Die Schwertschluckerin vom Kapuziner-Boulevard - Teil II

Halt! Kennen Sie schon Teil 1 dieser Geschichte?

Es geschah im Spätwinter. Sie war erst vierzehn. Unausgeschlafen trottete sie durch die grauen Straßen. Das Einzige, was sie wahrgenommen hatte, waren ihre trüben Gedanken und Ängste vor der kommenden Nacht. Und vielen darauf folgenden. Plötzlich war ihre Abwesenheit durch eine schrille Stimme durchdrungen worden. Ihre erwachte Aufmerksamkeit lenkte sich auf eine Menschenmenge auf dem Marktplatz vor zwei Pferdefuhrwerken, die mit khakifarbenen Abdeckhauben versehen waren und ziemlich ärmlich wirkten. Die Stimme schien aus der Mitte der Versammlung zu erklingen. Sie folgte ihr sofort, denn sie hatte etwas Verheißungsvolles an sich. Während sie sich durch die Masse an Körpern drängte – wobei sie jede Menge spöttische und sogar hasserfüllte Bemerkungen erntete –, hörte sie den Wörtern des noch unsichtbaren Sprechenden zu:
„... etwas noch nie Gesehenes und Erlebtes. Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen versprochen, Ihre kostbare Zeit nicht zu vergeuden, und ich halte stets mein Wort.“ Da räusperte er sich. Nach viel Ellbogenarbeit gelangte Jeanne endlich zu der ersten Reihe und konnte sein pausbäckiges Gesicht mit den vor Kälte roten Wangen sehen.
„Hier und jetzt werden Sie Zeugen von den unglaublichen Fähigkeiten faszinierender Individuen, die in der Lage sind, fantastische, unbeschreibliche Handlungen durchzuführen.“

Jeanne war von der Art seiner Ausdrücke gefesselt. Sie war sich sicher, dass gleich etwas auf sie zukam, was ihren Lebensverlauf ändern würde. Sie wusste bloß noch nicht, inwiefern.
Da kamen sie zum Vorschein. Einer nach dem anderen traten sie aus dem vorderen Fuhrwerk hervor: ein schnurrbärtiger Mann, der dicke Ketten mit der bloßen Kraft seiner massiven Oberarm- und Brustmuskeln zerriss. Eine übernatürlich biegsame Frau, die bäuchlings liegend, mit ihren zierlichen Füßen einen roten Ball in den Nacken legen konnte. Und zuletzt ein Schwertschlucker, der erst einen Dolch und dann einen langen Degen in seiner Kehle verschwinden ließ, sodass nur noch der elfenbeinerne Griff aus seinem Mund hochragte. Indes hing sein Pferdeschwanz gerade herunter, als sei er zu der nun unsichtbaren Klinge geworden.

Der Sprecher, der allem Anschein nach auch der Patron der Truppe war, trat mit seinem kugelförmigen Körper wieder vor und bat ergebenst um Spenden, damit ihre Gruppe weiterbestehen könne. Die Artisten hatten sich aufgereiht und verbeugten sich mehrmals vor dem Publikum. Jeanne war begeistert, während die Menge nur wenige Centimes entbehrte und sich zusehends auflöste. Die Münzen prallten auf das Pflaster und erzeugten dabei ein leises Klirren, das von dem erneut entstandenen Stimmengewirr des Marktplatzes verschluckt wurde. Alle gingen weiter ihren Obliegenheiten nach und die magische Vorstellung war sofort vergessen. Die Künstler schienen nicht besonders enttäuscht zu sein. Es war eindeutig nicht das erste Mal, dass sie so ungeschätzt blieben. Was sie aber nicht ahnen konnten, war, dass sie ein junges Mädchen von einer düsteren Zukunft erlöst und ihm Hoffnung gegeben hatten.
Ohne eine Notiz von ihr genommen zu haben, verschwanden sie in demselben Gefährt.

Jeanne ging beiseite, setzte sich auf eine steinerne Treppenstufe der Kirche und wartete. Es war sehr kalt. Ihr Atem, eine winzige Wolke, stieg empor. Sie schlug die Arme um ihren Oberkörper, um sich zu wärmen, und drückte ihre bebenden Beine fest zusammen. Es half nichts. Sie musste aushalten.
Irgendwann wird es wieder warm, sagte sie sich und nickte überzeugt. Sie legte eine Entschlossenheit an den Tag, die man von einem so jungen Wesen nicht erwarten würde. Aber ihr psychisches Alter war weit fortgeschrittener als ihr physisches, wie es immer der Fall ist, wenn ein Kind frühzeitig und auf eine brutale Weise mit dem hässlichen Gesicht des Lebens konfrontiert wurde.
Und dann geschah es. Der Muskulöse entstieg dem Pferdewagen – er hatte einen dicken Pelzmantel um die breiten Schultern geworfen – und trug die Sachen, die sie beim Auftritt gebraucht hatten, in das kleinere Fuhrwerk, das dahinter stand. Dann setzte er sich an die Zügel. Der Patron erschien an den Zügeln des anderen Pferdes, setzte sich bequem hin und nahm sie in seine kleinen Hände. Langsam fuhren sie ab.

Jeanne lief ihnen nach und wartete auf einen günstigen Moment, um von Passanten ungesehen hineinzuklettern. Jetzt oder nie!, blitzte der Gedanke in ihrem schwirrenden Kopf. Schon befand sie sich zwischen einer Truhe aus Eichenholz, einigen Stapeln Kleidungsstücken und einem Korb mit Proviant. Sie hüllte sich in die Kleider. Es fühlte sich an wie in einem warmen Traum.
Ich hab’s gemacht, ich hab’s tatsächlich gemacht, bestätigte sie sich.
Sie bereute nicht, ihre wenigen Habseligkeiten zu Hause gelassen zu haben. Am liebsten hätte sie auch ihre Vergangenheit abgekappt und vergessen.
Nach einer Weile wagte sie, die Truhe aufzumachen. Bedächtig hob sie den schweren Deckel und schaute hinein. Die Truhe enthielt nur die Requisiten. Eine davon war der Degen des Schwertschluckers. Er war in ein blaues Satintuch eingewickelt. Sie holte ihn heraus, wickelte ihn aus und betrachtete sorgfältig seine Eigenschaften, während sie sein Gewicht auf ihren Handtellern wog.
Der Griff aus Elfenbein war wunderschön. Eine Rarität, deren Anfertigung an ein Wunder des menschlichen Könnens grenzte. Dann sah sie eine Inschrift entlang der Klinge eingraviert, die in einer ihr unbekannten Sprache verfasst war. Als sie mit ihrer Betrachtung fertig war, wickelte sie den Degen wieder ein und legte ihn zurück in die Truhe, deren Deckel sie beim Heruntersetzen etwas zu laut zuschlug. Ängstlich schaute sie zum Rücken des Fahrers. Zum Glück hatte er nichts gehört. Die samtene Berührung des Tuches blieb noch lange an ihren Fingerkuppen haften. Bald bekam sie riesigen Hunger. Im Proviantkorb befanden sich unter anderem zwei Tafeln dunkler Schokolade, die sie mit schlechtem Gewissen verzehrte.

Der Pfad wurde holperig. Sie befanden sich im Wald. Allmählich wurde ihr von dem ganzen Geholper unwohl im Magen. Ein Gefühl von Übelkeit bemächtigte sich ihrer, bis es nicht mehr zum Aushalten war. Sie beugte sich über das Holztürchen des Wagens und übergab sich reichlich, aber das Geräusch der rollenden Räder übertönte es. Erschöpft sank sie zurück und schlief tief ein. Als man sie entdeckte, waren sie bereits weit weg von Avignon. Sie sagte nur ihren Vornamen. Erstaunlicherweise wurde sie herzlich aufgenommen.
Sie hatte keine besonderen Talente, aber sie machte sich nützlich, indem sie bei allem Möglichen half.

In den folgenden Jahren lehrte der Schwertschlucker – sein Name war Pierre – sie gründlich seine Kunst. Nur eines gab er nicht preis, nämlich was die Inschrift an der Klinge bedeutete. Am Anfang musste sie mit dünnen, langen Karotten so viel üben, dass sie einen wunden Gaumen und Hals bekam, aber diese Übungen waren notwendig, um den Brechreiz unterdrücken zu können. Denn das war das A und O dieses Berufs. Ein Würgen im falschen Moment könnte die Speiseröhre aufschlitzen. Bald darauf war sie so weit, mit scharfen Gegenständen anzufangen. Sie wurde sehr gut darin.
„Du wirst mich eines Tages ersetzen“, sagte Pierre ihr voller Stolz. Dass dieser Tag so bald heranrücken würde, verschwieg er leider. Denn bei einem Bühnenauftritt – sie hatten sich mittlerweile hochgearbeitet – verletzte er sich lebensgefährlich. Sie konnte seinem letzten an sie gerichteten Blick ablesen, dass er es absichtlich gemacht hatte, würde sein Geheimnis aber nie verraten. Sie nickte ihm leicht zu. Er starb hinter den Kulissen mit einem zufriedenen Lächeln im faltigen Gesicht.
Das alles schien jetzt so lange her zu sein.
Zeit ist seltsam, dachte sie wehmütig.

Es bleibt spannend: Mit Teil 3 geht es ins Finale der Geschichte.

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 21128

 

 

 

 

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