Wahrheit auf Zeit

Und schon im ersten Halbsatz gelogen, mein teurer Tschuschnigg, wenn du mir versicherst, dass es nicht in deinem Interesse ist, denn wenn du mir das mit aller Hartnäckigkeit versichern musst, liegt es ganz und gar in deinem Interesse, an meinen Geldbeutel willst du mir gehen, eine Unterschrift willst du mir abschwatzen, nichts anderes als ein falscher Bibelverkäufer bist du also, eine Bibel mit leeren Seiten versuchst du in mir an den Mann zu bringen, auch wenn ich der Bibel nicht allzu viel abgewinnen kann, das humorloseste Buch, das seit Menschengedenken geschrieben worden ist.

„Nein, ich habe keine Zigarette mehr für dich übrig.“

Nein, Tschuschnigg, du fauler Hund, du kannst ruhig kurz hinaus zu deinem Auto gehen, um dir deine Zigaretten aus dem Handschuhfach zu holen, wo du sie vergessen haben willst, auch wenn ich mir sicher bin, dass du gar keine Zigaretten im Auto liegen hast, und mehr noch, langsam kommen mir die Zweifel, ob du überhaupt ein Auto besitzt.

Und warum mir gerade jetzt diese Episode einer nervensägenden Kaffeehausbekanntschaft in den Sinn kommt, weiß ich nicht zu sagen, wo ich doch einer Lügnerin viel größeren Formats gegenübersitze, hier und jetzt in Ragusa auf seinen beiden widersprüchlichen Hügeln, in dieser Bar getaucht in Jazz, mit einer Theke so lange wie die Einsamkeit, und mir gegenüber diese sizilianische Kellnerin, deren Antlitz der liebe Gott persönlich geschnitzt haben muss. Und mit jedem Glas des vollmundigen Weins, das ich nachfordere, wage ich ihr eine Frage zu stellen, und jedes Mal, wenn sie mir nachschenkt, erwidert sie mir mit der immer gleichen rabenhaften Antwort: magari domani, morgen vielleicht. Morgen, so Gott will, inschallah, und dass Gott morgen sicher nicht will, soweit habe ich sie mittlerweile schon verstanden, und deshalb werden sie mir immer kleiner, die Fragen, bis hin zu meiner letzten:

„Verrätst du mir wenigstens, wie du heißt?“

„Morgen vielleicht.“

Wohltuend jedes Schaudern, wenn du mich anlügst, Magaridomani, immer größer wird das Vergnügen und du mit jeder Lüge schöner, vor lauter Unwirklichkeit deiner Schönheit beginnst du bereits zu flimmern, wie eine Gestalt in einem expressionistischen Stummfilm aus den Zwanzigerjahren.

Vorbei der Spuk von fernen Inseln, vorbei der Spuk einer Erinnerung an eine Begebenheit, die so wahrscheinlich nie stattgefunden hat, nur das Weinglas in meiner Hand scheint mir das gleiche zu sein, ein Glas Wein, von dem ich weiß, dass es besser mein letztes für diesen Abend sein sollte. An einer Brüstung finde ich mich lehnen, und unter mir erstreckt sich der Innenhof des Wiener Museumsquartiers, bunt das Treiben zu meinen Füßen, Pärchen, die Arm in Arm in der Blase ihrer Verliebtheit flanieren, Kinder, die sich in die satte Erschöpfung der Nacht tollen, Studenten, die vertieft in Bier, Zigaretten und endlose Diskussionen sich auf den Bänken räkeln, eine Erscheinung wie aus einem Sommernachtstraum.

Überrascht bin ich von dir, mein Wien, vielleicht sind doch mehr Jahre vergangen als gedacht, seit ich dir den Rücken gekehrt habe, aber so kenne ich dich gar nicht, eine ungekannte Stimmung strahlst du aus, ein Gefühl, das ich immer schmerzlich an dir vermisst habe, denn gütig scheinst du auf sie herabzublicken, auf die Kinder, die so unbedarft in deinem Schoß spielen. Ganz anders habe ich dich in Erinnerung, die zurückreicht an das Ende des letzten, längst vergessenen Jahrhunderts, als du dich noch in Schwarz auf Grau wie aus dem „Dritten Mann“ geschnitten gezeigt hast, als du mir das schauerliche Gefühl über den Rücken gejagt hast, dass sich in deinen Mauern das Leben anschickt, sich diejenigen zu holen, für die bislang nicht einmal der Tod Interesse gezeigt hat.

Und wenn ich dich jetzt so betrachte, mein Wien, in deinem Bemühen, dich aus deinem hundertjährigen Dornröschenschlaf zu schälen, bin ich versucht, mich dir doch noch einmal anzuvertrauen, ein paar Wochen, vielleicht sogar ein paar Monate in dir zu verweilen, aber versprochen, mit Argusaugen werde ich dich dann in jedem Winkel und in jeder Bewegung beobachten, argwöhnisch und misstrauisch, ob du mir nicht doch nur ein potemkinsches Dorf vorgaukelst – und keine Sorge, früher oder später werde ich dir auf die Schliche kommen, denn das habe ich auf meinen langen Reisen gelernt, eine Lüge ist nicht mehr als eine Wahrheit auf Zeit.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 16085

image_print

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert