Es ist Mitternacht und Rauch hängt in der Luft. Es regnet. Ich liebe das rhythmische Klopfen der Regentropfen an den Fensterscheiben. Gott sei Dank hat es erst vor einer halben Stunde begonnen zu regnen. Heute Morgen bin ich von Istanbul nach Wien geflogen, um alte Freunde zu besuchen. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich seit zwanzig Jahren nicht mehr hier war. Ich kann auch nicht behaupten, dass ich es vermisst hätte. Ich hätte auch keine Zeit dazu gehabt. Nicht mit einer Familie, einem eigenen Buchladen und einem eigenen Café. Als ich Wien im Alter von 28 Jahren verlassen habe, war mir schon klar, dass ich nur noch zu Besuch kommen würde.
Serdar und ich haben uns bei meinem ersten Besuch in Istanbul kennengelernt. Ich war Sprachschülerin und Touristin und Serdar hatte seine Familie besucht, da er damals in Wien studierte und sie nur während der Sommermonate sah. Mittlerweile sind wir seit vierundzwanzig Jahren zusammen; meine Mutter hat uns nicht einmal ein halbes Jahr gegeben. Ich weiß nicht, was sie zu meinem jetzigen Leben sagen würde, da ich seit zwanzig Jahren kein Wort mehr mit ihr gewechselt habe. Ich darf nicht sagen, dass sie nichts für mich getan hat, das wäre gelogen. Aber die Einsicht, dass man für einen Menschen niemals gut? genug sein wird, egal was man macht, schmerzt. Vor allem, wenn einem die eigene Mutter ohne Unterlass zu verstehen gibt, dass man nicht gut genug ist und es wohl auch nie sein wird. Ich hoffe, dass ich meinen Kindern dieses Gefühl nie gegeben habe.
Ich weiß nicht weshalb, aber wieder österreichischen Boden zu betreten, hat mich mehr als erwartet aufgewühlt. Ich sehe die junge Frau, die ich damals war, aus großer Distanz. Den Tag habe ich mit Evelyn, meiner langjährigen und besten Freundin verbracht. Obwohl ich schon so lange nicht mehr hier lebe, ist unsere Freundschaft auch nach so vielen Jahren noch sehr eng und vertraut. Ich habe versucht, meine einstige Heimatstadt mit den Augen der jungen Frau zu sehen, die ich war, als ich weggezogen bin. Doch wir haben uns beide zu sehr verändert, die Stadt und ich; obwohl manche Gegenden noch genauso sind, wie ich sie in Erinnerung habe. Evelyn ist mir nicht böse, dass ich im Motel One am Westbahnhof übernachte. Sie und ihr Mann bewohnen zwar eine wunderschöne und große Wohnung, doch mich macht es verrückt, in fremden Wohnungen zu übernachten. Schon als kleines Mädchen mochte ich es nicht, bei Freundinnen zu übernachten oder mir, wenn sie bei mir übernachteten, ein Bett mit ihnen zu teilen. Als ich mit Serdar zusammengekommen bin, hat es sehr lange gedauert, bis ich mich daran gewöhnt habe, mit ihm in einem Bett zu schlafen. Auch nach so vielen Jahren passiert es noch, dass ich die eine oder andere Nacht in meinem eigenen Zimmer verbringe. Nun ja, jede Beziehung hat ihre Arrangements.
Offiziell verbringe ich den Abend mit einigen alten Freunden. Tatsächlich aber wollte ich allein sein, um einer alten Geschichte nachzugehen. Ich hatte vor sechsundzwanzig Jahren, noch eine ganze Weile vor Serdar, eine Romanze mit einem türkischen Kurden, dessen Eltern eine Shisha-Bar am Lerchenfelder Gürtel betrieben, genau gegenüber von der U6-Station Thaliastraße. Café Derwisch. Und nun hatte es mich interessiert, was daraus geworden war.
Zu meiner Überraschung hat sich kaum etwas verändert. T. führt das Lokal weiter. Und offenbar hat er eine affektierte und zu stark geschminkte, schlecht blondierte Frau mit einem zu kurzen Minirock geheiratet. Seinen Sohn kann er nicht verleugnen, er ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. T. wirkt sehr angespannt, offenbar hat er es – wie ich es übrigens schon vermutet habe – nicht geschafft, eigene Entscheidungen für sein Leben zu treffen. Als ich vor einer halben Stunde gekommen bin, war das Lokal sehr voll. Ich habe zum Glück einen kleinen Nischenplatz für mich und mein Buch gefunden und eine Kanne schwarzen Tee mit Milch bestellt. Abends mein liebstes Getränk. Ich liebe den Geruch von Wasserpfeifentabak. Wenn Serdar und ich nach Bodrum fahren, wo wir ein Ferienhaus haben, rauchen wir oft eine Shisha. Am liebsten habe ich den Trauben- und den Melonentabak. Und obwohl ich erst seit einigen Stunden wieder in Wien bin, vermisse ich die Türkei und unseren Lebensstil schon. Aber ich bin ja nur eine Woche hier.
Erst jetzt fällt mir auf, dass T. mich anstarrt. Wie lange schon? Ob ihm dämmert, wer ich bin? Wir waren schon ziemliche Hitzköpfe damals. Vermutlich würde ich alles noch einmal so machen; schließlich habe ich mich über all diese Irrwege selbst gefunden. Ich habe noch immer die silberne Kette mit dem schützenden Auge, die er mir einmal geschenkt hat. Irgendwann werde ich sie meiner Tochter Elif schenken.
T. bringt mir eine zweite Kanne Tee. Ich erwidere seinen Blick. Er stellt die Tasse vor mir ab, schüttelt ungläubig den Kopf und setzt sich wieder zu seiner Schwester und seiner Frau an den Tisch. Nicht, dass er aufhören würde zu starren, aber zumindest sind jetzt einige Köpfe zwischen uns. Da fällt es mir nicht so auf. Nun ja, ein besonders entschlossener Mensch war er noch nie.
Als ich wieder auf die Uhr sehe, ist es schon kurz vor vier. Zeit zu zahlen; auf der Eingangstür steht, dass das Lokal am Wochenende bis vier geöffnet hat. Nicht einmal das hat sich geändert. Ich packe meine Sachen und gehe zur Bar, um zu bezahlen. Nur an einem Tisch sitzen noch drei junge Männer, die aber schon bezahlt haben. Bald werden sie ausgetrunken haben und gehen.
„Du bist zurück“, stellt er sachlich fest. Ich nicke schweigend. „Bleibst du?“ „Warum sollte ich?“, antworte ich mit einer Gegenfrage, „ich ziehe Istanbul vor. Und bis zur Pension muss ich meine beiden Läden noch führen, jetzt nochmal einen anderen Job anzufangen wäre unlustig.“ „Hm“, er verzieht die Lippen. Ich lege den abgezählten Rechnungsbetrag auf die Bar und gehe. Vor der Tür kann ich mir ein lautes Auflachen nicht verkneifen. Es ist interessant, was die Jahre aus einem Menschen machen; ober eben nicht machen. Ich habe am Ende alles so hinbekommen, wie ich es mir immer gewünscht habe. Aber wie muss es für ihn sein, immer auf der Stelle zu treten?
Gerade als ich die Straße überqueren will, spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Natürlich ist er mir nachgekommen. Das war nicht anders zu erwarten. Er hat sich kein Stück verändert. „Wieso tust du das?“, er wirkt noch angespannter als vorhin im Lokal, „warum? Ich habe dir immer gesagt, dass du der einzige Mensch bist, der alles umwerfen kann. Auch wenn ich gerade dir gegenüber immer der unfähigste Idiot war!“ „Tja“, ich zucke mit den Schultern, „nach zwanzig Jahren war es Zeit für einen Besuch. Du hast doch immer gesagt, dass es dir egal ist, ob ich komme oder nicht, weil das Derwisch ja ein öffentliches Lokal ist.“ Auch wenn es gemein ist, kann ich mir einen gewissen Sarkasmus nicht verkneifen. Ist es gemein zu sagen, dass manche Leute es nicht anders verdient haben? Er gestikuliert, will die Arme heben, hält aber in der Mitte der Bewegung inne. „Sei nicht so unfair, du siehst doch selbst, dass dir nichts Besseres nachgefolgt ist.“ Ich muss lachen. „Und? Du hattest genug Chancen, es richtig zu machen!“ Mit diesen Worten lasse ich ihn stehen.
Ich gehe zu Fuß zum Westbahnhof; mit der U-Bahn wären es auch nur zwei Stationen. Was der Rezeptionist wohl denkt, als er mich um diese Zeit heimkommen sieht? Dem Namen nach ist er Türke, ebenso wie der Barkeeper, der noch Dienst hat. Ich höre die beiden schon, als ich die Lobby betrete; sie sind sich sicher, dass um diese Uhrzeit niemand mehr hier ist, der sie hören und verstehen könnte, weshalb sie sich, ohne besonders auf ihre Lautstärke zu achten, über gewisse weibliche Gäste unterhalten. Um besser schlafen zu können, bitte ich den Barkeeper auf Deutsch um ein Glas warmer Milch; in meinem Kopf sind die Sprachen sehr mit einem Kontext verbunden. Deutsch in Wien, Türkisch in meinem Lebensumfeld und Litauisch mit meiner Familie. Und mit allen Sprachen ist ein anderer Teil meiner Identität und Persönlichkeit verbunden. Sprache ist Identität, aber nicht jeder Mehrsprachige fühlt sich in allen Identitäten gleichermaßen wohl. Eine wird immer vorgezogen.
Die Überraschung der beiden Männer, als ich sie in fehlerfreiem Türkisch zurechtweise, nachdem sie sich über mich unterhalten haben, ist dementsprechend groß. Und typischerweise werden sie plötzlich sehr kleinlaut. Diese Erfahrung mache ich im Ausland nicht zum ersten Mal. Und natürlich folgen auf die erste Überraschung die üblichen Fragen nach Herkunft, Familie, dem Ehemann (die beiden Männer sind konservativer, als es ihr Äußeres vermuten lassen würde) und der Dauer des Aufenthaltes. Auch auf diese Fragen habe ich meine vorgefertigten Antworten, da ich kein Fan neugieriger Menschen bin. Wenn man mit mehreren sprachlichen Identitäten aufwächst oder neue im Laufe des Lebens erwirbt, wird man immer mit der Neugierde der Menschen zu dem Hintergrund konfrontiert. Das ist wohl die Natur der meisten Menschen. Und natürlich erzählen sie mir viel über sich. Mehr, als ich eigentlich wissen wollte, aber schlafen kann ich ohnehin nicht, weil ich noch aufgewühlt bin von meinem Besuch in Wien und von allen meinen Erinnerungen.
Einen Tag vor meiner Abreise bin ich noch einmal im Derwisch; diesmal mit Evelyn. Es ist Freitagabend und relativ voll. Ich erzähle Evelyn von unserer skurrilen Unterhaltung eine Woche zuvor. Sie hat genauso viel Spaß daran wie ich. Wie früher albern wir herum, trinken ein bisschen über den Durst und erinnern uns zurück. Sie verspricht mir auch, zur Verlobungsfeier meines jüngsten Sohnes Celal zu kommen. Irgendwann brechen wir auf, damit ich vor der Abreise noch ein wenig schlafen kann, da es mir nicht möglich ist, in Flugzeugen zu schlafen. Ebenso wenig in Zügen oder Autos, weil Geräusche und Bewegung mich beim Einschlafprozess stören.
Als ich auf die Uhr sehe, ist es Mitternacht. Vor vielen Jahren haben wir uns auch immer um Mitternacht getroffen.
Cornelia Hell
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