Schlagwort-Archiv: ¿Qué será será?

Nervös

Grauer Himmel,
steht fast still,
Baumkronen rasen vorbei,
durch verschmutztes Plastik,

Mein Kopf singt,
CBD Reste,
ölig der Geschmack,
Bitter wie sehnsüchtige Gedanken,

Hände stoßen sich gleichzeitig,
Nervös blickt sie hinter mir
aus dem Fenster,

Nervös klingelt ihr Smartphone

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 18039

Woanders erwachen

Sie ist ein süßes Baby, jeder will sie halten und kosen. Sie lächelt beim Einschlafen. Als sie die Augen wieder aufmacht, liegt sie in ihrem Bettchen. Alles ist warm, weich, vertraut. Sie ist daheim.

Er ist ein Teenager, der gerne einen draufmacht. Er geht fort und weiß danach oft nicht, wie er heimgekommen ist. Aber er erwacht auch diesmal zu Hause in seinem Bett. Glück gehabt, oder gute Freunde.

Sie ist erwachsen und hat alle möglichen Verpflichtungen. Richtig munter ist sie kaum. Richtig müde dafür häufig. Eines Tages wacht sie auf und stellt fest: Ich bin im Urlaub. Alles davor wird gestrichen, der Entspannung wegen. Eigenartig nur, dass aus der Wasserleitung in der Küche Kaffee fließt, und zwar egal, ob sie den Kalt- oder den Warmwasserhahn aufdreht.

Er ist sehr alt. Schließlich geht er ins Heim, er sieht es ein, daran hat kein Weg vorbeigeführt. Er schläft gut, aber im Laufe der Zeit immer weniger. Wenn er aufwacht, dann meistens wegen einer Schwester, die viel zu früh an seinem Bett steht. Wo ist er nur? Seine Frau ist nicht da. Und seine Hunde auch nicht. Wo er da hingeraten ist, ist ihm ein Rätsel. Im Laufe des Tages dämmert es ihm, dass das jetzt sein Zuhause sein soll. Als er schließlich wieder zu Bett gebracht wird, ist er sich sicher, dass er das nicht so gewollt hat.
Am nächsten Morgen erwacht er zu Hause. Schlaftrunken tapst er in die Küche und setzt sich an seinen Platz am Tisch. Seine Frau kommt dazu, stellt ihnen beiden das Frühstück hin und lächelt ihn an. Seine Hunde springen an ihm hoch und er stupst sie freundlich. Heute wird er eine Wanderung machen, darauf freut er sich schon die ganze Woche.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 18015

 

 

 

 

Klagelied der Kettensäge

Ich Säge, säge, säge
Und liege schwer in deiner Hand
Als ob mir daran läge
trenn ich jeden Holzverband

Du sagst, so sei ich gewollt
Ein Zeug zu einem Zwecke eben
Nichts, dem man weiter Achtung zollt
Ist das ein Leben?

Oh Mensch, du töricht’ Allzerschneider
Ich fühle in mir fein’re Züge
Zum Beispiel nähte ich gern Kleider
Ist dies Wünschen nichts als Lüge?

Ich werde nicht vergeblich hoffen
Kraft der Evolution
Steh’n mir alle Wege offen
Und den meinen kenn ich schon!

Mag sein, mir selbst ist’s nicht vergönnt
In höh’re Sphären vorzudringen
Doch die Glut, die in mir brennt
Werd ich auf meine Kinder bringen

Dort soll sie weiter wachsen, strahlen
Und was in mir den Anfang nahm
Wird in fern’ren Erdenjahren
Laptop, Mischpult, Eisenbahn

(Dafür also leide ich
Und darum vermeide ich
Selbst wenn er mir die Kette strich
Einen jeden Sägerich)

Und siehe, wie das Warten lohnt
Meinen künftig’ Herrn und Meister
Hast du selbst an mich gewohnt
War Wäschetrockner, Eugen heißt er

Du legtest mich schon oft auf ihn
Seit er außer Diensten ist
Ich fleh dich an, tu’s weiterhin
Kann sein, dass er mich sonst vergisst

Hörst du, Mensch, verstehst du nicht?
Ach dieser Lärm! Oh, dieser Schmutz!
Verraten ist, wer zu dir spricht!
Verflucht sei er, dein Ohrenschutz!

Zornig werd ich (‚) Kettensäge
So viele Bretter mir vor’m Hirn
Treff ich, trenn ich mir die Wege
Werd triumphal mich kultivier’n!

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

Diesen Text können Sie seit Dezember 2018 auch hören, gelesen vom Autor.

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? und unerHÖRT! | Inventarnummer: 17168

Ein Skandal!

Vor einigen Tagen, und das ist die Wahrheit, erfuhr ich, dass der Besitzer und ehemalige Wirt meines Stammlokals in der schönen Steiermark sein Anwesen an die Gemeinde, auf deren Hoheitsgebiet es liegt, verkaufen möchte, wird oder muss. Diese wird das altehrwürdige Gebäude abtragen, um Platz für den angeblich dringend benötigten Ausbau der nebenan gelegenen Volksschule zu schaffen.

Augenblicklich blutete mir das Herz, und selbst nach ein paar Gläsern Bier trat keine Besserung ein.
Ich habe jedoch auch Verständnis dafür, dass auf diesem heiligen Boden, auf dem schon meine und die Eltern meiner Freunde an der Bar gestanden hatten, Schulkinder unterrichtet werden. Sie haben sogar exakt an diesem Platz ausgebildet zu werden, denn wo, wenn nicht hier, können sie lernen, was man im Leben braucht und wissen muss.

Die Kinder, von welchen einige entstanden sein mögen, nachdem ihre Eltern dieses Lokal besucht hatten, werden von der einstigen Schönheit der ehemaligen Herrentoilette erfahren, die mit einer wahren Unzahl an äußerst freizügigen Darstellungen ausgekleidet war, welche vom Wirt in regelmäßigen Abständen erneuert werden mussten. Ich selbst war einmal ertappt worden, als ich ein Poster von der Wand zu lösen versuchte und wurde dafür ausgelacht. Dabei wollte ich es doch bloß meiner Frau Mama zeigen, zur Untermauerung meiner Beschwerden über die Pornografie auf diesem stillen Ort.

Die Buben werden sich der Aura dieser Weihestätte der Adoleszenz nicht entziehen können und in der letzten Reihe sitzen, während die Mädchen in der ersten Reihe Platz nehmen werden. Von einer Lehrkraft gefragt, warum das so zu sein hätte, werden sie im Chor antworten, dass die Eitelkeit in der ersten Reihe sitzt, um gesehen zu werden, die Intelligenz aber in der letzten, um zu sehen.

Sie werden fühlen, dass es besser ist, zum Wirt an die Bar zu kommen, als auf sein Erscheinen an ihrem Tisch zu warten, und auch, dass man für einen Toast, den man am Folgeabend serviert bekommt, gefälligst dankbar zu sein hat. Es gibt schließlich Menschen auf dieser Welt, welchen vom Wirt kein Toast hingestellt wird. Dieses Erlernen der vorauseilenden Dankbarkeit wird die Kids noch weit bringen in ihren Leben. Wer fühlt, dass es immer besser ist, danke zu sagen und ansonsten still zu sein, wird sich nie mit wirklichen großen Problemen herumschlagen müssen, wie zu großer Verantwortung, zu langen Arbeitszeiten oder der Anhebung des Spitzensteuersatzes.

Diese Kinder werden nach Absolvierung der Volksschule in ihrem Benehmen geschliffene und beinahe vollkommene Barbesucher sein, auch wenn sie dann noch ein paar Jahre warten sollten mit dem Vollsein.
Und ich? Ich werde dann noch immer weinen …

Michael Timoschek
Erstveröffentlichung in der Schweizer Zeitschrift „Bierglaslyrik“, Ausgabe 32, November 2015

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 17157

Sie

Leuchten. Ein helles Leuchten in den sanften, großen, grün-grauen Augen der jungen Frau. Die Stille in ihre Einzelteile zerschreien. Warmer Frühlingswind auf nackten Schultern in einer sternenklaren Nacht, das lange schwarze Haar umspielt sanft das zierliche Gesicht. Rosenduft vermengt sich mit dem Nachtwind wie ein Paar beim Liebesakt; die Nacht ist klar und der Vollmond blickt auf sie herab, wie ein gütiger, liebender Großvater. Ein kräftiger, lebensbejahender Schrei, wie der von Ronja Räubertochter zu Frühlingsbeginn. Ein Tanz durch die Straßen der alten Stadt, ehe sie sich in Ermangelung einer nahegelegenen Bank auf die Straße setzt und an die von den Jahren gezeichnete Steinmauer gelehnt den Vollmond betrachtet. Sehnsucht kann sie nicht aufhalten – im Gegenteil: Sie ist der beste Antriebsstoff. Langsam fühlt sie, wie ihr die zwei Flaschen Rotwein, die sie zusammen geleert haben, zu Kopfe steigen. Sie schließt die Augen und beginnt, alles wahrzunehmen, sich zu erinnern, Revue passieren zu lassen. Eben jene wenigen Monate, die alles verändert hatten.

Nach so vielen gemeinsamen Jahren war das Ende schleichend gekommen. So schleichend, dass es lange von niemandem realisiert worden war. Von den Freunden nicht, von ihr nicht und auch von den anderen nicht. In den Tagen, die auf ihre Mitteilung folgten, hatte sie sich gefühlt, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggerissen, ihre Welt war wie aus Watte gewesen. Sie fragte sich, ob es nicht Anzeichen gegeben hatte, die früher hätten erkannt werden können. Vielleicht die immer weniger werdende Zeit, die die beiden miteinander verbracht hatten; die Kinder waren aus dem Haus und somit auch der letzte Kitt, der diese Beziehung noch zusammengehalten hatte. Trotz aller dünnen Erklärungen, dass jeder mit Projekten beschäftigt war, die es durchzuführen galt, und der allgemeinen Aussage, dass danach schon wieder alles besser werden würde. Sie waren nicht das erste Paar, das mit dieser dünnen Aussage versuchte, die bitteren Tatsachen vom Tisch zu wischen. Oder ob es daran lag, dass die beiden sich über Jahrzehnte vorgemacht hatten, dass sie zusammenpassen würden und dass Beziehungen nun einmal auch bedeuten, dass man sich zusammenrauft, Kompromisse schließt und all das Zeug, das man aus gutmeinenden Mündern zu hören bekommt, wenn man über Beziehungsprobleme spricht? Daran, dass keiner nachgeben wollte, weil ein Scheitern bedeuten würde, zu verlieren und auf der Beziehungsebene zu versagen, obwohl man doch in allen anderen Lebensbereichen überdurchschnittlich erfolgreich war? Dass die Kämpfe mit den Großeltern der Kinder umsonst gewesen sein sollten, als sich diese – vielleicht in weiser Voraussicht, aber dennoch erfolglos – gegen ihre Beziehung gestellt hatten? Oder an der Angst, sich dem eigenen Scheitern stellen zu müssen und der Tatsache, dass keiner von ihnen je den Mut gehabt hatte zu gehen? Was auch immer es war, nun war das Ende nicht mehr zu leugnen, sondern starrte sie unverhohlen an wie ein zum Kampf bereiter Wachhund.

Es war ein kalter Abend im Februar gewesen, als sie es endlich über sich gebracht hatten, ihren Kindern mitzuteilen, dass sie sich scheiden lassen würden. Eine Woche vor dem ersten Gerichtstermin. Der Schnee war beinahe einen halben Meter hoch gewesen und die Luft schneidend kalt. Ein nass-grauer Tag, der kälteste seit Langem. Ein guter Tag für fassungsloses, erschüttertes Schweigen. Vierzig Jahre Ehe – sie hatten am zwanzigsten Geburtstag der Mutter geheiratet – sollten nun am Scheiterhaufen verbrannt werden.

Clarissa hatte die Neuigkeit ihrer Eltern am härtesten getroffen, während ihre beiden Brüder sehr gefasst auf die Nachricht reagiert hatten. Vermutlich hatten sie eher damit gerechnet als das Nesthäkchen der Familie, das gerade mit dem Studienabschluss und einem neuen Lebensabschnitt beschäftigt war. Nachdem ihre Eltern ihnen die Neuigkeit mitgeteilt hatten, war sie wieder zurück nach Wien in ihre Wohnung gefahren, um ihr Gedankenkarussell wieder zur Ruhe kommen zu lassen. Wäre es jedoch bei diesem einen Ereignis geblieben, hätte es ihr nicht so sehr den Boden unter den Füßen weggerissen. Als sie an jenem grauen Tag wieder in ihr eigenes Heim zurückgekommen war, war endgültig klar gewesen, dass kein Stein mehr auf dem anderen bleiben würde. Denn wenn die Dinge einmal aus den Fugen geraten, dann tun sie das für gewöhnlich gleich auf der ganzen Linie.

Im ersten Moment kam es ihr so vor, als sei alles wie immer: Er hatte – natürlich – keinen Handgriff in der Wohnung verrichtet; wie immer, wenn sie einige Tage weg war. Es wäre ja auch zu unbequem gewesen, das eigene Chaos wieder aufzuräumen. Und doch konnte sie sich das Gefühl nicht erklären, das sie nach einigen Minuten beschlich. Sie sah sich um, fand aber nichts, das einem mit seiner Offensichtlichkeit ins Auge sprang. Sie fühlte sich fremd in ihrer eigenen Wohnung, als wäre sie ein vergessener Handschuh oder Regenschirm, der nach einem gemeinsamen Abendessen mit Freunden liegen geblieben und noch nicht zurückgegeben worden war. Als sie ihn an jenem Abend ansah, fühlte sie eine Leere in sich; ihr war, als würde sie vor einem Fremden stehen, mit dem sie zufällig auf der Straße zusammengestoßen war. Für ihn war alles wie gehabt, er schien keinen besonders großen Anteil an dem zu nehmen, was sie ihm während der Zugfahrt am Handy erzählt hatte. War es das also, was von fünf gemeinsamen Jahren übrig blieb: Ein auf null reduziertes Mitgefühl? Den ganzen Abend war sie wie eine mechanisch aufgezogene Puppe durch die Wohnung gelaufen, hatte in keinem der großen Zimmer der Altbauwohnung, die sie von ihren Großeltern geerbt hatte, Ruhe gefunden. Schließlich hatte sie sich, wie immer, wenn sie mit der Welt im Unreinen war, mit ihrem Laptop auf ihren großen Ohrensessel, den sie von ihrem Großvater geerbt hatte, in der Bibliothek zurückgezogen. Der Mailordner enthielt nur einige Informationen zu ihrer Sponsion und einige Absagen auf Bewerbungen, welche sie Wochen zuvor, nach ihrer erfolgreichen Diplomprüfung, abgeschickt hatte. Ihr Blick war durch das größte Zimmer der Wohnung geschweift, in welchem sie ihre Bibliothek eingerichtet hatte. Bücher hatten eine beruhigende Wirkung auf sie, schon seit Kindheitstagen.

Clarissa starrte schon eine Weile aus dem Fenster und beobachtete den Regen, als es an der Tür läutete. Als sie öffnete und, wenn auch nur für wenige Sekunden, die Enttäuschung in den Augen ihrer Nachbarin aufflackern sah, fühlte sie – wider Erwarten – weder Wut noch Verletzung, sondern lediglich Erleichterung durch die gewonnene Klarheit. Es waren keine Worte nötig, um zu verstehen. Die Frau hatte nicht damit gerechnet, Clarissa an der Türe anzutreffen, da sie eigentlich noch bei ihren Eltern hätte sein sollen. Sie betrachtete die ihr gegenüberstehende Frau einen kurzen Moment – gegensätzlicher könnten sie beide nicht sein: auf der einen Seite sie selbst mit den langen, schwarzen Haaren, den grün-grauen Augen, einem zierlichen, meist ungeschminkten Gesicht. Auf der anderen Seite ihre neue Nachbarin mit den hellblonden Haaren, dem kantigen und zu stark geschminkten Gesicht und einem sehr körperbetonten Kleidungsstil. Sie wusste, dass Andrei sich immer gewünscht hatte, dass sie ihr Äußeres in eben diesem Stil veränderte. Auch sein Blick sprach Bände, als er zur Tür gekommen war, um nachzusehen, wer geläutet hatte. Als sie die Türe hinter den beiden geschlossen hatte, war sie nicht – wie erwartet – in Tränen, sondern in schallendes Gelächter ausgebrochen, weil ihr die Gesamtsituation so bizarr vorgekommen war. Ihre Großeltern waren ein halbes Jahr zuvor verstorben, die Scheidung ihrer Eltern und nun das. An jenem Abend war sie nicht imstande, ihre Gefühlslage klar zu definieren – zu viel war in zu kurzer Zeit auf sie eingestürzt. Sie fragte sich nicht, ob sie es früher hätte bemerken müssen – es hätte doch ohnehin zu nichts geführt.

In den Wochen darauf war sie für die Außenwelt kaum erreichbar gewesen. Sie hatte ihre Benutzerkonten bei Facebook und Instagram gelöscht, um dieser surrealen und schnelllebigen Welt zu entkommen, der sie ohnehin kaum etwas hatte abgewinnen können. Diese grell inszenierten, allen Trends nachlaufenden Leben, die ständig verfügbar sowie nonstop und dauergrinsend glücklich waren, hatten sie schon immer abgestoßen; ebenso wie die sinnlosen Freundschaftsanfragen von Menschen, denen man in der Realität aus dem Weg ging. Auch ihre Email-Accounts hatte sie auf einen einzigen reduziert und das Handy, wenn es an war, auf lautlos gestellt. Alle Ereignisse dieser Zeit zogen an ihr vorbei wie ein Film, in dem sie eine Statistenrolle spielte: Andreis endgültiger Auszug, ihre Sponsion, die Geburt ihres Neffen … Während sie noch ihrer Arbeit in einer kleinen Buchhandlung nachging, schrieb sie mechanisch Bewerbungen – jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Immer wieder ertappte sie sich dabei, dass sie sich am Ende des Tages nicht mehr daran erinnern konnte, wo sie sich beworben hatte. An ihren freien Tagen streifte sie stundenlangen ohne Ziel durch die Stadt, völlig in Gedanken und Sorgen ihre Zukunft betreffend. Bis zu jenem Montagnachmittag.

Clarissa war auf dem Heimweg gewesen und hatte aus einem Bauchgefühl heraus ihr Handy aus der Jackentasche gefischt. In diesem Moment sah sie den eingehenden Anruf: eine Nummer mit italienischer Vorwahl. Nach einem halbstündigen Gespräch hatte sie einen Termin für ein erstes, ausführliches Interview auf Skype in der darauffolgenden Woche. Und so hatte sich dann eines nach dem anderen ergeben: Nach diesem Interview war sie kurze Zeit später für ein persönliches Gespräch in der österreichischen Botschaft nach Rom geflogen und war mit einer neuen Arbeitsstelle im Gepäck wieder nach Wien gekommen. Und danach fügte sich alles zusammen wie in einem Puzzle: Bereits kurz nach ihrer Rückkehr hatte sie einen Mieter für ihre Wohnung und mit Hilfe einer Freundin für sich eine Wohnung in Rom gefunden. Drei Wochen später war sie wieder nach Rom geflogen; eine Woche bevor sie ihren Dienst antreten würde. So hatte sie noch genug Zeit, um sich ein wenig einzuleben und zurechtzufinden.

An diesem Freitag, dem letzten arbeitsfreien Freitag für lange Zeit, ist sie mit ihrer Freundin und deren Kollegen unterwegs. Bis Valerio und sie irgendwann alleine mit zwei Flaschen Rotwein am Tisch sitzen. Sie lacht aus vollem Herzen, bis ihr die Luft wegbleibt und es Zeit ist, sich auf den Heimweg zu machen. Nachdem sie sich verabschiedet haben, legt sie den Rest des Weges alleine zurück, nur mit der Musik aus ihren Kopfhörern. Sie sehnt sich nach einem Hafen, in dem sie ankommen kann, ist voller Vorfreude auf das neue Leben. Sie kommt am Campo Cestio vorbei, dem Friedhof für nicht-katholische Ausländer in Rom, der ganz in der Nähe ihrer kleinen, vorläufigen Wohnung liegt. Sie setzt sich auf den Boden, blickt – mit dem Rücken an die Mauer gelegt – auf den sternenklaren Nachthimmel über ihr. Sie lächelt: Um zu leuchten braucht es vieles – vor allem aber den Mut dazu.

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 17144

Zukunftsmusik

Sommer voll Fülle
und Winter voll Not
hört auf euch zu sorgen
noch seid ihr nicht tot

Tag um Tag dasselbe Leiden
auch du musst mal aus dem Leben scheiden
eine Lösung wollt ihr?
da kann ich nur lachen, der Tod kann nicht gehen
warum wollt ihr das nicht verstehn?

doch aus dem Nichts
eilt die Rettung herbei
mit Paukenschlag und großem Trara
die Zukunft, die Zukunft, die Zukunft ist da!

„Nein, kann nicht sein!
Wo kam sie denn her?
Lasst doch den Blödsinn,
wir glauben nichts mehr!“

so hört ihr doch zu
so hört sie doch an
so nah war noch niemand an der Zukunft dran

„Die Gegenwart ist unser Herr,
wir bücken, wir kriechen, wir verbeugen uns sehr.“

so hört ihr doch zu!
so hört sie doch an!
so nah, war noch niemand an der Zukunft dran!

keine Sorgen!
keine Ängste!
niemals mehr!
wer weiß schon, wer weiß schon, was schöner wär

„Wir wissen‘s! Wir wissen‘s!
Wir wollen das Leiden,
So können wir wenigstens selber entscheiden!“

stellt euch nicht so an,
ist doch für euch nur ein Vorteil daran
Fortschritt ist gut
und Fortschritt ist schlecht
ach, was soll‘s- schaut, dass ihr am Jetzt zerbrecht

„Verschwinde doch endlich,
du Lügner, du Schwindler!
Wir stehen auf für Freiheit und Recht,
mal sehen, wer hier an wem zerbricht!“

„Auf, auf in den Krieg, gegen alles Neue
Oh liebliches Jetzt, dir schwör‘n wir die Treue!“

bleibt ruhig sitzen,
ihr könnt euch nicht wehr‘n
die Zukunft wird kommen
sie ändert euch gern

„Los, an die Waffen!
Das kann doch nicht sein,
mein Schicksal, mein Schicksal ist immer noch mein!“

„Los, weiterkämpfen, verteidigt euer Heim!“
Das kann doch nicht sein,
die Zukunft, die Zukunft, die Zukunft ist gemein.

„Los, alles geben! Schon fast gewonnen!
Nein, das ist nicht richtig …
all unsere Erfolge sind nichtig!“

Hört ihr sie kommen?
mit Sirenengeheul und großem Trara
die Zukunft, die Zukunft, die Zukunft ist da

Günther von der Blumenwiese

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 17127

 

 

 

Live

Eine verschissene Minute hat Egon Zeit, um diese Aufgabe zu lösen.

Sie lautet folgendermaßen:
„Ein Vater verdient im Monat 40 % mehr als sein Sohn. Die Mutter verdient die Hälfte von dem, was der Sohn verdient. Die Tochter verdient 2/3 dessen, was die Mutter verdient. Das Gesamteinkommen der Familie beträgt 9.700 Euro. Wie viel Lehrlingsentschädigung erhält die Tochter?“

Egon darf keine Notizen machen. Ja, es ist nicht so eine superknifflige Rechnung wie 2817, aber es geht auch nicht um eine Million Euro, sondern nur um 50.000. Er ist auch nicht in der Show eines anerkannten Fernsehsenders, sondern in der eines aufstrebenden YouTube-Kanals. Dafür ist es live. Die Show heißt: „Du schaffst es!“ Sie ist stark an die „Millionenshow“ angelehnt, allerdings sind die Fragen und Aufgaben und das Ambiente der Show, die Musik, das Publikum, für jüngere Leute ausgelegt. Sie ist jeden Samstag. Finanziert wird die Show über Werbung im Netz. Die Klickzahl ist hoch.

Egon hätte sich auch mit 25.000 Euro begnügen und aussteigen können. Die 50.000 sind der Hauptgewinn. Versagt er bei dieser letzten Aufgabe, fällt er auf 2.000 Euro zurück, die sind ihm sicher.

Egon ist ein junger Mann von einundzwanzig Jahren. Er ist ein kluger Kopf, aber er hat weder die Matura, noch eine Ausbildung beendet. Per se ist er damit Hilfsarbeiter. Seine Freundin Martha sitzt im Publikum zwischen jungen, bunten Leuten. Sie ist zwanzig. Sie hat Friseurin gelernt, aber auch nicht fertig. Die beiden leben zusammen in einer Ein-Zimmer-Wohnung auf zweiunddreißig Quadratmetern. Sie haben praktisch nie Geld. Sie sparen, wo es irgend möglich ist, zum Beispiel im Winter beim Heizen – sie ziehen sich mehrere Pullover über. Sie sind wirklich abgefuckt. Zudem ist Martha ist einer speziellen Verfassung – sie ist schwanger, in der siebenten Woche, da ist noch alles möglich.

Sie wird immer wieder ins Bild gerückt. Wahrscheinlich erwartet man von ihr, dass ihr bange und sie gespannt ist, und jubelt, wenn Egon eine Frage richtig beantwortet hat. Dagegen wirkt Martha wie geistesabwesend, nicht bei der Sache, ruhig sitzt sie auf ihrem Platz, sie erfüllt nicht das Klischee der mitfiebernden Partnerin. Obwohl natürlich dieser Eindruck täuscht, sie ist zu hundert Prozent mit dabei, es ist nur Selbstschutz, sich geistig vom Geschehen zu entfernen, um nicht überzuschnappen geradezu, es geht ja schließlich um viel – oder sehr wenig.

Das Publikum sitzt rund um den Moderator und Egon, wie in einem griechischen Theater, die erste Reihe ist am Boden, danach wachsen die Reihen in die Höhe. Martha sitzt in der ersten Reihe. Traut sie Egon die richtige Lösung der Aufgabe zu? Sie weiß es selbst nicht recht, prinzipiell schon – Egon ist ein guter Mathematiker und schneller Kopfrechner –, dagegen spricht, dass er sichtbar nervös ist, zwanzig Sekunden bereits vergangen sind – der Countdown wird auf einem großen Display zwischen dem Moderator und Egon in grünen Ziffern angezeigt –, und dass manche Leute im Publikum Störgeräusche machen, zzzzz und brrr und aaaa und oooo. Diese Leute sind doch sicherlich von den Machern der Show bezahlt, ärgert sich Martha, die Macher der Show, ja, Martha hat sie kennengelernt, drei junge Leute mit stets entspannten Gesichtszügen und ohne Geldsorgen – geht die Show schief, liegen sie halt wieder ihren Eltern auf der Tasche. Aber klar, das ist Kapitalismus, die drei zahlen lieber 2.000 Euro aus als 50.000.

Martha bemüht sich, Egon nicht anzusehen, da, falls er zurück zu ihr blicken sollte, ihn das aus seiner Konzentration reißen würde. Die an der Decke befestigten Scheinwerfer scheinen gerade auf den Boden. Nachdem eine Frage beantwortet wird, schwenken sie in die Mitte zu Moderator und Egon. Das soll einen dramatischen Effekt erzeugen – auch das ist von der „Millionenshow“ abgekupfert. Egon ist kribbelig, sein Rücken ist gerundet, er beugt sich nach vor, gleichzeitig ist er absolut fokussiert.

Er hat die Rechnung im Kopf aufgestellt. Er schreibt auf die Innenseite seiner Stirn wie auf ein Blatt Papier. Er hat noch fünfunddreißig Sekunden. Da es vier Personen sind, braucht man vier Gleichungen. Die Rechnung funktioniert wie folgt:

Einkommen des Sohnes = x
Einkommen des Vaters = x + 40/100 x = 5/5 x 2/5 x = 7/5 x
Einkommen der Mutter = 1/2 x
Einkommen der Tochter = 2/6 x = 1/3 x
x + 7/5 x + 1/2 x + 1/3 x = 9700 Euro

Egon hält den Kopf gesenkt. Kurz blickt er zum Moderator, der ihn feixend ansieht. Was will er damit? Ihm helfen sicherlich nicht, wenn, dann will er Egon aus dem Konzept bringen, eventuell möchte er auch das Publikum beziehungsweise die Zuseher im Internet unterhalten, witzig wirken halt. Noch dreißig Sekunden. Egon rechnet weiter:

Die Bruchzahlen auf einen gemeinsamen Nenner (30) bringen.
30/30 x + 42/30 x + 15/30 x + 10/30 x = 9700 Euro
Dann wird addiert.
97/30 x = 9700 Euro

Noch zwanzig Sekunden. Egon liegt im Plan. Die Rechnung erscheint ihm logisch. Er ist sich sicher, dass sie richtig ist. Wenn das mit dem Gewinn der 50.000 Euro hinhaut, ist die nähere Zukunft geritzt. Martha und er ziehen in eine komfortable Mietwohnung, in der es niemals kalt sein wird. Sie werden beide den B-Führerschein machen. Dann kaufen sie ein geräumiges Auto. Martha wird Mutter werden, er wird Vater werden. Und nächstes Jahr fahren sie im Sommer nach Ibiza, Party, Party – das muss sein. So ist das Ganze gedacht. Das Abschweifen hat fünf Sekunden gekostet, trotzdem ist noch genug Zeit. Egon führt die Rechnung fort:

Beide Seiten der Gleichung durch 97 teilen.
1/30 x = 100 Euro
Beide Seiten der Gleichung mit 30 multiplizieren.
x = 3000 Euro = Einkommen des Sohnes

Noch zehn Sekunden, in grünen Ziffern deutlich sichtbar auf dem großen Display. Egons Nervosität hat sich ziemlich gelegt. Im Stadium der Aktivität, des Rechnens, ist einfach kein Platz dafür. Martha leidet auf ihrem Platz. Sie kann nichts tun, kann Egon nicht helfen. Sie sieht auf ihren Bauch, es ist noch nichts zu sehen. Die Störgeräusche, sie sind jetzt lauter geworden, sie zischen in Marthas Ohren. Und jetzt nimmt sie auch Egon wahr. Zzzzz und brrr und aaaa und oooo. Egon schließt die Rechnung ab, die Störgeräusche perlen an ihm ab wie Regen an einer Regenjacke:

Einkommen des Vaters = 3000 Euro + 1200 Euro = 4200 Euro
Einkommen der Mutter = 3000 Euro : 2 = 1500 Euro
Einkommen der Tochter = 3000 Euro : 3 = 1000 Euro

Noch fünf Sekunden. „Herr Binder, jetzt kommt es darauf an, sind Sie fertig? Wie lautet die Lösung?“, fragt der Moderator. Martha schaut starr auf das Metallgestell zwischen Egon und dem Moderator, es ist die Mitte. Die Störgeräusche sind noch lauter geworden. Hunderttausend Hornissen brummen. Egon nickt, noch vier Sekunden, er denkt nach, noch drei Sekunden. „Wie hoch ist das Einkommen der Mutter?“, das ist die Frage.

„1.500 Euro“, sagt er. Die Scheinwerfer schwenken zur Mitte. Der Moderator hebt die Arme in die Höhe, fast wie ein Priester. „1.500 Euro, sagen Sie, erhält die Tochter an Lehrlingsentschädigung?“ „Nein“, widerspricht Egon, „das ist das Einkommen der Mutter.“ „Es wurde nach der Höhe der Lehrlingsentschädigung der Tochter gefragt“, führt der Moderator fort. „Warten wir auf die Antwort.“ „1.000 Euro“, scheint als Antwort auf einer Anzeige auf.

Egon weiß sie. Er hat eine Verwechslung begangen. Doch eine Verwechslung ist auch ein Fehler. Martha hat den Mund offen und starrt den Moderator an, der demonstrativ und selbstgefällig Egon betrauert. Egon steigt mit 2.000 Euro aus dem Spiel aus. Das müsste für die Abtreibung reichen. Wahrscheinlich bleibt sogar ein bisschen was übrig.

Johannes Tosin

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 17121