die Grube fallen ließ. Es war Erde vom heimatlichen Hof, wo sie zusammen mit vier weiteren Geschwistern aufgewachsen waren. Dumpf schlug die schwere Erde auf, und die Mathild sagte: Das ist von mir, deiner Schwester Mathild! Hörst mich? Diese Geste wiederholte sie noch viermal. Stellvertretend für die anderen Geschwister gab sie dem Bruder je eine Schaufel voll Heimaterde mit auf den Weg. Auf die Trauergemeinde nahm die Mathild keine Rücksicht. Sie sah und hörte nichts, sondern war mit ihrem Bruder ganz alleine und sagte immer wieder: Hörst mich? Als sie fertig war, bahnte sie sich wieder ihren Weg durch die Menge und stellte sich schweigend zur Verwandtschaft.  Alle waren gekommen, wirklich alle. Frau Pauli erfüllte es mit Stolz, wenn sie in die Runde blickte und die große Trauergemeinde sah. Er war halt doch ein besonderer Mann gewesen, der Pauli, ein Mann, auf den man zu Recht stolz sein konnte, erst recht jetzt. Wie unwichtig erschienen ihr nun die Kleinigkeiten, die in den letzten Jahren die Ursachen für Streitereien gewesenen waren. Es wurde ihr wieder bewusst, wie schneidig er gewesen war, früher, … und was war er für ein toller Musikant gewesen, eine Stimmung hat er in jede Gesellschaft gebracht, alle haben ihm schöne Augen gemacht, aber sie hat er geheiratet.

Zuletzt hatte die Frau Pauli doch noch der Berti erlaubt, auch ans Grab zu kommen und Abschied zu nehmen. Das war jetzt auch schon egal. Sollten sich doch alle das Maul zerreißen! Er ist ja doch als ihr Mann gestorben. Sei’s drum! Die Berti hat sich nicht  aufschauen getraut, sie hat sich dazwischengeschoben und ganz klein gemacht. Ja, so geht’s einem als Gspusi, aber geliebt hatte sie ihn doch und sie schämte sich auch nicht dafür.
So hat man den alten Pauli mit allen Ehren unter die Erde gebracht und nachher ging man in die Wirtschaft zum Leichentrunk und man hat sich nicht lumpen lassen. Und nach einem guten Essen und einigen Schnäpsen ist die Gesellschaft lustig geworden und hat alte Geschichten aufleben lassen. Dann kam es fast schon wieder zu Unstimmigkeiten und man ging lieber schnell heim, bevor man noch heftig widersprechen hätte müssen und bevor es vielleicht doch noch zum Streit gekommen wäre. Nicht heute.

Das alles hat mir die Moni erzählt, die ich im Lehrerreferendariat kennengelernt habe. Damals hat sie sich lapidar mit den Worten vorgestellt: Ich bin die jüngste von fünf Schwestern. Was mir vor Neid und Bewunderung den Mund offenstehen ließ und den Seminarvorstand zu der Floskel verleitete: So wurde der Wunsch nach einem Sohn der Vater vieler Töchter. Nun ist ihr Vater, der alte Pauli, wie sie sagt, tot.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15002

Haarig oder Wie ich der Provinz entfloh

Oed. Oed bei Amstetten. Halbzeit. Ich sitze in meinem Ford Escort Baujahr 1975, der Motor auf Hochtouren, Rücksitz und Kofferraum prall gefüllt mit meinem wichtigsten Hab und Gut. Ich heiße Ferdinand, meine Freunde nennen mich Ferdl, und bin am Weg in die Hauptstadt. Die ungeliebte Hauptstadt – die Stadt der Raunzer, der arroganten Schnösel und die Stadt in der sich auch das Parlament befindet. Dort, wo wiederum schnöselige Raunzer über das Wohl des Landes bestimmen. Das Wohl, über das sich die Leute gerne und bei jeder Gelegenheit beschweren (die Österreicher sind ja bekanntlich Weltmeister im Raunzen und Beschweren) und sich sehr wohl in ihrem Wohl scheinbar äußerst unwohl fühlen.

Zurück zur A1, kurz nach Oed, in meinen geliebten knallroten Ford Escort – liebevoll auch „Gock“ genannt. Die Kassette im Autoradio leiert, und die ohnehin schon gezerrten und gedehnten Vokale von Liam Gallagher kommen dem Original noch näher – dem Walross und den ewigen Erdbeerfeldern: „I’d like to be somebody eeelse …“ Psychedelic pur.

Ich habe mich dazu entschlossen meine Heimat zu verlassen – ein in der tiefsten oberösterreichischen Provinz liegendes Dorf, wo ich meine ersten zwanzig Lebensjahre verbracht habe. Jeden Baum und jeden Stein kenne und jedes Traktorgeräusch auf Anhieb identifizieren kann. Aufgewachsen auf einem kleinen, idyllischen Bio-Bauernhof, im Stall eine Handvoll Kühe, ebenso viele Kälber und eine Ziege. Ringsherum grüne, saftige Wiesen, diverse Obstbäume, ein Stück Wald und ein dahinplätschernder Bach. Und ein kleines Dinkelfeld, wovon meine Mutter mithilfe einer kleinen Mühle Dinkelmehl mahlt und ab Hof verkauft. „Liebhaberei“ nennen das die Großbauern des Ortes abschätzig. Die politisch tiefschwarz eingefärbten mit ihren grünen, roten und manchmal auch blauen Traktoren. Und deren Viecher keine Namen, sondern Nummern tragen.

Der Grund meines Umzugs in die Hauptstadt ist, nun, nennen wir es „Berufsumorientierung“. Ich werde auf einem privaten College einen Lehrgang für Tontechnik besuchen, ja eigentlich zwei – den des Tonassistenten und anschließend den „Audio Engineer“. Danach sollte ich fähig sein, die bunten Knöpfe eines Mischpultes zu unterscheiden, und darüber hinaus natürlich noch mehr. Der Traum vom eigenen Studio, oder ein Job als Livemischer in einem etablierten Club – was es auch immer sein wird, die Entscheidung ist die einzig richtige. An die grantelnden Bewohner der Hauptstadt werde ich mich schon gewöhnen.
Im Dorf versteht natürlich niemand diesen Schritt: „In das graue, kalte und laute Wien will der Ferdl. Na das wird er sich bald anders überlegen.“
Aber der Ferdl ist Musiker, allerdings erfolglos. Und da muss sich was daran ändern.
Wobei es natürlich auch immer darauf ankommt, wie man Erfolg definiert, oder wer ihn definiert. Natürlich spiele ich regelmäßig Konzerte mit meiner Band, und die sind eigentlich auch ganz gut besucht. Allerdings sehe ich meist dieselben Gesichter vor mir – Freunde, Bekannte, manchmal auch Verwandte.
Und natürlich wird nach einem absolvierten Konzert auf die Schulter geklopft: „War mal wieder so richtig geil heut!“. Nein, war es natürlich nicht. Wahrscheinlich haben wir überhaupt noch nie ein „richtig geiles“ Konzert gespielt, nicht mal annähernd geil. Im besten Fall würde ich es als durchschnittlich bezeichnen – also, mit im besten Fall sind da auch die besten Fälle gemeint. Manche Abende können dann auch besonders mies sein. Wenn in der Pause plötzlich fast alle Freunde abhauen, weil sie angeblich am nächsten Tag früh raus müssen. Verständlich.

Mein Talent auf der Gitarre beschränkt sich auf ganze viereinhalb Akkorde. Klar, ein Neil Young hat mit diesen Akkorden Welthits geschrieben. Ein Noel Gallagher ebenfalls. Der hatte allerdings einen gut aussehenden Bruder, der und vor allem auch dessen Stimme das gewisse Etwas hatte und zur gottgleichen Figur einer ganzen Generation wurde. Später, als sie nur mehr eine Kopie der Kopie veröffentlichten (die allerdings ursprünglich ohnehin schon nichts anderes als eine Kopie gewesen war), kamen wir uns näher. Gallagher der Ältere und ich. Auf songwriterischem Niveau. Ich würd‘ jetzt mal sagen, dass ein paar meiner Songs auf Augenhöhe mit Oasis-Songs der Spätphase mithalten können.
Gut, mit den B-Seiten vielleicht. Und die der Spätphase sind ja nun wirklich nicht mehr der Rede wert. Realistisch gesehen beziehungsweise gehört sind sie Schrott. Die B-Seiten der Gallaghers. Also somit auch meine besten Songs.

Meine musikalische „Karriere“ begann … in der katholischen Jugend. Wer in der bereits erwähnten tiefsten oberösterreichischen Provinz aufwächst, wird schnell vor schwierige lebenswichtige Entscheidungen gestellt:
Feuerwehr und/oder Musikkapelle, Feuerwehr und/oder Fußballverein, Musikkapelle und/oder Fußballverein …? Und zum Erwachsenseinwerden und der damit verbundenen Reifung gehört natürlich auch der Anschluss an die örtliche Jugendgemeinschaft, meist zeitgleich mit dem Beginn einer Lehre oder einer weiterbildenden höheren Schule.
In meinem Fall fiel die Wahl zwischen der Landjugend im Nachbarort oder der katholischen Jugend meiner Heimatgemeinde. Schlussendlich machte Letztere das Rennen, man muss schließlich wissen „wo man hingehört“.

Da ich ständig von meiner Heimatgemeinde erzähle, möchte ich diese auch kurz vorstellen:
Der besagte Ort (dessen Name ich aus privatsphärischen Gründen hier nicht nennen werde) liegt am Fuße des Hausruckwaldes, welcher die Grenze zum Innviertel bildet – dem Viertel, das sich durch einen etwas raueren Umgang auszeichnet und welches durch einen in Braunau am Inn geborenen Wahnsinnigen weltbekannt wurde.
Der Ortskern besteht aus einer etwas sehr überpräsenten Kirche, umgeben vom örtlichen Friedhof, einem Kirchenwirt, einem weiteren Wirt (für die Nichtkirchgänger, damit auch diese unter sich sind) und einer Tankstelle. Und einem Friseur, direkt am Kirchplatz.
Der „Url-Sepp“, wie er liebevoll von allen genannt wird. Erfinder des Trademark-Haarschnitts in unserem Ort: vorne kurz, hinten kurz, Ohren frei.
Ich hab mich seiner Tochter anvertraut – also, rein geschäftlich. Die schneidet mir hin und wieder nach Ladenschluss meine halblangen Haare.
Dem Vater vertraue ich nicht mehr, seitdem er mir ohne mein Einverständnis seinen Trademark-Haarschnitt verpasste, einen Tag bevor ich beim Fotografen in der benachbarten Marktgemeinde einen Termin für ein Passfoto hatte. Und dieser Fotograf es wiederum schaffte, mich so unvorteilhaft wie möglich aussehen zu lassen! Dieses Foto ziert seitdem meinen Führerschein, und ich schäme mich jedes Mal, wenn ich mich damit ausweisen muss.
Und dann noch unser Supermarkt. Aus insolvenzabhängigen Gründen wurde mehrmals der Besitzer gewechselt, zuletzt wurde der Laden um mehr als die Hälfte verkleinert. Die wichtigste Einrichtung ist die Fleischabteilung, damit das Arbeitervolk die tägliche Wurstsemmel bekommt. Und die gestapelten Bierkisten. Ein Kasten Bier soll angeblich der durchschnittliche Tagesvorrat eines Maurers sein, und davon gab es mehrere im Ort. Im Kühlregal genau eine einzige Packung Biomilch. Perfekt abgestimmt auf Angebot und Nachfrage.

Die politische Gesinnung im Ort ist PECH.RABEN.SCHWARZ. Die rote Opposition ist geradezu lächerlich, die blaue Fraktion besteht aus einer Handvoll Altnazis und Grün existiert nicht. Oder so gut wie nicht. Vielleicht ein oder zwei Ganzjahresstrickpulliträger mit verfilzten Rastalocken. Neuhippies, die sich in ein altes Haus am Waldesrand eingenistet haben, mit einem verbeulten VW-Bus rumkurven und tagein tagaus Hans Söllner hören.

Nun ja, wie gesagt: Hier in diesem idyllischen kleinen Ort begann meine Karriere. Als ich sechzehn war bekam ich von meiner Mutter zu Weihnachten eine Gitarre – natürlich eine Konzertgitarre, mit Nylonsaiten. Absolut uncool für einen 16-Jährigen. Deshalb landete die Gitarre erstmal auch in der Ecke, wo sie monatelang fast unberührt verweilte. Monate später verspürte ich plötzlich den Drang, schnellstmöglich die lebenswichtigen (und vorhin bereits erwähnten) paar Akkorde zu lernen, damit ich am Lagerfeuer mit dem Anspielen diverser Klassiker auftrumpfen und die Mädels unseres Dorfes beeindrucken konnte. G, D, C und E-Moll. Später dann auch E-Dur und A-Moll. Das reichte um die der Allgemeinheit bekannten Klassiker aufzuspielen: Fendrich, Ambros, STS und dann noch ein paar englischsprachige Schlager – Beatles, Dylan, Young. Und natürlich Reim, immer wieder Reim. Matthias Reim. Verdammt ich lieb dich. Die Mädels kreischen, die Jungs jaulen. Und ich war Gott. Für viereinhalb Minuten. Am Lagerfeuer.
Beeindruckt zeigte sich auch Herbert, ein in der katholischen Jugend sehr aktiver und ebenfalls musikalischer Schönling aus dem Nachbardorf. Herbert hatte Klavier gelernt, spielte aber auch Gitarre. Besser als ich. Er beherrschte sogar den Barrégriff und war mir somit um vieles voraus.
Herbert war auf der Suche nach Mitgliedern für eine Band, vor allem auch nach Gesangstalenten. Meine „Reimerei“ dürfte Eindruck hinterlassen haben: Eines Tages fragte er mich ob ich denn Lust hätte in die geplante Formation mit einzusteigen. Was für eine Frage – und wie ich Lust hatte! Eine Band!! Hier in der Provinz!! Waaahnsinn! DER Traumboy für alle Mädels!

Wenige Wochen später fanden wir uns wieder, im alten Saal des örtlichen Pfarrheims. Wir probten für unseren ersten Auftritt, eine rhythmische Messe mit einem sehr gewagten Programm, unter anderem bestehend aus Liedern von „Jesus Christ Superstar“ und „Hair“. Vor allem Letzteres hatte es uns angetan – „Let the Sunshine in“ entpuppte sich als unsere Hymne! Textlich so einfach, dass selbst die nicht der englischen Sprache mächtigen Einwohner mitsingen konnten: „Läät se sannschaain! Läät se sannschaain in!“

Nach dem erwartungsgemäß großen Erfolg unserer rhythmischen Messe (abgesehen von ein paar alteingesessenen, stockkonservativen Einwohnern, die irgendetwas von Hippies und „N-Wort“-Musik dahermurmelten) kam auch bald die erste Anfrage: Wir bekamen die große Ehre am jährlichen Dorffest aufzutreten! Da ging quasi ein kleiner Traum für mich und uns in Erfüllung. Selbst meine Mutter erzählte es jedem Menschen, dass ihr geliebter und musikalisch so begabter Junge mit seiner neuen Band am Dorffest auftreten wird. – „Na wie heißt denn die Band?“
Tja. Wie heißt denn die Band … ein großes und äußerst schnell zu lösendes Problem stand somit an. Schließlich musste auf den Plakaten der Name der neuen Local Heroes stehen.
Also fanden wir uns beim Kirchenwirt ein, um uns – neugierig von allen Seiten beobachtet – in der ersten, offiziell angesetzten Bandsitzung über einen Bandnamen Gedanken zu machen.
Sehr schnell war klar, dass er irgendetwas mit unserer Hymne zu tun haben musste. Irgendjemand schlug dann einfach „Haar“ als Bandnamen vor. „Haar“? Klar, warum nicht? Lag doch so nah.
Erste Zweifel kamen uns, als wir uns vorstellten, wie der prall gefüllte Raiffeisensaal im Nachbarort (dies war der nächste Step unseres Masterplans) nach unserer Hymne (die mit dem „Sannschain“) euphorisch und lautstark uns zurück auf die Bühne fordern würde: „Haar! Haar! Haar!“

Das klang einerseits nach Kater Karlos Lachen, andererseits auch nach gar nichts. Vor allem, wo doch in unseren Breitengraden das rollende R sehr stark verbreitet ist. Das kann man den Leuten doch nicht antun: „HaaRR! HaaRR!“. Da musste was anderes her.
Und so begannen wir alles Mögliche mit dem Haar zu kombinieren. Mein grenzgeniales „Haarität“ wurde leider abgelehnt, ebenso (und Gottseidank) auch das „Haaribo“ unseres Schlagzeugers Günter. Herbert konnte sich durchsetzen (klar, er war ja auch quasi Bandleader) und so wurde aus der eben noch namenlosen Gruppe die Band

HAARIG.

Sinnlos zu erwähnen, dass unser Auftritt am Dorffest zu einem überaus großen Erfolg wurde. Manche sprachen von einem Meilenstein, vor allem die Bandmitglieder. Dass die meisten Leute akustisch nichts verstehen konnten, weil unsere zusammengebastelte Anlage – kombiniert mit einem billigen blaufarbigen Mikrophon einer ebenso billigen Stereoanlage – nur brummte und jegliche Frequenzen oberhalb 1000 Hertz quasi gar nicht oder kaum vorhanden waren … nun, diesen Aspekt ignorierten wir einfach. Der erste Schritt zur Welteroberung war getan und wir genossen das omnipräsente Schulterklopfen der darauffolgenden Wochen.

Ein paar Monate später löste sich in einem Nachbarort die Konkurrenzband auf. Der Name der Band ist mir nicht hängengeblieben, ist auch völlig nebensächlich. Aus heutiger Sicht. Damals war das ein großes Ding – in etwa vergleichbar mit dem großen Britpop-Battle zwischen Oasis und Blur. Mindestens. Die Auftrittsmöglichkeiten waren in der Gegend äußerst rar, und unsere Konkurrenten hatten einen großen Trumpf im Ärmel: Sie verfügten über eine Anlage! Inklusive eines Mischpults mit vielen bunten Knöpfen. Ein Traum. Nachdem sich die Band auflöste, musste sie natürlich auch ihren Traum von Anlage verkaufen – und da waren wir am Zug! Überglücklich unterschrieben wir den Kaufvertrag, schleppten und luden die übergroßen Boxen in den Kleinbus von Herberts Vater. Dass uns unsere ehemaligen Konkurrenten gewaltig über den Tisch zogen, war uns damals nicht bewusst. Hauptsache, wir konnten ab sofort Konzerte geben, wo und wann immer wir wollten.
Und vor allem die Anlage für diverse Parties in der Umgebung verleihen, für eine lächerliche Leihgebühr eines unbeschränkten Getränkekonsums aller Bandmitglieder. Und ich bot mich auch noch gleich als DJ an – wiederum eine gute Gelegenheit Mädels zu beindrucken. Dachte ich zumindest.
Irgendwann hatte ich dann auch keine Lust mehr, ständig „Summer of 69“ und andere abgedroschene Gassenhauer aufzulegen. Ich dachte ja, ich könnte der Jugend der Provinz kulturtechnisch weiterhelfen und ihren Musikgeschmack prägen. Mit „Wonderwall“ klappte das noch einigermaßen, bei „Common People“ von Pulp stiegen sie schon alle aus. Forget it.

Von hier an nutzte ich das neue revolutionäre Medium Minidisc, um bereits im Vorfeld 74-minütige Playlists zu erstellen. Wünsche wurden kaum noch erfüllt, der DJ betrank sich währenddessen an der Bar oder hinter seinem Pult.

Einen Sommer später widmeten wir uns dem nächsten Meilenstein: Unsere erste Demokassette sollte entstehen!! In der Zwischenzeit hatte ich begonnen, mit meinen viereinhalb Akkorden Songs zu schreiben. Besser gesagt: Adaptionen von meinen Lieblingsbands – hier ein Schuss Lennon, da eine Prise McCartney, dort ein wenig Neil Young. Die Texte waren natürlich zutiefst tragische TeenageralltagsproblemOden. Generation X, mehr muss man wohl nicht sagen.
Im Nachbarort, einer stattlichen Marktgemeinde, gab es einen audiotechnisch versierten Typen, der sowohl über ein kleines Mehrspuraufnahmegerät als auch „richtig gute Studiomikros“ verfügte. Er borgte uns für ein paar Tage sein ganzes Equipment – Zeit genug, um eine 5-Track-Demokassette einzuspielen. Dachten wir zumindest.
Unser Schlagzeuger scheiterte gleich mal an der ersten Hürde – dem laufenden Metronom, in tontechnischen Kreisen schlicht und einfach „Click“ genannt. Und so eierte er sich erstmal einen halben Tag durch die Songs und fluchte was das Zeug hielt. Die hochsommerlichen Außentemperaturen trugen ebenfalls ihren Teil bei, und dass unser temporäres Studio – der ehemalige Proberaum der Musikkapelle, im ersten Stock des Feuerwehrhauses – auch noch südlich lag, machte die Situation ebenfalls nicht besser. Wir leerten literweise Eisteepackungen – abwechselnd Pfirsich und Zitrone.
Nach einer mühsamen Woche des Aufnehmens dann die Erkenntnis, dass der Weltruhm weiter in die Ferne gerückt war, kaum noch erkennbar am Horizont, denn Weltruhm hat in erster Linie auch mit Weltklasse zu tun, und von Weltklasse waren wir noch weit entfernt, und hier untertreibe ich sogar gewaltig. Abschließend übergaben wir das ADAT-Band (ein digitales Band, das aussieht wie eine VHS-Kassette) zum Abmischen der Songs an unseren Hobbytonmeister. Das große, erwartete Wunder passierte bei diesem Vorgang leider auch nicht und so blieb es bei einer, in erster Linie für die Bemusterung von Veranstaltern, reinen Demokassette.

Viel passiert ist dann allerdings auch nicht, aber zumindest wurden wir zu einem Bandcontest in die Hauptstadt geladen. Was heißt geladen – wir durften uns bewerben und gleichzeitig dem Veranstalter ein gewisses Kontingent an Karten abnehmen. Dem Bewerbungsbogen lag noch ein Informationsblatt bei, in dem teilnehmenden Bands vorgerechnet wurde, wie sie denn mit diesem Kontingent Geld machen konnten.
Nämlich indem sie die ohnehin schon viel zu teuren Tickets nochmals um den doppelten Preis an ihre Fans – also Freunde, deren Freunde und vielleicht nochmals deren Freunde – verkauften. Ein vollkommen dämliches System, mit dem diverse Clubs junge unerfahrene Bands ködern, um ihre Hütten an konzertfreien Tagen auszulasten und damit auch noch der Öffentlichkeit verkaufen, dass sie dabei die Nachwuchsmusikszene unterstützen!
Und auch wir waren so blöd und fielen drauf rein, und dachten noch dazu, wir hätten Chancen auf die zweite Runde und eventuell auch noch auf das Finale.
Nun, nachdem wir in dem Laden ankamen, die Belegschaft und auch die Juroren sahen – da wussten wir, dass die Konkurrenzbands bedeutend mehr Chancen hatten und wir mit unserem angloamerikanischen Alternativepop (so bezeichnete man seinerzeit die Art von Musik die wir machten – später änderte man ständig die Kategorien, obwohl sich die Musik kaum veränderte) völlig fehl am Platze waren. Das restliche Programm bestand nämlich ausschließlich aus Metalbands, wo langhaarige Typen in enormer Geschwindigkeit versuchten, möglichst viele Riffs und Töne auf ihren Sechs- und Viersaitern innerhalb einer Minute zu platzieren, während ihre Sänger grunzten und grölten, was das Zeug hielt und die Schlagzeuger auf ihre überdimensionalen Drumsets (wofür zum Teufel braucht man fünf oder sechs Toms?) einprügelten. Und die Nonstopdoppelbassdrumkickerei löste zudem beinahe Herzrhythmusstörungen aus.
Wie auch immer das passiert sein mag – wir landeten trotz allem auf dem zweiten Platz. Was zwar bedeutete, dass wir für die nächste Runde nicht nach Wien reisen durften, allerdings doch genügend Grund war, unseren „Erfolg“ feuchtfröhlich zu feiern.

Dies war das letzte musikalische Erfolgserlebnis, oder überhaupt Erlebnis der „haarigen“ Bande. Für unseren Schlagzeuger ist’s vorerst mal vorbei mit haarig, dem seine Haare wurden nämlich um einen beträchtlichen Teil gekürzt. Der trägt nun auch den Trademarkschnitt vom „Url-Sepp“, allerdings nicht freiwillig, sondern aufgrund einer Einladung zum Wehrdienst.
Herbert studiert seit ein paar Monaten in Graz, Hauptstadt der Steiermark, dem selbsternannten „grünen Herz Österreichs“. Die traditionellen Sonntagsproben fallen somit weg, da er früh genug die Reise antreten muss. Früher als eigentlich sein müsste. Die Steiermark und Oberösterreich trennt eine Gebirgskette, die man zwar bereits durchbrochen hatte und durch die diverse Tunnel führen. Die zu nutzen kostet allerdings Maut, und so entschlossen sich die armen Studenten, den Tunnel großräumig zu umfahren, um die in etwa hundert Schilling zu sparen. Dies kostet ihnen zwar zwei Stunden ihres Sonntags (und in schneereichen Monaten auch einiges an Nerven), für das ersparte Geld kann sich aber die gesamte Fahrgemeinschaft eine Runde Bier spendieren und das ist doch eindeutig ein wesentlicher Punkt, der für die Umfahrung spricht.

Und ich? Ich sitze in meinem knallroten Ford Escort, auf der A1 kurz nach Loosdorf, und frage mich gerade, wie ich denn ohne Stadtplan mein Ziel finden soll? Erstmal abwarten, wird schon werden.
Ich lasse St. Pölten hinter mir und durchquere anschließend zum ersten und mit Sicherheit nicht letzten Mal den Wienerwald.
Die leiernde Oasis-Kassette musste inzwischen dem Radio weichen, wegen Verkehrsfunk und so. Der seit kurzem zum reinen Formatradio mutierte größte Sender des Landes spielt die neue Single von Paul McCartney. Klingt wie Electric Light Orchestra für Arme, inklusive eines furchtbaren Gitarrensolos mittendrin. Warum schneidet denn dies bitte niemand raus? Normalerweise müssen doch Gitarrensoli immer daran glauben, wenn ein Song nicht ins Formatradioformat passt. Aber wer erwartet denn bitte von Herrn McCartney noch irgendwelche musikalischen Wundertaten? Nach dem Verbrechen im Zuge der Beatles-Anthology-Veröffentlichung, dem aufgepeppten Demo eines Songs von John Lennon, den dieser zu Recht niemals veröffentlicht hatte.
Während ich mich noch über dieses Stück Scheiße (welches uns der staatliche, also von Steuergeldern finanzierte Sender als einen der „größten Hits der 70er, 80er und 90er“ verkaufen möchte) ärgere, taucht vor mir die Ortstafel auf … W I E N. Here we are!
Ein paar hundert Meter weiter entdecke ich eine Tankstelle, gleich daneben ein hoffentlich rettendes Infoschild. Nachdem ich meinen Escort mit bleihaltiger Flüssigkeit gefüllt habe, wandere ich zur Infostelle, wo ich auch sogleich von einer freundlichen Dame begrüßt werde. Auf meine Frage drückt sie mir einen kleinen Stadtplan in die Hand, ein übergroßes Manner-Logo erklärt dann auch warum dieser gratis ist. Ich erfreue mich an meiner Errungenschaft, die Dame lächelt mir nochmal zu und wünscht einen „schönen Aufenthalt in Wien“.
Glücklich und zufrieden latsche ich zurück zum Auto. Die Sache mit den Vorurteilen werde ich wohl noch etwas überdenken müssen.

Bernhard Eder
Links: www.bernhardeder.net, Blog

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 14066

(Auf Wunsch des Autors wurde bei diesem Text auf manche Lektoratskorrektur verzichtet und der Text teilweise im Original belassen.)

 

 

Die Insel des Glücks, strahlend

In dem Moment, als mich der automatische Newsfeed meines Handys stumm vibrierend über den Beschluss Premierminister Abes, wieder in die Kernenergie einzusteigen, informiert, zerplatzt ein einsamer Regentropfen auf meiner Wange. Monoton tosend zerbricht Welle auf Welle an den Tetrapoden unter einem Himmel, so stählern grau, dass ich kaum noch den Horizont auszumachen vermag, vor mir nur fahle Weite.

Meine zu groß geratene Umhängetasche fest an mich drückend, immer mehr Schlagseite bekommend, stapfe ich zwischen den schneeweißen Containerreihen hindurch den staubigen Weg hinab, erst suchend, dann findend; einer der gleichförmigen Kästen mit zu wenig Fenstern, aber je einer Miniterrasse und einem Klimaanlagenquader beherbergt die Übergangswohnung meines Onkels und meiner Tante. Heiser ächzend bleibe ich an der Tür stehen, verschnaufe noch, als Tante Keiko mir schon zuvorkommt und ihr Gesicht sich lächelnd in mein Blickfeld schiebt. In ihren Zügen erkenne ich, wie lange wir einander schon nicht mehr gesehen haben, aber ihr Lachen und ihre Augen sind klar wie eh und je. Durch einen engen Gang, vorbei an winzigen Räumen, liebevoll vollgestopft, folge ich ihrer kleinen Gestalt, erschöpft auf ihre Fragen zur Anreise antwortend, ins Wohnzimmer.
Bis unter die Decke fast reichen die hölzernen Stellagen mit Pflanzen, unverkennbar Tantchens Handschrift, saftig grüne Blätter, Blüten in allen erdenklichen Farben und der Geruch von frischer Erde lassen mich beinahe wanken. Auch hier versteckt sich in mancher Ecke, auf Kästen und hinter dem Sofa ein Karton und entlarvt alles als Provisorium.
Inmitten all dessen hockt klein und etwas verloren, fast als wäre er ein Teil der aufgetürmten Einrichtung, in sich zusammengesunken Onkel Kenji am zeitungsbedeckten Wohnzimmertisch. Beinahe hätte ich ihn in diesem geordneten Chaos übersehen, blass und grau wirkt sein Gesicht auf mich im harten Kontrast zum leuchtenden Grün um ihn. Er lächelt müde und Goro, ein grauschwarzer Fellball auf seinem Schoß, hebt verschlafen den Kopf, das goldene Glöckchen um seinen Hals erklingt leise, er blickt mich aus kaum geöffneten, schlitzförmigen Augen prüfend an. Noch einmal ein helles Klingeln und Goro, der mich für ungefährlich befunden hat, schläft weiter.
Irgendwo am Weg muss Tantchen wie immer nach Tee gefragt haben, und ich habe wohl automatisch bejaht, denn völlig unvermittelt taucht sie nun wieder mit einem Tablett mit Tee und Keksen auf, ohne dass ich ihr Verschwinden davor überhaupt bemerkt habe. Behände schiebt sie einen Zeitungsberg auf dem Tisch mit der linken Hand zur Seite, stapelt auch noch zwei, drei vor Onkelchen liegende dünne Büchlein oben auf, bevor sie vor mir, Onkel Kenji und sich Tee und Kekse platziert, beiläufig ihm seine leere Keramiktasse aus der Hand nehmend, an die er sich bis jetzt geklammert hat. Als Tante Keiko sie zwischen mir und sich am Boden abstellt, rieche ich für einen kurzen Moment den scharfen Dunst von Sake.
Lange unterhalten wir uns, über dies und das, geflissentlich das eine, die letzten zwei Jahre beherrschende Thema umschiffend. Vieles wollen Tantchens muntere Augen wissen, wie es mir denn ergangen sei, in der langen Zeit, wie lang wohl genau?, seit unserem letzten Treffen und auch den anderen, zu lange schon konnte man einander nicht mehr sehen, sind wir uns einig, während Tante Keikos frischer Tee mich einmal mehr begeistert und ich nebenbei gedankenverloren an einem etwas zu süßen Keks knabbere. Hinter Onkel Kenji, der wenig spricht, mehr grummelt, dennoch stets lächelt und zustimmend nickt, wenn ihn mein oder Tantchens fragender Blick trifft, sehe ich durch die blitzblank geputzte Terrassentür, wie die Zeit vergeht. Der Weg, der auf der Rückseite des Containerhäuschens liegt, sieht jenem davor zum Verwechseln ähnlich und während es draußen immer später wird, queren nur zwei- oder dreimal andere Menschen, grau, langsam und bedächtig, den Boden fixierend als würden sie mühsam nach etwas Verlorenem suchen, mein schmales Blickrechteck.

Als auch Tante Keiko bemerkt, wie dunkel es bereits geworden ist und sich erhebt, um die unpassend hoch hängende Lampe über uns einzuschalten, werden die staubigen Pfade nur noch vom fahlen Licht einiger verstreuter kleiner Laternen erleuchtet. Sich für ihre Neugier, die uns so lange beschäftigt hielt, entschuldigend, verschwindet ihre zierliche Figur leise wippend schon bald darauf, noch während ich beteuere, dass dem doch so nicht sei, mit dem Versprechen eines warmen Abendessens in die enge Küche, mein Hilfsangebot sanft, aber doch entschieden ablehnend.
Während aus dem Nebenraum fröhliches Geklimper und allerlei Kochgeräusche zu uns dringen, fällt mir erst jetzt auf, dass der Fernseher hinter mir eingeschaltet ist und ein flackerndes Licht auf den Boden wirft. Onkel Kenjis gutmütiger Blick wandert immer wieder zum stumm flimmernden Kasten in der Zimmerecke, der ein Programm zeigt, dessen tieferer Sinn sich mir nicht wirklich erschließt. Viele lachende Gesichter, grotesk verzerrt traurige sind auch dabei, unruhig und quietschbunt ist das Bild, mit ein paar Gewinnern und noch viel mehr Verlierern, so scheint es und ich habe das Gefühl, dass der Fernseher es trotz seiner Tonlosigkeit schafft zu lärmen.
„Ausmachen?“, zieht Onkelchens ruhige Stimme meine Aufmerksamkeit auf sich. Abwehrend wende ich mich ihm wieder zu und versuche angestrengt, in meinem Gedächtnis ein Bild des früheren Onkel Kenji an die Oberfläche zu bewegen, um es mit dem vor mir sitzenden zu vergleichen. Ich bin überzeugt, ihn anders in Erinnerung gehabt zu haben, aber es fällt mir schwer, festzumachen, was sich verändert hat. Seine Kleidung wirft formlose Falten an ihn, wie an einen drahtigen Kleiderständer, schmaler scheint er, kleiner auch, in sich zusammengesackt, vielleicht einfach nur älter? Dann aber bleibt mein Blick an seinen Haaren hängen, oder besser gesagt, an dem schütteren, grauen Rest, der von dem noch übriggeblieben ist, woran meine Schwestern und ich uns als Kinder so oft festhielten, unter Onkelchens lachenden Schmerzbekundungen, als er uns auf den Schultern durch den riesigen Garten und das ganze stets nach frischen Tatamimatten und Holz riechende Haus trug. Sein Gesicht hellt sich auf, als er meine Gedanken errät, und uns scherzhaft die Schuld an seinem dünnen Haar in die Schuhe schiebt. Mit der Nase auf dem kalten Boden entschuldige ich mich, übertrieben ernsthaft, während Onkel Kenji belustigt auch noch dem Alter oder dem Stress eine Teilschuld aufbürdet. Mir aber schießt noch ein anderes begründendes Oder durch den Kopf, ein unaussprechliches, zusammen mit  Kriegsbildern namenlosen Grauens, doch ich schlucke es trotzig hinunter und zwinge ein hohles Lachen dazu, auf meinem Gesicht zu verharren.
Eine warme, würzig duftende Wolke weht zusammen mit Tante Keiko, um deren Beine nun auch Goro bettelnd tänzelt, und dem Abendessen aus der Küche zu uns. Bis spät abends noch sitzen wir beieinander, je später es wird, umso stiller werden wir Frauen, ernst und müde wird Tantchens Blick, schwerer auch die sorgfältigen Bewegungen, mit denen sie die Falten ihres schlichten Filzrockes glattstreicht, und umso gelöster wird Onkelchen, der mehr zu trinken scheint, als zu essen und trotzdem nüchtern klingt. Mit glänzenden Augen erzählt er von seinen Kühen, die er früher hatte, von deren Milch er lebte und seine Familie ernährte, von ihren lustigen Namen und all ihren Besonderheiten, vom unvergleichlichen Wohlgeschmack eigener, frischer Milch. Üppig war es nicht, das Leben, aber doch sehr glücklich, meint er versonnen zur Wand, hinter der ich die Vergangenheit vermute, und erzählt von all den Festtagsköstlichkeiten, die sie sich damals gerne gönnten. Ein nachgiebiges Lächeln schleicht über sein Gesicht, auch über Tantchens, kaum merklich, doch dann verfinstert sich sein verhangener Blick, wird hart, und Tante Keiko greift lautlos nach seiner dürren Hand. „Aber jetzt ist das vorbei“, schließt er, trinkt hastig den letzten Rest seines Glases aus, das dann überlaut in der Stille zwischen uns auf dem Tisch wieder aufsetzt, unsanft geweckt schaut auch Goro auf. Onkel Kenji starrt ins Leere, kurz nur, bevor er umständlich aufsteht, der Tisch, auf den er sich stützen muss, ächzt an seiner statt und schlurfend verschwindet er im Badezimmer, dem dunklen Flur Unverständliches zumurmelnd.
Bald darauf schlüpfe ich unter die dicke Decke auf meinem Sofabett und ahne jetzt schon, dass mir zu warm werden wird. Mein Kopf fühlt sich müde an, das Einschlafen aber fällt mir schwer. Bleich dringt mattes Licht von draußen herein und Tante Keikos Ersatzgrün wirft groteske Schatten an die bebilderten und doch kahlen Wände. Hinter geschlossenen Augenlidern taucht der verwirrte Ausdruck meiner Arbeitskollegin auf, die sehr überrascht war zu hören, wohin ich fahren würde, mehr noch, dass es solche Orte, Notunterkünfte, Übergangswohnungen, mehr als zwei Jahre nach dem Unglück immer noch gab. War denn nicht schon lange wieder alles gut und sauber, schien sie zu fragen, verräterische Mimik hinter ihrem Einwegkaffeebecherrand versteckend, nicht einmal dreihundert Kilometer entfernt, nicht als einzige.
Langsam sinke ich in einen wirren Schlaf, voll von verzerrten Erinnerungen an Tantchens Paradiesgarten, die steile Treppe in Großmütterchens Haus, die wir Kinder immer auf allen Vieren, oft um die Wette, erklommen und Onkelchens Kuhstall mit all seinem Muhen. Erst spät merke ich, dass ein Geräusch, unverwandt, leise erst, nach und nach alles übertönt, bis es ohrenbetäubend wird und mich aus meiner seichten Ruhe reißt.
Heiß ist es, stickig und schwarz. Wie die Trommeln des Jumanji-Spiels, die mich als Kind bis in den Schlaf verfolgt haben, war es nun ein bedrohliches Knarzen und Knattern, eigentlich Sicherheit bringen wollend, das aus dem Gedächtnis in meine Träume hineinschwappte. Die bleierne Stille danach lässt meine schlaftrunkenen Gedanken gegen wattierte Polsterwände, die Grenzen des Möglichen, rasen und stumm zu Boden fallen.

Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen treiben mich schon früh zu Tantchens morgendlichem Küchengeklimper, dessen sorgenvollem Verstummen ich bei meinem Eintreten sogleich seine Unschuld versichern muss. Während im Wasserglas munter eine Brausetablette auf und ab hüpft, sprudelnd immer mehr zerfallend, plätschert Tante Keikos Wegbeschreibung für meine heutige Fahrt in das friedliche Prickeln vor mir.
Später bin ich zu früh dran und muss warten, bis mein Leihwagen auch bereit für mich ist. Also vertrete ich mir etwas die Beine in dem, was nun denselben Namen trägt wie das Dorf, in dem ich früher so oft meine Sommer verbrachte, sorglos, in dem nie etwas zu passieren schien, und das dennoch ganz woanders liegt, eingemeindet in der Fremde, noch nicht einmal entfernt daran erinnernd, einer Pappkulisse nicht unähnlich. Während mein Blick am umzäunten Spielplatz eines Kindergartens hängenbleibt, frage ich mich, ob ein Ort nicht viel mehr durch seine Örtlichkeit bestimmt wird als durch seine letztendlich ja doch fluktuierende Bewohnerschaft, kann aber keine Antwort finden. In der sanften Frühlingssonne glänzen die metallenen Gerüste der leeren Schaukeln und Rutschen und die Mauer aus unzähligen, in hilfloser Ohnmacht aufgereihten Plastikflaschen voller Wasser am Rande des Spielplatzzaunes wirft flimmernde Lichtreflexionen in den Sand, wie zur Ablenkung vor dem, was sie schützend absorbieren soll, spielerisch tanzend, als hinter mit Buntpapierblumen und Seidenpapierschmetterlingen beklebten Fenstern lachendes Kinderstimmengewirr hervordringt. Ein Schwarm kleiner bunter Gestalten stürmt in den Garten, die mahnenden Rufe hinter sich, „Aber nicht zu lange!“, „Nicht mehr als zwanzig Minuten!“, kaum hörend. An jedem kleinen Hälschen baumelt ein kaltes Kettchen, dessen steriler Anhänger misst, ständig, Tag und Nacht, misst, was sich ja doch nicht abhalten lässt, wovon ein dürrer Arzt mit treuem Blick dann folgsam alle paar Monate besorgten Mütterohren erklärt, dass es völlig unbedenklich sei, auch wenn auf den stummen Mütterzungen tausend berechtigte Ängste liegen. Die Kinder aber wissen nichts von Grenzwerten und ihren angeordneten Erhöhungen, sie können nur vage erahnen, welche formlose Furcht hinter den Augen ihrer Mütter nistet und darum noch unbekümmert spielen und singen, mit klaren Stimmchen, fast so wie auch wir es taten, wenn auch mehr drinnen als draußen und unter ständigen Nicht-Hinweisen, „Kagome, Kagome, der Vogel im Käfig, wann nur, wann wird er hinauskönnen?“, schallt es durch das eingezäunte Gärtlein.

Gehorsam trägt mein kleines Gefährt mich durch zu leere Straßen, ausdruckslos nickt die kleine hölzerne Akabeko am Armaturenbrett meinen Gedanken zu, während aus blauem Himmel, wolkenlos, die Sonne herablächelt auf zu fröhliche Hinweisschilder mit den obligaten Lasst-uns-Aufforderungen. Zu viele flackernde rote Zahlen auf mattschwarzem Messgerätgrund, an zu vielen Ecken lauernd versuchen sie das Unberechenbare zu berechnen, lassen nicht vergessen, womit eingemauerte Asphaltplätze mit blauen und schwarzen Müllsackbergen unheimlich drohen, gleich wie malerisch die Blumen und Bäume auch blühen mögen, hier in dieser Präfektur, deren Name doch eigentlich „Insel des Glücks“ bedeutet. Jetzt aber scheint er nur noch Hohn zu sein, heute möchte niemand mehr die samtigen, rosafarbenen Pfirsiche und knackigen, grünen Bohnenschoten essen, von denen meine bunten Schulbücher mit grinsenden Figürchen mir noch beibrachten, dass die Region für sie berühmt sei, sie verrotten an den knorrigen Ästen, die sich unter ihrer betäubend süßlich riechenden Last krümmen. Ein Grauen jenseits des Begreiflichen hat hier alles durchdrungen und übrig bleibt nur eine bizarr schöne, fruchtbare Hülle des Früheren, von tief innen heraus verfaulend.
Bald schon lasse ich alle bekannten Wege hinter mir, folge den verschlungenen Routenempfehlungen von Onkel Kenjis Freund Naoto, auf Waldwegen, über Stock und Stein, um dorthin zu gelangen, wo man nicht hinzuwollen hat, in die Sperrzone, aus der nur Todesangst die Menschen trieb, viele, meist ältere, nur an ihren ebenso verseuchten Rand, tagein, tagaus hoffnungsvoll zurückblickend, der Furcht nur mit dem stummen Mut der Verzweiflung trotzend, an Orte verbannt, an denen sie noch nicht einmal sterben wollen. Tantchen hat mir von Herrn Naoto erzählt, mir Fotos von früher gezeigt, auf denen auch er, ein kleiner stämmiger Mann mit freundlichem Lachen und festem Blick, mit anderen Bauern des Dorfes zu sehen war. In dem, was manche für abgestumpfte Dummheit und andere für bewundernswerte Selbstlosigkeit halten, ist er dort geblieben, wo sonst keiner mehr bleiben konnte und beschloss, jene aus ihrem Leid zu retten, für die die hilflose Regierung nur sinnlosen Tod, Notschlachtung, als Erlösung verordnete. Er befreite und sammelte die lebenden Tiere um sich, begrub die toten, sah die Hölle in den Augen elend verhungernder Rinder, denen nicht mehr zu helfen war, eingesperrt in verlassenen Ställen, hörte ihre schwächer werdenden Rufe, durfte Wunder des Überlebens, musste aber auch vergeblich an ausgemergelten Eutern schon fast verendeter Muttertiere und zitzenähnlichen Seilen nuckelnde Kälber zwischen den Kadavern ihrer Artgenossen mitansehen.
Und so lebt er nun, umgeben von einem bunten Reigen verschiedenster Tiere, Rinder, Katzen, Hunde, Strauße, in einem strahlenden Garten Eden, verboten sind hier alle Früchte, nicht nur eine, untrinkbar auch das Wasser, drohend die Einsamkeit, ein Tantalos ohne Sünde.
Übergroß flankiert allerorts wuchernde Vegetation meine Fahrt über Straßen, die bald völlig intakt, bald ins Nichts führend einfach abbrechen, vorbei an früher ernährenden Äckern, in denen jetzt nutzlos gewordene Autowracks, zerdrückt und scheibenlos, ruhen. Kilometerweit ins Landesinnere gespült zerreißen die gestrandeten Überreste von größeren und kleineren Schiffen aus den Häfen entlang der Küste die Einöde um sich, bauen sich lautlos mahnend vor mir auf, surreal gegen jede Sinnhaftigkeit, auf freiem Feld, halb auf den zerplatzten Asphalt gestürzt, von der Witterung gezeichnete Zivilisationsskelette.
Später lasse ich mein Wägelchen stehen, will die letzte Strecke zu meinem Ziel zu Fuß zurücklegen, durch den Erinnerungsort so vieler Sommer meiner Kindheit, den Heimatort meiner Mutter und auch Tante Keikos, die als älteste der Schwestern hier geblieben war, die Eltern versorgend, den Hof mit den Kühen übernehmend. In manchen der Straßenzüge, durch die ich schweigend streiche, sind nur noch Ruinen der Gebäude übriggeblieben, kalt und leer starren sie mich an, den Verfall einrahmende Betonskulpturen, doch in anderen beschleicht mich für einen kurzen Moment sogar das Gefühl, nur ein etwas zu starker Wind wäre über das Dorf hinweggebraust. In den Schaufenstern der Bäckerei liegen die frischen Brote von vor zwei Jahren, bedeckt mit einem samtenen grünen Flaum, und ein zu Boden gerutschtes Schild, fein säuberlich mit Hand beschrieben, dekoriert mit getrockneten Blumen, bietet das Tagesangebot vom 11. März, drei Melonenbrötchen zum Preis von zweien, feil. Schutt und Scherben bedecken viele der Gehsteige, manche Schaufenster sind zerborsten, Hecken und Farne sprießen in ungekannte Höhen, aus aufgeplatzter Straßenhaut wuchert es grün, blühend um unbewegte Autos herum. An größeren Kreuzungen blinken verwaiste Ampeln in ihren Kabelnetzen ins Leere und in einigen Gärten entdecke ich die Körper einst geliebter Haustiere zu Fellumrissen und abgenagten Gerippen verkommen, das Glöckchen am Schulrucksack eines Kindes, ordentlich an die Wand der Veranda gestellt zurückgelassen, ausgebleicht von unbarmherziger Sonne, fleckig vom Regen, klingelt leise im Wind.
Vier Jahre zuvor hatte Onkel Kenji das Haus erst erneuert, viel Mühe und Arbeit, freilich auch Geld, in die Renovierung und die Erweiterung des Stalls gesteckt, in dessen Dunkelheit meine Schritte nun hohl verklingen und nicht einmal der Geruch mehr an seinen Zweck erinnert, kühl glänzen die Stahlverstrebungen im fahl einfallenden Tageslicht. Selbst nach dem Unglück wollte er nicht aufgeben, tat es nicht, erst, doch wer würde diese Milch noch kaufen wollen? Nach und nach musste er all seine geliebten Kühe schlachten, bis keine einzige mehr übrig geblieben war und auch er Grund und Willen zum Dableiben verloren hatte, sein Durchhalten, das er immer zu einer Tugend erklärt hatte, zur Macht, war zur Ohnmacht geworden. Auch Tantchens Garten ist jeder Form entwachsen, unablässig weiterblühend. Schwer nur lässt sich der kalte Schlüssel im Schloss drehen. Drinnen ist vieles genauso geblieben, wie ich es in Erinnerung hatte, im Wohnzimmer steht noch immer jener große Tisch, unter dessen wohlig warmer Kotatsudecke wir zum Neujahrsfest alle unsere Beine drängten, während Großmutter geduldig für all ihre Enkel Mikan schälte und Großvater, im Sitzen eingenickt, japsend schnarchte. Manches harrt abgedeckt der Wiederkehr seiner Besitzer, vergeblich wohl, und während ich zwischen unendlich vielen Erinnerungen nach jenen Dingen suche, die ich gebeten worden war mitzubringen, Kimonos meiner Mutter, Fotos meiner Familie, wächst die Stille um mich herum immer weiter an, bedrohlich ohrenbetäubend unerträglich werdend, und beinahe über meine eigenen Füße stolpernd haste ich abschiedslos zurück zu meinem Wagen.
Unter einem roten Himmel über schattigen Reisfeldrechtecken rase ich dem Schweigen der finsteren Nacht entgegen, bemerke selbst erst spät meine Anspannung, meine seit Stunden flache Atmung, wage nicht durchzuatmen, denn in dieser Welt ist der Schrecken geruchlos, er stinkt ebenso wenig wie Geld, nicht spürbar, unsichtbar und doch überall, in der Erde, den Wassern, den Winden. Er verbreitet sich wie ein Baum, der sprießt, in feinen und feinsten Verästelungen, wie auf Japanpapier ausgelaufene Tusche, immer weiter. In Ermangelung eines Endlagers haben wir unseren eigenen Lebensraum zum finalen Endlager gemacht.
Als ich die Containersiedlung wieder erreiche, proben deren ergraute Bewohner im harten Licht der Straßenlaternen, umringt von erbarmungsloser Schwärze, ein letztes Mal für das morgige Fest, singen mit müden Stimmen, tanzen mit schweren Gliedern und ich begreife, dass auch Traditionen von innen heraus verfaulen können.

Die Kühle der Morgendämmerung schleicht durch das geöffnete Fenster und lässt mich für einen Moment frösteln, als Tante Keiko mir hilft, den Kimono zu binden, bleiern lastet der traditionstrunkene Stoff auf meinen Schultern, während ich mein Haar kämme und der schwarze Ballen loser Haare, die ich aus der Bürste ziehe, in meiner linken Hand stetig anwächst.
Die Angst hat den Zeitplan der Schreinfeierlichkeiten gestrafft, sämtliche Stände mit Spielen oder duftenden Imbissen verbannt und so manches festlich gekleidete Gesicht hinter steriles Mundschutzweiß gezwungen. Die Prozession schreitet leise singend, der Kannushi und die Mikos voran, unter den Kirschbäumen der Tempelallee des alten Dorfes zum Schrein, dessen jahrhundertealter Grund, nun da er nur noch einmal im Jahr betreten wird, wohl noch heiliger geworden ist, zu Boden sinken Kirschblüten. Onkelchens Blick neben mir wirkt leer und ich muss an seine ausdruckslose Miene denken, als ich ihn zur Aufheiterung, kläglich scheiternd, aufgekratzt von Erinnerungen berichtend, nach seiner liebsten Erinnerung fragte. „Ich habe keine mehr“, antwortete er tonlos, nach bedrängender Pause, aus eingefallenen Zügen.
Der Kannushi leitet die Zeremonie, der scheppernde Klang der Tempelglocken unterbricht das blaue Meerestosen, aufgereiht zur Rechten und Linken des Altars verbeugen wir uns tief, klatschen zweimal in die hohle Stille, schließen die Augen, sollen beten, doch mein Kopf füllt sich mit grauem Nichts. Fromm versuche ich den Namen Gottes in das Nichts zu schieben, Kami, doch alles, woran ich denken kann, sind die formlosen Laute seines Namens, Ka, Mi, die in dieser Sprache so voller Homonyme, genauso Papier, geduldiges, Haare, in Büscheln ausfallende, oder Obrigkeiten wie die Regierung, den drei Äffchen aus Nikko so ähnlich, meinen können. Noch einmal verbeugen wir uns, das Verklingen der Tempelglocken dauert überlang.
Im bleichen Morgenlicht scheint auch Tantchens ernstes Gesicht ausgemergelt und die matte Vormittagssonne im Rücken, blasse, lange Schatten vor uns, kann auch ich verstehen, warum Vergessen Erlösung wäre, wie sie mir nachsichtig lächelnd, in nervöser Müdigkeit zittrig geworden, sorgsam jedes Pflänzchen gießend, anvertraute.

Der Wind, der zusammen mit der grauen Gischt in den kleinen Hafen gespült wird, ist beißend kalt und schmeckt salzig. Ich vergrabe meine eisigen Hände in den Taschen meiner viel zu dünnen Jacke, schon wieder gewachsenes Gepäck noch fester an mich pressend, beobachte ich das Treiben um mich. Gedrungene Männer verladen mit harten Gesichtern Kisten von einem gerade eingelaufenen Fischerboot an Land, bringen sie nach und nach unter das Vordach der kleinen, etwas heruntergekommenen Hafenhalle. Dort werden die Paletten einzeln gewogen, fangfrische Fische zappeln in ihnen, nach Leben schnappend, während die Arbeiter ausdruckskarg das Geschehen betrachten. Einer aber spürt meinen mitleidsvollen Stadtkindblick und seine verkniffenen Züge entspannen sich etwas, als er mich, eine bereits gewogene Kiste ergreifend, darüber aufklärt, dass diese Fische hier Glück hätten. Sie lägen ohnedies alle über den Grenzwerten, niemand wolle sie essen, auch wenn die Fischer dennoch von TEPCO je nach Gewicht für ihren Fang bezahlt würden.
Irgendwo in meinem Hinterkopf donnert Sisyphos‘ Felsbrocken zu Tale.
Ein mildes Lächeln spielt um seine schmalen, trockenen Lippen, in den klaren Augen etwas trotzige Trauer, als er die sich immer noch windenden Fische mit einem geübten Schwung wieder zurück in den trübe rauschenden Ozean kippt. Mit einem kräftigen Schlag ihrer farblosen Schwanzflossen verschwinden sie ins tiefe Grau.

Sarah Victoria Hoch

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Die Sonnenfinsternis vom Mittwoch, 11. August 1999, am Faaker See

Zunächst schien es, alles wäre vergebens gewesen. Das Buchen der Zimmer, die Anreise, der Kauf der Spezialbrillen, das Warten. Dann aber gab es Risse in den Wolken, die, anfangs tief­hängend, als wollten sie bald vom Himmel fallen, sich mehr und mehr darauf besannen, daß hoch oben ihr Platz war. Aus den Rissen wurden blaue Flecken, dann blieb die Sonne längere Zeit sichtbar und wärmte auf. Glaubte man zuerst, es handle sich vielleicht um eine boshafte Täuschung, um das Wecken falscher Hoffnungen, erkannte man bald mit Gewißheit, der Him­mel hatte ein Einsehen. Dabei wäre es in dieser Region gar nicht so wichtig gewesen, handelte es sich doch um eine Randzone der bevorstehenden totalen Sonnenfinsternis. Doch selbst hier wollten sich die Leute die einmalige Gelegenheit nicht entgehen lassen, Zeugen einiger Mi­nuten Verdunkelung zu werden.

Ich hatte anfangs, noch an diesem Morgen, noch am frühen Vormit­tag, gedacht, mich interessiere das nicht, sollen doch die anderen schauen, mit ihren Spezial­bril­len, die sie den Boulevard-Zeitungen entnommen haben. Ich doch nicht. Aber als es auf­klarte, als das tiefhängende, bauchige Grau sich zurückzog und immer mehr dem Blau des Himmels Platz machte, erwachte auch in mir Interesse. In der Nähe, östlich des Faaker Sees, lag der Tabor, ein Aussichtsberg über das Seegebiet, über die Wälder, die Karawanken im Sü­den. Ein Stück fuhr ich mit dem Auto hinauf, ließ es auf einem kleinen Parkplatz stehen und ging eine kurze steile Strecke zu Fuß. Dann erreichte ich die Restauration am höchsten Punkt.

Obwohl es noch einige Zeit bis zu dem seltenen Ereignis dauerte, waren schon viele Leute da und hatten sich die besten Plätze, die mit der besten Aussicht über die Landschaft und mit Blick in die Sonne, besetzt. Doch es war noch genug frei, sodaß ich einen günstigen Platz, vermeinte ich, fand. Es war noch Zeit. Die wollte ich zum Laben nützen. Nach einigen Minuten bekam ich das Gefühl, ich leide an Inkontinenz. Von meinem Gesäß strahlte eine unangenehme kalte Feuchtigkeit aus, die sich nach unten ausbreitete. Offenbar war die Holz­bank vom nächt­lichen Regen noch mit Nässe durchtränkt, und die Leute, die vor mir gekom­men waren, hatten die Sitzpolster in Besitz genommen und diesen Platz gemieden. Deshalb war er frei geblieben. Schlechter Laune warf ich der Kellnerin den untragbaren Zustand vor. Das junge, vergnügte Mädchen besorgte mir altem Grantscherm einen Polster, der meine Feuchte aufnahm und die nasse Kälte von mir fernhielt. Das hätte mich vielleicht aufgeheitert, doch die Tatsache, auf etwas Eßbares etwa eine halbe Stunde warten zu müssen, machte alles zunichte. Dann wurde ein Tisch frei, der schon längere Zeit der Sonne ausgesetzt gewesen war. Ich stürzte hin. Die Bank war trocken und warm. Ein Fortschritt.

Immer mehr Schaulus­tige, meist Touristen, wa­ren inzwischen gekommen, standen zum Teil am Geländer. Unten lag der See, grün durch die Spiegelung der ihn umgebenden Wälder in seinem Wasser. Im Süden erhoben sich die Kara­wanken, ungerührt von den Dingen, die kommen sollten, trotzig, archa­isch, schroff. Es kamen noch einige Leute, die keinen Platz mehr fanden und das be­vorstehende Ereignis im Stehen sehen wollten. Die meisten hatten Spezialbrillen mit, die eine gefahr­lose Sicht in die Sonne gewähren sollten, nur einige wenige begnügten sich damit, das was da kommen sollte, mit freiem Auge, ohne Blick in die Sonne, nur die Auswirkungen auf die Landschaft zu begutachten.

Dann be­gann das Ereignis. Bebrillte Gesichter ringsum. Nach und nach wurde das Tageslicht trüber, nicht so wie während der Dämmerung, wo die Sonne sicht­bar bleibt oder hinter Wolken ver­schwindet und die Lichtbrechung und der Einfallswinkel ihrer Strahlen und ihr langsames An­nähern an den Horizont für die Änderung der Lichtver­hältnisse verantwortlich sind. Jetzt aber schob sich der Mond, selbst für die Strahlen der Sonne undurchdringlich, vor sie, hier zwar nicht vollständig, nur partiell, aber immerhin ge­nug, um eine geheimnisvolle Dämmrigkeit ent­stehen zu lassen, eine fast bedrohlich wirkende Dunkelheit, die die Welt für die Zeit ihrer Dauer scheinbar verstummen und stillstehen ließ. Gewiß, die Schaulustigen ließen ihrer Begei­sterung freien Lauf, reichten ihre Brillen weiter, riefen sich gegenseitig ihre Eindrücke zu. Doch das Leben ringsum, das Getier, die Vögel ver­fielen für die wenigen Minuten der Dunkel­heit in Schweigen, und eine merkliche Abkühlung, noch deutlicher spürbar durch den leichten Wind hier oben auf dem Tabor, ließ fast frösteln und erahnen, was ein Verschwinden der Sonne, und sei es nur teilweise, und sei es nur für einige Minuten, ja Sekunden, nach sich zöge. Die Schatten verschwanden, über allem lag die­ses verdeckte dunkle Licht. Selbst die Segel­boote tief unten auf dem See schienen stillzuste­hen, selbst der Autoverkehr hielt inne, sogar die eiligen Lenker ließen sich das seltene Schau­spiel nicht entgehen.

Daß diese mystische Dunkel­heit, solange sie nicht erklärbar gewesen war, als von den Göttern stammend, als Strafe für menschliche Vergehen, als Androhung des Untergangs der Welt betrachtet und empfunden worden war, erschien angesichts des eigenen Erlebens äußerst verständlich. Unser heutiges Erleben erfolgt dagegen mit dem Hintergrund logischer wissenschaftlicher Begründungen und Erklärungen und beraubt das Ereignis seines Charakters als Wunder. Trotzdem wird nicht nur Nostradamus bemüht, und selbst Wissen­schaftler (ehemalige Wissenschaftler?) verfallen in Spekulation und reden den Menschen nach der Seele.

Dann merkte man, wie die Dunkelheit behutsam schwand, wie die Schatten wieder scharf und konturiert wurden, wie das Licht seine für diese Jah­reszeit gewöhnliche Beschaffenheit annahm, wie es warm, wie es schließlich heiß wurde. Die Segelboote setzten ihre Fahrt im Wind fort, die Badenden strömten ins Wasser, die Autos schlängelten sich unten durch die Orte, die Spezialbrillen wurden als Andenken einge­packt oder in den Abfalleimer geworfen. Die Tiere spürten, die kurzzeitige Änderung in der Natur war vorüber, es war heiß wie zuvor. Jetzt hieß es, lange Jahre, Jahrzehnte zu warten, bis die nächste Finsternis die Men­schen stau­nen lassen würde. Irgendwo auf der Erde aber kann man eine solche Finsternis er­leben, sie ist genau berechnet, zeitlich und örtlich, und die Rei­severanstalter bieten sie im Arrange­ment an. Und der vermeintliche Untergang der Welt kann erwartet und ersehnt wer­den. In einer Zeit rationaler Aufklärung scheint es notwendig, einfache Erklärungen mit Untergangs­visionen zu verbrämen, das macht die Ereignisse zu Wundern, gottgewollt oder vom Teufel inszeniert und den Menschen zur Warnung veranstaltet. Dann wird es finster durch die astro­nomische Stellung des Mondes und der Sonne, frostig und still. Für eine kurze Weile herrscht Schweigen.

Günther Androsch

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 14005

Volkers Fahrt

Ja, der Volker, mit dem ist es eine eigene Geschichte, ein Exkurs lohnt sich vermutlich, vielmehr hoffentlich.
Eigentlich wollte er ja gar nicht einsteigen, und ebenso eigentlich war das sein Hauptproblem. Immer alles offen lassen, Optionen sollen Möglichkeiten bleiben und keine Entscheidungen nach sich ziehen, wer also in einen Zug steigt, lässt einen anderen sein, auch einen, der vielleicht erst übermorgen kommen mag und der viel schöner, größer, ansprechender wäre als der jetzige.
So kann man auch das Leben verpassen, meint in großer Sorge seine Mutter. Das mit der Ilse lassen wir jetzt aber lieber. Oder wir kommen darauf zurück, falls die Schreibe auf die Folgen von Alkoholmissbrauch kommen soll(te).

Der Volker also sitzt in diesem vermaledeiten Zug, er fragt sich schon, was das soll, da betritt eine auffallend schöne, leicht verwirrt wirkende Frau das Großraumabteil, sofort bricht ein Blickgewitter über sie herein, sie entscheidet sich schließlich für einen Sitzplatz schräg gegenüber Volker. Dieser winkt den Zurückgelassenen müde aus dem Fenster zu und schon ruckelt es und der Zug fährt ab.
Er, der Schläfrige, sieht mit einigem Neid zu, wie sie ihr einziges Gepäckstück, ein recht großes Kopfkissen, an die Scheibe lehnt und erschöpft die Augen schließt.
Die hat recht, denkt er. Das, was sie gerade braucht, hat sie mit, mehr nicht, keinen unnötigen Ballast.
Er hingegen schleppt immer Unmengen an Möglichkeiten mit sich herum, gewappnet für Vorfälle, die sich nie ereignen mögen, einen monströsen Regenschirm am strahlendsten Frühlingstag hat er sich bis heute nicht verziehen.

Vielleicht hat er auch geschlummert, schwierig zu sagen, der Nacken schmerzt, irgendwie wird er schon einge(k)nickt sein.
Er reibt sich die Augen, die Schöne ist offenbar gerade erwacht, schüttelt sich ein kleines aufreizendes bisschen, streckt ihre langen Glieder und hat plötzlich ein Sandwich in der rechten Hand. Der Polster ist nirgendwo zu sehen.
Sie betrachtet das Brötchen und beißt schließlich mit Appetit hinein, was Volker daran erinnert, dass seine letzte Mahlzeit viele Stunden zurückliegt.

Auch ein Schluck zu trinken wäre gut, denkt er und macht sich auf die Suche nach einem Speisewagen. Die Suche bleibt erfolglos, so kehrt er schließlich um und stürzt fast, als der Zug in eine engere Kurve fährt, weil er damit beschäftigt ist, die Frau anzustarren.
Sie trinkt genüsslich aus einer Wasserflasche, die gekühlt zu sein scheint, wie die Kondenswassertropfen verraten.
Sie muss wohl schneller gewesen sein als er, und in der anderen Richtung erfolgreicher unterwegs.

Sie nach dem Speisewagen zu fragen, traut er sich nicht, diese Erscheinung jagt ihm Ehrfurcht oder gar Angst ein. So geht er in die andere Richtung, doch dort befinden sich außer halbleeren Wagons nur die Lokomotive und eine Toilette.
Hier spritzt er sich einige Hände kaltes Wasser ins Gesicht und atmet tief durch.

Wenig überrascht stellt er fest, dass ihr Platz leer ist, als er in das Abteil zurückkommt.

Es wird Zeit, auszusteigen.

Er sieht Ilse fast schon am Bahnsteig stehen, hört sie beinahe lachen und sagen, er hätte gleich auf sie hören sollen.
Ausgerechnet Ilse!

Carmen Rosina
Text veröffentlicht in: Die Zeitgenossin, Heft 8

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Ahoi.

Also das mit der Martina war sowieso die ärgste Geschichte. Acht Jahre war ich mit ihr zusammen, alle Höhen und Tiefen. Dann verlässt sie mich mit all ihren Sachen von heute auf morgen. Sie hätte endlich eine Wohnung gefunden und den Auszug schon ganz lange im Sinn gehabt, jetzt wäre die passende Gelegenheit und der ideale Tag. Sprach’s, packte ihre Sachen in ihren hellblauen VW-Käfer und fuhr davon. Bei mir natürlich Katzenjammer.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Martina bereits einen anderen. Einer ihrer Kollegen hatte es ihr angetan, der war allerdings verheiratet und der Prozess des Entscheidens gestaltete sich langwieriger als erwartet. Ich hatte auch meine Gespielinnen, doch Martina war mir noch wichtig und ihr ging’s anscheinend ähnlich mit mir. Nach einem Jahr trafen wir uns immer noch zum wöchentlichen Gedankenaustausch.

Dann kam mir die Idee mit dem gemeinsamen Segeltörn. Frauen, die bei solchen Plänen nicht Reißaus nehmen, sind rar gesät. Martina wollte ihrem neuen Freund gegenüber wohl so was wie ein deutliches Statement abgeben, was sie von seiner Zögerlichkeit hielt, und so geschah’s eines schönen Sommertages, dass meine Ex und ich in Poreč gemeinsam eine weißglänzende chice 14m-Yacht bestiegen und bei allerbestem Wind Richtung Rovinj ablegten.

In der Vergangenheit über Jahre ein eingespieltes Gespann beim Binnensegeln am Attersee, erwies sich das Teamwork mit Martina auf der Adria als tückisch. Bei nahezu perfekten Windbedingungen konnte ich mein Bedürfnis nach Abenteuer in Schräglage voll ausleben, so manch gewagte Wende ließ das Adrenalin nur so in meine Adern sprudeln. Die Abende mit Martina sollten die Reise krönen, mit einem Glas Rotwein kuschelig an Deck den Sonnenuntergang genießen, ja, so stellte ich mir das vor.

Am ersten Abend hatte ich mir noch nicht viel dabei gedacht, aber alle weiteren verliefen völlig ähnlich! Ich gebe ja zu, das Segeln selbst war schon recht aufregend, da ich ziemlich an meine Grenzen als Skipper ging. Okay, auch an die der Yacht. Und ja, ganz besonders an die meiner Segelpartnerin. Meine Manöver, wilden Halsen und extreme Schräglagen hatten ihr so zugesetzt, dass sie sich abends nach dem Essen aufs Sofa setzte, dabei aber (sitzend!) augenblicklich in komatösen Tiefschlaf fiel, aus dem sie erst am nächsten Morgen wieder erwachte. Mir blieb einzig, sie in eine bequeme Schlafposition zu bringen und freundschaftlich zuzudecken. Sonnenuntergang und Wein waren somit mir allein vorbehalten, der Romantikfaktor demgemäß bescheiden.

„Klar zum Wenden. Nimm die Fockschot von der Winsch.“

Mit der erwarteten Gefühlsdichte an Bord war es also nicht weit her. Aber das war noch nicht alles. Die Stimmung wurde von Tag zu Tag angespannter. Martina verweigerte, bei stürmischem Seegang aus der Kajüte an Deck zu kommen, wo doch jede Landratte weiß, dass genau dort das Schlingern am größten ist und vom Magen am schlechtesten toleriert wird. Um auf eine plötzliche Schlagseite des Bootes optimal zu reagieren, hätte sie außerdem im Luv an der Reling sitzen müssen. Bei ziemlich starken Wellen und extremer Krängung des Bootes saß diese Frau also eines Tages unter Deck und aß ein halbes Kilo Kirschen, um sich abzulenken, die Kerne spuckte sie in den Plastiksack zurück, der die Früchte vorher beinhaltet hatte. Davon hatte ich natürlich keine Ahnung, denn ich kämpfte währenddessen mit den wild gewordenen Elementen. Gar nicht so leicht für eine einzelne Person, eine Halse bei Starkwind durchzuführen, aber die Freude, das Bootsheck durch den Wind gehen zu lassen, übertraf die Ängste. Wir entfernten uns rasch vom Land.

So einen Sturm wollte ich nutzen, die Geschwindigkeit reizte mich, das gebe ich zu. Als Martina plötzlich den Kopf bei der Kajütentür hinausstreckte, war sie schon ganz grünlich-weiß im Gesicht. „Mir ist schlecht“, schrie sie mir durch die Gischt entgegen. „Komm an Deck, hier ist es besser!“, war meine Antwort, die ihren schreckensgeweiteten Augen entgegenschlug. Sie hatte meine Worte aber wegen des tosenden Windes offensichtlich nicht verstanden, denn sie zog sich wieder zurück. Gerade als ich entschied, klein beizugeben und die Segel zu reffen, die ärgsten Böen vorüberziehen zu lassen und damit die Situation zu entspannen, legte der Wind sich von selbst. Es wurde rasch ruhiger, ja, die Uhrzeit passte, die abendliche Flaute ging erfolgreich gegen den Sturm in Opposition.

Martina hatte sich unten in der Kabine inzwischen mehrfach in den Plastiksack mit den Kirschkernen übergeben und kam nun schwankend aber sichtlich befreit an Deck und lehnte sich erschöpft an die Backbord-Reling.

Der Wind war mittlerweile völlig abgeflaut. Zurück an Land würde uns also nur mehr der Motor bringen, den ich daraufhin startete. Eigentlich stümperhaft, denn ein guter Skipper sollte vor der Flaute mit Windkraft einfahren. Wir tuckerten also langsam vorwärts und ich konnte mich meiner blassen Partnerin widmen. Diese verknotete gerade den Plastiksack mit der roten Masse und schleuderte ihn kurz entschlossen ins Meer. Wohlgemerkt zielgenau vor den Bug platziert und wirklich mit Verve. Wir steuerten direkt darauf zu, setzten darüber hinweg, der Motor geriet ins Stottern und erstarb schließlich mit einem unangenehmen Röcheln.

Ich musste schlucken und hielt kurz die Luft an. Wir waren bei völliger Windstille und ohne Motor nahe gefährlicher Untiefen mit zerklüfteten, spitzen, teilweise aus dem Wasser ragenden Klippen unterwegs. Wobei „unterwegs“ jedenfalls übertrieben war, denn wir trieben unterdessen langsam dahin, ohne Einfluss auf unsere Fahrtrichtung nehmen zu können.

Ich entschied mich, zu tauchen und nach dem Motor zu sehen, das Meer war spiegelglatt, ich ging keine Gefahr ein. Meine Ahnung wurde prompt bestätigt, der weiße Plastiksack hatte sich mitsamt seiner unappetitlichen Füllung um den Schiffspropeller gewunden und den Motor abgewürgt. Erst nach eineinhalb Stunden gelang es mir, mit einem Stanley-Messer das Plastik von der Schraube zu schneiden und diese wieder freizulegen. Mit einer tiefen Schnittwunde an der linken Hand kletterte ich erschöpft aus dem Wasser.

Der Motor ließ sich nicht wieder starten.

Es wurde bereits dämmrig, die Yacht war den Felsen gefährlich nahe gekommen und ich ernsthaft kurz davor, über Funk ein „Mayday“ abzusetzen, als es schließlich nach vielen Fehlversuchen doch noch gelang, die Maschine wieder flott zu kriegen.

Unsere Fahrt abzubrechen stand zwar im Raum, wir waren aber beide so erleichtert, uns selbst aus dieser prekären Situation befreit zu haben, dass wir den Rest der Fahrt doch noch in halbwegs gelöster Stimmung absolvierten. Allerdings erwies diese sich als die letzte unserer gemeinsamen Reisen.

Michaela Swoboda

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