Schlagwort-Archiv: ¿Qué será será?

Die Wörter werden zu schwer

Zeichen stehen auf null,
Geschmack wird zur Asche,
ein Donnerwetter hat jenes Haus befallen,
gerade noch geliebt,
steht es jetzt unter Schock,
In die dunkle Nacht geworfen,
Halogenlampen beleuchten den Tunnelblick
Ein Reptil schleicht durch das Haus, lähmt,
Alle Sachen werden locker,
verbeult und verbrannt,
Trümmer und Erdrutsch

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 17112

Waffenstillstand II

Verblase wie
Etwas am Himmel,
das nicht existierte
In die Kammer,
kommen weiße Männer,
nicht zu Besuch
Sie wohnen zwischen
Dopamin und Serotonin,
Wo nehmen sie mich hin,
Eine Reise,
Eine Brücke,
Einen Moment Hoffnung,
zwischen dem Gerümpel

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 17110

Der bessere Kandidat

In Palmström hebt sich manchmal vage
Eine Frage, eine zage
Denn blickt er grenzenlos verwundert
Aufs junge 21. Jahrhundert

Nein, so war das nicht gedacht
Das war anders abgemacht
Das Ziel, der Torlauf sollt‘ es sein
Allen Menschen Brot und Wein

Freude schöner Götterfunken
In welchem Mist bist du versunken?
Statt deiner Krieg und Sklavenhandel
Raubbau, Armut, Klimawandel

Ein Tag reicht nicht, um aufzuzählen
All die Übel, die uns quälen
Ach Mensch, seufzt Palmström bitterlich
Sorgen mach ich mir um dich

Was, wenn dies die Schlussklausur
Prüfungsvorsitz: die Natur
Prüfungsthema: Überleben
Du wärst um Antworten verlegen

Die Natur würd rasen, toben
Der Prüfling, spräch‘ sie, hat verschoben
Mehrmals, bis zum Letzttermin
Nun endlich, tritt er vor uns hin

Und ist, ich sag’s naturgemäß nicht froh
Trotzdem dumm wie Bohnenstroh!

Pflichte bei, knurrt das Atom,
Will nicht, dass man ihn verschon.
Zwar fühl ich mich bei ihm gespalten,
Doch grade darum ungehalten

Auch praktisch also eine Schmach!
Setzt erbost der Vorsitz nach
Und theoretisch ist‘s ein Graus
Ruft die Weltenformel aus

Nach hoffnungsvollem Anbeginnen
Will ihm gar nichts mehr gelingen
Und politisch-sozial
ist’s ein kosmischer Skandal!

So hat der Prüfling nichts verstanden
Setzen Prüfling, nicht bestanden.
Dir, der sich meine Krone nennt,
Setz ich Natur mithin ein End.

Wie konntest du’s nur so verpatzen?
Nächster Candidatus: Katzen

So, seufzt Palmström, würd’s dir gehen
Die Katz auf dich heruntersehn
Wie sie das ja schon immer tat
Als der bess‘re Kandidat.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? und unerHÖRT!| Inventarnummer: 17090

Die Insel Freedom

Das Schiff „Joy of Freedom“ mit etwas mehr als hundert Flüchtlingsfamilien an Bord brach nach Australien auf, erreichte aber nie seinen Bestimmungsort. Kein Bericht von einem Überlebenden oder einem zum Schiff gehörenden Gegenstand gelangte je in die Welt. Der Kapitän und der größte Teil der Mannschaft ertranken bei einem Unwetter, viele Frauen und Kinder starben an den Strapazen der ersten Woche auf hoher See, in kleinen Booten oder auf den Planken. Aber etwa hundert Menschen erreichten eine kleine Insel vor der Westküste Australiens. Diese Überlebenden siedelten sich auf der Insel an, die sie natürlich Freedom tauften. Das war auch das einzige gemeinsame Wort, denn die Kolonisten kamen aus den verschiedensten Ländern: Rohingya aus Myanmar, Minderheiten aus Thailand, den Philippinen, Indonesien und anderen asiatischen Gebieten wie etwa den noch immer namenlosen Inseln in der Molukken-Straße.

Zuerst bauten sie Hütten, dann eine Schule, eine Kirche, einen Tempel, ein Rathaus, sogar ein Theater, eine Bibliothek und auf der Erhebung des höchsten Hügels einen Leuchtturm.
Sie gaben ihren Gebäuden Namen aus ihren früheren Heimaten. So hieß zum Beispiel die Schule Rangun, die Kirche St. John, der Tempel Bali, das Rathaus Borneo, das Theater Goa, und den Leuchtturm nannten sie aus unerklärlichen Gründen Laputa, wahrscheinlich weil sich das Wort für alle gleich leicht aussprechen ließ. Später hieß die ganze Insel einfach nur noch Laputa.

Entgegen den Schrecken der Reise fanden sie auf der Insel günstige Bedingungen vor. Es herrschte ein gleichmäßig mildes Klima, es gab reichlich Wasser, keine wilden Tiere bedrohten sie, der reiche tropische Wald mit Früchten und Kleingetier konnte sie ernähren, und die Insel war umgeben von fischreichen Gewässern. So begannen sich die Kolonisten zu vermehren und eine laputanische Gemeinschaft zu bilden.

Doch dann erschütterte ein Ereignis die Insel. Sie verloren ihre besten vierzehn Männer, die sich mit einem roh gezimmerten Floß nach Osten aufmachten. Ob die letzten Erinnerungen an das ursprüngliche Ziel der „Joy of Freedom“ sie zu dem Wagnis verleitet hat, einen Ausbruchsversuch zu machen? Oder die Vision einer Küste, die manchmal bei Sonnenaufgang am Horizont vor Laputa auftauchte? Auf Laputisch nannten sie diesen Sehnsuchtsort Palmibarbi nach den heimischen Palmen, andere sagten lieber Luggnagg, nach dem besten Fisch in ihren Gewässern.

Niemand kann sagen, was mit den Auswanderern geschehen ist. Aber eines Tages wurden einige behauene, ausgebleichte und vom Wasser ausgehöhlte Palmenstämme am Strand angetrieben. Danach wagte lange niemand mehr, die Insel zu verlassen, und die Außenwelt geriet allmählich in Vergessenheit. Sogar den Leuchtturm ließen die Insulaner verfallen und fütterten das Feuer nicht mehr.

Am 30. Dezember des Jahres …..04 landete ein Schiffbrüchiger auf Laputa, ein finno-lettischer Seemann, der lange in einem offenen Boot getrieben war. Er war ungewöhnlich groß, hatte eine weiße Haut mit blauen Adern und bräunlichen Flecken, keine Haare auf dem Kopf, dafür aber einen mächtigen roten Bart.
Die Insulaner wunderten sich nicht sonderlich über sein Aussehen, hatten sie doch selbst einige Besonderheiten aufzuweisen. Sie waren nicht größer als fünfzehnjährige Pygmäen, ihre Köpfe waren alle entweder nach rechts oder nach links geneigt; eines ihrer Augen war nach innen und das andere senkrecht auf den Zenit gerichtet. Sie liefen immer nackt herum, sodass man sie nur an ihren körperlichen Unterschieden auseinanderhalten hätte können. Die lange Isolation und die Inzucht hatten sie aber so abgeschliffen, dass sie einander glichen wie eine Kokosnuss der anderen. Zusätzlich erschwerend war es, dass sie offenbar keinen König oder Königin hatten, keinen Führer oder Führerin, keinen Häuptling oder eine Zauberin, also nichts an sich hatten, an dem man eine Rangordnung ablesen hätte können.

Es brauchte viele Jahre, bis der Fremde ihre laputische Sprache halbwegs erlernte und den Freedomianern etwas von seiner „Welt da draußen“ erzählen konnte: verschwommene Berichte von Ländern am Rande eines Ostsee genannten Meeres, wo es acht Monate Winter mit Eis und Finsternis gab und das Meer zufror, wovon sie aber keine Vorstellung entwickeln konnten. Dabei waren sie neugierig und offensichtlich gelehrig.

In den Gegenden, von denen der Fremde zu ihnen sprach, wurde einem gewissen Obamaputintrump geopfert, offenbar einem dreiköpfigen Häuptling. Von einer EU und einem IS erzählte er, einer UNO und Opec, einer EFTA, WHO, WLO, NASA und VRChina. Er verwirrte die Insulaner sehr mit all diesen Grexit, Brexit, Öxit und Schottixt, Katalanixt, Baskixt, Kosovonixt und Republikasrpstkixt. So sehr sich der lettische Riese auch bemühte, sie verstanden nix. Danach tauften sie ihn Letnix, was sich bald zu einem Nix verkürzte. Das Einzige, was ihnen gefiel, was sie offenbar unmittelbar ansprach, was sie sofort verstanden und nachahmten, war seine Art zu singen und zu tanzen. Er nannte das Tango. Tan-go, das war auch ein Wort, das sich gut ins Laputische fügte. Ihre Sprache bevorzugte langgezogene a-, o- und u-förmige Vokale, so wie sie es beim Blasen des Tritonhornes, der angebohrten Kokosnuss oder des Bambusrohres hervorbrachten.

Vielleicht lag die Unverständlichkeit auch daran, dass der Seemann sehr lange unterwegs gewesen war und die Verhältnisse in der nördlichen Welt auch nicht mehr gut kannte. Auf jeden Fall erholte er sich nie wieder ganz von den Strapazen seines Schiffbruchs und siechte dahin. Vielleicht bekam ihm aber die karge und einseitige Inselkost nicht, es kann auch die südliche Sonne gewesen sein oder der Kummer darüber, dass er seinen Rettern die „Welt da draußen“ nicht erklären konnte. Bis zu seinem letzten Atemzug lagerte er am Strand und zeichnete für die Insulaner eigenartige Kringel in den Sand, für die Zuschauer unverständliche Gebilde, die einen kreisrund, die anderen tropfenförmig oder dreieckig, große zusammenhängende oder einzelne, lang gezogene runde wie die thailändische Schrift. Die Laputaner begruben den Nix unter der Palme auf dem Hügel, nicht weit vom verfallenen Leuchtturm.

Ohne sagen zu können, wer damit begonnen hatte – die Insulaner gingen immer häufiger zum Grab des Letnix, legten Blüten, Früchte und Muscheln, getrocknete Erbsen, Bohnen, Perlen und Kiesel auf den Hügel. Bald stellte jemand eine Hütte aus Palmblättern darüber auf, jemand ebnete das Gelände rundum ein, andere breiteten Bastmatten aus, damit die Besucher bequem um die Hütte lagern oder lettischen Tango tanzen konnten.

Im Theater Goa, aber auch in der Kirche St. John und im Tempel Bali feierten sie zu seinen Ehren große Feste mit reichlich Kokosmet, wobei sie eine übergroße Figur aus Palmblättern herumtrugen und Letno-Tango tanzten.

Die Kinder spielten mit Nix-Puppen aus Bast, und die Jugendlichen bekamen zur Initiation im Rathaus Borneo Nix-Amulette, geschnitzt aus Tritonshörnern, um den Hals gehängt. Es gab keinen Mann, der sich nicht auf irgendeinen Körperteil einen Nix tätowieren ließ.
Nur die Frauen hatten es schwerer; ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich das Haar zu einer Glatze zu scheren, um den verstorbenen Nix zu ehren.

Zu dieser Zeit bemächtigte sich der ganzen Insel eine Leidenschaft zur Erforschung der „Welt da draußen“, besonders für alles, was irgendwie mit Religion zu tun hatte. Da sie ihre früheren Sprachen vergessen hatten und sie ohnedies nur notdürftig lesen und schreiben konnten, erfanden sie eine Kringelschrift für das Laputische, so wie sie es beim lettischen Seemann im Sand gesehen hatten. Einigen Frauen gelang es, aus Bastfasern einen Papierersatz herzustellen, auf denen die Kinder von Rangun, der Schule, das Schreiben erlernten. Das Rechnen hatten sie schon früher mit Kokosnüssen und Kaffeebohnen geübt. Auf diese Wiese bildete man amtliche Schreiber aus, die die Basttafeln beschrieben und in der in Balts umbenannten Bibliothek sammelten.

Immer mehr Insulaner widmeten sich in der Freizeit nun dem Sammeln von alten Sagen über ihre Flucht, die sie zu einer Pilgerfahrt umdichteten, über die Tauf-, Hochzeits- und Sterberiten, über die Geografie ihrer Herkunftsländer, die Tierwelt, Getreidesorten, Gerätschaften und Gedichte. Bald wurde ein junges Talent entdeckt, das Hunderte von baltischen Balladen schuf und mit dem Langepos von der Welteiche ein Star wurde. Dann tauchte ein begabter Musiker auf, der Lieder erfand und viele Instrumente baute, sogar solche, die der Letnix selbst nicht kannte: Zimbeln, Flöten, Trompeten, Harfen, Gitarren und Cembalos. Ihr Lieblingsinstrument schien aber eine einheimische Art von Windorgel zu sein. An einen kurzen Stock waren wie auf einen Dreschflegel luftgefüllte Fischblasen geheftet, in denen Kichererbsen und Perlen rasselten, wenn sie den Stock durch die Luft schwangen. Die schönsten Laute ergaben sich, wenn die Musiker mit ihrem Stock den Umstehenden auf Mund und Ohren schlugen, auf den Rippen und Bäuchen ergaben sich die lieblichsten , so wie sie das Meer macht, wenn es in Felshöhlen schwappt.

Eine junge Frau konnte nicht genug davon kriegen, Kreise, Dreiecke und Quadrate, Ellipsen und Trapeze in den Sand zu zeichnen, sodass sie mit der Zeit ein Geschlecht von Mathematikern in die Welt brachte, die die ersten Bücher des Euklid nachschrieben. Das Schicksal wollte es, dass ihr ältester Sohn, Kapitän Laput genannt, gerne am Leuchtturm saß und aufs Meer und in den Himmel schaute. Nach jahrelangen Beobachtungen leitete Laput daraus den Lauf der Sterne ab und schrieb die letzten Bücher Euklids neu. Wie er immer länger so dasaß und schaute, kam er zur Überzeugung, dass dort Hunderte, ja Tausende Wesen in Behausungen von außerordentlicher Größe und Schönheit lebten.

Laput träumte davon, einen Weg zu dieser Welt zu finden und von der Möglichkeit, dass sich Freedom zu so einer Welt entwickeln könnte. Seine Mutter seufzte und schüttelte den Kopf: „Lass solche Gedanken, das sind Flausen, wir wissen es nicht, ob jene Welt noch vorhanden ist und ob sie besser oder schlechter ist als unsere. Und werden es auch nie erfahren. Wir sind nicht dafür geboren, wegzugehen. Das Beste, mein Sohn, was wir tun können, uns nicht den Kopf unnötig zu zerbrechen, sondern unsere Pflichten im Hier und Jetzt zu erfüllen.“

Laput ließ sich aber damit nicht abspeisen. Weil er wegen seiner Euklid-Interpretation großes Ansehen auf der Insel genoss, konnte er einige Männer dazu bewegen, den Leuchtturm wieder aufzurichten und das Notsignal auf dem Berggipfel instandzusetzen.
Als er eines Tages seine Kinder zu Bett gebracht hatte und schon alle Insulaner in ihren Hütten schliefen, machte Laput seine Runde durch Freedom und stieg schließlich auf den Hügel. Er setzte sich unter die Palme beim Leuchtturm und schaute auf das Meer hinaus. Unter dem Sternenhimmel sann er über das Schicksal der Kolonie nach, das ihn an diesen Platz gebracht hatte.

Und er dachte an die kommenden Zeiten, wenn seine Kinder ihn überlebt haben würden. Wie er so saß und sann und sann, schob sich ein seltsames Bild vor seine Augen. Ein riesiges Schiff, höher als der Hügel, kam langsam um das Vorgebirge herum, behangen mit Lichtern in drei Reihen übereinander, vom Vorder- bis zum Achtersteven. Zwei beleuchtete Turmskelette ragten in den Himmel und schienen die Sterne aufzuspießen. Musik klang zu ihm herüber und der Ton menschlicher Stimmen in der stillen Luft. Der Anblick war wunderschön, aber schrecklich und beängstigend.
Kapitän Laput sprang auf und dachte einen Augenblick daran, die Kirche St. John in Brand zu stecken, um auf sich aufmerksam zu machen. Ein großes Freudenfeuer zu entzünden, dass er in eine andere Welt wechseln könnte.
Aber er setzte sich wieder nieder und ließ das Wunder in der Ferne vorüberziehen. Da nahm er schattenhaft wahr, dass sich die Laputaner hinter ihm versammelt hatten, auf das Meer hinaus starrten, zitterten und schweigend in ihre Hütten zurückgingen.

Nachtrag der Universität Dublin
Der Schiffbrüchige war weder Finne noch Lette und auch kein einfacher Seemann, sondern der weltberühmte Anthropologe, der irischstämmige Finnbar McLoughlin aus Limerick, ein anerkannter Forscher und Autor vieler Bücher über die Kulturen Polynesiens, Dozent an der Universität Dublin. Er gilt seit dem Tsunami von 2004 als verschollen. Seine Aufzeichnungen sind vor Kurzem in einer bei Limerick angeschwemmten Kokosnuss entdeckt worden. Experten studieren seither die Bastrollen, die mit unbekannten Zeichen bedeckt sind. Auch das Jonathan-Swift-Institut in Irland und die Thornton-Wilder-Stiftung in den USA wurden mit der Erforschung der Schriften beauftragt, die von der Stadt Limerick finanziert wird.

3.12.16

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16163

Willi

Z63 war ein Haushaltsroboter, ein Importprodukt aus Japan im mittleren Preissegment. Seine Besitzer, die Familie Fischer, ein Ehepaar lebensdurchschnittlichen halben Alters mit der sich in der Backfisch-Phase befindlichen Tochter Franziska, kurz Franzi, hatte bei seinem Kauf über den Großhandel Wert auf Effizienz bei möglichst geringen Betriebskosten gelegt.
Er funktionierte mittels Strom aus seiner eigenen kinetischen Energie, den er in einem in seinem Gehäuse integrierten Akku speicherte. Zusätzlich war er mit Photovoltaik-Zellen ausgestattet, den Akku konnte man ebenfalls einfach, aber teuer, über eine Steckdose aufladen, auch war eine Batterie im Lieferumfang enthalten gewesen, er musste jedes halbe Jahr zum Roboter-Doktor, der zentralen Wartungsstelle, seine Software wurde über eine Funkverbindung mit der Herstellerfirma ständig upgedated, die Ausgaben für Schmiermittel waren zu vernachlässigen.

Als der Instandsetzungs-Techniker ihn aus der Cellophanhülle geschält und von den Porocell-Kügelchen befreit, ihn schließlich mithilfe eines Hebelzuges aus der Transportkiste gehoben hatte, die erworbenen Programme in sein Rechenzentrum überspielt, seine Augen justiert, die Ohren eingerichtet, die Nase kalibriert und die Stimme, sie durfte nicht blechern klingen, das war den Fischers die Zuzahlung wert, dem gewünschten Klang angepasst und seine Motorik, im Groben zuerst, dann im Kleinen, getestet und verbessert worden war, „Schrubbe den Boden!“, hatte der Befehl an ihn gelautet, und er war dabei gewesen, ihn ganz ordentlich zu erfüllen, wohl war er ein recht einfacher Kerl, doch er verfügte, den Aufpreis dafür hatten die Fischers nach einiger Überlegung in Kauf genommen, über einen Gefühlserkennungs-Chip, der anhand von Blicken, Mimik, Sprache, Körperhaltung nach einem patentierten Algorithmus die Stimmungslage von ihm beobachteten Personen korrekt wiedergab, als der Instandsetzungs-Techniker also seiner Arbeit nachgekommen und Z63 auf dem Boden gekauert war mit einem Wischtuch in seinen Greifwerkzeugen, die aussahen wie menschliche Hände mit einem Chromüberzug, hatte Franzi, damals war sie erst sieben gewesen, das Zimmer betreten, eine Weile lang hatte sie den Roboter betrachtet, hatte Gefallen gefunden an seinen auf den Metallschädel gemalten schwarzen Haaren und dem dünnen Bärtchen über seiner Sprecheinheit; seine nur aus dunkelblauer Farbe bestehende Butler-Uniform, ihre Eltern hatte nämlich an seinem Äußeren gespart, war ihr lustig erschienen, zusehends waren seine ruckartigen Bewegungen fließender geworden, da hatte sie den Techniker gefragt: „Hat er schon einen Namen?“ „Nein“, hatte der Techniker zurückgegeben, „seine Typenbezeichnung ist Z63, aber das steht nur für seine Betriebsreihe, das ist kein richtiger Name.“ „Er soll Willi heißen“, hatte Franzi da gesagt. Der Roboter hatte sie aus braunen Kulleraugen-Optikinstrumenten angesehen, er hatte registriert: „Ich – heiße – Willi.“

Weiters wurde Willi von Gerlinde, Franzis Mutter, eingeschult. Er erwies sich als aufnahmebereit und lernwillig, nach kurzer Zeit schon erfüllte er nahezu fehlerlos selbstständig alle im Haushalt anfallenden Aufgaben, Geschirr spülen, saubermachen, Wäsche waschen, zum Trocknen aufhängen und bügeln, Ordnung in das Chaos von Franzis Zimmer bringen, aber auch in so manch andere, so bettete er in Holgers und Gerlindes Schlafzimmer täglich auf, denn Gerlinde hasste Brösel im Bett, beliebte darin jedoch Kekse zu essen, und, ganz wichtig auch, die den Haushalt betreffenden Einkäufe erledigen, Lebensmittel und Non-Food-Artikel, dafür hatte er einen Chip zwischen den Metallteilen von linkem Unterarm und Greifwerkzeug, der mit Digits, ein Digit entsprach einem Euro, aufgeladen war, zur Zahlung, meist im nahegelegenen Supermarkt, der so ziemlich alles führte, was die Fischers andauernd benötigten, legte Willi diesen seinen Gehäuseteil, der dem Pulsmess- oder –aufschlitzbereich des Menschen entsprach, über den Scanner der Kassa, die ein weiblicher Roboter bediente, und die Digits für die Waren auf dem Förderband wurden abgebucht.

Nur bei einer Sache haperte es: beim Kochen. Klar, dafür gab es ja auch eigene Kochroboter, und die wollten verkauft werden. Wohl war es aber möglich, Willi mit einem Geschmackssinn aufzurüsten, derzeit konnte er sich nur die genauen Mengen an verwendeten Gewürzen für das jeweilige Gericht merken, doch die von ihm zubereiteten Speisen schmeckten für Menschengaumen lasch, als Koch war Willi schlicht nicht geeignet, das zusätzliche Feature eines Geschmackssinnes jedoch war einfach zu teuer, also kochten weiterhin Gerlinde, Franzi nur manchmal Kleinigkeiten und ab und zu Holger selbst. War der gelegentlich bedrückt, weil er wieder mal seine Produkte nicht an den Mann oder die Frau gebracht hatte, er arbeitete als freier Handelsvertreter, schlug Willi einen heiteren Tonfall an, fragte ihn, was es denn gäbe, blieb Holger verschlossen, holte er ihm ein passendes Buch aus einem der Regale, denn Holger las gerne.

Hatte Franzi Kummer, weil ihre Schulkameradinnen ihr Kaugummi ins Haar geschmiert hatten oder sie als blöde Kuh tituliert, oder sie sich in einen Jungen verguckt hatte, der nichts von ihr wissen wollte, oder sonst irgendwas in der Art, munterte Willi sie mit flotten Sprüchen auf oder sie spielten „Schwarzer Peter“, wobei Willi absichtlich verlor. Wenn Gerlinde sich eingehend im Spiegel betrachtete, wusste Willi schon: Sie hat ein neues weißes Haar oder eine frische Falte gefunden, oder wenn sie unglücklich von der Waage stieg, war es Zeit für ihn zu handeln. „Wenn ich ein Mensch wär, hätt ich gern so eine schöne Frau wie dich“, sagte er dann, und Gerlinde zwang sich ein Lächeln ab, und das half, wie Willi lernte.

Die Jahre vergingen. Es waren derer gute. Die Fischers lehnten stets das Angebot der Herstellerfirma ab, Willi um einen moderaten Aufpreis gegen das jeweilige Nachfolgermodell, alle zwei Jahre bestand dazu Gelegenheit, einzutauschen. Vieles war inzwischen möglich, Roboter aus Analogfleisch und mit roter Betriebsflüssigkeit, Roboter mit Menschengesichtern. Nein, sagten die Fischers, Willi sollte bleiben. Die Überweisungen von Holgers Patronatsfirmen wurden höherstellig, Gerlindes letzte Modelinie traf den Puls der Zeit. Und Franzi schrieb Gedichte und schwärmte für Boy-Groups, ohne dass ihre Schulnoten sehr darunter litten. Die Welt der Fischers war wie ein farbenfrohes Puzzle, in dem kein einziges Teilchen fehlte.

Dann kam der Tag des Lichtblitzes. Als er durch das Haus zog, fielen die drei Fischers nieder, wo sie gerade gewesen waren, Gerlinde kochend in der Küche, Holger Fußball fernsehend im Wohnzimmer, Franzi sich schminkend im unteren Bad, und bewegten sich nicht mehr, seitdem niemals mehr. Willi kannte den Begriff tot nicht, er selbst blieb frei von Schaden, nur seine Optikinstrumente waren etwas überlastet, sie waren für ihn lediglich temporär außer Funktion. Doch er hatte seine vielfältigen Arbeiten zu erledigen, daraufhin war er programmiert, also fuhr er fort, als wäre nichts Besonderes geschehen.

Seinen Riechmodus blendete er bald aus, denn unangenehme Gerüche verbreiteten sich, nicht nur hier im Haus, sondern überall dort, wo Willi hingelangte, und mit dem Zustand einer lediglich vorübergenenden Außer-Betrieb-Setzung der Fischers sowie all der anderen Menschen war er sich nicht mehr so sicher, denn ihr Bild in seinem Erinnerungsmodul glich nicht mehr dem, was seine Optik tatsächlich aufnahm. Die Funkverbindung zwischen ihm und seiner fast am anderen Ende des Erdballs gelegenen Herstellerfirma war nun gekappt. Willi kaufte weiterhin ein, Lebensmittel, Kosmetikprodukte, Rasierer. Nachdem die Lebensmittel ungenießbar geworden waren, packte er sie in die Mülltonne, die von Roboterkollegen alle vierzehn Tage entleert wurde. Auch nachdem seine Digits aufgebraucht waren, ließ ihn die Roboterkassiererin weiter seine Einkäufe erledigen. In erster Linie war sie wohl mit einem elektronischen Geldzähl-Mechanismus ausgerüstet, doch verfügte sie anscheinend auch über eine Kombinationsgabe, die ihr sagte: „Er als Roboter erfüllt ja nur seine Pflicht, und die Menschen können uns nicht mehr kontrollieren. Also, was soll´s?“

Gleichzeitig fielen Beleuchtung und Strom aus, nicht nur im Haus, auch auf den Straßen, in den Geschäften und allen öffentlichen Plätzen. Das Fehlen von künstlichem Licht störte Willi nicht so sehr, denn er hatte, wie praktisch jeder Roboter, Restlichtverstärker in seinen Optikinstrumenten integriert. Dass er nicht mehr auf den Strom aus der Steckdose zurückgreifen konnte, war für ihn schon problematischer, darum hieß er jetzt erst recht: sich fit halten, er brauchte möglichst viel Bewegung. Das Haus war klinisch sauber, alle Zimmer penibel aufgeräumt, die Non-Food-Artikel stapelten sich, okay, der Garten verwilderte, doch da konnte er nichts tun, er war weder zum Rasenmähen noch zum Heckenschneiden oder Blumensetzen programmtechnisch instruiert.

Was blieb? Joggen. Wille drehte von nun an tagtäglich seine Runden, vorbei oft genug an Sexrobotern in Miniröcken und Netzstrümpfen, die, so vermutete er, wahrscheinlich auch mittels kinetischer Energie in Gang gehalten wurden und jetzt in Ermangelung von Menschen auf andere Roboter zurückzugreifen versuchten. Nun ja, er konnte mit ihnen nichts anfangen, er war dafür nicht ausgestattet. Dann brach die Wasserversorgung zusammen. Im Haus war Willi das einzige Wesen, das noch Schmutz produzierte, doch wenn aus den Wasserhähnen nicht mal mehr Tropfen kamen, wie sollte er den wenigen wegkriegen? Die Reinigungsroboter konnten die Straßen nicht länger abspülen, weder die Fassaden der Häuser noch ihre Fenster und auch die Böden der Geschäfte waren nicht mehr sauberzukriegen. Schmutz und Staub wuchsen allerorten, und zudem waren die armen Roboterburschen nun völlig nutzlos geworden, sie hingen auf den Straßen rum und verbreiteten schlechte Laune. An den Schaltstellen saßen halt doch ausschließlich Menschen, und ohne sie ging stufenweise alles den Bach runter, es war nur eine Frage der Zeit, bis auch der Sprit ausginge, die Lagerstände waren zwar noch recht hoch, nur neues Erdöl wurde nicht mehr gefördert.

In der darauffolgenden Woche stand für Willi wieder Besuch beim Roboter-Doktor an. Die „Doktoren“ waren selbst Roboter. Da er ja seit einiger Zeit über keine Digits mehr verfügte, hatten sie sich das letzte Mal eingelassen, ihn für an ihm durchgeführte Servicearbeiten ihre großflächige Werkshalle reinigen zu lassen, bis sie hintennach wie poliert ausgesehen hatte, doch das war leider nicht mehr möglich, zudem verlangte sein Gehäuse diesmal nach einer Öl-Dampfstrahlreinigung, die kostete einiges extra, Schmiermittel hätte er sich noch gerne im Vorrat besorgt, mit den zwielichtigen Typen vom Roboter-Schwarzmarkt gab er sich nicht gerne ab, würden sich die Docs damit zufriedengeben, dass er alle ihre Arbeitsgeräte akribisch schlichtete, so dass sie auch leicht aufzufinden waren, er konnte sogar ein eigenes Ordnungsprogramm dafür entwerfen, das war ja schließlich seine Bestimmung, als Maschine? Willi fürchtete um seine zukünftige Gesundheit. Fürchten? Das war doch ein Gefühl. Willi konnte wohl fremde Gefühle deuten, aber selbst keine entwickeln, womöglich jedoch hatten die komplizierten Strickmuster verschiedenster Launen auf eine seltsame Weise irgendwie auf ihn abgefärbt. Trotzdem: Roboter bleibt Roboter und Mensch bleibt, oder war, Mensch. Das war Willi klar.

Es hilft ja doch nichts, folgerte seine Rechenzentrale, ich muss einkaufen gehen, wofür denn gibt es mich sonst? In dem Supermarkt in seiner Nähe hatten die Regale begonnen, sich zu lichten, nichtsdestotrotz trieb er die standardisierten Lebensmittel alle auf, Shampoo, zwei verschiedenfärbige Nagellacke, Tampons, Rasierer, Rasiercreme, nur eines ging ab: Seife, nicht ein einziges Stückchen, gleich welcher Marke, war ausgestellt. Willi fragte die gesetzte Roboterkassiererin, ob es denn eine Möglichkeit gäbe, vielleicht doch drei, zwei, wenigstens ein einziges Stück Seife hier im Laden aufzutreiben. „Sieh doch bitte selbst im Lager nach, Willi. Das ist hinter der großen grauen Schiebetür ganz am unteren Ende“, sie wies in die Richtung, „daneben ist eine Klingel. Wenn du sie läutest, wird dir jemand öffnen.“
Willi bedankte sich artig. Er ging zum Lagereingang und betätigte die Klingel. Ring ring. Es dauerte nur kurz, da schob sich die schwere Tür etwa eineinhalb Meter zur Seite. Und eine Roboterdame stand vor ihm, blonde aufgemalte Locken, blaue Iriden der Optikinstrumente, rot umrandete Sprecheinheit, in der aus Farbe bestehenden dunkelgrauen Uniform eines Lagerhaltungsroboters, Susi stand auf dem Namenskärtchen über der linken Brust ihres Gehäuses, die schon recht abgeschabt war, wie auch bei ihm, wie er wusste, unverkennbar ein Z63, in weiblicher Ausführung. „Sie wünschen, mein Herr?“, fragte sie in einer hellen, sanften, einer menschlichen zum Verwechseln ähnlicher Stimme. Üblicherweise hätte Willi so etwas in der Art von: „Grüß Gott, gnädige Frau, ich würde etwas Seife benötigen“ von sich gegeben, doch nun starrte er sie nur an und sagte: „Seife.“

Woraufhin Susi lachte, nur mit Lauten natürlich. „Du würdest mich doch jetzt sicherlich gerne zu dir nach Hause einladen, stimmt´s?“, erwiderte sie und legte ihr rechtes Greifwerkzeug gegen Willis metallenen linken Oberarm. Auch sie verfügte über einen Gefühlerkennungs-Chip, ungewöhnlich eigentlich für einen Lagerhaltungsroboter, erkannte Willi, doch ihrer Aussage spitzte sich auf etwas Übles zu. „Ich kenne dich“, fügte Susi hinzu, „du heißt Willi und wohnst in dem schmucken Häuschen der ehemaligen Fischers dort drüben, seit vielen Jahren schon sehe ich dich kommen und gehen. Ich lebe hier in der Lagerhalle. Seit ich Denkteppiche knüpfen kann, habe ich sie niemals verlassen. Früher wollte ich immer nur raus, doch jetzt will ich und kann ich es nicht mehr.“ Sie konnte durch stromdurchflossene Leiter sogar eigene Empfindungen konstruieren, und eben darum war sie enttäuscht und in weiterer Folge abgestumpft.
Willi verstand dies, und auch das: Er war zu spät. „Also keine Seife“, fragte er. „Seife doch“, entgegnete sie, „aber nicht mehr.“ Sie ging und kam zurück mit vier Stück. „Du hast nun alles, was wir hier noch hatten“, sagte sie und umfasste seine flache mit ihrer Hand, wie Chrom glänzend beide. „Das ist Roboterliebe“, fuhr sie fort. „Zu mehr sind wir nicht gemacht.“

Johannes Tosin

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 17003

Die Kuppel

Das Knacksen des Informationsverkünders lenkte XX.645s Aufmerksamkeit auf die bevorstehende Meldung, als wenn eine Stimme sich räusperte, bevor sie sich erhob. „Gepriesen sei der Fortschritt, Ihr neugeborenen Menschen. Heute um fünf Uhr sechsunddreißig erblickte Nummer 100.000 in der zentralen Geburtenanstalt erstmals das Licht der Kuppel.“

XX.645, der sich selbst „Gi“ nannte, blickte auf die Uhr an der Kunststoffwand. Er wusste, was in fünf Minuten kommen würde.

Er hing noch dem Traum nach, in dem er an der Oberfläche gelebt hatte. Er wusste nicht, wie es dort aussah, es gab keine Aufzeichnungen darüber. Er kannte nur Begriffe wie „Sonne“ und „Berg“. Im Traum hatte er sich selbst eine Landschaft zusammengestellt. An der Oberfläche soll die Landschaft früher natürlich geformt und gewachsen gewesen sein. Hier, unter der Kuppel, war sie künstlich erzeugt. Jetzt rückte der Minutenzeiger der Uhr in die vertikale Position und bildete die Verlängerung des Stundenzeigers. Jetzt kam es:

Der Informationsverkünder knackste, und die Stimme begann: „Guten Morgen, Ihr neugeborenen Menschen, es ist sechs Uhr. Bitte erhebt Euch und bereitet Euch für den Tag vor.“

Nun wurde die Unterkunft beleuchtet. Das Licht blieb gedämpft. Gi stand auf und setzte sich an den Kunststofftisch. Hier bestanden so gut wie alle Teile der Inneneinrichtung aus Kunststoff. Die Wissenschaftler der neugeborenen Menschen hatten erdölproduzierende Bakterien erschaffen können, und mithilfe des Erdöls erzeugten die Techniker Kunststoff, den sie in Formen pressten.

Die Unterkunft bestand aus nur einem Raum und Bad und WC. Zwei Wände des Raums waren von grünen Pflanzen bewachsen, die für ausreichen Sauerstoff sorgten. Die Bewässerung erfolgte in einem kleinen Wassertrog. Gi ging zur Kühlzelle mit der durchsichtigen Front. Er nahm sich „Beerenvielfalt“ heraus und schenkte sich einen Beinahe-Orangensaft in ein Glas ein. Die Nahrung wurde hier unter der Kuppel erzeugt, gemeinsam mit der Entsorgung war das einer der drei großen Industriezweige, die beiden anderen waren Beleuchtung und Luftfilterung. Gi arbeitete als Monteur in der Luftfilterung.

Er brauchte nur einen Löffel, um zu essen. Die „Beerenvielfalt“ war ein lilafarbener Brei. Gi wusste nicht, wie Beeren und Orangen in Wirklichkeit schmeckten, er hatte sie nie gegessen. Also schmeckten sie wohl so wie gerade jetzt. Er hatte noch Zeit. Er sinnierte. Was wäre das Beste, was wäre das Schlechteste? Er fängt mit dem Schlechtesten an. Am schlechtesten wäre das feine weiße Pulver, das von oben kommt. Gleich nachdem es auf der Haut ist, entzündet es sich von selbst. Das ist der Selbstzerstörungsmechanismus, der in der Kuppel eingebaut ist. Wenn die neugeborenen Menschen sich so negativ entwickeln, dass keine Umkehr mehr möglich ist, tritt er in Kraft. So wurde es ihnen erzählt.

Was am besten wäre? Was sehr schön wäre, wäre eine Partnerin, eine, mit der er sich fortpflanzen dürfte. Dafür müssten beide X in seiner Bezeichnung durch Zahlen ersetzt werden. Dazu müsste er zweimal vom Rat der Acht belobigt werden. Der Rat der Acht herrscht über die neugeborenen Menschen unter der Kuppel. Seine Mitglieder zeigen sich nicht öffentlich. Niemand weiß, wie sie aussehen. Eine Belobigung oder ein Urteil oder etwas anderes wird dem Betroffenen über einen Mittler überbracht. Eine Belobigung ist schon nicht leicht, zwei Belobigungen sind sehr schwierig zu erreichen. Aber es ist ein Ziel, eine Partnerin, ein Kind, für das es sich zu leben lohnt.

Das Ziel, dass der Rat der Acht ausgegeben hat, ist, dass die neugeborenen Menschen wieder die Oberfläche besiedeln sollen. Dieses Ziel wurde schon vor langer Zeit ausgegeben, und es wird noch einige Generationen dauern, bis es so weit sein wird.

Ich sollte jetzt damit aufhören, Gedanken nachzuhängen, sagte sich Gi, sonst bekomme ich noch seltsame Ideen. Er ging sich duschen. Danach zog er eine weiße Unterhose und einen weißen Overall an, die unter einer Öffnung in der Kunststoffwand lagen. Schmutzige Wäsche gab man in eine Öffnung darunter, sie wurde mittels Druckluft zur Wäschestelle transportiert, wo sie gewaschen wurde. Gleichzeitig wurde saubere Wäsche auf dieselbe Weise zu dieser Unterkunft befördert. Es gab nun nichts mehr, was Gi in seiner Unterkunft hielt. Er verließ sie, ging den Flur entlang und die Stiege hinunter. Einige andere taten dasselbe. Sie waren alle weiß.

Im Freien, was außerhalb von Gebäuden bedeutete, hatte Gi die Wahl zwischen einem Förderband, das ihn, mit Umsteigen, zu seinem Arbeitsplatz brachte, oder dem Zufußgehen. Ich gehe heute zu Fuß, entschied er. Hier auf der Straße waren zwischen all den Weißgekleideten manche wenige in Schwarz, sie traten mindestens zu zweit auf. Das waren die Wärter, sie hatten Namen mit einer hintangestellten Zahl an derselben Stelle im Brustbereich, wo die Weißgekleideten ihre Nummern mit vorangestellten Xen hatten. Sie lebten am Rand der Kuppel, es hieß, sie hätten mehr Komfort. Sie waren die Ordnungsmacht. Sie bestraften mit dem Schockstab, an dem sie die Stromstärke von sehr leicht bis tödlich einstellen konnten.

Gi hatte mit Ihnen niemals Probleme gehabt, im Gegenteil, letzte Woche hatte er ihnen eine Beobachtung gemeldet. Im alten Lagerhaus im Osten, das wie alle Gebäude aus Stahl war, der korrodierte, dessen Farbe von blaugrau zu rostbraun gewechselt hatte, und dessen Festigkeit nachließ, hatte er einige Flugblätter gefunden. „Glaubt nicht, was Ihr seht!“ und „Lehnt Euch gegen Euer Sklaventum auf!“ stand auf ihnen. Jeweils ein Flugblatt gab er als Beweisstück ab.

Es war hell. Draußen war es immer hell. Dadurch sollten Verbrechen vermieden werden. Es gab keine Insekten oder Vögel oder sonstigen Tiere. Die einzigen Lebewesen waren Menschen, viele weiße, jetzt zwei schwarze, die auf Gi zusteuerten. Unwillkürlich bekam er Angst. Die letzten Stöße vom Schockstab, von denen ich Zeuge war, waren doch sehr heftig, dachte er. Die Weißen krampften. Beim allerletzten Mal bewegte sich der Weiße nicht mehr. Gi ging langsamer.

Die Wärter gingen forsch auf ihn zu. Als sie vor ihm waren, streckte einer die Hand aus. „Stehenbleiben!“, hieß das. „Neugeborener Mensch XX.645?“, fragte der Wärter, auf dessen Schild „Paul 72“ stand. „Ja“, sagte Gi unsicher. „Wir beglückwünschen Sie zu Ihrer Beobachtung“, sagte der Wärter „Kurt 43“. Wir konnten die Schuldigen ausfindig machen. Der Rat der Acht hat daher entschieden, Sie zu belobigen, wobei ich nun als Mittler fungiere. Sie haben allen neugeborenen Menschen eine Wohltat erwiesen.“ An Ort und Stelle ersetzte Paul 72 das X an der Zehntausenderstelle durch 9. „Danke“, sagte X9.645 nur. Die Wärter entfernten sich.

Jetzt war es doch ein bisschen spät geworden. Gi bestieg ein Förderband, er war seinem größten Wunsch nun ein großes Stück nähergekommen. Er musste nur noch die Augen offenhalten, es lag doch einiges im Ärgeren, als man dachte. Er stieg auf ein querlaufendes Förderband um. Eine solche Beobachtung noch, die zu den Tätern führt … Gi war auf dem Weg zur Arbeit und inmitten dieses Gedankens, da bemerkte er feines weißes Pulver an seinen Händen, das er zwischen den Fingern zerrieb. Es war auch auf seinen Haaren, seinen Schultern, den Schuhen. Es kam von oben und bedeckte jede Fläche.

Als er „Warum?“ schrie, brannten er und alles um ihn herum bereits.

Michael & Johannes Tosin

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16166

 

Stecker

Eine Satellitenschüssel mit Stangen und Messinstrumenten, das soll alles sein? Die Außerirdischen wundern sich. Sie sehen genauer nach. Irgendwo auf dem Ding steht „Voyager 1“ drauf, und dann finden sie noch etwas: eine Schallplatte in einer Hülle, die an der Außenseite des seltsamen Gefährts angebracht ist. Die Schallplatte ist aus Gold, zumindest damit bezogen. Nicht schlecht, denkt Gonfff und wiegt sie in seinen dreifingerigen Greifern, für ein gestrandetes Objekt, alle Achtung! „The Sounds of Earth“ steht in ihrer Mitte. „Scheint ein interessanter Planet zu sein“, sagt sein Kollege Wymkzz. „Wir haben ohnehin schon bald keine Vorräte mehr.“ „Schau mal“, meint Gonfff und deutet auf die Symbole, die in die metallene Hülle eingeritzt sind, „das stellt wohl ihre wichtigsten wissenschaftlichen Errungenschaften dar. Simpel, nicht?“ „Hohoho, das erinnert mich an meine Kindergartenzeit“, entgegnet Wymkzz. „Da hast du Recht. Mir geht es auch so“, fährt Gonfff fort. „Aber sieh doch hier“, er zeigt auf die schematische Darstellung der Erdensonne innerhalb von vierzehn Pulsaren. „Das dürfte der Lageplan dieses Planeten sein.“ „Und das hier“, sagt Wymkzz, „soll wohl eine Skizze des Plattenspielers sein. Als ob wir hier keine Plattenspieler kennen würden, tzz tzz.“ „Das ist aber ein spezieller“, merkt Gonfff an. „Sieh doch mal nach, ob im Inneren dieses Gefährts noch etwas ist.“

Wymkzz öffnet das Türchen der Kapsel. Gotcha! Was ist in ihr drinnen? Ein Plattenspieler, der Plattenspieler für diese spezielle Schallplatte, Marke: Thorens. Mit einem NEMA-5-Stecker, der in den USA üblich ist, oder war – falls es diese nicht mehr gibt.

„Der passt nicht in unsere Steckdosen!“, jammert Wymkzz. „Diese Idioten, Kretins, geistige Mehlwürmer“, regt sich Gonfff auf, „haben nicht einmal an einen Universalstecker gedacht! Weißt du was, mein lieber Wymkzz, ich denke, wir bleiben lieber zuhause.“

Vor Ärger haben sich die halbmeterlangen Stacheln auf seinem Rücken aufgerichtet. Die beiden Außerirdischen trotten enttäuscht von Voyager 1 davon. Sie hinterlassen Fußabdrücke in den Größen 265 und 271.

Vangeli & Johannes Tosin

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16165

2192 n. Chr.

Ich hatte schon lange niemanden dort unten, deshalb fiel es mir von Anfang an leicht, die Santa Maria als mein Zuhause zu bezeichnen. Meine Besatzung tut sich damit schwerer. Wer ich bin? Ich bin der Kapitän dieses Schiffes. Die Santa Maria fasst viertausend Menschen, ihre Begleitschiffe Niña und Pinta fassen je dreitausend. Mir obliegt der Oberbefehl. Wir hatten das schon einmal, vor siebenhundert Jahren. Damals reisten die Schiffe durch den Ozean, heute kreuzen sie durch das All. Wir sind die letzten zehntausend Menschen. Wir verließen die sterbende Erde vor siebzehn Jahren. Wir suchen einen neuen Lebensraum, einen bewohnbaren Planeten. Mein Name ist Christóbal Colón. Es ist mein nom de guerre. Wir kämpfen um unser Leben.

Alles, was wir hier auf den Schiffen verwenden, wird rezykliert, Luft, Wasser, Nahrung durch Körperausscheidungsprodukte. Wir erreichen eine Rate von 99,9 %. Also bleibt ein kleiner Schwund, der unsere Zeit als Schiffsreisende endlich macht. Längst schon gibt es Sparmaßnahmen, es darf höchstens ein Mal wöchentlich geduscht werden, die Essensrationen werden laufend hinuntergesetzt, sogar atmen soll man bedächtig. Trotzdem bleiben uns längstens drei weitere Jahre, wenn man großzügig rechnet, dann müssen wir einen Platz gefunden haben.

Ich bin einer der wenigen, der alleine lebt, die meisten leben in Partnerschaften, viele mit Kindern in Familien. Das will ich nicht, ich will mich auf keine andere Person einstellen müssen, ich bin der Kommandant, Liebe würde mich bloß verwirren, meinen Geist biegsam machen und meine Hand langsam, meine Funktion ist zu wichtig, um mich auf etwas einzulassen, das mich ablenken würde. Ich habe eine geräumige Kajüte, viele elektronische Bücher, das reicht mir. Über eine Familie kann ich nachdenken, wenn wir am Ziel sind.

Gerne hätten wir auf einem der Schiffe einen Zoo eingerichtet, als eine Art moderne Arche Noah, aber wir mussten uns auf einige wenige Kleintiere beschränken. Hätten wir Elefanten, Nilpferde, gar Wale mitgenommen, hätten wir viele Menschen auf der Erde zurücklassen müssen. Beim Fliegen, beim Bewegen durch Luft oder durch annäherndes Vakuum geht es um das zu transportierende Gewicht, immer geht es in der Fortbewegung um das Gewicht. Ohnedies blieben viele zurück. Die zehntausend Reisenden wurden durch ein Auswahlverfahren ermittelt. Mir aber ist nicht bekannt, aufgrund welcher Parameter entschieden wurde. Ich würde es auch gar nicht wissen wollen. Behinderte gibt es hier keine. Krankheiten brechen nicht oft aus. Psychische Instabilitäten sind selten. Die Enttäuschung, wenn ein Planet nicht geeignet ist und auch nicht in absehbarer Zeit urbar gemacht werden kann, ist normal, und auch die teils tiefe Hoffnungslosigkeit hinterher. Es wurde wohl nach Darwins Prinzip the survival of the fittest entschieden. Auch wenn das hart klingt: Schwache kann man auf den Schiffen nicht gebrauchen. Das aber sind nur Vermutungen meinerseits, nie sah ich ein offizielles Schreiben, nie wurde mir etwas mitgeteilt. So kann ich sagen: Ich weiß es nicht. Stark Vermuten bleibt Vermuten und ist noch nicht Wissen.

Uns allen war klar, dass es nicht leicht werden, aber nicht, dass es so schwer werden würde. Noch auf der Erde, als sie mehr und mehr verfiel, nachdem man dieses Projekt als einzig mögliche Rettung der Menschheit, das klingt groß, aber das ist es auch, beschlossen hatte, legte man besonderes Augenmerk auf zwei Dinge: erstens einen möglichst schnellen Antrieb zu entwickeln, der aber gleichzeitig auch fein justierbar zu sein hatte, zweitens nach bewohnbaren oder bewohnbar zu machenden Planeten Ausschau zu halten.

Für den Antrieb fand man nach einigen Versuchen eine elegante Lösung. Sie basiert auf dem zerstörerischen oder besser gesagt auslöschenden Effekt, wenn Materie und Anti-Materie zusammentreffen. Die Wissenschaftler nahmen das Licht und das Gegenteil davon, die Schwärze des Weltalls. Ein Photon plus ein Anti-Photon müsste eine gewaltige Explosion ergeben. Man experimentierte damit. Die Explosion war nahezu nicht zu bändigen, das Wort nahezu aber relativiert das Ergebnis, nach gewaltigen Schäden an Labors bekam man die Wucht der Explosion langsam in den Griff. Der Antrieb auf den Schiffen sind also je zwei Photonen-Anti-Photonen-Triebwerke. Sie sind jeweils an den hintersten Enden der Schiffe eingebaut. Als Treibstoff dienen winzige Würfel, in denen Licht eingeschlossen ist. Leider ist auch die Lichtgeschwindigkeit die für uns maximal erreichbare. Für das Weltall ist das langsam, ein Schneckentempo geradezu.

Bei der Suche nach einem verwendbaren Planeten gab es wenig Neues. Die Astronomie war ziemlich vernachlässigt worden, weil sie teuer war und das Ergebnis unbefriedigend. Man hatte sich auf diese unsere Erde konzentriert, man holte aus ihr raus, was in ihr drin war, und baute darauf, die Schäden an ihr mithilfe der Technik später zu reparieren – was sich als nicht möglich erwies. Als man erkannt hatte, dass es zu spät war und man die Erde würde verlassen müssen, floss viel, viel Geld in die Sternenforschung. Mit einem passenden Antrieb funktionierte es, obwohl die Zeit schon knapp war, aber bei der Planetenerkennung und -auswertung musste man mit bereits bekannten Methoden vorliebnehmen. Die meisten Planeten wurden nicht direkt detektiert, sondern wenn sie zwischen einem Stern und dem Teleskop vorbeizogen, durch Verringerung der Strahlungsintensität des Sterns. Mittels Spektralanalyse untersuchte man den Planeten auf für menschliches Leben wichtige chemische Elemente, Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Silizium. Entscheidend waren das Vorhandensein von Wasser in flüssiger Form, was aus der Ferne aber nicht feststellbar war, und das Vorhandensein einer Atmosphäre um der Planeten, das konnte man messen, auch seine Oberflächentemperatur ließ sich ermitteln. Man fand viele Planeten, fast alle musste man ausschließen, ganz wenige blieben ein Fragezeichen. Die meisten Planeten mit für Menschen fraglicher Lebensmöglichkeit, die in unserer Reichweite liegen, die der Teleskope ist viel weiter als die unserer Schiffe, haben wir bereits angeflogen, mit negativem Resultat.

Die Wissenschaftler haben auch an der Möglichkeit gearbeitet, einen Planeten bewohnbar zu machen – eine Atmosphäre zu schaffen, Elemente umzuwandeln, Sauerstoff zu „züchten“, das heißt zu vervielfältigen, den Boden zu verfestigen und anderes mehr. Anfangen würde es mit einem Habitat für einige wenige, sobald genügend Ressourcen da wären, sollte es in eine Kolonie übergehen, in ein Land und so weiter, träumen darf man. Wir haben dafür Geräte an Bord, aber noch kein Planet war geeignet, sie einzusetzen.

Wir sind nicht bei null. Es ist schlimmer, wir haben siebzehn Jahre hinter uns und maximal drei vor uns. Die Zahl der Reisenden ist seit dem Start auch gestiegen, da die Rate der Geburten die der Verstorbenen überstieg. Nur wenige von höherem Alter verließen die Erde, in erster Linie waren das Menschen mit ganz besonderen Fähigkeiten, Wissenschaftler, Ingenieure, Fachärzte, ein paar Künstler, die herausragend sind in ihrem Metier, oder waren, falls sie inzwischen tot sind. Und sie sind tot, manche von den geschätztesten Schriftstellern, Malern, Bildhauern, Musikern. Viel ist nicht mehr übrig an lebenden Kunstschaffenden. Natürlich wurden vorzugsweise Jüngere mitgenommen, bis zum mittleren Alter, kann man sagen, bis zum Alter von ungefähr fünfzig Jahren. Viele von ihnen sind Handwerker, einige Bauern. Es ist eine theoretisch ausgewogene Gesellschaft, in der jeder seinen Platz und seinen Wert hat und in der Lage ist, sie besser zu machen. Nur ist es so, dass durch die gestiegene Personenzahl auf jedem Schiff mehr Leute sind als vorgesehen. Das System liefert mir die Daten: Auf der Santa Maria sind es zweiundneunzig zu viel, auf der Niña sechsundachtzig und auf der Pinta neunzehn. Noch sind diese Zahlen nicht dramatisch, aber damit sie es auch nicht werden, haben wir vor drei Monaten eine Lebendgeburtenbeschränkung eingeführt. Pro Paar sind zwei Kinder erlaubt, konstante Population also. Bringt eine Frau mehr Kinder auf die Welt, muss entweder das Kind oder jemand anstelle des Kindes aus der Welt scheiden. Das sind harte Maßnahmen, ich weiß, aber es geht um das Überleben der Menschheit, mehr ist ja gar nicht möglich. Solche Fälle sind vorgekommen, in keinem einzigen Fall wurde dem Kind das Leben genommen, in zwei Fällen ging der Vater anstelle des Kindes, in allen anderen Fällen die Mutter, Großmütter oder Großväter waren nicht zugegen.

Manche der während der Reise geborenen Kinder sind schon Teenager. Sie vermissen die Erde nicht, weil sie sie nicht kennen. Das jeweilige Schiff ist ihr sich bewegendes Haus. Wenn sie sich Aufzeichnungen von der Erde ansehen, ist ihnen völlig fremd, was da gezeigt wird. Sie können damit nichts anfangen. Es ist ein ihnen unbekannter Lebensraum. So wie Kinder früher im Zirkus die Raubtiere bestaunten, lassen die Kinder auf den Schiffen die Bilder der alten Erde auf sich wirken. Sie sind fremd, sie leben ganz woanders, hier sind sie nur zu Besuch.

Die Kinder, natürlich sind die Kinder die Zukunft, dieser Spruch gilt immer. Sie werden von Lehrern und Professoren unterrichtet. Wir haben auf den Schiffen das gesamte Wissen der Erde, auf Datenträgern, um Platz zu sparen. Die Kinder können an den Systemeingabegeräten auf jede erdenkliche Information zurückgreifen. Sie sind unbefangen, haben keine Angst vor Neuem, sondern Interesse. Anderseits sind sie nur die Schiffe gewöhnt, sie sind nie auf Lehm gegangen, kennen keinen Himmel, Wasser schon, wir haben Pools an Bord, den Kindern wird Schwimmen beigebracht, sie kennen aber keine Sonne, die lebensspendend am Himmel steht. Wir sind uns nicht sicher, ob sie auf einem Planeten zurechtkommen würden, da besteht eine gewisse Unsicherheit.

Es gibt einen Grund dafür, dass die Zahl der Geburten auf der Pinta denen der anderen beiden Schiffen hinterherhinkt: Wir nutzen einen Teil von ihr als Gefängnis. Wir riegelten dort einen großen Trakt ab und befestigten ihn. Wir verwahren fast nur Männer, hauptsächlich wegen Streitigkeiten um Frauen, die zu Kämpfen ausgeartet waren. Diebstähle sind selten, Geld ist bei uns keines im Umlauf. Es gibt hier schon ein kollektives Bewusstsein, eine gemeinsame Heilssuche. Und eine mittlerweile etablierte starke Security, die bei Vergehen hart durchgreift – man darf es mit dem Idealismus nicht übertreiben.

Wer aufmuckt, macht einen Außeneinsatz ohne Raumanzug. Nein, das ist nur ein Witz. Gerade wenn das menschliche Leben zahlenmäßig so beschränkt ist wie hier, hat man mehr Respekt vor ihm. Noch nie seit Beginn der Reise wurde ein Todesurteil ausgesprochen. Es gab fünf Morde, zwei davon heimtückische, woraufhin wir die Täter auf der Pinta isolierten. Für die Gemeinschaft wäre es sogar das Beste, sie loszuwerden, sie zu töten, aber das wollen wir nicht. Wir sind eine Zivilisation. Wir wollen nicht verrohen.

Ein ständiger Begleiter, ein sehr ungeliebter, ist uns die Langeweile. Man kämpft gegen sie an, man tut etwas, irgendetwas, aber doch weiß jeder, dass das meiste nicht besonders sinnhaft ist. Für viele Besatzungsmitglieder vergeht die Zeit großteils ungenutzt. Ich habe schon etwas zu tun, und viel Verantwortung, trotzdem ringe ich mit der dauernden Langeweile, oder sie sitzt neben mir auf dem Boden, wie auch immer.

Es finden ja keine Schlachten mit Schiffen von Außerirdischen statt, das gibt es nur im Kino. Wir gehen nicht auf Planeten durch üppige Landschaften von Pflanzenlebewesen. Es gibt überhaupt keine Außerirdischen, bis jetzt. Nirgendwo haben wir außerirdisches Leben gefunden. Gar nichts, nicht einmal schwammartige Lebewesen, nicht einmal Einzeller. Es muss nicht nur der Ort passen, sondern auch die Zeit. Auf manchen Planeten war möglicherweise früher Leben, wenn auch nur in sehr einfacher Form. Man kommt ins Philosophieren, hier auf dem Schiff, weil man die Zeit dazu hat, und weil man keinen Ausweg sieht. Man kann nur weitermachen, und die Chancen sinken und sinken. Mit jeder Planetenmessung, jedem Besuch auf einem verringert sich unsere Überlebenswahrscheinlichkeit.

In welchem Zustand jetzt die Erde ist? Was sich auf ihr tut? Wir wissen es nicht. Es gibt keinen Funkverkehr mit ihr, absichtlich nicht. Wir richten unsere Diagnoseinstrumente nicht nach ihr aus. Ihre Atmosphäre war bei unserer Abreise schon sehr durchlässig, die Temperaturen an der Oberfläche stark gestiegen. Vielleicht sind die Meere schon kochend verdunstet. Mag sein, dass sich in Höhlen noch manche alte Menschen verstecken, besonders wahrscheinlich ist das nicht. Die letzten Überlebenden auf ihr werden wohl Küchenschaben sein, oder waren Küchenschaben. Wie gesagt, uns ist nicht bekannt, ob sie noch Leben beherbergt. Tut sie es heute noch, dann morgen nicht mehr, prosaisch gesprochen.

Und auch unsere Zeit an Bord ist beschränkt, ich habe es schon angemerkt. 0,1 % Schwund mag nach nicht viel klingen, aber für uns ist er fatal, schicksalshaft, das kann man wirklich so sagen, er beschließt unseren Aufenthalt auf den Schiffen. Manche der Planeten wirkten anfangs verheißungsvoll, doch immer hat irgendetwas nicht gepasst. Sie waren zu groß, sie würden keine künstlich erzeugte Atmosphäre halten können, sie waren gasförmig, die Temperatur war weit zu hoch oder nahe dem absoluten Nullpunkt. Und auch die Idee, einen Planeten zu formen und vorerst nur einige wenige Menschen auf ihm auszusetzen, ist bloß in der Theorie gut, und womöglich nicht einmal das. Die Schiffe müssten warten, damit könnten andere Planeten nicht untersucht werden. Sozusagen wären wir gezwungen, alles auf eine Karte zu setzen. Nur war es ohnedies folgendermaßen, dass in Betracht gekommene Planeten so weit davon entfernt waren, sie lebenswert machen zu können, dass es viel mehr Energie gekostet hätte, als wir zur Verfügung haben.

Ja, das ist die Lage. Wir können nur hoffen, dass einer der zukünftigen Planeten bewohnbar  oder in absehbarer Zeit bewohnbar zu machen ist. Natürlich sind viele hier an Bord nervös. Manche sagen, es war ein Fehler, die Erde überhaupt verlassen zu haben. Vor ungefähr zehn Jahren war eine Bewegung entstanden, die verlangte, dass die Schiffe zurück zur Erde fliegen hätten sollen. Weniger die Kapitäne der Niña und Pinta und ich als die älteren Wissenschaftler brachten es zuwege, die zahlreichen Mitglieder dieser Bewegung davon zu überzeugen, dass es weit unsicherer war, die Erde anzusteuern als weiterzureisen. Wir sind, logischerweise, weitergereist, und haben nun nichts anzubieten. Jetzt ist eine Rückkehr unmöglich, unsere Ressourcen würden nicht reichen. Niemand fordert sie jetzt mehr. Doch darum geht es nicht, sondern darum, dass diese Menschen uns, der Führungscrew, ihr Vertrauen geschenkt haben, und wir konnten es nicht einlösen.

Die Krankenversorgung ist sehr gut bei uns. Auf den zwei kleinen Schiffen ist jeweils eine Sanitätsanstalt, und auf der Santa Maria befindet sich ein Spital. Auf der Niña und Pinta sind je zwei Operationssäle, auf der Santa Maria vier. Wir verfügen über spezialisierte Ärzte, Anästhesisten, Chirurgen. Wir haben auch einige Pharmakologen an Bord. Falls uns bestimmte Medikamente ausgehen sollten, können sie neue herstellen. Wir sind auf Unwägbarkeiten gut vorbereitet, ich denke, das kann man so sagen. Bei uns wird niemand an Skorbut leiden, wie bei der Entdeckungsfahrt meines Namensvetters vor siebenhundert Jahren.

Was damals die Wellen waren, sind nun die Sonnenstürme. Damals navigierte man mit den Sternen, wir fliegen heute durch die Sterne. Nur traf Señor Colón in alter Zeit auf Eingeborene. Wir sind bislang auf niemand Lebenden getroffen, aber das Buch ist ja noch nicht zu Ende geschrieben. Wir hoffen noch. Wir glauben noch an unser Überleben. Wirklich? Ja, selbstverständlich. Wir müssen daran glauben, sonst ist alles aus.

Der Glaube, ja, das ist so eine Sache. Glaube an die eigene Stärke ist gut, ist vorteilhaft. Der Glaube als Religion wird hier auf den Schiffen nicht öffentlich zelebriert. Es gibt keine Gottesdienste irgendwelcher Art. Wohl einige sind gläubig, manche glauben nicht, doch damit es keine Streitereien unter den verschiedenen Glaubensrichtungen gibt, hielten wir es für richtig, dass sich die Menschen nur privat mit ihrem Glauben, ihrer Religion auseinandersetzen. Wir sind vorsichtig gegenüber selbsternannten Erweckungspredigern, die aufkommen könnten.  Religion kann ein Minenfeld sein. Wir haben nur noch diese eine Reise zur Verfügung, wir dürfen nichts riskieren, alles, was gefährlich werden könnte, wird ausgeschlossen.

Ich verbringe viel Zeit in meiner Kajüte. Wohl bin ich als Kapitän auch Pilot meines Schiffs, aber es gibt einen Co-Piloten, und überdies fliegt das Schiff ja automatisch. Der Navigator, ein Steuerungsexperte und ich programmieren den Kurs, stets für mindestens eine Woche im Voraus. Klarerweise kann sich immer etwas ändern, aber wenn das nicht zu erwarten ist, soundso vertritt mich mein Co-Pilot, ziehe ich mich gerne in meine Kajüte zurück und lese. Besonders gern lese ich Sachtexte, in letzter Zeit habe ich sehr viel über das Mittelalter gelesen. Die Bauern waren die Beine des gemeinschaftlichen Körpers, und sie wurden als Einfaltspinsel verunglimpft. Die Adeligen, der Klerus, sie wären verhungert ohne sie, und das war dafür der Dank. Oder die prächtige Königin von Frankreich und England, Eleonore von Aquitanien, die alles für Pomp und Prunk ausgeben hat: Sah sie wirklich so gut aus wie berichtet, hatte sie blonde Haare? Inzwischen bin ich schon ein kleiner Mediävist. Auch in anderen Themen bin ich sehr beschlagen. Ich las und lese von der untergegangenen Welt. Alles das liegt hinter mir, liegt hinter uns. Schade, schade, wirklich schade. Ich bin ein rational denkender Mensch, doch wo ich sehe, was alles war, was es alles gegeben hat, tut es mir leid, ja wirklich, es tut mir sehr leid.

Ich bin beileibe nicht der Einzige an Bord, der sich Tagträumen ergibt. Viele, sehr viele tun das, vor allem die, die oft allein sind. Was bleibt ihnen denn übrig? Die Wirklichkeit kann grausam enden. Jeder hier weiß das. Aber soll man deshalb dauernd daran denken? Nein, man lenkt sich ab, man sucht Schönes. Auch wenn man nicht dazu neigt, könnte man sonst verrückt werden, oder so hart wie Stein, unfähig, noch etwas zu spüren, auch wenn es nötig wäre.

Stopp! Ich habe jetzt einen Planeten groß auf dem Schirm, den wir begutachten werden. In Kürze werden seine Daten eintreffen. Sind die günstig, werden wir einen Landungsroboter zu ihm losschicken. Wir haben nun eine neue Perspektive. Ich muss jetzt aufhören. Ich werde mich an anderer Stelle wieder melden.

 

Ich bin wieder hier. Es ist jetzt ungefähr zweieinhalb Jahre später. Ich kann es auch genau beziffern. Was sagt das System? Es ist zwei Jahre, fünf Monate und einundzwanzig Tage später. Die Situation hat sich verschlechtert, arg verschlechtert. Es war alles umsonst. „Durch den Fluss meiner Augen / sehe ich das Salz der Tränen. / Planeten über jeder Zahl / und nirgendwo ist möglich Leben“, würde ich schreiben, wenn ich Dichter wäre, aber ich bin kein Dichter, ich bin Kapitän, Pilot, Techniker. Ich entscheide nach dem Kopf, und nicht nach dem Herzen. Kein Planet war auch nur im Entferntesten geeignet, auf ihm in seinem Status quo zu leben oder ihn besiedelbar zu machen. Es sind kaum noch Planeten übrig, der Schwund hat noch zugenommen, auf derzeit 0,15 %. Wir haben nicht länger als höchstens eineinhalb Monate auf den Schiffen zu leben. Einige haben freiwillig ihr Leben beendet. Es ist furchtbar.

Doch der Schrecken muss ein Ende haben. Die Führungscrew, die Wissenschaftler und Ärzte sind zu Rate gesessen. Der nächste Planet, den wir in acht Tagen antreffen werden, ist sehr groß, hat festen Boden, ist also massereich, statt einer Sauerstoff-Stickstoff-Atmosphäre wogt Methan, eine schützende atmosphärische Schicht zu erzeugen wird nicht möglich sein. Dieser Planet ist trotzdem noch der, der am ehesten bewohnbar ist. Einen besseren werden wir nicht mehr finden.

Da es uns daher nicht möglich ist, einen Planeten bewohnbar zu machen, haben wir keine andere Wahl, als uns dem Planeten anzupassen. Für diesen Planeten, wir haben ihn Beta 19 getauft, heißt das: viel stärkere, breitere und kürzere Beine, vier statt zwei Lungenflügel, ein Metabolismus, der Methan statt Sauerstoff verarbeitet, eine panzerartige Haut als relativer Schutz vor Gamma-Strahlen, stark vergrößerte Augen, da die Sonne im Drehpunkt weit weg ist, es ist eine dunkle Welt. Unsere Chirurgen stehen bereit, um mit der Umwandlung zu beginnen.

Johannes Tosin

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 17001

Laufen

Franz liebte es zu laufen. Seit seiner Jugend. Laufen, um den Müll des Alltags abzuschütteln, wieder frisch zu werden, sich zu spüren und lebendig zu bleiben. Besonders nach der Arbeit und dem Stress. Aber nach jenem Tag verging ihm diese Lust. Er wollte nicht mehr. Er wollte sich nicht mehr frisch machen für Dreckskerle, die es nicht verdient hatten. An jenem Tag, an dem er seinen Job verlor, hatte ihm das Leben eine Lektion verpasst. Gehörig! Freitag der 15. Mai, einer der ersten warmen Frühlingstage des Jahres, war auch der erste Tag seit Langem, an dem sein Chef, Heinz, das Gespräch mit ihm suchte.

„Ich muss mit dir sprechen“, hielt er sich kurz. „Um 10 Uhr bei mir im Büro.“
Endlich, dachte er und hatte sich gefreut, nur weil sein Chef mit ihm reden wollte. Es war absurd, aber Heinz hatte das Wochen, ja Monate zuvor vermieden. Jedenfalls saß er Schlag 10 Uhr in seinem Zimmer. Auch Heinz war gerade eingetroffen. Von einem seiner Termine draußen. Da war er meistens. Kein Mensch wusste, was er den lieben langen Tag so tat. Und kaum hatten sie zu reden angefangen, da drängte seine Sekretärin bei der Tür herein und machte ihm klar, dass einige Entscheidungen unbedingt jetzt erledigt werden mussten. Hektisch lief er wieder aus dem Zimmer und ließ Franz an seinem Besprechungstisch allein zurück.
„Du weißt ja …“, lachte Heinz.
„Natürlich“, lächelte Franz verkrampft zurück, um Lockerheit zu zeigen.
Die Sonne knallte in ungewohnter Stärke durch die Scheibe und wärmte ihm den Arm. Frühling …, endlich Frühling, wird ja auch Zeit. Wie beruhigend!

Als Heinz nach wenigen Minuten wieder hereinkam, ging er hinter seinen Schreibtisch und begann gleich im Stehen: „Du weißt ja, in den letzten Wochen hat es immer Schwierigkeiten gegeben, und deswegen will ich da gar nicht lange herumreden. – Ich glaube, es ist besser, wir trennen uns.“
Franz war sprachlos. – Andererseits war es endlich raus.
„Ich weiß, arbeitsmäßig kann ich dir nichts vorwerfen“, sagte er ruhig. „Du hast deine Arbeit immer ordnungsgemäß erledigt …- Vor drei Monaten habe ich dir die Position des Gruppenleiters angeboten. Und du hast sie nicht angenommen. – Wird schon, hast du gesagt. – Ich versteh dich. – Ich hätte das auch nicht angenommen an deiner Stelle. – Aber so kann es auch nicht weitergehen.“
Stimmt, so konnte es nicht weitergehen, das dachte Franz auch. Dennoch war er überrascht.
„Hier – ich habe alles vorbereitet“, setzte Heinz zügig nach und legte ihm ein Schriftstück vor: „Auflösungsvereinbarung“.
„Lies es dir durch und wenn du einverstanden bist, dann unterzeichnest du einfach. – Ich würde es bevorzugen, wenn du keine Schwierigkeiten machst und zustimmst. – Die offizielle Version ist, dass du dich mit unserer neuen zweiten Geschäftsführerin Frau Piller nicht verstanden hast. – Das entspricht doch den Tatsachen. Oder?“

Nachdem Franz dieses läppische Blatt Papier durchgelesen hatte, lehnte er sich gefasst zurück. Und wenn er auch für andere durch die Glasscheiben des Büros betrachtet einen gelassenen Eindruck machte, wurden in diesem Moment seine Gedanken wie Teilchen beschleunigt, die verzweifelt in ihrer Raserei zu ergründen versuchten, wie es bloß so weit kommen hatte können … Sicher, er musste dem Schreiben nicht zustimmen! Könnte auch kämpfen. Aber was bedeutete das? In den nächsten Tagen, Wochen, vielleicht Monaten eine giftige Atmosphäre ertragen? In der man alles gegen ihn auslegte, bis er schließlich irgendwann selbst das Handtuch warf? – Auch wenn er sich Schützenhilfe vom Betriebsrat holen könnte. Letztlich war es doch nur eine Frage der Zeit. – Was sonst?

Dieser Mistkerl von Heinz, der ihn vor einem Jahr erst geholt hatte, wollte ihn jetzt einfach so im letzten Moment an einem Freitag zu Mittag entsorgen. Auf die Schnelle. Als er ihn ansprach, war er in leitender Position eines Mitbewerbers tätig: hochangesehen und erfolgreich. Franz wollte ihm Dienstleistungen anbieten. Heinz aber trieb im Kaffeehaus das Gespräch in eine andere Richtung, nachdem er zuvor sein Vorhaben einfach abgeschlagen hatte.
„Daraus wird nichts“, unterbrach ihn Heinz bald.
„Ich werde einen Mitbewerber wie dich mit meinen Aufträgen nicht großziehen. Das wirst du doch verstehen. – Aber…“, setzte er fort, „ … so wie ich das sehe, kannst du nicht zufrieden sein mit deinem Job“, begann er und zählte drei Gründe auf, warum er seiner Meinung nach nicht in der damaligen Funktion glücklich sein konnte.
„ … und habe ich recht?“, endete Heinz und schaute ihn fragend an.
Das traf. Und in Franz drin gab es tatsächlich so etwas wie Resonanz. Zweifellos war es seiner langjährigen Branchenkenntnis zuzuschreiben. Sein Mund verneinte jedoch, wollte Heinz in keinem Fall recht geben. Wenn er zuerst nicht wusste, worauf er hinauswollte, stellte sich jetzt doch heraus, was er nicht glauben wollte: „Wir suchen einen so wie dich. Als Abteilungsleiter. – Überleg dir, ob das was für dich ist.“

In den nächsten Tagen, in ruhigen Momenten dachte er noch einmal seine Situation durch: Er war in ein Unternehmen gekommen und hatte in einem turbulenten Jahr das Unternehmen aus der Kostenfalle herausgeführt. Hatte dabei Personal entlassen müssen, was nicht lustig gewesen war, aber die notwendige Antwort war auf den Reformstau, den sein Vorgänger hinterlassen hatte. Nur die Abhängigkeit vom größten Kunden, der um seine Stellung wusste und diese maßlos ausnutzte, blieb erdrückend. Von diesem Druck wäre er befreit, wenn er wechselte. Das wäre gewiss. Aber der nächste Druck würde folgen. Wenigstens käme er in ein großes, bekanntes, strukturiertes Unternehmen mit Background und Wachstumspotenzial. Was aber den Ausschlag gab, war, dass Franz sich geschmeichelt fühlte, gefragt worden zu sein. Obwohl ihn seine Branchenkollegen gewarnt hatten: dass Heinz ein Wendehals sei. Ganz nach dem Winde rede und handle. Aber er stürzte sich hinein in das Neue. Zuerst auf jene Dinge, die vom Vorgänger liegengeblieben waren, und er versuchte sie möglichst rasch einer Lösung zuzuführen. Ganz wie man es von einem Manager erwartete. Vor allem für Kurt, den Mann aus dem Controlling, war er der ersehnte Neuzugang. Kurt, der interimistisch die Dinge erledigte, konnte es schon nicht mehr erwarten, einen wie Franz in die ersten Schritte des Unternehmens und der Systeme einzuführen. Und er konnte es auch nicht mehr erwarten, ihm all jene Themen umzuhängen, die ihm allzu lange schon lästig waren. Dafür war er für alle Fragen und Themen, die aus dem Tagesgeschäft entstanden und über die Franz noch nicht Bescheid wissen konnte, sein Ansprechpartner.

Das Tagesgeschäft lief rund, bis völlig unerwartet viereinhalb Monate später der zweite Geschäftsführer abhanden kam. In der einen oder anderen Bemerkung hatte es sich zwar schon einige Zeit davor abgezeichnet, dass neben Heinz, dem ersten Geschäftsführer, sich ein zweiter als Kontrahent gegen Heinz von Tag zu Tag mehr in Stellung brachte. Franz hielt sich geflissentlich aus diesem Konflikt heraus und war schließlich doch überrascht, wie es ausgehen sollte.

Der zweite Geschäftsführer, ein Mann mit traurigem Blick und steifem Genick, gab aufgrund seines höheren Alters mit vielleicht 55 Jahren und einem Mehr an Erfahrung stets vor, die Nummer eins in der Geschäftsführung zu sein. Er wäre auch vom Vorstand geholt worden, um Ruhe in das Unternehmen zu bringen und die ständige Abwesenheit des ersten Geschäftsführers auszugleichen. Früher war er beim Heer bei den Fallschirmspringern gewesen und einer der Ersten, der mit den damals schweren Kameras am Helm die Sprünge filmte. Bei den Landungen hatte er sich – nach seinen Erzählungen – regelmäßig die Halswirbel gestaucht. Dieser Mann beschuldigte also Heinz, für seine Mitarbeiter nicht ausreichend da zu sein und lieber bei Kunden extern oder bei den Konzernbossen intern ständig dem Lobbying nachzugehen.

Heinz, zehn Jahre jünger als der zweite Geschäftsführer, war ein Mann mit geschwellter Brust. Wenn er dastand, streckte er seine Beine durch, so dass die ganze Energie nach oben stieg und nicht wieder nach unten fließen konnte. Diese Eigenschaft sollte ihm zu gegebener Zeit entsprechend helfen, sich aufzublasen und seinem Gegner Angst einzujagen. Wie jetzt – da er Kampfansagen nicht duldete. Heinz war äußerst zuversichtlich, die wahrgenommenen Schwächen des anderen eines Tages ausnutzen zu können, um ihn schließlich mit seinen guten Kontakten aus dem Feld zu schlagen.

Der Geschäftsführer mit dem traurigen Blick kam eines Morgens um 7 Uhr 30 Uhr mit seinem neuen Audi A6 in eine Besprechung und musste keine drei Stunden später das Unternehmen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln verlassen. Sein Vorgesetzter und zugleich Eigentümervertreter jenes Unternehmens, der ihn erst vor Kurzem eingestellt hatte, hatte ihn völlig überraschend dienstfrei gestellt und aufgefordert, unverzüglich alle Arbeitsmittel zurückzugeben. Das Gespräch, in dem ihm das mitgeteilt wurde, hatte gerade mal dreißig Minuten gedauert. Natürlich hätte es niemand für möglich gehalten, dass ihn dieses Schicksal in seinem Alter je ereilen würde. Danach rief er seine Assistentin an sowie seine ihm unterstellten Mitarbeiter und machte sich unverzüglich auf den Weg, sein Büro zu räumen.

In den ersten Gesprächen hatte er noch kampfeslustig erklärt, dass er die Nummer eins der Geschäftsführung wäre. Und jetzt musste er einsehen, doch am anderen gestrauchelt zu sein. Obwohl man ihm anfangs eine Aufgabe anvertraut hatte: nämlich seinem Geschäftsführer-Kollegen auf die Finger zu schauen. Offenbar hatte er seine Job-Description falsch verstanden!

Es dauerte keinen Monat, da wurde bekannt, dass mit Frau Piller, seiner Nachfolgerin aus dem Konzern mit Schwerpunkt auf das Kaufmännische, frischer Wind in das Unternehmen kommen würde. Im Eiltempo setzte sie eine strenge Kostenkontrolle durch, eine striktere Außenständeverfolgung und vieles mehr. Von Statur war sie eine große, unübersehbare Frau mit vehementem Ausdruck, die es liebte, das letzte Wort zu haben. Einige ihrer Maßnahmen bedeuteten auch eine Delegierung von kaufmännischen Aufgaben in die nächstuntere Hierarchie-Ebene, was bei den operativen Mitarbeitern Jammern und Klagen hervorrief: Wären sie doch für die Durchführung zuständig und nicht für so viel kaufmännischen Kram.

Während Heinz seine Anfangsschwierigkeiten mit Frau Piller eingestehen musste, ließ er sich dadurch nicht verunsichern, hatte er doch genug Raum, ihr auszuweichen, indem er es weiterhin vorzog, „draußen am Markt“ seiner Arbeit nachzugehen. Währenddessen durchforstete Frau Piller die Zahlen des Unternehmens und verschaffte sich durch ihre fordernde Art zur Umsetzung der Maßnahmen Schritt für Schritt mehr Respekt. Nur dann und wann streifte sie ihre Stöckelschuhe unter ihrem Schreibtisch ab, stürmte von ihrem Zimmer zur Toilette, um sich gleich darauf wie eine Spinne wieder in ihre Befehlszentrale zu begeben. Bald schon schüttelten jene Mitarbeiter, die sie beobachtet hatten, ihre Köpfe. Im Konzern war man sich bewusst, dass ihre kaufmännisch-harte Art gerade jetzt nicht so falsch sein konnte. Und gerade in der Zeit der Wirtschaftskrise waren genauere Kostenkontrolle und Sparstift keine Fehler. Nicht nur Investitionen wurden gestoppt, sondern auch Neuaufnahmen, wenn sie nicht unbedingt notwendig oder vorher budgetiert waren. Franz jedenfalls hatte ihr und ihren Maßnahmen ohne Wenn und Aber Unterstützung und Schützenhilfe zu leisten.

Mit ihrem Erscheinen hatte sich auch die Zuständigkeit und Zuordnung seiner Funktion geändert: Obwohl ab sofort Heinz für Franz zuständig war und dieser sich bei offenen Punkten an ihn zu wenden hatte, musste er sich in der Realität mit Frau Piller besprechen, weil Heinz praktisch nie da war. Frau Piller tat aber nur ungern die Arbeit anderer. Nicht nur deswegen war ihr Ton stets ein ungehaltener und schroffer.

Während in der Anfangsphase sein Kontakt zu Heinz und Kurt eng war, und er mit ihnen immer wieder zu Mittag aß, wurde dieser mit der Zeit immer weniger, bis Franz schließlich ganz auf sich allein gestellt war. Damit nahmen auch die Möglichkeiten sich abzustimmen rapide ab. Schmerzhaft in einer Zeit, wo die Probleme bei Kunden extern und intern aufgrund der Sparmaßnahmen an Zahl und Auswirkung zunahmen, und er nicht befugt war, Entscheidungen allein zu treffen.

Zwischen Frau Piller und Heinz musste im Hintergrund etwas besprochen worden sein; denn Problemfälle, die aus dem Tagesgeschäft bei ihm landeten, wurden von Heinz plötzlich gegen seine sonstige Gewohnheit kontrolliert und nachgefragt. Meldungen über Teilfortschritte interessierten nicht. Man wollte Vollzugsmeldungen und pflegte dabei Druck zu machen. Franz spürte, wie sich die Atmosphäre in eine angespannte, feindselige wandelte, wie mit einem Mal die schützende Hand von Heinz über ihm weg war. Auch bei den wöchentlichen Fußballtrainings außerhalb der Arbeitszeit drehte er sich weg, mied jeden Kontakt. Eines Tages, bei einem der wöchentlichen Abteilungsmeetings mit Heinz und den Verantwortlichen aus seinem Bereich, fiel ihm auf, wie sehr diese Meetings von Heinz und seinem Lachen dominiert waren. Und wie alle dem Lachen des Königs huldigten.

Das Lachen von Heinz war sein Markenzeichen. Und so bald er im Büro war, zeigte sein Lachen, dass er anwesend war. Während er durch die Büroräume zog, verstreute er weithin sein Lachen. Wie ein Hund sein Herrchen an den Schritten erkennen konnte, so konnte man ihn erkennen: am lauten, ungebremsten, Raum füllenden Lachen. Mit seinem Lachen markierte er sein Revier. Kunstvoll verstand er es, sein Lachen mit immer neuen Witzen zu füttern, für die er sich seine Zuhörer suchte. Seine Auserwählten. Zu ihnen gehörte Franz nicht mehr. Seine geschäftlichen Punkte, wie immer sie ihm auch unter den Nägeln brannten, waren für Heinz nicht relevant. Er ignorierte sie, wie er ihn ignorierte. Gelang es Franz einmal, Heinz ihre Dringlichkeit klar zu machen, tat Heinz so, als ob er mit lästigen Dingen gestört würde, die jeder andere besser entscheiden könnte.

Von Mal zu Mal kam Franz dieses Lachen herrischer, diktatorischer und ausschließender vor. Und Franz begann, diesem Lachen zu misstrauen, weil es ein so beklemmendes und kein erlösendes war. Nein, eines, das den Dingen etwas abringen wollte. Mit seltsamer Absicht. Als angelernte Strategie, die er sich irgendwann angeeignet hatte. Weil er irgendwo gelernt haben musste: Lachen kommt gut. Gut einsetzbar als Auflockerung für überforderte Mitarbeiter, als willkommenes Geschenk an Aufmerksamkeit und natürlich als Eisbrecher. In seinem Verhalten war Heinz derart firm, dass man den Eindruck bekommen konnte, dass nichts sein Lachen verstimmen konnte, es vielmehr von ungeheurer Selbstsicherheit und Selbstvertrauen zeugte, dessen man nur allzu gern ein Teil sein, Auserwählter sein wollte.

Mit seinem Lachen wurde scheinbar die Subordination außer Kraft gesetzt. Das äußerte sich in einem ernsten Unernst oder unernsten Ernst, aus dem sich der Geist in jede Richtung gehen ließ, bis alles denkbar wurde, aber nichts mehr galt. Den harten Wahrheiten nahm er damit den Wind aus den Segeln. Allenfalls Andeutungen, Hinführungen, Umschreibungen, um weder Aufruhr noch Empörung zu erzeugen. Franz kam es so vor, als wollte Heinz mit seinem Lachen zeigen, dass nur Schönwetter geduldet und Unangenehmes nicht erwünscht war. Der Oberfläche war nichts anzumerken, sie blieb im Komfortbereich. Ein bisschen Kacke am Dampfen – schnell ein bisschen Lachen. Passt! Nur keine anderen Emotionalitäten, nur keine Empörung, nur kein Ärger, sondern Lachen. Lachen. Lachen.

Als dann Frau Piller bei einer Abteilungsleitersitzung in einem Detail-Punkt nachhakte, deren Zusammenhänge sie auch nach näheren Erklärungsversuchen nicht verstehen wollte, spürte Franz, dass ein Moment gekommen war, da sie ihn abgeschrieben hatte. Ab jetzt wäre er ein totes Pferd, auf das niemand mehr setzte. Und Heinz, der neben ihr saß und keine Rettung, keine Verteidigung, keine Erklärung gab, dachte vermutlich ebenso. Franz war seltsam zumute: Seine Anwesenheit in diesem Hause hatte ein spürbares Ablaufdatum, das nur noch nicht ausgesprochen war.

Und Franz hatte keine Idee, was er gegen diese Feindseligkeit tun konnte. Er fühlte sich in einer Sackgasse. Verzweifelte Denkschleifen nach Auswegen vernebelten ihn und dominierten nicht nur tagsüber seine Welt. Ein seltsames Gefühl der Schwere überkam ihn mit seinen langsamen Sinus-Schwingungen, das ihn ans Bett fesseln wollte. Und da er sich selbst nicht mehr helfen konnte, beschloss er, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Aber sobald er vor dem Coach saß, wusste er nicht mehr, wie er anfangen, davon erzählen sollte. Im Grunde schien ihm alles so lächerlich. Wären denn Worte kraft- und machtvoll genug, noch irgendetwas an den Dingen zu ändern? Oder war nicht schon längst alles entschieden?
Der Coach gab ihm den Rat, in sich einen lichten und fröhlichen Ort zu finden und sich mehr darauf zu fokussieren, als sich von der Realität erdrücken zu lassen. Er riet ihm auch, Dinge zu unternehmen, die ihm Spaß machten und sich nicht von seinen Pflichten auffressen zu lassen.

Aber Schmerz und Ärger waren real und pulsierten in ihm, blähten sich auf und wurden größer und größer. Wollten sie ihn beherrschen, ja verbrennen? Er fühlte sich ihnen ausgeliefert. Es zog ihn in einen Strudel hinein, riss ihn vom Sockel herab ins hilfloseste Dasein, dem er sich unterwerfen musste, so wie man sich am Ende von unmöglich gewordenen Protesten sogar der Unwahrheit beugt. Und hier war die Wahrheit keine andere als das Verschmelzen mit dem Furchtbaren. Kein Ausweichen war möglich. Kein Draußenbleiben, kein Darüber und kein Daneben.

Je mehr sich Franz bemühte, einen guten Job zu machen, desto mieser fühlte er sich behandelt und kälter missachtet. Der gute Draht zu seinem unmittelbaren Umfeld war so gut wie abgerissen. Selbst inoffizielle, kollegiale Gespräche mit seinen Vorgesetzten fanden nicht mehr statt. Und dieses Schweigen wurde von beiden Seiten nicht behoben. Franz konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, es mit gemeinen und durchtriebenen Menschen zu tun zu haben, die etwas gegen ihn im Schilde führten. Ohne Aussicht auf Veränderung, die von keiner Seite in Angriff genommen wurde. Und Franz fühlte sich außerstande, etwas daran zu ändern. Über diesen Schatten konnte er nicht springen. Wenn es seinen Vorgesetzten ebenso erging, dann standen beide Seiten jetzt vor düsteren Gefühlswolken, die sich unheilvoll wie ein Gewitter zusammenbrauten.

Erst war es so gewesen, dass er jegliche Bemühungen auf Veränderung nicht auf sich nehmen wollte, weil er keine Notwendigkeit sah. Und als diese offenkundig wurde, konnte er nicht mehr, ließ es laufen. Aber zu welchem Zeitpunkt war denn die Entscheidung, ihn loszuwerden, getroffen worden? Oder war etwa gar keine Strategie dahinter? Egal. All diese Fragen konnte er ohnehin nicht mehr klären.

Oder aber war es doch anders: Gerade weil er seine Arbeitswelt für feindselig hielt, dass sie sich diesem Bild anpasste wie eine Self-fulfilling Prophecy: Das Äußere spiegelte unbewusst seine Überzeugung wider. Fakt war, dass sich ihm in diesem Unternehmen die Brust zusammenschnürte, sich ein nagendes Gefühl des Unbehagens in seinen Magen fraß. Und all die Phasen des Reflektierens, Analysierens, bewussten Entspannens, ja sogar Meditierens hatten ihm nicht geholfen, obwohl er absolut überzeugt davon war, dass ihm Meditation helfen würde, sein Herz zu beruhigen. Jeden Morgen drückte er sich in irgendeine Seitengasse in der Nähe seines Büros an den Straßenrand, um noch ein paar Runden zu meditieren, bevor er sich in seine Hölle wagte. Aber er schaffte es nicht, sich von seinem Ärger und seiner Wut zu lösen. Er blieb ihr Gefangener.

Als schließlich ein Gruppenleiter mit dem Entschluss an ihn herantrat, eine Hierarchie-Stufe zurückzutreten, weil er Probleme mit dem Herzen hatte und seine Digitalis-Dosis erhöhen musste, bekam Franz von Heinz auch noch den Vorwurf, seine Mitarbeiter in die Überforderung zu treiben. Schließlich legte Heinz ihm nahe, von seiner Position als Abteilungsleiter zurückzutreten und jene des scheidenden Gruppenleiters zu übernehmen.

Irgendwo in seinem Inneren hatte es Klick gemacht. Als ob sich sein Leben an einer Sollbruchstelle entzweit hätte. Und das fühlte sich nicht gut an. Gar nicht gut. Als ob sein Wille, seine Arbeit sauber und fair abzuliefern, zerbräche. Arbeit, auf die nicht nur er stolz sein konnte. Arbeit, nach der man sich ohne schlechtes Gewissen im Spiegel ansehen konnte. Arbeit, die keine verbrannte Erde hinterließ, die niemanden ausbeutete. Arbeit, die allen Gewinn und Nutzen brachte. Das alles zählte nichts mehr. Nichts. Hier zählte etwas anderes. Alles nur keine faire Arbeit. Nur noch, wie man seine eigene Haut rettete. Egal wie. Egal auf wessen Kosten.

Das Gute an dieser Situation war, dass sie ihm die Möglichkeit bot, einmal drei Wochen Urlaub am Stück mit seiner Frau zu nehmen. Was er sich sonst nie erlaubt hätte. Er schmiss die hinteren Sitze aus seinem Van, ließ sich eine passende Schaumstoffmatratze zuschneiden, und fertig war das Schneckenhaus für seine Frau und ihn, mit dem sie ab nach Südfrankreich düsten.
Auf dieser Reise durch Südfrankreich wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung davon hatte, wie hart es für ihn sein würde zu genießen. Dass er etwas so Einfaches wie „Genießen“ vergessen hatte. Nicht einmal an einem der schönsten Strände konnte er es sich gemütlich machen. Bald hatte er entweder von der Sonne genug oder konnte nicht still liegen oder sitzen. Und in den Städten, die sie besuchten, war er in eine Art Freizeitstress verfallen, der ihn ständig weiterdrängte, diese und jene Sehenswürdigkeiten zu besuchen und abzuhaken. Aber darum ging es hier nicht. Franz tat sich schwer zu verstehen, dass sein Körper keine Maschine war.

Er wollte sich nicht eingestehen, dass die ungemütlichen Steine und Piniennadeln ihm schwerstens auf die Nerven gingen und er Hilfe in Anspruch nehmen konnte. Er musste nicht immer am Boden hocken. Er könnte sich auch mit einem Gegenstand wie einem Liegestuhl behelfen, der ihm das Leben erleichtern konnte. Der „Chaise de plage“ war eine durchaus sinnvolle Anschaffung seiner Frau und wurde zum Sinnbild ihrer Reise, die ihn auf eine andere Ebene erhob. Nämlich es sich wert zu sein, Dinge, die es gab, voll zu nutzen, um das Leben besser genießen zu können.

Wieder zu Hause begab er sich auf Arbeitssuche, und es ergriff ihn der Blues. Quälende Fragen holten ihn ein: Was nun? Wie wird das ohne Job? Wann werde ich wieder einen finden? In Zeiten der Finanzkrise! Und wenn – welchen? Falls aber nicht? Wie werde ich meine Familie erhalten können? Wäre es vielleicht das Gesündeste gewesen, sich mit flegelhaftem Unmut zu erheben und seiner Raserei freien Lauf zu lassen? – Stattdessen hielt er sich vielmehr an eine schicksalsergebene Erdulder-Haltung, die zu nichts anderem gut war, als seine Betroffenheit zu verbergen.
„Ich fühle mich nicht gut“, hatte er irgendwann seiner Frau gestanden.
„Wie wär’s, wenn du wieder mal laufen gehst? Dich einfach auslüftest?“
„Keine Lust“, sagte er abwesend.
„Davon wird es auch nicht besser.“
Nach Monaten rief ihn ein Freund an: „Und wie sieht’s aus? Gehst du wieder einmal mit mir laufen?“
„Nein. Nie wieder!“
Verwundert über diese rigorose Aussage fragte der Freund nach. Und Franz erzählte ihm von seiner Situation.
„Warum passiert das alles ausgerechnet mir, kannst du mir das erklären?“
Natürlich konnte sein Freund das nicht erklären. Franz wollte sich einfach nur beklagen – und ertappte sich dabei, immer wieder zu jammern.
„Ich finde, dass die Welt dasteht wie ein Haus, in dem sich einerseits Menschen um einen Futtertrog zusammendrängen, während andere mit hoffnungsvollem Blick draußen stehen und chancenlos in das Haus wollen. Als teilte sich die Welt in jene, die drinnen und jene, die draußen sind. Und ich gehöre nicht mehr zu jenen, die drinnen sind. – Ich bin raus“, sagte Franz resigniert.
Der Freund, erschlagen von seinem Gerede, fragte nur:
„Wann warst du das letzte Mal laufen?“
„Weiß nicht.“
„Ich weiß nicht Franz, ob das so klug ist, was du da machst. – Mir kommt das eher wie ein Knieschuss vor. Du pinkelst dir doch nur selber ans Bein. Merkst du das nicht?“
Das hatte gesessen. Das war in Franz eingefahren. Aber wozu hatte man denn Freunde?!

Seine Arbeitssuche gestaltete sich folgendermaßen: Am Samstag sammelte er die Karrierebeilagen aus ein paar Zeitungen und dem Internet. Und am Mittwoch suchte er sich dann Stellen heraus, die für ihn in Frage kamen. An diesem Tag nahm er sich vor, seine Bewerbungen abzuschicken. Diesen Ablauf hielt er beinahe generalstabsmäßig ein. Struktur, sagte er sich, war jetzt das Wichtigste in jenem seltsamen Vakuum, in dem er sich befand. Außerdem stand einmal im Monat oder alle sechs Woche der Besuch bei seinem Betreuer im Arbeitsmarktservice auf dem Plan. Einem Mann, etwas jünger als er selbst, der von den Schicksalen, die ihm gegenübersaßen, nichts wissen wollte und nicht gerade vor Positivität sprühte. Die Grundhaltung seiner Aussagen war angstbesetzt und besorgniserregend: „Jeden Tag, den Sie länger in der Arbeitslosigkeit verbringen, verlieren Sie an Marktwert. Sind Sie sich dessen bewusst?! – Sie sind nicht mehr in der Position, Forderungen zu stellen. – Sie müssen nehmen, was Sie kriegen können.“

Papperlapapp. Aussagen dieser Art, wie auch die ständig wachsende Anzahl an Absagen, die er zurückbekam, kotzten Franz an. Wie auch die vereinzelten Einladungen zu Gesprächen, die dann nach ein bis zwei Runden ebenso in Absagen mündeten. Wie war es denn möglich, dass man auf einmal auf einen wie ihn, der vierzig Mitarbeiter geführt und zehn Millionen Euro verwaltet hatte, so leichtfertig verzichten konnte? Was machte er falsch in seinen Bewerbungen? Was erwarteten die Unternehmen denn? Und was konnten Bewerber, die ihm vorgezogen wurden, denn so viel besser als er? Gedanken des Vergleichens begannen an ihm zu nagen. Wozu war er denn noch nütze im Leben? – Aber auch zukunftsgerichtete Gedanken tauchten in ihm auf: Was machte ihm denn Spaß? Was war seine Mission im Leben? Was konnte er besonders gut? Was war seine Leidenschaft? Fragen dieser Art hatte er sich lange nicht mehr gestellt.

Dann musste er an seine Frau denken, die ihm einmal gesagt hatte: „Ist das Leben nicht ein einziger Wechsel von Aufstieg und Fall? – Du steigst auf und dann fällst du. Na und? Und wenn du gefallen bist, stehst du einfach wieder auf. Wie ein Kind, das laufen lernt. Auch wenn es mühsam ist. Was ist schon dabei?“ Und als seine Frau einmal nicht zu Hause war, schlüpfte er in seine alten Joggingschuhe und drehte seit Langem wieder einmal eine Runde. Seine Runde.

Fritz Schuler

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