Die Kuppel

Das Knacksen des Informationsverkünders lenkte XX.645s Aufmerksamkeit auf die bevorstehende Meldung, als wenn eine Stimme sich räusperte, bevor sie sich erhob. „Gepriesen sei der Fortschritt, Ihr neugeborenen Menschen. Heute um fünf Uhr sechsunddreißig erblickte Nummer 100.000 in der zentralen Geburtenanstalt erstmals das Licht der Kuppel.“

XX.645, der sich selbst „Gi“ nannte, blickte auf die Uhr an der Kunststoffwand. Er wusste, was in fünf Minuten kommen würde.

Er hing noch dem Traum nach, in dem er an der Oberfläche gelebt hatte. Er wusste nicht, wie es dort aussah, es gab keine Aufzeichnungen darüber. Er kannte nur Begriffe wie „Sonne“ und „Berg“. Im Traum hatte er sich selbst eine Landschaft zusammengestellt. An der Oberfläche soll die Landschaft früher natürlich geformt und gewachsen gewesen sein. Hier, unter der Kuppel, war sie künstlich erzeugt. Jetzt rückte der Minutenzeiger der Uhr in die vertikale Position und bildete die Verlängerung des Stundenzeigers. Jetzt kam es:

Der Informationsverkünder knackste, und die Stimme begann: „Guten Morgen, Ihr neugeborenen Menschen, es ist sechs Uhr. Bitte erhebt Euch und bereitet Euch für den Tag vor.“

Nun wurde die Unterkunft beleuchtet. Das Licht blieb gedämpft. Gi stand auf und setzte sich an den Kunststofftisch. Hier bestanden so gut wie alle Teile der Inneneinrichtung aus Kunststoff. Die Wissenschaftler der neugeborenen Menschen hatten erdölproduzierende Bakterien erschaffen können, und mithilfe des Erdöls erzeugten die Techniker Kunststoff, den sie in Formen pressten.

Die Unterkunft bestand aus nur einem Raum und Bad und WC. Zwei Wände des Raums waren von grünen Pflanzen bewachsen, die für ausreichen Sauerstoff sorgten. Die Bewässerung erfolgte in einem kleinen Wassertrog. Gi ging zur Kühlzelle mit der durchsichtigen Front. Er nahm sich „Beerenvielfalt“ heraus und schenkte sich einen Beinahe-Orangensaft in ein Glas ein. Die Nahrung wurde hier unter der Kuppel erzeugt, gemeinsam mit der Entsorgung war das einer der drei großen Industriezweige, die beiden anderen waren Beleuchtung und Luftfilterung. Gi arbeitete als Monteur in der Luftfilterung.

Er brauchte nur einen Löffel, um zu essen. Die „Beerenvielfalt“ war ein lilafarbener Brei. Gi wusste nicht, wie Beeren und Orangen in Wirklichkeit schmeckten, er hatte sie nie gegessen. Also schmeckten sie wohl so wie gerade jetzt. Er hatte noch Zeit. Er sinnierte. Was wäre das Beste, was wäre das Schlechteste? Er fängt mit dem Schlechtesten an. Am schlechtesten wäre das feine weiße Pulver, das von oben kommt. Gleich nachdem es auf der Haut ist, entzündet es sich von selbst. Das ist der Selbstzerstörungsmechanismus, der in der Kuppel eingebaut ist. Wenn die neugeborenen Menschen sich so negativ entwickeln, dass keine Umkehr mehr möglich ist, tritt er in Kraft. So wurde es ihnen erzählt.

Was am besten wäre? Was sehr schön wäre, wäre eine Partnerin, eine, mit der er sich fortpflanzen dürfte. Dafür müssten beide X in seiner Bezeichnung durch Zahlen ersetzt werden. Dazu müsste er zweimal vom Rat der Acht belobigt werden. Der Rat der Acht herrscht über die neugeborenen Menschen unter der Kuppel. Seine Mitglieder zeigen sich nicht öffentlich. Niemand weiß, wie sie aussehen. Eine Belobigung oder ein Urteil oder etwas anderes wird dem Betroffenen über einen Mittler überbracht. Eine Belobigung ist schon nicht leicht, zwei Belobigungen sind sehr schwierig zu erreichen. Aber es ist ein Ziel, eine Partnerin, ein Kind, für das es sich zu leben lohnt.

Das Ziel, dass der Rat der Acht ausgegeben hat, ist, dass die neugeborenen Menschen wieder die Oberfläche besiedeln sollen. Dieses Ziel wurde schon vor langer Zeit ausgegeben, und es wird noch einige Generationen dauern, bis es so weit sein wird.

Ich sollte jetzt damit aufhören, Gedanken nachzuhängen, sagte sich Gi, sonst bekomme ich noch seltsame Ideen. Er ging sich duschen. Danach zog er eine weiße Unterhose und einen weißen Overall an, die unter einer Öffnung in der Kunststoffwand lagen. Schmutzige Wäsche gab man in eine Öffnung darunter, sie wurde mittels Druckluft zur Wäschestelle transportiert, wo sie gewaschen wurde. Gleichzeitig wurde saubere Wäsche auf dieselbe Weise zu dieser Unterkunft befördert. Es gab nun nichts mehr, was Gi in seiner Unterkunft hielt. Er verließ sie, ging den Flur entlang und die Stiege hinunter. Einige andere taten dasselbe. Sie waren alle weiß.

Im Freien, was außerhalb von Gebäuden bedeutete, hatte Gi die Wahl zwischen einem Förderband, das ihn, mit Umsteigen, zu seinem Arbeitsplatz brachte, oder dem Zufußgehen. Ich gehe heute zu Fuß, entschied er. Hier auf der Straße waren zwischen all den Weißgekleideten manche wenige in Schwarz, sie traten mindestens zu zweit auf. Das waren die Wärter, sie hatten Namen mit einer hintangestellten Zahl an derselben Stelle im Brustbereich, wo die Weißgekleideten ihre Nummern mit vorangestellten Xen hatten. Sie lebten am Rand der Kuppel, es hieß, sie hätten mehr Komfort. Sie waren die Ordnungsmacht. Sie bestraften mit dem Schockstab, an dem sie die Stromstärke von sehr leicht bis tödlich einstellen konnten.

Gi hatte mit Ihnen niemals Probleme gehabt, im Gegenteil, letzte Woche hatte er ihnen eine Beobachtung gemeldet. Im alten Lagerhaus im Osten, das wie alle Gebäude aus Stahl war, der korrodierte, dessen Farbe von blaugrau zu rostbraun gewechselt hatte, und dessen Festigkeit nachließ, hatte er einige Flugblätter gefunden. „Glaubt nicht, was Ihr seht!“ und „Lehnt Euch gegen Euer Sklaventum auf!“ stand auf ihnen. Jeweils ein Flugblatt gab er als Beweisstück ab.

Es war hell. Draußen war es immer hell. Dadurch sollten Verbrechen vermieden werden. Es gab keine Insekten oder Vögel oder sonstigen Tiere. Die einzigen Lebewesen waren Menschen, viele weiße, jetzt zwei schwarze, die auf Gi zusteuerten. Unwillkürlich bekam er Angst. Die letzten Stöße vom Schockstab, von denen ich Zeuge war, waren doch sehr heftig, dachte er. Die Weißen krampften. Beim allerletzten Mal bewegte sich der Weiße nicht mehr. Gi ging langsamer.

Die Wärter gingen forsch auf ihn zu. Als sie vor ihm waren, streckte einer die Hand aus. „Stehenbleiben!“, hieß das. „Neugeborener Mensch XX.645?“, fragte der Wärter, auf dessen Schild „Paul 72“ stand. „Ja“, sagte Gi unsicher. „Wir beglückwünschen Sie zu Ihrer Beobachtung“, sagte der Wärter „Kurt 43“. Wir konnten die Schuldigen ausfindig machen. Der Rat der Acht hat daher entschieden, Sie zu belobigen, wobei ich nun als Mittler fungiere. Sie haben allen neugeborenen Menschen eine Wohltat erwiesen.“ An Ort und Stelle ersetzte Paul 72 das X an der Zehntausenderstelle durch 9. „Danke“, sagte X9.645 nur. Die Wärter entfernten sich.

Jetzt war es doch ein bisschen spät geworden. Gi bestieg ein Förderband, er war seinem größten Wunsch nun ein großes Stück nähergekommen. Er musste nur noch die Augen offenhalten, es lag doch einiges im Ärgeren, als man dachte. Er stieg auf ein querlaufendes Förderband um. Eine solche Beobachtung noch, die zu den Tätern führt … Gi war auf dem Weg zur Arbeit und inmitten dieses Gedankens, da bemerkte er feines weißes Pulver an seinen Händen, das er zwischen den Fingern zerrieb. Es war auch auf seinen Haaren, seinen Schultern, den Schuhen. Es kam von oben und bedeckte jede Fläche.

Als er „Warum?“ schrie, brannten er und alles um ihn herum bereits.

Michael & Johannes Tosin

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16166

 

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