Lebe wohl, Lakritz - Teil II

Bevor ich nach Hause ging, brachte ich Greta anonym eine Rose. Das Bild vom Sonnenuntergang faszinierte mich wieder. Es erinnerte mich an etwas, aber am Anfang konnte ich nicht verstehen, an was genau. Erst als ich schon zu Hause war, erinnerte ich mich an einen konkreten Sommer, als mein Vater noch lebte. Ich war damals ziemlich klein, und wir waren alle zusammen im Urlaub am Meer, wo es sehr frisch war. Danach verließ mein Vater meine Mutter und wanderte in die USA aus, wo er als Säufer an Leberzirrhose starb.
Ich stellte mir oft vor, wie er sich zu Tode soff, wie Nicholas Cage in „Leaving Las Vegas“.
Jetzt stand ich vor dem Spiegel in meinem öden Zimmer, wo ich Lakritz nachzumachen versuchte, aber ich schaffte weder seine Gesichtsausdrücke noch seine Stimme. Er war wirklich unnachahmlich. Genau so, wie wir alle es sein sollten.

Am nächsten Tag gingen ich, meine Mutter, ihr Freund und unsere Nachbarn – eine ukrainische Mutter und ihre Tochter – in den Wald zum Picknick. Das Mädel war ein Jahr älter als ich, aber unsere Beziehung war absolut platonisch, sie war meiner Meinung nach frigide. Ihre Mutter hatte die Marschroute schon festgelegt, und als ich den Waldplan rausholte und einen besseren Pfad zeigte, brachte sie das sehr auf.
Wir liefen circa einen halben Kilometer gemeinsam, und sie jammerte die ganze Zeit über das Wetter, Politik, die steigenden Preise von Lebensmitteln und die Steine auf dem Weg, dem wir folgten.

„Beruhige dich, lass uns doch den Spaziergang genießen“, sagte meine Mutter zu ihr.
Das machte die ukrainische Mutter noch wütender. Sie drehte sich rasch um und ging zurück. Wir hielten an und schauten ihr nach, dann fragte meine Mutter:
„Hab ich was Falsches gesagt? Ich wollte sie bloß beruhigen.“
„Wenn mit einem etwas falsch ist, kannst du dafür nichts tun“, sagte ihre Tochter und lief einfach weiter. „Kommt und denkt nicht daran!“

Ich und der Freund meiner Mutter liefen ein wenig voraus, und die Frauen folgten uns. Das Mädel erzählte meiner Mutter etwas. Ich beschleunigte meine Schritte, aber meine Mutter rief sofort.
„Renn nicht so!“
Ich verlangsamte mein Tempo und hörte die Geschichte zwangsläufig mit. Das Mädel erzählte Folgendes.
„Mein Vater starb furchtbar. Er joggte gern im Morgengrauen. Eines Tages ist er nicht zurück gekommen. Wir haben eine Woche lang nach ihm gesucht, die Polizei hat ihn bewusstlos im Wald gefunden. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Als er zu sich kam, hat er erzählt, dass er von einem Auto angefahren worden war, und als der Fahrer gesehen hatte, wie schrecklich seine Beine verletzt waren, hatte er ihn ins Auto gesetzt, an einen abgelegenen Ort gefahren und ihn dort ausgesetzt. Der Vater behauptete, sich weder an den Fahrer noch an den Wagen erinnern zu können. Er starb innerhalb weniger Tage an Sepsis.

Ich stellte mir vor, wie grausam es sein musste, so zu sterben. Bestimmt fühlt sich eine Minute wie eine Stunde an. Niemand darf sagen, dass er sowas verdient hat. Das Leben kann manchmal, was Bestrafung oder Belohnung angeht, sehr ungerecht sein.
Unterwegs fiel mir eine Jägerhütte auf.
Wir picknickten zwischen großen Bäumen, deren Flachwurzeln sich sichtbar ausgebreitet hatten und mich an den „Kopflosen Reiter“ erinnerten. Ein in die feuchte Erde gesteckter Kopf zwinkerte mir zu.

Lakritz würde zu diesem Ort gut passen.

Gesättigt legte ich mich hin, schaute mir die höheren Baumspitzen an. Dann flog ich ganz langsam und dynamisch dahin. Als ich oben angelangt war, drehte ich mich um und fing an, zu mir zu schweben. Es war merkwürdig, sich so zu betrachten. Plötzlich verstand ich, dass ich jemand anderer sein könnte, weil mich nichts Unentbehrliches mit mir, meinem Leben oder den Menschen, die um mich herum saßen und über sinnlose Themen sprachen, verband. Deswegen suchte ich einen Grund, um zurückzukehren. Genauso könnte ich woandershin fliehen, etwas Interessanteres finden und es beobachten, versteckt wie ein Gott. Es würde mir unendliche Freiheit verleihen. Ich würde keinen Schmerz oder kein Verlangen spüren, sondern das Leiden und die Freude anderer Menschen sehen, Freude die ich von ihren Gesichtern ablesen und stehlen könnte.

Meine Mutter weckte mich auf und bat mich ein Foto zu machen. Sie und ihr Freund stellten eine Szene nach, in der er ein Maniac war, der mit offenen Armen meine Mutter verfolgte, die schreiend vergeblich zu entkommen versuchte.

Fast hätte ich es vergessen. Im Wald hatte ich eine Kastanie gefunden, die ich die ganze Zeit mit mir herumtrug. Bevor wir den Wald verließen, hatte ich sie auf einen Felsbrocken gelegt und mir gewünscht, dass wenn sie bei meinem nächsten Besuch immer noch hier liegen würde, alle meine Träume wahr werden würden.

Am Abend hatten ich und Lakritz vor, uns den neuen, verrückten Film von Leos Carax anzusehen.
„Alles was man tut, wird als Information im Weltall gespeichert und wenn es notwendig wird, gefunden.“ Sagte Lakritz unerwartet nach langem Schweigen und ich erinnerte mich an den gestrigen Abend, als ich er zu sein versuchte. Wie peinlich vor dem Schöpfer.
Der Hauptdarsteller schlüpft während des Tages in verschiedene Rollen, deswegen musste ich an die Menschen denken, die ein vielfältiges Leben zu führen versuchen, weil sie wissen, dass sie eines Tages sterben. Sie wollen ihr einziges Leben irgendwie fröhlicher machen. Alles was wir machen, machen wir aus Angst vor dem Tod; nur dann fühlen wir uns lebendig.
„Da steckt eine gewisse Panik drin,“ sagte Lakritz nachdenklich. „Immer mehr haben, wobei man nichts wirklich besitzt, immer überall sein, wobei man nirgendwo richtig ist.“

Als ich nach Hause kam, rief ich Greta an. Bei den ersten zwei Versuchen sagte mir eine künstliche Frauenstimme, dass diese Nummer nicht vergeben sei, aber ich versuchte es nochmal, tatsächlich hörte ich den Ton. Ich war sehr nervös. Ich fühlte mich wie ein verliebter Teenager. Ihre Mutter nahm den Hörer ab und sagte, dass Greta im Badezimmer sei, aber ich könne in fünf Minuten wieder anrufen. Ich tat es so. Mir antwortete wieder die Mutter, aber diesmal rief sie Greta zum Telefon.
„Hallo“, hörte ich eine tiefe Stimme.
Meine Stimme blieb weg, ziemlich verspätet sprach ich, wie ein schlechter Schauspieler, unplausibel und anspruchsvoll.
„Endlich reden wir“, sagte ich, mit mir unzufrieden eine Grimasse schneidend.
„Was?“, fragte sie und fing an hysterisch zu lachen.
Ihre Mutter mischte sich ins Gespräch ein und fragte mich, wer ich sei. Ich erklärte es ihr.
„Bringst du die Rosen?“
„Ja“,antwortete ich eingeschüchtert.
„Es wäre besser gewesen, sich von Anfang an vorzustellen. Sie hatte all diese Tage Angst, dass sie von einem Stalker verfolgt wird.“
„Nein, nein, ich bin auf keinen Fall ein Stalker“,  rechtfertigte ich mich so, als ob ich tatsächlich einer wäre.

„Wie alt bist du?“,  im Hintergrund hörte ich immer noch Gretas Lachen und ihre Mutter tat es eine Sekunde lang auch, aber sie riss sich sofort zusammen.
„Ich bin dreiundzwanzig.“
„Und sie ist erst vierzehn!“
„Ihr Alter wusste ich nicht, ich wusste nicht wie alt sie ist“, stammelte ich.
„Warte, bis sie erwachsen ist, mehr kann ich dir nicht sagen.“ Sie empfand offenbar Mitleid mit mir.
Ich entschuldigte mich bei ihr für die Störung und legte auf.

Ich hatte gedacht, dass ich Greta Freude machen würde, und sie hatte dabei um ihr Leben gefürchtet. Wenn sie nach Hause kam, bedankte sie sich wahrscheinlich jedes Mal bei Gott, dass sie immer noch lebte. So kann ein und dieselbe Handlung bei Menschen verschiedene Gefühle auslösen. Ich vermutete, dass sie zu jung war, aber ich belog mich selbst.
Ich hatte ihr Lachen noch immer im Ohr, als ob das Universum über meine Naivität lachte.

Im Fernseher lief „Verschollen“ und als Tom Hanks Wilson verlor, weinte ich mit ihm.

In der Nacht hatte ich einen Alptraum. Greta stand vor mir, und sagte etwas, aber als ich aufwachte, vergaß ich alle ihre Worte. Das Einzige, was ich aus dem Traum mitbrachte, war ihr Gesicht. Sie hatte in ihrem linken Auge zwei Pupillen. Mit einer schaute sie mich an und mit der zweiten jemanden anderen, den ich nicht sah.

Ich stand ohne jegliche Lust auf und wischte den Staub in der Wohnung. Meine Mutter machte Fitness im Wohnzimmer und bat mich, ihr ein Glas Wasser zu bringen, aber ich machte mein Ding ohne Eile weiter, und war in meinen Gedanken, so tief, dass ich ihre Bitte vergaß.
„Worum muss man dich bitten, damit du es machst? Du Hurensohn!“, schrie meine Mutter. „Damit meine ich deinen Vater“, fügte sie wesentlich leiser hinzu.
Seit dem Vortag frustriert, erwiderte ich grob:
„Ich bin nicht dein Hund!“ Sie drehte durch und schmiss die Hantel mit aller Wucht auf den Boden. Ich ging in mein Zimmer, wo ich mich mehrere Male ins Gesicht schlug.

Auf einmal fiel mir auf, dass das Fenster, das zum Hintergarten von Gretas Haus schaute, offen sein könnte, und sie alles mitgekriegt haben könnte! Aber ich blieb in meiner Hölle, weil es schon zu spät war.
„Was ist mit deinem Auge passiert? “, las ich die Frage im Lakritzes Blick.
„Ich habe mich mit meiner Mutter gestritten.“
„Wie traurig.“
Wir schwiegen, dann fing er an zu erzählen.
„Ein Fischer hat einen Hai vom Netz befreit, seitdem ist der Hai seinem Boot die ganze Zeit gefolgt, weil er dachte, dass er den Fischer damit beschützte, aber der Fischer konnte keine Fische mehr fangen.“
Ich war ahnungslos, wieso er mir das erzählt hatte.

Da ich nichts über Lakritz wusste, fing ich an zu fantasieren. Die folgenden Geschichten fielen mir ein:

Lakritz ist gerade fünf und verbringt seinen Sommer mit seiner Familie in den Bergen. Abends wird es kühler, und weil in der Nähe ein See liegt, gibt es viele Mücken, die seine Tante überall stechen, weil sie Diabetes und dementsprechend „süßes“ Blut hat. Sie sitzt auf dem Bett mit nackten, zerstochenen Brüsten und ruft den kleinen Lakritz zu sich. Er ist verwirrt, er hat Angst das Zimmer zu betreten, aber sie lockt ihn. Er geht mit kleinen, schwachen Schritten zu ihr. Er ist vor Angst erschöpft. Sie nimmt eine Watte, durchtränkt sie mit dem Spiritus und überreicht sie ihm. Im Zimmer riecht es sehr stark nach Spiritus und er kann an diesem, ohnehin stickigen Abend kaum noch atmen. Irgendwo bellt ein bissiger Hund. Bissig, weil er schon öfter mal an den Zauntüren gelesen hat, dass drinnen ein solcher Hund ist, und er glaubt, dass alle Hunde so sind. Die Motten kreisen um die erhitzte Glühlampe und fallen verbrannt auf den Fußboden. Dort liegen bereits einige. Er denkt, dass es nie enden wird.
„Nimm es“, sagt seine Tante.
Lakritz nimmt die Watte und bekommt ein unangenehmes Gefühl an den Fingerspitzen. Er weiß, wie schrecklich es ist, die Watte im Mund zu haben. Er ist schon beim Zahnarzt gewesen. Seine zarte Haut fängt an, vom Spiritus zu brennen. Anscheinend hat er sich seine Finger beim Spielen im Gras zerschnitten.
Tantes Brüste scheinen ihm riesig zu sein, besonders jetzt, da er so nah steht, und er versteht immer noch nicht, was sie von ihm will.
„Reib es ein“, sagt die Tante von oben herab, und er reibt mit der feuchten Watte eine und dann die andere Brust ein. Diese Prozedur dauert eine Ewigkeit für ihn, und als die Tante sagt, dass die Watte trocken geworden ist, und er sie wieder nassmachen soll, lässt er sie fallen und rennt mit seiner letzten Kraft aus dem Zimmer.
Seitdem hat er Angst vor dem anderen Geschlecht, und immer wenn erotische Momente entstehen, rennt er mit Übelkeit davon.

Lakritz besucht bereits die Schule und sein Großvater ist sehr stolz auf ihn. Er hilft ihm bei den Hausaufgaben und jubelt über all seine kleinen Erfolge, und wenn Lakritz im Hof Fußball spielt, guckt er manchmal nach oben zum Fenster, in dem er die Silhouette seines Großvaters hinter dem Vorhang sieht, eine Silhouette, die ihn beobachtet und liebt. In solchen Augenblicken versucht er, besser zu spielen, um ihn noch stolzer zu machen, und wenn Lakritz mit jemandem Zank hat, dann verleiht der unsichtbare Blick seines Großvaters ihm mehr Mut.
Er geht immer nach dem Spiel angenehm ermüdet nach Hause und spielt mit ihm auch, aber der Mann ist schon ziemlich alt, und er schafft es nicht mehr so lange zu spielen wie früher.
Eines Abends sitzt der Großvater im Sessel und sieht fern. Es geht ihm nicht besonders gut. Lakritz rennt um ihn herum und versucht ihn aufzumuntern, dabei zieht er Flüssigkeit in seine Nase zurück, weil er das Rennen nicht abbrechen möchte.

Plötzlich spürt er im Rachen einen metallischen Geschmack. Er hält an und berührt seine Nase. Seine Finger färben sich rot. Er rennt weinend ins Badezimmer und dreht den Wasserhahn auf. Das fließende Wasser verdünnt das Blut und es bekommt seltsame Formen, bevor es in die Abflusstiefe verschwindet. Er hat keine Angst mehr.
Wenige Tage später stirbt der Großvater an einem Aneurysma. Der traurige Lakritz kann zu Hause zwischen den flüsternden Menschen keinen Platz finden. Seine Mutter lässt ihn in den Hof, damit er sich ein wenig ablenkt. Er geht zum Laden, kauft Saft und Süßigkeiten und geht zu einem verlassenen Gebäude, wo er alleine sitzt und an den Tod denkt. Er kehrt erst nach Hause zurück als es schon dunkel ist.
Die verärgerte Mutter schreit ihn an. Er behauptet, er hätte die ganze Zeit irgendwo gesessen und geweint. Er tut ihr damit leid und sie umarmt ihn. Lakritz versteht, dass es nicht richtig ist zu lügen, aber es macht Leben einfacher.

Lakritz ist ein junger Mann, und er hat schon Vor- und Nachteile der Masturbation herausgefunden. Manchmal tut er es oft nacheinander und kann am nächsten Tag kaum laufen, weil ihm sein Hodensack wehtut. Manchmal holt er sich in der Gemeinschaft mit seinen Freunden einen runter, und sie machen blöde Wettbewerbe. Zum Beispiel, wer kommt schneller oder wer spritzt sein Sperma am weitesten.
Eines Tages ist er mit zwei Freunden hinter der Garage des Nachbarn und die zwei inspizieren sehr sorgfältig ihre Penisse. Das erscheint Lakritz seltsam, aber es interessiert ihn, was noch passieren wird. Plötzlich dreht einer der Jungs den anderen zu der Wand und führt seinen Pimmel in ihn ein. Lakritz ist erstaunt, aber er guckt weiter.
Unerwartet schreit eine Frau, die das Treiben aus ihrem Fenster bemerkt hat und jetzt entsetzt ist.
„Was macht ihr da?“ Im Fenster nebenan taucht ein Mann auf und schreit auch etwas, was er ruft, bleibt undeutlich.
Die zwei Jungs ziehen ihre Hosen schnell hoch und laufen in verschiedene Richtungen, aber Lakritz kann sich nicht bewegen. Er steht wie eingepflanzt am Tatort.
Obwohl er nichts gemacht hat, die Leute verurteilen ihn trotzdem. Selbst seine Familie glaubt ihm nicht ganz. Deswegen verlässt er eines Nachts sein Haus für immer.

Ich könnte unendlich über Lakritz fantasieren, aber ich hörte damit auf.

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um | Inventarnummer: 18149

image_print

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert