Vom Genuss der kleinen Dinge

Aus der Druckerei kommen stampfende, schlingernde Geräusche. Die Türe steht einen Spalt offen. Ein Plotter wirft großformatige glänzende Plakatbögen aus. Eingangs befindet sich eine rostige alte Schranke, sie sperrt den Weg in die Hofeinfahrt, doch diese Barriere ist höchstens symbolischer Natur, denn sie ist lediglich angelehnt. Es ist ein unscheinbares Anwesen, mit unansehnlichen niedrigen Hofgebäuden, wovon einige Mansarden schmücken, Relikte aus besseren Tagen. In der Luft liegt die süße Frische von Vorfrühling, doch die Botschaft ist trügerisch, es ist doch erst Ende Januar. Schränkung!, hatte Herr Friedrich notiert: Alles nur eine Frage der Schränkung! Zur Kurz-Info an mich selbst: ab sofort keine Softdrinks in der Betriebskantine.

Irene Müller hatte diese Notiz ihres Chefs aufgestöbert, zwischen den Blättern. Sie fand das gut. Gerade trat sie aus der Druckerei mit einem Stapel frischer Bögen im Arm. Irene lebte schon seit geraumer Zeit, seit einigen Jahren, in einem eigentümlichen Zustand von begnadeter Bitterkeit, den sie als ihr persönliches Streben nach Reinheit und Perfektion zu bezeichnen pflegte. Sie durchlebte ein beflügelndes Gefühl der süßen Entsagung: Wässer statt Limonaden. Roggen, Dinkel und Gerstenschrot in selbstgebackenen steinharten Laiben. Allenfalls aromatische Wohlfühl-Tees. Danach strebte Irene Müller, das war ihre Vorstellung von der Vollkommenheit, nur dass sie davon noch weit entfernt war, denn eigentlich … verspürte sie gerade im Moment ein heftiges Begehren.

Um es sich anschließend gleich wieder zu versagen: Irene träumt von einem großen saftigen Kebab. Heute Abend. Vor ihrem inneren Auge erblickt sie die Imbissbude an der Ecke, sie leuchtet in der Dämmerung. Der Verkäufer ist ein großer starker Mann, mit einer kleinen weißen, etwas infantil wirkenden Mütze auf dem Kopf. Er nimmt sein Fleischmesser und zieht es über den Schleifstock, die Klinge schwingt und zurrt unter jedem Streich. Die Schneide singt wie eine gespannte Saite, sie bebt, so wie Irene, die, ihre Schritte über das löchrige Pflaster im Hof der Druckerei lenkend, auf einem Luftkissen aus Vorfreude schwebt. Halb die Augen geschlossen, lässt sie die Bilder an sich vorbeiziehen: Endlich ist der Moment gekommen! Der Meister tritt an den heißen, dampfenden Kegel heran, das Messer gleitet in die Tiefe, teilt die Massen von Fleisch und löst feine Scheibchen ab, innen noch rosa und außen herrlich kross. Hauchzart, in Blattstärke, gekräuselt wie die Ringellocken, kullern sie in die Tiefe, wo der beherzte Fleisches Schnitter sie virtuos auf einer flachen Schaufel auffängt zwischen Wogen aus Dampf. Während des Meisters Gehilfe, ein schlanker Bursche mit dunklen feurigen Augen, mit sanften langen Wimpern, das warme Weißbrot zerschneidet, mit frischen Zwiebeln bedeckt, aus Tomaten und in Streifen zerteilten grünen Paprika, ein Bett bereitet für das weiche dampfende Fleisch ...

Irene Müller schüttelt den Kopf. Zur Kurz-Info, sagt sie harsch, an mich selbst! Schluss, ein für alle Mal, mit diesem ganzen Fast-Food-Mist!

Kurz-Info, das hatte Friedrich geschrieben: an mich selbst! Keine Limos mehr. Kein Zucker. Schränkung ist geboten. Auf ein kleines Memoblättchen hatte er die Worte gekritzelt. Eine winzige Blattstärke nur zwischen dem Stoß aus Flugblättern, war es versehentlich haften geblieben, wo es nicht sollte. Dort hatte Irene Müller die Botschaft entdeckt, sie war nicht für sie bestimmt, aber sie mochte das. Sie, die sich so gerne Dinge ausmalte, um anschließend mit Nachdruck darauf zu verzichten: ihre persönliche, in Wollust getränkte Bitterkeit. Heißes dampfendes Fleisch. Irene Müller leckte sich mit der Zungenspitze über die Lippen, ohne das es ihr bewusst wurde. Sie spitzte den Mund: heute Abend! Sie schwelgte in Vorfreude auf ihren Kebab. Er wird so riesengroß sein wie ein Vollmond, innen weich und außen knusprig, sie verspürt schon den Duft von Salbei und Thymian. Nach Bratfett, und dazu der Geruch von Grillgewürz. Grillgewürz!

Jählings hält Irene Müller im Schritt ein, so abrupt, dass die Papierstöße auf ihrem Arm gefährlich in Schieflage geraten. Wie grauenhaft! Sie schüttelt sich vor Ekel: Grillgewürz. Mit einem Schlag ist ihr eingefallen, wie sehr sie das Zeug schon immer verabscheute, diese grässlichste Erfindung der Menschheit seit der Erfindung der Konservendose. Der Tod aller Sinnlichkeit, geistlose Einheitsgeschmacksbeglückung auf den Papptellern dieser Welt, zwischen pampigen Brotscheiben und fettiger Mayonnaise. Widerlich. Hastig ordnet sie den Stapel, die frischen glänzenden Plakate, die sie gerade noch in den Tiefen ihrer Armbeuge balanciert hatte. Aus der Mitte der Blätter hat sich ein gelbes Zettelchen gelöst. Die Botschaft, die Herr Friedrich nie an sie schrieb, gleitet sanft zu Boden und flattert wie ein Falter in der Frühjahrssonne über dem löchrigen Hofpflaster dahin. Irene achtet nicht darauf, sie ist beglückt. Darüber, dass sie widerstanden hat.

März 2020

Ulla Puntschart
https://ulla-puntschart.jimdo.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 20045

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