Gestern, heute, morgen: Sonntag

Sonntags wird am Stammtisch pünktlich mit dem Zwölfuhrläuten der letzte Rest Bierschaum eilig hinuntergekippt. Die Stühle werden über den knarzenden Holzboden zurückgeschoben, die Jacken angezogen und tiefe Männerstimmen lachen noch über einen schnell hingeworfenen Witz, egal ob anzüglich oder nicht. Die Zeche beim Wirt wird jetzt bezahlt oder auch erst zum Monatsletzten die Frau wartet ja, das Essen auf dem Herd. Man klopft sich noch schnell auf die Schultern, zufrieden mit sich und den alten Geschichten, die auf ewig lustig sind, weil sie auf ewig immer gleich erzählt werden.

Gestern. Das Zwölfuhrläuten war noch nicht ganz verklungen, als Jakob vom verrauchten und mit Männerdunst vernebelten Kellerwirt ins Freie trat. Er atmete die klirrend kalte Luft tief ein und hob noch einmal die Hand zum Gruß, als er die Kellnerin sah, die sich für eine schnelle Zigarette vor die Garage gestellt hatte.

Als Jakob den Dorfplatz überquerte, flogen ihm zarte Schneeflocken ins Gesicht, die sofort auf seiner verschwitzten Haut schmolzen. Der erste Schnee, dachte er und bog in die Glasergasse ein. Schon so früh heuer. Seine Frau Gerti würde wohl heute die ersten Futterknödel für die Amseln aufhängen.

Während er beschwingt den Aufstieg Richtung trautes Heim in Angriff nahm, spürte er leichten Schwindel. Oder war da zuerst das Schlittern seiner Füße auf dem glatten Gehweg gewesen? Er rutschte jedenfalls, riss die Arme in die Luft und die Beine nach vorne und für den Bruchteil einer Sekunde schwebte Jakob in der Luft, durch keinen seiner Körperteile mit der Erde verbunden. Dann fiel er nach hinten und stieß sich den Kopf an der Bordsteinkante.

Heute. Ein scharfer, stechender Schmerz durchzuckt seinen Körper und klingt mit immer kürzer werdenden Wellen ab. Vorsichtig betastet Jakob seinen Hinterkopf. Kein Blut, aber eine Beule würde es wohl werden. Er setzt sich langsam auf und sieht sich um. Es ist niemand da, nur der Schnee fällt noch still vom grauen Himmel und bedeckt nach und nach die schmale Gasse.

Unter Ächzen und Stöhnen schafft es Jakob, sich aufzurichten. Vorsichtig stützt er sich an den Hausmauern ab und setzt Schritt für Schritt seine schweren Stiefel hintereinander. Als er endlich ganz oben ist, biegt er nach rechts, an der alten Linde vorbei, und zwei Häuser weiter geht er durch das Gartentor. Der Schmerz hat nun nachgelassen, aber der Schwindel ist noch immer da. Er würde Gerti bitten, ihm einen heißen Tee zu machen und eine Packung Tiefkühlgemüse gegen die Beule zu halten.

Als er den Schlüssel aus der Jackentasche zieht und in das Schloss schiebt, will dieser sich nicht drehen lassen. Jakob lehnt sich stöhnend gegen die Hausmauer. Er hat wohl mehr getrunken, als er ursprünglich gedacht hat. Ein Hund bellt und kratzt von innen an der Haustür. Jakob stutzt. Sie haben keinen Hund. Er tritt ein paar Schritte zurück, hebt vorsichtig den Kopf, dreht sich hin und her und blickt vom Gartentor zur Haustür und wieder zurück. Es ist sein Haus und doch nicht sein Haus. Er erkennt die Einfahrt, das Gartentor, das Blumenbeet unter dem Küchenfenster, das er selbst mit Flusssteinen umgrenzt hat. Aber er erkennt weder die neue zitronengelbe Hauswandfarbe noch den Postkasten, der die Form einer übergewichtigen Katze hat.

Die Türe schwingt auf und eine junge Frau stürzt heraus. „Papa“, ruft sie, ergreift Jakob am Arm und zieht ihn sanft in das Haus hinein. „Was machst du denn? Bist du wieder ausgerissen?“ Ein kleines weißes Fellbündel springt an ihm hoch und versucht seine Hände zu lecken. Reflexartig reißt Jakob seine Hände nach oben und stößt damit die junge Frau zur Seite. Sie verschränkt die Arme vor dem Körper, legt den Kopf schief und seufzt: „Ach, Papa.“

„Entschuldigung! Ich glaub, ich bin im falschen Haus.“ Jakob wendet sich von der Frau ab, als diese ihm eine Hand auf den Arm legt. „Komm doch mal rein, wärm dich auf. Wir werden das schon regeln!“ Ihr Ton ist leise, aber bestimmend, und Jakob lässt sich durch den Flur in die Küche führen.

Dort läuft ihm ein kleines Mädchen entgegen, mit dem lockigen Haarschopf seiner Tochter, doch mit fremden Augen, fremder Nase und fremdem Mund. „Opa, Opa!“, jauchzt sie und nimmt ihn bei der Hand. Völlig perplex lässt sich Jakob von ihr zum Küchentisch ziehen und plumpst auf die Bank. Das Mädchen klettert auf seinen Schoß und schmiegt sich an ihn.

„Ich habe Kaffee aufgesetzt, Papa. Willst du auch einen?“ Jakob sieht die Frau entgeistert an. „Bitte“, bringt er stockend heraus. „Wo bin ich denn hier?“ Das Mädchen auf seinem Schoß betrachtet ihn vorwurfsvoll aus großen Kinderaugen. „Aber Opa! Du bist bei uns. Bei Mama, bei Papa und bei mir. Wiesenweg Nummer fünf.“

„Wiesenweg fünf?“ Jakob merkt wie seine Stimme immer brüchiger wird. „Das ist meine Adresse.“ Die Frau seufzt und stellt ein Tablett mit Tassen und Teller auf den Tisch. „Ja, Papa. Du hast hier mal gewohnt. Bis vor“, sie überlegt einen Moment, „ziemlich genau neun Jahren – als Mama gestorben ist.“

„Mama?“ Jakob versteht noch immer nicht. Verdutzt nimmt er die ihm dargereichte Tasse mit Kaffee in die Hand. Die Frau streichelt behutsam seinen Arm, als ob er ein verletztes Tier wäre. „Mama, deine Frau Gertraud. Ich bin Katharina, deine Tochter. Das ist Luise, deine Enkelin. Und du bist wahrscheinlich wieder aus dem Seniorenzentrum ausgebüxt und hast den Bus genommen, stimmt’s?“

Ohne auf seine Antwort zu warten, steht sie auf und zieht ihr Handy aus der Tasche. „Ich ruf dort mal an.“ Das kleine Mädchen – Luise, heißt sie wohl – ist von seinem Schoß geklettert und er führt zitternd die Tasse mit dem heißen Kaffee zum Mund. Er betastet seinen Kopf. Da ist sie, die Beule.

Vor einer Stunde ist er noch im Wirtshaus gesessen und hat mit seinen Spezis ein paar Bier getrunken. Gerti hat ihm an diesem Morgen, mit der kleinen Katharina auf dem Arm, noch aus dem Küchenfenster nachgeschimpft, weil er ohne Mütze losgezogen war. Und jetzt gibt es sie nicht mehr. Mein Gott, wie die Zeit vergeht! Er blickt auf die Küchenuhr.

Es ist zwölf Minuten nach zwölf. Morgen.

Nene Stark

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 22028

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