Das Haus, in dem ich wohnte

2016. Drei Jahre ist es nun schon her, dass ich zuletzt hier war. Nicht, dass mir Familie nichts bedeutet. Ich stehe meiner nur nicht besonders nahe. Anlass meines letzten Besuches im August 2013 war die Hochzeit meiner jüngsten Cousine Audra, ein Jahr nachdem unsere älteste Cousine Lara geheiratet hatte. Jetzt stehe ich selbst kurz davor, in den Hafen der Ehe einzulaufen (wie klischeehaft sich das doch anhört), Karriere zu machen und vielleicht sogar Kinder zu bekommen. Nicht, dass die Idee an sich schlecht ist, aber ausgerechnet der traurige Anlass, dass mein geliebter Großvater gestorben ist, gibt mir die Gelegenheit, noch einmal über die letzten Jahre und meine Zukunft nachzudenken. Darüber, ob ich das alles eigentlich wirklich will.

Der Blick über das Feld vor dem Haus meiner Großeltern scheint unendlich weit zu sein. Und die einzigen Geräusche, die ich wahrnehme, sind das Zwitschern von Vögeln, die seit Jahrzehnten ihr Nest in der Dachrinne haben, gelegentlich vorbeifahrende Autos, das Bellen der Hunde aus den nachbarlichen Gärten und das Rauschen der Äste der im Garten stehenden Bäume, wenn der Wind von Zeit zu Zeit stärker weht. Bei den Vögeln könnte es sich um Nachtschwalben handeln. Ganz sicher bin ich aber nicht. Störche, Spatzen und Amseln gehören zu den wenigen Vögeln, die ich mit Sicherheit erkenne; jedenfalls, wenn ich sie sehe. Ich frage mich, ob die Nachbarn noch immer den struppigen, sandfarbenen und kniehohen Mischlingshund haben, den ich vor einigen Jahren gesehen habe. Am Land ist es ja nicht unüblich, dass die unterschiedlichsten Hunde miteinander Nachkommen produzieren. Wie schon sehr oft in meiner Kindheit stehe ich am Schlafzimmerfenster meiner Großeltern und lasse die Aussicht auf mich wirken. Es wird wohl bald regnen. Und niemand wird mich hier stören, denn nur ich habe die Schlüssel zum Haus meines Großvaters, die ich kurz nach meiner Ankunft ausgehändigt bekommen habe. Ich sollte bald den Brief lesen, den er mir geschrieben hat, ein paar Tage, bevor er von uns gegangen ist. Aber solange ich den Brief nicht öffne, ist es noch nicht ganz real, dass mein Senelis, mein Großväterchen, gestorben ist.

Ich bin also wieder im Haus meiner Kindheit. Meine Großeltern haben in einem Backsteinhaus an der Hauptstraße gelebt. Auf der gegenüberliegenden Seite liegt eine weite Wiese. Schon damals habe ich mich immer gefragt, wohin der Feldweg auf der gegenüberliegenden Wiese führt. Aber als Kind habe ich mich nie getraut zu fragen, geschweige denn, den Weg zur Gänze entlangzulaufen. Unzählige Sommer habe ich hier verbracht. Tytuvėnai ist ein kleines Dorf in Litauen. Überschaubar, wie kleine Dörfer eben so sind. Abgesehen vom Friedhof. Diesen Ort habe ich immer schon gemieden; schon nach dem Tod meiner Großmutter. Ebenso wie in Kirchen habe ich auch auf Friedhöfen immer ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Deshalb habe ich auch der Beerdigung meines Großvaters heute Mittag nicht beigewohnt. Ich werde erst morgen hingehen, wenn wieder etwas Ruhe eingekehrt ist. Noch weniger als leere Friedhöfe mag ich Friedhöfe, die voll trauernder Lebender sind. Ich bevorzuge die einsame Art zu trauern. Das habe ich schon als Kind so gemacht: Ich habe mich zurückgezogen, bis ich für mich wieder Klarheit geschaffen hatte. Das Haus ist so still, jetzt, wo meine Großeltern beide nicht mehr sind. So sehr hätte ich mir gewünscht, gerade jetzt noch einmal mit meinem Großvater sprechen zu können.

Tytuvėnai ist ein Ort für sich. Irgendwie war mir dieses Dorf schon immer unheimlich, von Jahr zu Jahr mehr. Und dennoch ist es meine Heimat; der Ort, nach welchem ich Heimweh habe; auch von Jahr zu Jahr mehr. Die Hauptstraße, an der das Haus meiner Großeltern steht, führt durch das Dorfzentrum. Ringsherum gibt es nicht viel. Egal in welche Richtung man fährt, es dauert lange, bis man zum nächsten Dorf, geschweige denn zur nächsten Stadt kommt. Viel zu sehen gibt es also nicht: Störche, Wiesen und eine der schönsten Kirchen Europas, die früher Teil eines Bernhardiner-Klosters war. Noch dazu sind die Leute besonders abergläubisch: Meine Mutter erinnert mich heute noch immer daran, dass man in der Nacht vom 1. auf den 2. November nicht ausgehen soll, da dies die Nacht der Toten sei. Einmal soll angeblich eine Frau unter mysteriösen Umständen umgekommen sein, nachdem sie kurz nach dem Tod ihres Mannes in eben jener Nacht unterwegs war. Und das ist nur eine der Geschichten, an die sich meine Mutter erinnert. Meine Tanten würden noch mehr Geschichten kennen, sagt sie immer. Einmal hat mir meine Mutter auch von einem Mädchenmörder erzählt, der, wie sich herausgestellt hat, der Hausmeister der örtlichen Schule gewesen war. Sie hat mir erzählt, dass er sie eines Abends, als sie mit Freundinnen verabredet war, auf einen Tee eingeladen hat. Und was hätte sie sich damals dabei denken sollen? Und wer wäre ich geworden, wäre meiner Mutter damals etwas passiert? Nicht auszudenken.

In Tytuvėnai gibt es zwei Seen: Bridvaišis und Gilius. Der See Gilius von einem Wald umgeben. Und dieser Wald hört genau an der Friedhofsmauer auf. Jedes Mal, wenn ich mit meinen Cousinen und meinem Cousin nach den sommerlichen Tanzabenden zum Haus meines Onkels durch den Wald gegangen bin, habe ich Todesängste ausgestanden. Es war immer so dunkel, dass man die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Ständig war das Knacken des Unterholzes zu hören. Besonders schlimm war das letzte Stück des Weges entlang der Friedhofsmauer. Ich hatte stets das Gefühl, jeden Augenblick müsse ein Axtmörder auftauchen. Oder ein lebender Toter, der noch eine Rechnung mit der Welt offen hatte.

Irgendwie habe ich erwartet, dass sich etwas geändert hat, seit ich vor drei Jahren zuletzt hier war. Aber offenbar haben die Uhrzeiger hier vergessen, dass sie dazu bestimmt sind, sich weiterzudrehen. Nicht einmal der Groll meiner Verwandten hat sich gelegt. Sie nehmen es mir noch immer übel, dass ich nie zurückgekehrt bin. Nicht einmal zu Hochzeiten, bis auf zwei. Auf dem Dachboden meines Großvaters habe ich schon als Teenager alte Briefe meiner Großeltern gefunden. Aus ihnen geht hervor, dass mein Großvater wegen meiner Großmutter eine andere Frau verlassen hat – am Tag der Hochzeit. Diese pikante Geschichte haben sie uns vorenthalten, glaube ich. Ob meine Verwandten davon gewusst haben? Ich habe jedenfalls nie jemanden darauf angesprochen. Auch habe ich meinem Großvater nie gesagt, dass ich von der Existenz dieser Briefe wusste. Ich weiß aber nach der Lektüre dieser Briefe besser als alle anderen aus meiner Familie, dass sich meine Großeltern sehr geliebt haben. Sie haben es jeden Tag gelebt und auch ihre Vorgeschichte zeigt es. Aus den Briefen geht auch hervor, dass die Eltern meiner Großmutter gegen die Beziehung waren, weshalb die beiden sich eines Nachts still und heimlich abgesetzt haben. Der älteste Bruder meiner Mutter ist unehelich auf die Welt gekommen, da meine Großeltern lange nicht an eine Heirat gedacht haben. Beide hatten einige Jahre in einem großen Hotel gearbeitet, ehe sie nach Tytuvėnai gezogen waren, um eine eigene Frühstückspension zu eröffnen. Ich glaube, meine Großmutter hat sehr darunter gelitten, dass die Dinge gelaufen sind, wie sie nun einmal gelaufen sind, auch wenn sie ihren Mann, ihre Kinder und Enkelkinder über alles geliebt hat. Sicherlich wollte sie auch nur das Beste für uns, ihre Wut auf das Leben hat sie jedoch nie verbergen können. Und besonders die auf mich nicht. Alle Enkelkinder hat sie heiraten sehen, nur mich nicht. Dabei hat sie eine Heirat immer als das allerwichtigste Ereignis im Leben eines Menschen erachtet; warum auch immer sie das so gesehen hat. Leon, mein Verlobter, spricht schon seit einem Jahr davon, dass wir endlich einen Hochzeitstermin festlegen sollen, wo wir doch schon lange verlobt sind. Eigentlich sollte ich doch glücklich sein, dass es ihm mit der Hochzeit nicht schnell genug gehen kann. Ich war doch auch einmal eines dieser Mädchen, die von einer romantischen Märchenhochzeit geträumt haben. Und jetzt finde ich mehr Gründe gegen als für eine Ehe. Ich meine, wozu noch heiraten? Vieles kann man heutzutage ohnehin schon mit Vollmachten und Verfügungen regeln. Und ob der gemeinsame Nachname wirklich die sicherste Basis für eine Beziehung ist?

Leon und ich sind schon seit beinahe neun Jahren zusammen. Und obwohl man uns von außen betrachtet als glückliches Paar bezeichnen würde, habe ich schon seit einer Weile meine Zweifel an dieser Beziehung. Um genau zu sein, seit unserer Verlobung vor einem Jahr. Vielleicht, weil der Gedanke an die Ehe für mich etwas Zwanghaftes, Fesselndes und Einengendes hat. Oft frage ich mich, ob manche Paare ohne Trauschein nicht besser aufgehoben wären. Mein Großvater hat Leon sehr gemocht und einer Hochzeit schon lange seinen Segen gegeben. Und nie hätte ich ihm sagen können, dass ich an der Ehe zweifle. An der Ehe im Allgemeinen und an der mit Leon im Besonderen. Ja, Leon ist ein toller Schwiegersohn, meine Eltern vergöttern ihn; wie übrigens meine ganze Familie. Er lässt sich nicht einmal den Frust über mein Hinauszögern der Eheschließung anmerken. Er ist einfach da und tut alles für mich, akzeptiert alles. Solange ich bei ihm bin. Das scheint sein größtes Glück zu sein. Und was ist mein größtes Glück?

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16031

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