Hotel Polissja

„Vielleicht inzwischen doch ein bisschen veraltet, dein Reiseführer.“
„Nun ja, die Preise werden wohl nicht mehr stimmen, aber ansonsten, was soll sich schon groß geändert haben?“

Und unbekümmert blätterte mein Vater weiter in dem abgegriffenen Büchlein mit den kyrillischen Buchstaben und den grobkörnigen Fotos in Schwarzweiß, das ihm irgendwann in den achtziger Jahren auf einem Flohmarkt in die Hände gefallen sein musste.
„Ich weiß gar nicht, was du gegen Osteuropa hast. Wäre doch einmal etwas Neues, für den Sommerurlaub der Familie.“

Wieder so ein unvermittelter Zeitsprung, und eine unvorhersehbare Stimmungsschwankung von ihm, hatte er nicht eine halbe Minute zuvor noch von seinen Kindheitserinnerungen aus dem Krieg gesprochen? Von Hitlerjugend und seiner Zeit als Flakhelfer, als die Bomben schneller auf sie herabgeregnet waren, als sie zurückschießen konnten?
„Ich jedenfalls kann es nicht mehr sehen, dieses Frankreich und Italien, irgendwann schaut jede Ecke dort gleich aus.“
„Aber du weißt doch, dass die Mama die weite Fahrerei nicht ausstehen kann.“

Schon lange hatte ich die Versuche aufgegeben, ihn in eine Wirklichkeit zurückzuholen, die sich für ihn auf ein Einzelzimmer in einem schmucklosen Pflegeheim im Vorstadtgürtel Wiens reduziert hatte. Inzwischen spielte ich mit, bei seinen sprunghaften Zeitreisen, die uns für diesen Augenblick in selige Urlaubserinnerungen der Familie vor dreißig, fast vierzig Jahren führten.

Aber unverzeihlich mein Fehler, meine Mutter erwähnt zu haben, ich sah es ihm an, wie es in seinem Hirn raste, hatte er doch schon genug Schwierigkeiten damit, mich als den richtigen unter seinen drei Söhnen zu erkennen, verfangen im Dreieck ihm mittlerweile nichtssagender Namen. Und nun die Erkenntnis, dass für Kinder auch eine Frau vonnöten gewesen sein sollte, für die er in seinem jetzigen Bewusstseinszustand keinen Anker fand, keinen Namen und schon gar kein Gesicht. Trotz fünfzig Jahren Ehe, dachte ich anstelle seiner hinterher, aber er hatte schon längst zu seinem altbekannten Spiel der Ablenkung gegriffen.
„Da, schau her, was für eine schmucke Stadt. Sogar einen Rummelplatz mit Riesenrad haben sie. Das wär doch auch was für die Kinder.“

In schizophrene Welten fühlte ich mich entführt, dass er mich als mittlerweile erwachsenes Kind um Rat fragte, ob ich mich als vierzig Jahre jüngeres Kind dort wohl gefühlt hätte, wohlfühlen würde oder werde.
„Und die Unterkunft sieht auch nicht übel aus: Hotel Polissja“, las er mir mühelos vor, zu meinem Erstaunen, dass er, obwohl er so viel vergessen hatte, besonders die gesamte Gegenwart, sich nach wie vor des Russischen entsinnen konnte, aufgeschnappt in den Jahren der Besatzungszeit und seither nie wieder benutzt.

Mit einem Seufzer ließ ich mir den Reiseführer reichen, um die von ihm so gepriesenen Bilder zu begutachten, und für eine Weile versank ich tatsächlich in die Welt eines vergangenen Jahrhunderts, in die Farben und Formen meiner Kindheit, die es in dieser Art nicht mehr gab. Ein Déjà-vu bereitete mir diese Zeitreise, mir war, als hätte ich diese Bilder schon einmal gesehen, nur anders, als wäre ich schon einmal dort gewesen, in dieser Stadt, so schmuck in ihrer Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Und dann traf mich der Schlag der Erkenntnis, nur zu gut kannte ich sie, wie oft hatte ich diese Stadt im Fernsehen gesehen, immer wieder über die letzten Jahrzehnten hinweg Schauplatz von Dokumentationen, aufgrund ihrer Einzigartigkeit. Dreißig Jahre her, seit das letzte Kinderlachen in ihr verhallt war, nur eine in der Hast zurückgelassene, im Staub versunkene Puppe gab noch Zeugnis anderer Zeiten ab, das eindrucksvollste Bild, das mir im Gedächtnis haften geblieben war, diese Puppe, die vergilbt auf einem der Balkone der Plattenbauten liegen geblieben war und verloren auf die Szenerie unter sich blickte. Auf das reglos, rostige Treiben des Rummelplatzes, die im Boden festgefressenen Scooter des Autodroms und die traurig im Wind schaukelnden Gondeln des Riesenrads, und aus jedem Schlitz und jeder Ritze sprießte entfesselt die verstrahlte Flora. Und dann wusste ich alledem auch einen Namen zu geben:

Prypjat, nahe Tschernobyl, so hieß diese Stadt, deren unverwechselbare Totenmaske in die Zeit gestanzt war.
Fassungslos reichte ich meinem Vater den alten Reiseführer für die sowjetische Ukraine zurück, dieses Mal fehlten mir tatsächlich die Worte für die Weltentrücktheit meines Vaters, der den Urlaub mit seiner Familie neben einem Atomreaktorunfall verbringen wollte. Und die Verstörtheit in meinen Augen schien auch ihn in Verwirrung gestürzt zu haben, wild fuhr sein Blick umher, dann packte er mich an den Handgelenken, schmerzhaft fest der knochig klammerhafte Griff, dann schrie er wirr auf mich ein, sodass mir seine Spucke im Gesicht kleben blieb:
„Ich bin kein Trottel, mein Sohn! Ich weiß ganz genau, wie es dort ausschaut, in Prypjat, wahrscheinlich sogar besser als jeder dieser Strahlungstouristen, die je dort gewesen sind, denn mein Gehirn, das ist Prypjat! Nein, noch schlimmer, Tschernobyl, das ist mein Gehirn, zuerst explodiert und dann in einem Sarkophag gefangen – und Zelle für Zelle verstrahlt, ja, Tschernobyl, das ist der Ort, wo die Ärzte einen Körper mit einem toten Geist am Leben erhalten, einzig aus dem Grund heraus, dass sie wissen, wie das geht.“

Und sein wild verzweifelter Blick drückte aus, wie er sich in diesem Augenblick empfand, gefangen in den letzten Zuckungen des Lebens und von außen schon begierig vom Tod betrachtet. Dann allmählich begannen sich seine Augen im Schattenglanz zu verlieren, er war bereits wieder im Begriff, in eine andere, fernere Wirklichkeit abzugleiten, die Hände löste er von mir, und mit einem Räuspern nahm er eine formelle Haltung ein.
„Sie wollen wissen, wo Sie mich antreffen können, mein Herr? Hotel Polissja, Prypjat. Kennen Sie nicht? Ganz einfach, geradewegs nach Tschernobyl, immer den Pfeilen nach. Und nicht vergessen, bei Reaktor Nummer vier rechts abbiegen, dann kann nichts mehr schiefgehen!“

Nach einer Visitenkarte kramte er eine Zeitlang gedankenverloren, in der Brusttasche seines Pyjamas, dann hatte mein Vater mich endgültig aus seiner Wahrnehmung verbannt. An das Fenster war er getreten, das ihm den Anblick auf die das Panorama beherrschende Müllverbrennungsanlage Spittelau bot, im Hintergrund die Ausläufer des Wienerwalds. Sinnlos, mich von ihm verabschieden zu wollen, leisen Schrittes schlich ich mich davon, als ich ihn in meinem Rücken flüstern hörte:
„Ist doch immer wieder eine Offenbarung, Lissabon um diese Jahreszeit – selbst wenn man das Meer von hier aus nicht sehen kann.“
Und mit einem letzten Blick zurück sah ich, dass ihm Tränen der Glückseligkeit in die Augenwinkel getreten waren.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16083

 

 

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