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Der Prinz

Ein Prinz verließ das Schloss seines Vaters, um im nahegelegenen Wald Pilze zu sammeln. Es war ein sommerlich warmer Tag, also trug er dünne Kleidung, auf dem Kopf die goldene Krone, die seinen Rang symbolisierte. Er brach auf, ohne Waffen zu tragen, die letzten Wölfe waren Jahre zuvor erlegt worden, und nachdem es keine Banditen mehr gab, sein Vater hatte alle henken lassen, verzichtete er auch darauf, sich von der ihm zugeteilten Leibwache eskortieren zu lassen.
Er ging durch den Wald, den Kopf zu Boden gesenkt, um nur ja keinen Pilz zu übersehen, als er plötzlich Schritte hinter sich wahrnahm. Er wandte sich um und erblickte den für seine Grausamkeit und Unerbittlichkeit bekannten und gefürchteten Zauberer Gordon. Der Prinz wollte davonlaufen, doch der Zauberer packte ihn am Genick und hielt ihn zurück. Der Prinz weinte, schrie, flehte um Gnade, doch der Magier sagte bloß: „Wer einmal Gordons Weg kreuzt, ist verloren!“ Der Prinz bot ihm Gold an, Edelsteine, die schönste Jungfrau im Lande, jedoch er hatte keinen Erfolg.

Gordon erhob sich, den armen Prinzen an der Hand, in die Luft und flog viele Meilen weit zu einem Turm, welcher einsam und verlassen auf einer Lichtung an der dunkelsten Stelle des Waldes stand. Allein, der Turm hatte keine Türen, lediglich ein Fenster knapp unterhalb der Spitze, vergittert und angsteinflößend. Gordon schwebte durch die Mauer hindurch in einen kleinen Raum. Er warf den Prinzen auf den Boden und machte ihm deutlich, dass sein Leben an diesem Ort ein Ende finden würde.
Er warf dem Königskind einen Kürbis vor die Füße und sagte, dass dieser für die nächsten drei Tage vorhalten müsse. Er würde von nun an jeden dritten Tag kommen, um der armen Seele einen Kürbis und einen Eimer Wasser, für die Körperpflege und um den Durst zu löschen, zu bringen. Er entschwebte und ließ den jungen Mann zurück. Der Prinz versuchte, zu dem vergitterten Fenster zu gelangen, jedoch war dieses unerreichbar. Er schrie und weinte, doch niemand hörte ihn.

Ein Gewitter zog auf, es stürmte und hagelte, zumindest das Dach hielt dicht, der Prinz betete, doch wurde er nicht erhört. Er aß ein Stück vom Kürbis, trank wenige Schlucke Wasser und schlief auf dem Stroh, welches den Boden bedeckte, ein. Am nächsten Morgen wachte er schreiend auf im Glauben, einen Albtraum durchlitten zu haben, jedoch war es kein Traum. Er schrie sich die Seele aus dem Leib, er schlug gegen die Wand aus Stein, versuchte sie zu zerkratzen. Schließlich brach er blutend und weinend nieder.
Der Zauberer hielt Wort und brachte ihm wortlos jeden dritten Tag Speise und Trank. Es war ein sehr frugales kulinarisches Vergnügen, doch es hielt den Prinzen am Leben. Dieser hatte die Idee, die Schalen der Kürbisse zu trocknen und aufzuschichten, um so zum Fenster zu gelangen und Hilfe herbeizurufen. Nach vielen Monaten gelang ihm dies, und er klammerte sich an die Gitterstäbe und schrie sich die Seele aus dem Leib. Allein, es hörte ihn niemand.

Eines Tages, er schlug gerade mit seinem Kopf gegen die Wand, bis diese blutrot war, dachte er an das Geräusch, welches Metall verursacht, wenn es gegen Metall geschlagen wird. Er hatte dies oft gehört, beim Fechtunterricht, den er gemeinsam mit seiner Jugendliebe erhalten hatte. Beim Gedanken an diese und an die geringe Wahrscheinlichkeit, sie jemals wieder im Arm halten zu können, brach er erneut in Tränen aus. Aber er musste stark sein.

Er stieg auf den Haufen aus getrockneten Kürbisschalen und schlug mit seiner goldenen Krone, die der Zauberer Gordon ihm gelassen hatte, gegen die Gitterstäbe. Es war ein lautes, metallisches Geräusch, und durch die Höhe, in welcher das Fenster gelegen war, war es weithin zu hören. Er schlug von nun an jeden Tag viele Stunden mit der Krone gegen das Eisen, doch er erhielt niemals Antwort. Die Bauern auf den Feldern hielten in ihrer Arbeit inne, sobald dieses Geräusch ertönte, etwas Schöneres und Lieblicheres hatten sie noch nie zuvor gehört. Es war Musik in ihren Ohren, vorgetragen von Engelschören. Sie fragten sich, woher es wohl kam, doch sie hatten Angst, sich dem Wald zu nähern. So erfreuten sie sich viele Jahre an diesen Klängen, ohne sich bewusst zu sein, wessen Schicksal sie ihnen bescherte.

Eines Tages waren die Klänge nicht mehr zu hören. Sie ertönten niemals wieder. Der Prinz hatte aufgegeben, er hatte sich in sein Schicksal ergeben.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques |Inventarnummer: 17142

Die Eule und der Bussard

An einem Maitag saß die Eule auf dem starken Ast eines alten Baumes, ihrem liebsten Platz, um den Tag, der sich im dichten Wald keineswegs durch große Helligkeit erkennbar machte, zu verbringen und auf die Nacht zu warten, die Zeit, zu welcher Nachtgreifvögel aktiver sind als während des Tages, wo sie, wenn nicht schlafend, so doch dösend auf einem Ast sitzen, und um einen guten Platz zu haben für das Warten auf unter dem Baum vorbeilaufende Beutetiere, auf welche sie sich stürzen würde, lautlos, ohne dass die Mahlzeit durch von dem Vogel verursachte Geräusche gewarnt werden könnte, wie Flügelschlag oder gar Lautäußerungen, denn das Gefieder von Eulen und Käuzen ist so beschaffen, dass es kein Geräusch erzeugt.

Zur selben Zeit flog der Bussard gemächlich, mit langsamen Flügelschlägen durch das Waldstück, als tagaktiver Raubvogel war er auf der Jagd nach Beute, seine orangen Augen suchten den von Fichtennadeln bedeckten Boden nach solcher ab, gleichzeitig musste der Bussard achtgeben, sich nicht zu sehr auf seine Suche nach Nahrung zu konzentrieren, zu dicht war das Stück Wald bewachsen, durch das er flog, die Gefahr, sich an einem Ast zu verletzen oder im Flug gegen einen Baum zu prallen, war groß und die Folge eines durch Unachtsamkeit hervorgerufenen Unfalls wäre gewesen, dass der Bussard ernstlich verletzt oder gar flügellahm zu Boden fiele, wo er ein gefundenes Fressen für vorbeilaufende Raubtiere sein würde.

Der Bussard erspähte eine Maus, und als er sie im schnellen Flug verfolgte, prallte er gegen den Baum, auf dem die Eule saß. Benommen vom Aufprall stürzte der Bussard zu Boden, die Eule, nun hellwach, beäugte das Schauspiel mit Interesse und schwebte schließlich zu Boden, um sich dem Bussard vorsichtig zu nähern, fürchtend, dieser könnte entweder aufgrund seiner Benommenheit oder aus simplem Frust über sein Missgeschick aggressiv reagieren und sie attackieren. Diese Furcht erwies sich als unbegründet, vielmehr starrte der Bussard die große Eule ängstlich an, wohl fürchtend, von ihr getötet und aufgefressen zu werden, doch machte sie keine diesbezüglichen Anstalten, vielmehr hockte sie neben dem schwarzen Taggreifvogel und sah ihm interessiert aus ihren großen Augen in seine orangen Augen, krächzte halblaut auf eine den Bussard beruhigende Art und Weise und als seine Benommenheit verschwunden war, erkannte der Schwarze die Schönheit und Sanftmut, die die Eule ausstrahlte. Sie flog zurück auf ihren bevorzugten Ast und er, der sich die Flügel nicht verletzt hatte, folgte ihr.

Der Bussard und die Eule bildeten von nun eine Art Gemeinschaft von Tag und Nacht. Der schwarze Vogel, dem an der Jagd gelegen war, sie bereitete ihm Freude, schlug die doppelte Anzahl an Beutetieren, solange es Tag war, und wenn die Dämmerung hereinbrach, saßen sie auf dem Ast des Baumes, der ihre Bekanntschaft eingeleitet hatte, er liebte es, ihren Rufen zu lauschen, die ab und an von männlichen Vertretern der Gattung Strigiformes beantwortet wurden, doch als diese herangeflogen kamen und des schwarzen Taggreifvogels ansichtig wurden, der neben der vermeintlich paarungswilligen Eule auf dem Ast saß, flogen sie verstört und wohl auch mit dem Gefühl, zum Narren gehalten worden zu sein, keine einzige männliche Eule ließ sich ein zweites Mal blicken, davon.

Im Fall des Bussards verhielt es sich ähnlich, jedes Mal, wenn ein Bussardweibchen dem Bussard ihre Aufwartung machen wollte, und die Eule in dessen Nähe erblickte, stieß es gellende Schreie aus und ward nicht mehr gesehen.
Die Eule, die herausgefunden hatte, dass es unmöglich war, Nachwuchs mit dem Bussard zu haben, stellte die Nahrungssuche fast zur Gänze ein, nur ab und an brachte sie eine Maus oder ein Eichhörnchen, eine Krähe oder ein Rehkitz an den Horst, und verlegte sich an Mordes statt auf das nächtliche In-den-Schlaf-Singen ihres Gefährten, der tagsüber die Nahrung beschaffte und den Horst sauber hielt. Mit der Zeit begann auch der Bussard, einen Hang zu nächtlichen Aktivitäten zu entwickeln, welcher ihn den Horst verlassen ließ, sobald die Dämmerung hereinbrach und ihn oftmals erst spätnachts zurückkehren ließ. Es ergab sich einige Male, dass er in bemitleidenswertem Zustand wiederkehrte, was die Eule anfangs hinnahm, doch mit der Zeit wurde sie seines Verhaltens überdrüssig, und um herauszufinden, was er trieb, während er weg war, was die Ursache für sein zerzaustes Gefieder und seine fallweise abgebrochenen Federn war, folgte sie ihm eines Abends heimlich, was ihr ein Leichtes war mit ihrem kein Geräusch verursachenden Gefieder und ihren an das Sehen in der Dunkelheit angepassten und gewöhnten Augen, und was sie da sehen musste, verstörte sie.

Er flog zu einem vom gemeinsamen Horst ein gutes Stück entfernten Baum, auf welchem sich eine große Anzahl Raben niedergelassen hatte, um auf diesem die Nacht zu verbringen. Er suchte sich einen ausgewachsenen Raben aus, nicht viel kleiner als ein Bussard, und lieferte sich mit diesem einen mit Klauen und Schnäbeln geführten Kampf auf Leben und Tod. Der Bussard siegte, doch ließ er seinen im Kampf getöteten Kontrahenten einfach liegen, er fraß nicht von ihm, und flog zurück in Richtung des gemeinsamen Horstes. Als die Eule die nähere Umgebung des Schlafbaumes der Raben in Augenschein nahm, entdeckte sie etliche Kadaver von Raben auf dem Boden verstreut, offenbar alles Opfer ihres Gefährten. Auf dem Weg zurück zum Horst schlug die Eule einen Fuchs, der aufgrund seiner Jugend noch unerfahren, was die Gefahren des nächtlichen Waldes anlangt, und dementsprechend unvorsichtig war, um sich den Anschein zu geben, als wäre sie gerade von der Jagd zurückgekommen. Sie fraßen den Fuchs, der Bussard glättete mit dem Schnabel sein zerzaustes Federkleid und strahlte dabei eine Art Zufriedenheit aus, die die Eule ängstigte.

Der Bussard setzte seine nächtlichen Aktivitäten fort und die Eule konnte sich diese nicht so recht erklären, bis er einmal mit einer klaffenden Wunde auf seiner Brust in den Horst zurückkehrte. Da war ihr klar, aus welchem Grund er sich beinahe allabendlich mit den Raben einließ. Er musste seines Daseins überdrüssig geworden sein.
Diesen Umstand konnte und wollte die Eule weder ignorieren noch hinnehmen. Sie dachte daran, mitten in der Nacht zu dem Baum, auf dem die Raben schliefen, zu fliegen und die Stärksten von ihnen zu töten, um ihrem Gefährten die gefährliche Beschäftigung zu verunmöglichen, doch verwarf sie diesen Plan. Einige Male rückte sie dicht an ihren Gefährten heran, wenn dieser arg mitgenommen an den Horst kam, versuchte auf diese Art und Weise Nähe zwischen ihnen beiden herzustellen, doch nachdem dies keinen Erfolg einbrachte, verwies sie ihn des Horstes.

Ein weiteres Mal war er schlimm verwundet angeflogen gekommen, schon aus der Ferne hatte die Eule erkennen können, dass es ihn arg erwischt haben musste, denn sein Flug war ungleichmäßig, er taumelte in der Luft, und als er Anstalten machte, sich im Horst niederzulassen, verhinderte sie dies, indem sie ihre Flügel spreizte, sodass er nicht hätte landen können, ohne sie dabei mit seinen Krallen zu verletzen, was er keinesfalls wollte, ihn mit ihren großen Augen, die sie überdies weit aufgerissen hatte, anstarrte und ihn anfauchte, so furchteinflößend, dass er im Flug wendete und sich auf einem Ast niederließ, der aus einem Baum neben dem wuchs, auf dem sich der ehemals gemeinsam bewohnte Horst befand. Der Bussard saß auf dem Ast, sah die Eule an, die sich beinahe demonstrativ abwandte und verbrachte die Nacht dort sitzend.

In den Nächten, die auf seine Abweisung folgten, verzichtete er darauf, mit den Raben zu kämpfen, er ließ diese intelligenten Vögel in Ruhe auf ihrem Baum schlafen. Er kam oft an den Horst, ließ stets zwei Beutetiere, meist handelte es sich bei diesen um Mäuse, die er sorgfältig ausgeweidet und deren Fell er abgezogen hatte, in den Horst fallen und nahm wieder Platz auf seinem Ast des Nachbarbaumes. Die Eule nahm die Mäuse mit ihrem Schnabel auf, schleuderte sie aus dem Horst und wandte sich um, um den Bussard nicht sehen zu müssen. Nach vielen Versuchen, sie doch noch umzustimmen, verschwand der Bussard.

Nach einer Weile begann die Eule, nach ihm zu rufen, sie suchte in den Nächten die Umgebung nach ihm ab, doch konnte sie ihn nicht finden. Sie begann, die Sache als erledigt abzutun und lernte eine männliche Eule kennen. Bald jedoch war sie sich der Tatsache bewusst, dass diese männliche Eule dem schwarzen Bussard in mehrerlei Hinsicht unterlegen war. Zum einen hatte sie den Eindruck, dass der Bussard über ein größeres Denkvermögen verfügte, zum anderen hatte dieser Euler die Angewohnheit, zwar sich selbst mit Nahrung zu versorgen, ihr jedoch nichts von dieser abzugeben, außerdem war er, was die Reinhaltung des Horstes anlangte, ein wenig aktiver Vogel. Die Eule verwies ihn auf die selbe Art des Horstes, die sie im Fall des Bussards zur Anwendung gebracht hatte, noch bevor sich hätte Nachwuchs einfinden können.

Sie begann abermals den Bussard zu vermissen und suchte erneut nach ihm. In einer tiefen Schlucht wurde sie schließlich fündig. Von ihrem Bussard war nur noch das Gefieder übrig, verstreut auf dem Grund der Schlucht, zwischen den Federn fand sie Bruchstücke zerschmetterter Knochen. Die Eule konnte die Umstände seines Todes nicht erkennen, doch sie hatte da so eine Vermutung.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques |Inventarnummer: 17140

Ziehen

Ein Mann erwachte aus seinem Schlaf, er hatte von grünen Wiesen und lieblichen Seen, von lauschigen Lichtungen im Walde und von Vögeln geträumt, welche die Szenerie mit ihrem Gesang erfüllt hatten. Er wollte sich zur Seite drehen, so wie jeden Morgen, ein Ritual, das ihm das Aufstehen immer erleichtert hatte, doch er fühlte, dass er nicht auf dem gewohnt weichen Bett lag, sondern in einer Pfütze, modriger Geruch drang in seine Nase, ein beißender, übel riechender Dunst ließ seine Nase brennen und seine Augen tränen. Er fühlte einen stechenden Schmerz in seinem Rücken, genau an der Stelle, die hinter seinem Herzen lag. Mit den Händen versuchte er zu ertasten, ob irgendwo eine offene Wunde zu erfühlen sei, doch fand er keine, die Haut war an dieser Stelle zerschunden.
Er fragte sich, wo er aufgewacht sei, an welch dunklem Ort, und musste erkennen, dass er in einem tiefen Loch gefangen war. In seiner Verzweiflung begann er laut zu schreien, auf dass irgendjemand auf seine missliche Lage aufmerksam werden würde, doch nach wenigen Minuten schon war er heiser geworden und er stellte das Schreien ein, zumal er noch nicht einmal wusste, wo sich das Loch, in dem er gefangen war, überhaupt befand. Hungrig versuchte er, den Boden des Lochs abzutasten, ob irgendetwas Essbares zu finden sei, doch außer ein paar Regenwürmer fand er nichts, also nahm er mit diesen vorlieb.

Das Loch begann sich zu erhellen, die Sonne ließ ein klein wenig Licht auf den Boden fallen, schwach nur, aber doch genug, um schemenhafte Umrisse dieses Gefängnisses zu erkennen. Es war ein im Durchmesser nur wenige Quadratmeter großes Loch, der Boden war an einigen Stellen feucht, es tummelten sich Unken und Regenwürmer an diesen feuchten Stellen, eine kleine Pfütze stand in einer Ecke, und die Tiefe des Lochs schätzte er auf dreißig Meter. Nach kurzer Zeit zog die Sonne weiter, nahm ihr Licht mit sich und überließ ihn wieder der Dunkelheit.
Durstig und hungrig machte er sich über das Wasser der Pfütze her und scheute nicht davor zurück, eine Unke zu verzehren, nachdem er sie getötet und ihr mit bloßen Händen notdürftig die Haut abgezogen hatte, schließlich hatte er keine Wahl, konnte in dieser Situation keine Rücksicht auf die Gefahren für seine Gesundheit nehmen, die eine solche Nahrung mit sich bringen würde. Nach einigen Stunden schlief er erschöpft ein und träumte wieder von lieblichen Wiesen und Vögeln.

Als er erwachte, wagte er nicht, die Augen zu öffnen, zu groß war seine Angst, immer noch in diesem Loch gefangen zu sein. Er zwang sich doch dazu und stellte fest, dass sich an seiner Lage nichts geändert hatte. Wieder rief er laut um Hilfe, doch wieder blieben seine Rufe unbeantwortet. Er nahm ein paar Würmer zu sich, trank aus der Pfütze und zwang sich dazu, sein Gehirn zu beschäftigen, indem er ihm gleichsam befahl, einen Ausweg aus dieser Lage zu finden. Er versuchte, mit bloßen Händen die Wände zu erklimmen, das einzige Resultat waren jedoch abgerissene Fingernägel und blutige Fingerglieder. Er versuchte immer wieder, Anlauf zu nehmen und ein wenig höher Halt zu finden in dieser Wand, die ihn umgab, doch er glitt immer wieder ab und zerschnitt sich die Oberarme.
Zitternd und blutend saß er verzweifelt auf dem Boden seines  Gefängnisses, nachdenkend, was ihn wohl in diese Haft gebracht haben mochte. Keine Antwort darauf findend, nahm er sich vor, jeden Tag, den er hier unten verbringen sollte, eine Episode seines bisherigen Lebens sich in Erinnerung zu rufen und zu analysieren, sodass er in der Einsamkeit nicht verrückt werden würde.

Auf diese Weise verbrachte er etliche Tage, um doch nur zum Ergebnis zu gelangen, dass eine neuerliche Analyse ohnehin keinen Zweck hätte, denn das Erlebte war ihm durchaus in Erinnerung geblieben und egal von welcher Seite er es immer wieder analysieren mochte, es änderte nichts an seinen damaligen Eindrücken und Empfindungen. Der Vorrat an Unken, Regenwürmern und modrigem Pfützenwasser versiegte nicht, und so begann er, der gewöhnt war, nur einmal am Tag feste Nahrung zu sich zu nehmen, diese Lebewesen abwechselnd zu verspeisen. Mit der Dauer seines Verweilens in diesem Gefängnis wuchsen in ihm die Angst vor der Dauer seines Aufenthaltes hier unten, seine Einsamkeit und seine Verzweiflung. Er begann damit, Namen von Menschen zu rufen, die er gekannt hatte, bevor er an diesem dunklen Ort aufgewacht war, er rief sie laut, schrie sie richtiggehend aus sich heraus, er flüsterte sie, hoffend, sie würden auf irgendeine Weise Gehör finden, doch bedingt durch die Tiefe des Schachtes wurden sie zu stummen Schreien.
Tag um Tag, Woche um Woche verbrachte er auf diese Weise, verzweifelt und ungehört. In seiner Not und Einsamkeit hatte er sogar den Entschluss gefasst, sein Leiden zu beenden, indem er die Haut der Unken ebenfalls aß, doch erwies er sich als immun gegen das schwache Gift, welches darin enthalten war. Er fragte sich, wie lange seine Haft schon andauerte, doch gelangte er zu keiner Antwort. Er hatte die Hoffnung auf Rettung aufgegeben, als er eines Morgens erwachte und ein sonderbares Kribbeln auf seiner Nase wahrnahm. Er fasste sich an die Nase und fühlte ein Stück Draht in seiner Hand. Unschlüssig was er tun sollte, beschloss er zu warten, bis die Sonne sein Gefängnis wie jeden Tag für ein paar Minuten erhellen würde. Die Sonne kam und als er seinen Blick zum Himmel wandte, sah er einen Balken quer über den Schacht liegen.

Er beschloss, diese Chance wahrzunehmen und zog am Draht. Höchst euphorisch, bemerkte er die Schmerzen in seinen Händen nicht, welche ungeschützt am Metall zogen. Die ersten Meter des Ziehens fielen ihm leicht, nach ungefähr zwanzig Metern jedoch wurden die Schmerzen in seinen Händen unerträglich und ihm wurde schwarz vor Augen, er hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Er dachte nach; er hatte die Möglichkeit, loszulassen und viele Meter tief zu fallen, oder er konnte sich dafür entscheiden, weiterzumachen, unter Schmerzen diesem Loch zu entkommen. Er entschied sich für Letzteres und bald hatte er es geschafft, seine Arme um den Balken zu legen, nun konnte er durchatmen.
Er blickte um sich und musste erkennen, dass der Schacht in einer lieblichen Landschaft gelegen war, doch war er von mehreren Reihen Stacheldraht umgeben. Er schaffte es, sich am Balken hochzuziehen und setzte sich auf diesen. Vor ihm der Stacheldraht, unter ihm das Loch. Als sich seine Augen an das Sonnenlicht, welches er viele Monate bloß für wenige Minuten täglich wahrgenommen hatte, gewöhnt hatten, blickte er über den Rand des Stacheldrahtes und bemerkte, dass er bereits erwartet worden war. Etliche Bussarde saßen vor dem Draht. Sie sahen ihn mit gierigen Augen an, welche sich beinahe menschlich ausnahmen. Ihre Blicke schienen ihm, als wollten sie ihm mitteilen, er solle nur den Stacheldraht passieren, sie würden ihn schon zerfleischen.

Ängstlich ließ er seinen Blick von den Bussarden weg, hin zu den Wesen schweifen, die hinter den Bussarden hockten. Er erkannte zwei Werwölfe, die auf der Erde saßen, ihre grün leuchtenden Augen und ihre ihm durchaus bekannten Gesichtszüge schienen ihm sagen zu wollen, er würde als der Versager aufgefressen werden, als den sie ihn einschätzten. Er wollte den Bestien etwas zurufen, da ließ sich ein großer Schwarm Vögel auf dem Stacheldraht nieder. Nicht die Art von Vögeln, von der er immer geträumt hatte, es waren unscheinbare Raben männlichen Geschlechts sowie schön anzusehende Amazonen, die aus dem Regenwald zu kommen schienen, weiblichen Geschlechts. Diese Vögel blickten völlig unbeteiligt auf die Szenerie, so als wollten sie lediglich als interessierte Beobachter am Geschehen teilhaben. Die Werwölfe erhoben sich und er befürchtete, sie würden mit einem Satz über den Stacheldraht springen, um ihn zu töten, jedoch sah er, dass sie einem Einhorn Platz machten, welches zu ihnen gestoßen war.
Sie schienen sich gut zu verstehen und das Einhorn kam nahe an den Stacheldraht heran. Es war weiß, von wunderschönem Körperbau, jedoch hatte es schwarze Augen. Es neigte den Kopf, so als wollte es den Mann dazu bringen, das Horn näher zu betrachten. Er tat dies und entdeckte an dessen Spitze Hautfetzen. Er begriff, dass es diese schöne Tier mit den schwarzen Augen gewesen sein musste, das ihn in sein Loch gestoßen hatte. Er blickte dem Einhorn ins Antlitz und erstarrte vor Schreck. Es öffnete sein Maul und zum Vorschein kamen die Fangzähne eines Wolfes, geeignet, Beute zu ergreifen, festzuhalten und erst dann wieder freizulassen, wenn der Wolf es möchte. Das Einhorn hatte jedoch nicht bloß Fangzähne, die übrigen Zähne im Maul dieses Wesens waren merkwürdig dreieckig geformt und hatten Zacken an den Rändern, wie kleine Sägen. Er dachte sofort an die Zähne des Tigerhais, geeignet dazu, möglichst große Stücke aus seinem Opfer zu reißen.

Obwohl er Panik in sich hochsteigen fühlte, zwang er sich, Ruhe zu bewahren und die Situation zu analysieren. Er erkannte, dass er zwei Möglichkeiten hatte. Die eine war, sich durch den Stacheldraht zu kämpfen, um danach kriechend und verletzt von den Kreaturen zerrissen zu werden, die Reste vertilgt von den Bussarden und die anderen Vögel als Zaungäste. Die andere war, sich wieder in das Loch fallen zu lassen und nie mehr zurückzukommen. Er überlegte kurz, er zögerte, das Einhorn hatte sein Maul geschlossen und wälzte sich einladend auf seinem Rücken, so als ob es meinte, er solle doch zu dem Wesen kommen, welches ihn hinuntergestoßen hatte in sein Verlies, er würde es ohnehin nicht schaffen, und falls doch, dann verbraucht und zerschunden. Er fragte sich, ob er immer noch ein Märtyrer wäre, würde er dem weißen Fabeltier mit den Wolfszähnen Genugtuung geben, erkannte die Unwichtigkeit dieser Frage und sprang.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques |Inventarnummer: 17139

Die neuen Welten der Maria Knehs

Am fünfzehnten April des Jahres 2013 hatte Maria Knehs endgültig genug von dieser Welt. An diesem Tag, exakt zwei Wochen vor ihrem sechzigsten Geburtstag, war ihr Hund gestorben.
»Frau Knehs«, sagte der Tierarzt, »Ihr Spitz hat Krebs. Es ist für Benni das Beste, wenn ich ihn einschläfere. So ersparen wir ihm Schmerzen.«
›Mach nur!‹, dachte sie, zu sprechen war sie nicht in der Lage. ›Wenigstens muss mein Benni nicht leiden, so wie ich. Ach, ich wünschte, ich könnte für immer woanders leben.‹
Mit ›woanders‹ meinte sie keineswegs einen anderen Ort als den kleinen im steirischen Hügelland, in dem sie zur Welt und aus dem sie nie wirklich herausgekommen war. Sie meinte eine andere Welt, einen anderen Planeten gar.

Sie ließ ihren toten Hund in der Praxis des Veterinärs und fuhr zu ihrem kleinen Haus am Rande der Ortschaft. Dort angekommen, rief sie ihre Tochter Monika an, die in Graz lebte.
»Moni, der Benni ist tot. Er wurde eingeschläfert«, weinte sie in den Hörer. »Wann fliegen wir wieder? Ich denke, dieses Mal bleibe ich oben.«
Monika Knehs seufzte. »Das tut mir leid für dich, Mama«, sagte sie halblaut. »Ich kann im Augenblick nicht mit dir reden. Manfred ist gerade eingeschlafen und du weißt ja, was für ein Theater er macht, wenn ich ihn wecke.«

Manfred war Monikas elfjähriger Sohn, der geistig behindert zur Welt gekommen war und der es überhaupt nicht schätzte, bei etwas gestört zu werden, egal, was er gerade machte. Sie hatte sich drei Monate nach seiner Geburt von seinem Vater getrennt, da dieser seinen Sohn weder akzeptieren konnte noch wollte. Nachdem erwiesen war, dass die Behinderung des Kindes schwer ausfallen würde, machte der Mann Monika Vorwürfe, sie wäre schuld an diesem Unglück. Bald jedoch ließ er das bleiben und ging dazu über, ihr Ohrfeigen zu verabreichen, worauf sich Maria Knehs gezwungen sah einzuschreiten.
Ihre Tochter hatte sie weinend angerufen und um Hilfe gebeten. Maria stieg sogleich in ihren Kleinwagen und fuhr zu ihrem hochschwangeren Kind. Mit tatkräftiger Unterstützung der als ruppig bekannten Grazer Polizei wies sie den Unhold aus der Wohnung und blieb drei Tage lang bei Monika.

Diese Zeit belastete Maria Knehs sehr. Zum einen, weil sie in all die Vorkommnisse eingeweiht wurde, die sich zwischen Monika und diesem Mann zugetragen hatten, zum anderen hatte sich Michael, ihr Sohn, soeben ein weiteres Mal auffällig verhalten.
Während Monika, die um drei Jahre jünger war als ihr Bruder, ihre Arbeit als Krankenschwester vorbildlich verrichtete, war Michael ein problematischer Fall. Er betrachtete sich nämlich als Künstler und führte ein entsprechendes Leben. Er hatte keine Arbeit, kein Geld und keine Frau. Er trank, schlief bei Freunden auf dem Sofa und bat seine Mutter in regelmäßigen Abständen um Geld.

»Es ist zum Verzweifeln mit dem Buben!«, sagte sie oft. »Klar, er hatte nie ein männliches Vorbild, weil er ohne Vater aufwachsen musste. Aber irgendwann muss er doch vernünftig werden! Nur Skulptur, Malerei und Alkohol ist zu wenig!«
Gustav Knehs, Marias Ehemann, war kurze Zeit nach Monikas Geburt bei einem schweren Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Daraufhin hatte sie ihre beiden Kinder alleine großgezogen. Da ihr Mann eine gute Lebensversicherung abgeschlossen hatte und ihre Eltern ihr eine hübsche Summe hinterlassen hatten, konnte sie es sich leisten, ihren Job als Volksschullehrerin aufzugeben, um sich ganz ihrem Nachwuchs zu widmen.

Jedenfalls war Michael auffällig geworden. Wieder einmal. Er hatte sich als Nacktkünstler versucht und unbekleidet eine Aktion auf dem Grazer Hauptplatz zelebriert, als dort gerade einige Klosterschwestern friedlich gegen die Kriege und für Gott demonstrierten. Es kostete Maria viele Worte und einige Scheine, ihren Sohn aus den Fängen der Polizisten freizukaufen. Eine Entschuldigung bei den Ordensfrauen war auch vonnöten. Die versprachen, für Michael zu beten.
»Frau Knehs, ich muss Sie aber bitten, sich keine allzu großen Hoffnungen zu machen«, sagte die Äbtissin. »Ich fürchte nämlich, dass Michaels Zug schon zu weit gefahren ist, als dass Gebete ihn noch aufhalten könnten. Meiner Ansicht nach kann bloß noch die Schulmedizin Ihrem Sohn die Hilfe geben, die er offensichtlich benötigt.«
Daraufhin konnte sie ihren Sohn überreden, seine Tabletten wieder zu nehmen, und bald legte sich sein Wahnsinn.
›Er ist ja ein guter Junge‹, dachte sie oft. ›Er scheint halt nicht für diesen Planeten geschaffen zu sein. Er müsste auf einem anderen leben dürfen, dann wäre er sicherlich ein anerkannter Künstler, von mir aus auch nackt.‹

Zu dieser Zeit dachte Maria Knehs oft über ihr Leben nach. Sie hatte, das Wort ›eigentlich‹ kam ihr dabei häufig in den Sinn, alles richtig gemacht, oder wenigstens nichts allzu falsch. Sie war eine hübsch anzusehende, einigermaßen gut situierte Frau, die zwei erwachsene Kinder hatte. Eines von diesen war sogar, und das wurde ihr von sämtlichen Bewohnern des Dorfes bestätigt, wohlgeraten. Sie war gutherzig, großzügig und ihren Mitmenschen gegenüber stets freundlich und zuvorkommend. Schlechte Manieren waren ihr nämlich ein Graus. Dass ausgerechnet ihr Erstgeborener solche gerne und oft an den Tag legte, erfüllte sie mit Trauer. Nie hatte sie sich etwas zuschulden kommen lassen, von der Sache mit Willibald einmal abgesehen.

Willibald Grampert war ein übel beleumundeter Geselle, ein echter Nichtsnutz. Ein Tischler, gemacht aus dem schlechtesten Holz, das war er. Nicht nur, dass er seinen Lehrbuben ihre Ausbildungszeit ganz und gar vergällte durch Tritte, Schläge und unflätiges Geschrei, er hatte auch den Hang dazu, Frauen nicht eben gut zu behandeln. Grampert war ein im ganzen Ort verhasster Mann, doch wagte niemand, etwas gegen ihn zu sagen, war er doch der Ortsparteiobmann der Rechten.
Eines Tages erfuhr Maria Knehs, dass er sich mit Jennifer Wildbolz eingelassen hatte. Sie, die fünfzehnjährige Tochter des Betreibers mehrerer Solarien, hatte sich den dreiundvierzigjährigen Tischler angelacht. Maria dachte zwei Tage lang über dieses Gespann nach, dann informierte sie den Landesparteichef der Rechten, der ein widerlicher Ingenieur mit Schmissen im Gesicht war, persönlich über die Vorlieben seines Ortsobmannes. Willibald Grampert beendete die Mesalliance und wurde, auch was seine politische Gesinnung anging, katholisch.

Es waren die Umstände und die Zustände, auf die sie keinen Einfluss hätte nehmen können, die Maria Knehs verzweifeln ließen. Die Menschen reagieren in solchen Situation auf unterschiedliche Arten. Manche flüchten sich in den Rausch, andere in die Nervenheilanstalt und ein paar scheiden gar aus dem Leben. Nicht so Maria.
Wurde ihr die Verzweiflung unerträglich, stellte sie sich einfach vor, auf einem anderen Planeten zu leben. Und zwar auf einem, wo alles gut war. ›Omega‹ hieß dieser, doch wusste seine Erdenkerin nicht, wie sie auf diesen Namen gekommen war.
Auf Omega schien, wenn es nicht gerade Nacht war, stets die Sonne, und obwohl es ein von blühenden Bäumen und Sträuchern bestandener Planet war, regnete es dort nie. Kein Wölkchen trübte das Blau des Himmels. Es gab viele Tiere, doch befanden sich unter ihnen keine Beutegreifer allzu brutaler Wesensart. Maria bewohnte ein weiß gekalktes geräumiges Haus, dessen Zimmer schlicht, aber schön möbliert waren. Es gab einen großen Schwimmteich, eine Sauna und einen Pferdestall, doch Zaun gab es keinen. Ein solcher wäre auch gar nicht notwendig gewesen, denn es musste niemand davon abgehalten werden, ihren Rückzugsort zu betreten.

Auf Omega war Maria Knehs alleine.
Er war ein Planet des Glücks für sie. Keine Kriege wurden dort geführt, keine Verbrechen begangen, und die Kunst war Kunst im besten Sinne. Ihre Tage auf Omega brachte sie mit Lesen und Kochen zu, und wenn sie informiert und satt war, dann steigerte sie ihr ohnehin vollständiges Glück um noch ein kleines bisschen, indem sie es auf dem Rücken ihres Schimmels in sich sog.
Wann immer es ihr auf der Erde zu viel wurde, flog sie auf Omega. Bereits in der ersten Minute nach ihrer Ankunft dort fielen alle Sorgen von ihr ab, Rindenbrocken gleich, die von einem Baumstamm fallen.
Auch am letzten Tag, den sie auf Omega verbrachte, der gleichzeitig der letzte der Existenz dieses imaginären Planeten war, verhielt es sich so.
›Nun stehe ich wieder auf deinem Boden, mein Omega!‹, dachte sie. Sie entkleidete sich und öffnete die Türe ihrer Sauna.

Diesen Besuch hatte sie auch bitter nötig, denn Michael hatte wieder einmal einen Skandal provoziert, oder besser gesagt: eine ganze Reihe von Skandalen.
Irgendwie hatte Michael es fertiggebracht, als Künstler durchzugehen. Sogar in der Zeitung war er ein paarmal erwähnt worden, wenngleich diese Aufmerksamkeit eher seinem Hang zur Nacktheit geschuldet war als seiner Kunst.
Jedenfalls, alles begann mit einem Kunstwerk, das er erschaffen hatte. In einem riesigen Aquarium, voll mit Formaldehyd, wurde ein Bullenhai von einem Schwarm Karpfen mit Piranhazähnen attackiert. ›Die große Rache der Karpfen‹ hieß das Werk, das den ersten Eklat auslöste. ›Der Nacktkünstler als exemplarischer Wahnsinniger‹, so betitelte ein Magazin einen Artikel, in welchem Michaels Fischwerk analysiert wurde.

Maria Knehs las diesen Artikel und wagte zwei Tage lang nicht, ihr Haus zu verlassen, so groß war ihre Furcht vor hämischen Kommentaren der Leute im Dorf. Also flog sie auf ihren Planeten.
Nur zwei Wochen nach diesem Vorfall wurde der Künstler Michael Knehs weit über die Grenzen der Steiermark hinaus bekannt und berüchtigt.
Das Grazer Frauenkloster hatte ihn beauftragt, eine Skulptur für den Klostergarten zu erschaffen. Die Nonnen, die seine Nacktaktion keineswegs vergessen hatten, hatten ihm mit diesem Auftrag unter die Arme greifen wollen. Es kam der Tag der Enthüllung. Eine Klosterschwester fiel sofort in Ohnmacht, den anderen trieb es die Schamesröte ins Gesicht beim Anblick dessen, was sich da vor ihnen entphallte.

Maria Knehs bat ihren Sohn, doch wieder seine Pillen zu schlucken, doch dieser lehnte mit der Begründung ab, dass ein Drogenfreak, und ein solcher wäre er mittlerweile, keine herkömmlichen Medikamente bräuchte. Dann forderte er Geld von ihr.
»Ich weiß nicht, wie ich Michael noch helfen kann!«, sagte sie zu ihrer Tochter.
»Vergiss ihn. Der wird nicht mehr«, lautete deren Antwort.
Auf Omega fand Maria Trost.
Als Michael öffentlich ankündigte, die Paarung eines Ebers mit einem Stier filmisch dokumentieren zu wollen, wobei er den Eber an des Stiers Kehrseite platzieren wollte, war das Maß voll und des Künstlers Belohnung die Zwangseinweisung in die Grazer Irrenanstalt.

Maria Knehs besuchte ihren Sohn dort mehrere Male, konnte sich jedoch kaum mit ihm unterhalten, so sediert war er von den schweren Medikamenten.
Nach ihrem letzten Besuch beschloss sie, dass es an der Zeit war, eine ganze Woche auf Omega zuzubringen.
Sie öffnete also die Saunatüre auf ihrem perfekten Planeten. ›Das wird mir guttun‹, dachte sie noch. Dann schrie sie laut auf. In ihrer Sauna saß Michael, nackt, grinsend und die ausgestreckte rechte Hand vor ihr Gesicht haltend, offensichtlich in Erwartung einer gewissen Summe an Bargeld. Dann sprach er auch noch.
»Hallo, Mama. Schön hast du es hier! Ich denke, ich werde für eine Weile« – weiter kam er nicht.
Maria Knehs packte ihren verrückten Sohn an der Hand und flog mit ihm zur Erde zurück. Über der Klapsmühle ließ sie ihn los. Er fand den Weg an den Ort seiner Bestimmung, sie den zurück in ihr Haus.

Omega, ihren Planeten, ließ Maria in der Sonne verglühen. Eine gleißende Explosion von Licht, und alles war vorbei.
»Monika, mein imaginärer Planet ist verglüht!«, schluchzte sie ins Telefon.
»Das macht nichts, Mama«, beruhigte Monika Knehs ihre Mutter. »Dann kommst du mit auf Epsilon. Alleine wird es mir dort allmählich langweilig.«

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques |Inventarnummer: 17018

 

Das Häuschen im Wald

In den Tiefen des Landes gab es einen großen, dunklen Wald. Er war voller kräftiger Bäume und an mancher Stelle wurde er von saftigen, grünen Wiesen unterbrochen. Dennoch wagten sich die Menschen nicht tiefer als ein paar hundert Meter hinein. Sobald die Kinder laufen konnten, wurde ihnen eingebläut, niemals den Wald zu betreten, von jeher kursierten Schauergeschichten, um dieses Verbot zu untermauern. Sie handelten von ungezogenen Mädchen und Jungen, die nicht auf die Erwachsenen hören wollten, in den Wald gegangen und niemals zurückgekehrt waren. Manchmal saß man am Lagerfeuer, lauschte den Geräuschen der Nacht und jemand sagte: „Hört ihr das? Das ist der kleine Lukas, der sein Leid klagt. Wäre er nur damals nicht in den Wald gegangen!“ oder: „Das sind Marias Schreie, sie fleht, dass ihr jemand zur Hilfe kommt, doch jeder, der ihr folgt, ist genauso verloren wie sie!“

Allerdings konnte man sich nicht wirklich auf eine gemeinsame Ursache dieses Schreckens einigen. Die einen meinten, es handle sich um einen riesigen, menschenähnlichen Wolf, der von Menschenfleisch lebte, andere wiederum waren sich sicher, dass im Wald der Schlund der Hölle lag, der alles verschluckte, das in seine Nähe kam. Dann gab es natürlich auch die Traditionalisten, die von Hexen, Monstern und Kobolden sprachen.

Jeder Landstrich, der einen schönen, großen Wald sein Eigen nennt und etwas auf sich hält, hat solche Geschichten. Tatsache ist, dass es schon einige gab, die tiefer in den Wald eingedrungen waren, um wertvolle Rohstoffe oder sich selbst zu finden, und die auch heil wieder zurückgekehrt waren. Tatsache ist auch, dass es einige gab, die nicht wiederkamen, aber auch dafür existierten rationale Erklärungen. Immerhin, es war ein verdammt großer und dunkler Wald, da konnte man sich schon leicht verirren. Unter den Jugendlichen gab es andere Theorien. Die gängigste war, dass sich die „Verlorenen“ einfach aus dem Staub gemacht hatten, um diesem Kaff zu entfliehen und irgendwo ein besseres, aufregenderes Leben anzufangen. Die Wahrheit lag wie so oft irgendwo in der Mitte.

Der Wald war größtenteils eine ganz normale Ansammlung von Bäumen, nicht anders als andere. Vielleicht mit dem kleinen Unterschied, dass die Tiere hier ein friedlicheres, ruhigeres Leben führten, da die Menschen, dank ihres Aberglaubens, nicht das Bedürfnis hatten, die Gegend zu zivilisieren.

Jedoch gab es ungefähr in der Mitte des Waldes ein kleines Häuschen, das von außen unscheinbar wirkte. Zu jeder Tages- und Nachtzeit quoll Rauch aus dem gemauerten Schornstein, ein beeindruckender Kräutergarten erstreckte sich auf der Rückseite, und die Fensterläden waren fast immer geschlossen. Hervorzuheben wäre auch, dass es den Anschein hatte, als würde das Häuschen immer im Schatten stehen, obwohl es auf einer Lichtung erbaut wurde. Jeder Wanderer, der sich ihm näherte, ward nicht mehr gesehen, jedes Kind, das sich hierher verirrte, kehrte nicht mehr heim.

Die Bewohnerin dieses Häuschens war eine Hexe wie sie im Buche stand. Sie war alt und hässlich, hatte einen Buckel und eine Warze auf der Nase und war von so einer abgrundtiefen Bosheit erfüllt, dass sich selbst Werwölfe und Kobolde vor ihr fürchteten. Verirrte, die eine unsichtbare Grenze überschritten, wurden in ihren Bann gezogen und konnten sich nicht mehr wehren. Manche verspeiste sie gleich, andere ließ sie noch einige Zeit für sich arbeiten, bis sie sich ihrer entledigte. Sie war so alt wie die Zeit und kannte keine Furcht.

Allerdings hatte sie auch noch nicht Fred getroffen.

Eines Tages sah sie aus ihrem Fenster und erblickte mit Genugtuung, dass ein junger Mann die Lichtung betrat. Sie hatte schon seit geraumer Zeit kein Festmahl mehr gehabt, und auch wenn dieser Junge etwas schlaksig wirkte, es würde genug Fleisch an ihm dran sein. Die Hexe rieb sich die Hände, kicherte boshaft und trat ihm entgegen. Anstatt sich in eine wehrlose Kreatur zu verwandeln, die sich ihr bereitwillig zu Füßen legte, stolperte er ihr in die Arme und nieste ihr ins Gesicht.

„Ich bin Fred!“, krächzte er, während ihm ein dicker Rotzfaden aus der Nase hing. „Tschuldigung“, fügte er hinzu, als er die besudelte und durchaus verdutzte Hexe sah.
„Es sind diese verdammten Gräser und Pollen. Und die Bäume und diese fürchterlichen Tiere, die überall ihre Haare herumliegen lassen. Dieser Wald ist so was von DRECKIG!“
Er schnaubte in ein riesiges, gelbliches Taschentuch und nach kurzem Zögern bot er es großzügig der Hexe an. Diese reagierte nicht, sondern starrte Fred fassungslos und wutschnaubend an.
„Nein? Na, dann halt nicht.“
Er steckte das Tuch wieder ein, stemmte die Arme in den Rücken und blickte sich um.
„Nettes Plätzchen haben Sie hier. Abgesehen von der vielen Natur, natürlich!“ Fred lachte über seinen gelungenen Scherz und schlug der Hexe auf den Buckel.
„Huch, das ist ja ein ekliges Ding! So was kann man heutzutage wegmachen lassen, wissen Sie das?“
Die Hexe warf einen kurzen Seitenblick auf ihren Rücken, hob die Hand vor Freds Brust und begann Zauberformeln zu murmeln.
„Ja, danke! Ich würde schrecklich gern etwas trinken!“

Fred fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase und schob sich an der Hexe vorbei, um durch die offene Tür zu schreiten. Die Hexe war zwar kurzfristig überrascht, dass ihr Zauber nicht gewirkt hatte, aber sie war jetzt erst recht entschlossen, den Jungen zu ihrem Sklaven zu machen und ihn für sein Verhalten zu maßregeln.
Als sie seine nasale Stimme aus dem Haus hörte, beeilte sie sich hineinzukommen.
„Mein GOTT, ist das stickig hier!“
Darauf folgte ein beeindruckender Hustenanfall.
„Wann haben Sie denn hier das letzte Mal geputzt? Überall Staub!“
Zwei elefantöse Nieser.
„Also erstmal muss hier ein bisschen Licht rein!“

Fred begann schwungvoll die Fensterläden aufzureißen und störte sich auch nicht daran, dass einige Gläser und Schüsseln mit undefinierbarem Inhalt zu Bruch gingen. „Nein!“, kreischte die Hexe und zerrte an seinem Hemd. Körperliche Kraft hatte sie dank ihrer Fähigkeiten bis dahin nie gebraucht.
„Schon in Ordnung, Sie brauchen mir nicht zu helfen, ich kann das allein!“
Er schüttelte sie erfolgreich ab.
„Aber Sie könnten mir in der Zwischenzeit was zu trinken bringen. Das haben Sie wohl schon wieder vergessen, altes Mädchen, häh?“

Er lachte und zwinkerte ihr nachsichtig zu, während er sich weiter an den Fenstern zu schaffen machte. Für einen Moment stand die Hexe ratlos da, bis sich auf ihrem Gesicht ein furchterregend bösartiges Grinsen breitmachte. „Aber natürlich!“, krächzte sie und mixte mit ihren Zauberutensilien einen grausigen Trank aus Krähenfüßen, Rattenherzen und Froschschleim zusammen. Mit ihren knorrigen, warzigen Händen hielt sie ihm die Tasse vor die Nase und sprach: „Hier. Alles austrinken!“

Fred schnüffelte daran und verzog das Gesicht. „Da haben Sie mir eine Limonade gemacht, was?“ Beherzt griff er zur Tasse, zögerte nur einen Moment und leerte das Gefäß mit einem Schluck. Die Hexe kicherte unheilvoll und verkündete: „Jetzt bist du mein!“
Die Farbe verschwand aus seinem Gesicht und sein Blick wurde glasig. Die Welt um ihn begann zu schwanken, und er musste sich an einem Tisch festhalten, woraufhin dieser nachgab und sämtliche Flaschen, Töpfe und Tierleichen, die sich darauf befanden, auf den Boden kugelten und sich im ganzen Häuschen verteilten. Fred sank auf die Knie und griff sich auf den Bauch. „Mir ist so…“

„Jetzt wirst du dafür büßen, du elender Wurm!“ Triumphierend blickte sie auf ihn herab, hob ihren Arm und zischte einen grausigen Zauberspruch.
Plötzlich schrie Fred auf: „Mein Darmleiden! Wo ist das Klo?“
Er schubste die Hexe beiseite und stürmte ins erstbeste offene Zimmer. Mühsam rappelte sie sich auf und ihr Gesicht verwandelte sich in eine vor Schrecken verzerrte Fratze, als sie ihm nachblickte. „Das… das ist mein Schlafzimmer!“, keuchte sie und begann zu rennen. Sie war jedoch zu aufgebracht, um darauf zu achten, wo sie hintrat, so landete sie unglücklicherweise auf einer herumliegenden Flasche, rollte darauf zirkusgleich ins Schlafzimmer, wo die Flasche von einem abgetrennten Hasenkopf gebremst wurde. Für den Körper der Hexe kam dieser Halt allerdings zu abrupt, sie überschlug sich und brach sich das Genick vor den Füßen Freds. Dieser erhob sich mit einem tiefen Seufzer, machte einen großen Schritt über die Überreste der Hexe und zog sich dabei die Hose hoch.

„Hui, das war aber knapp. Ein gemütliches Klo haben Sie da! Oh, Sie haben sich hingelegt? Jaja, ich verstehe den Hinweis. Ich bin nämlich ein äußerst feinfühliger Mensch. Ich merke, wenn ich nicht mehr erwünscht bin. Bringen Sie mich ja nicht zur Tür, ich finde allein raus! Cheerio!“

Beschwingt und erfrischt verschwand Fred wieder im Wald und er lebte glücklich mit seinen Allergien bis ans Ende seiner Tage.

Constanze Scheib

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 16161

Die Taube

Im Dezember des Jahres 2013 stand ich am Rande des Teiches meiner Familie und blickte ins Wasser. Es war ein warmer Tag, was für diese Jahreszeit ungewöhnlich ist, also war die Wasseroberfläche nicht von Eis bedeckt, und ich konnte bis auf den mit Folie ausgelegten Grund des Schwimmteiches sehen.
Die Teichfrösche, die sich in den warmen Monaten durch unablässiges nächtliches Quaken bemerkbar machen, hatten sich bereits in die Winterruhe begeben, und auch die Molche zeigten sich nicht. Die Algen, die sich auf dem Boden abgelagert hatten, erweckten den Eindruck von dunklen Wolken, die das Grün der Folie teilweise verdeckten und ein wenig einladendes Bild boten.

Meine Familie befand sich im Haus, aus welchem ich gegangen war, um unter freiem Himmel zu rauchen und meinen Gedanken nachzuhängen. Ich dachte an Martina.
Sieben Jahre waren wir ein Paar gewesen, und im Dezember des Vorjahres war sie gegangen.

Wir hatten uns auf der Universität erst kennen, dann schätzen und schließlich lieben gelernt. Beide haben wir die Klasse für Gegenständliche Malerei besucht, und unsere Atelierplätze lagen nebeneinander. Bald wurde aus dieser Nähe im Atelier eine große persönliche Nähe. Unsere Beziehung war von Zuneigung und Verständnis für den anderen Menschen geprägt, wie auch von großer Toleranz gegenüber der jeweiligen künstlerischen Herangehensweise, welche grundverschieden war. Martina malte bevorzugt idyllische Bilder in Öl, während ich mich in meinen Werken der Kritik an der Gesellschaft widme, oft in Form drastischer Motive, wie Darstellungen von Gewalt und Krieg in Acrylfarbe.

Sie war eine schöne Frau, groß und blond, mit strahlend grünen Augen, die sowohl Güte als auch Klugheit zum Ausdruck brachten, jedoch auch etwas, das in ihr schlummerte, wenn schon nicht erkennen, so doch erahnen ließen. Dieses Etwas war der Grund, wie ich heute weiß, aus welchem sie schöne Motive in ihrer Kunst darstellte. Sie hatte sich nach nichts mehr gesehnt als nach Ruhe, Schönheit und Freiheit.

Wir lebten in einer hübschen Wohnung, die so groß war, dass wir zwei Zimmer als Ateliers nutzen konnten. Das Geld für die Miete und unser Leben brachte ich nach Hause. Nachdem ich bereits als Student in einer bekannten Galerie ausstellen durfte und meine Bilder schon damals zu hohen Preisen gehandelt wurden, fiel es mir leicht, für uns beide aufzukommen.
Wir waren ein junges Künstlerpaar, hübsch anzusehen, künstlerisch ambitioniert, einigermaßen gut situiert und unzufrieden. Dieser Unzufriedenheit machten wir in unseren Werken Luft, jedoch ohne darüber miteinander zu sprechen. Während ich meinem Ärger über die Zustände auf der Welt in meinen Bildern Ausdruck verlieh, malte Martina die Idyllen, die sie in sich selbst nicht finden konnte, wie ich heute weiß.

Ich hätte mit ihr sprechen sollen, sie fragen, wo sie der Schuh drückte, doch nahm ich sie so an, wie ich sie eben sah: als eine hochbegabte und sehr liebenswerte Künstlerin, die ihre inneren Nöte und Probleme brauchte, um die Kunst, die sie machte, überhaupt auf die Leinwand bringen zu können.
Im letzten Jahr unserer Beziehung dachte ich einige Male daran, mit ihr zu sprechen, doch jedes Mal, wenn ich innerlich dazu bereit war, fand der phlegmatische Teil meiner Persönlichkeit eine Ausrede, um das Gespräch nicht führen zu müssen.

Am sechzehnten Dezember 2012 kam ich von der Eröffnung einer Ausstellung meiner Werke nach Hause und fand Martina auf dem Sofa im Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch lag ein an mich adressierter Brief, in welchem sie sich für ihre Tat entschuldigte. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt und schließlich fiel ich in Ohnmacht.
Im Krankenhaus wurde mir mitgeteilt, dass eine eindeutige Todesursache nicht festgestellt werden konnte, doch das war mir ohnehin bewusst. Sie hätte sich niemals aktiv etwas angetan, dazu war sie ein viel zu sanfter Mensch gewesen.
Sie hatte einfach aufgehört zu leben. Hatte ihr letztes Bild so an den Couchtisch gelehnt, dass sie es in ihren letzten Sekunden sehen konnte, sich auf das Sofa gelegt und, wie ich vermute, ein letztes Mal tief ausgeatmet.

Ich wohne immer noch in dieser Wohnung. Martinas Bilder habe ich an die Wände gehängt. Ihr letztes Werk jedoch lehnte viele Monate vor Staub geschützt an der Wand ihres Ateliers, welches mir in der Zwischenzeit als Werkstätte dient. Ich versuche mich nämlich gelegentlich an Objekten aus Metall und Holz, allerdings mit bescheidenem Erfolg.
Es fiel mir zu keinem Zeitpunkt schwer, ihre Kunst zu betrachten. Der Umstand, dass sie nicht mehr am Leben war, war anfangs nur schwer zu ertragen, doch das Wissen, dass sie frei sein wollte, linderte den Schmerz. So hatte sie es in ihrem letzten Brief formuliert: ‘Frei wie ein Vogel’, steht da zu lesen, und passenderweise hatte sie auf ihrem letzten Bild einen Vogel dargestellt.

Als ich im Dezember des letzten Jahres am Schwimmteich stand und rauchte, erblickte ich eine Türkentaube. Sie saß auf der Kante der Dachrinne des Nachbarhauses, in welchem meine Großeltern wohnen. Dann flog sie einige Male knapp über der Wasseroberfläche über den Teich. Sie war offensichtlich noch nie an diesem Gewässer gewesen, denn erst nach dem vierten oder fünften Versuch fand sie eine passende Stelle, um sich niederzulassen und zu trinken. Sie trank vom kalten Wasser, dann blickte sie auf und sah mir direkt in die Augen.
Sicherlich hatte sie meine Anwesenheit schon vorher bemerkt, von ihrem Beobachtungsposten auf der Dachrinne aus, doch schien sie diese nicht zu stören. Im Gegenteil: Sie flog auf mich zu und landete auf dem Ast eines Apfelbaumes, etwa einen halben Meter von mir entfernt. Gurrend saß sie dort und machte keine Anstalten aufzufliegen, als ich mich ihr bis auf wenige Zentimeter näherte.

Ich sprach mit ruhiger Stimme mit dem Vogel und betrachtete ihn eingehend von allen Seiten. Er sah aus wie alle Türkentauben, nur war er, anders als seine Artgenossen, nicht scheu.
Ich betrachtete ihn weiter und erkannte, dass der dunkle Ring um seinen Hals unterbrochen war, und zwar an zwei Stellen auf der Vorderseite. Es waren keine großen Unterbrechungen, bloß zwei Millimeter waren sie breit und nur aus nächster Nähe zu erkennen.
Diese zwei Millimeter reichten jedoch aus, um mich erstarren zu lassen. Der Vogel auf Martinas letztem Gemälde ist ebenfalls eine Türkentaube, und auch ihr Band ist an zwei Stellen unterbrochen, und zwar an genau denselben wie das der lebendigen Taube vor mir es war.

Nach einigen Sekunden löste sich meine Starre, und ich sah dem Vogel in die Augen. “Martina?”, sagte ich leise und mit pochendem Herzen. Die Taube antwortete natürlich nicht mit Worten, doch sprang sie gurrend auf meine linke Schulter und schmiegte ihren Kopf an meinen Hals, und zwar an genau die Stelle, auf der Martina oft eingeschlafen war und ihr Kopf bis zum nächsten Morgen gelegen hatte.
Tränen liefen mir über das Gesicht, während ich den Vogel zärtlich streichelte. Die Türkentaube ließ mich gewähren, selbst als ich sie auf den Kopf küsste, was Martina geliebt hatte, hielt sie still. Ich sprach leise mit ihr, sagte ihr, was ich Martina noch hätte sagen wollen, und wohl auch sollen. Nach etwa fünfzehn Minuten flog die Taube wieder auf die Dachrinne meiner Großeltern, auf der sich in der Zwischenzeit eine zweite Türkentaube niedergelassen und uns beobachtet hatte. Es handelte sich offensichtlich um den Partner meiner Taube. Nachdem sie geschnäbelt hatten, flogen sie gemeinsam weg.

Ich war zwar noch irritiert von dem eben Erlebten, doch überwog die Freude, dass Martina offenbar ihr Glück gefunden hatte. Seit diesem Tag war ich oft im Haus meiner Familie zu Gast, doch habe ich diese bestimmte Taube nicht mehr gesehen. Das stimmt mich ein wenig traurig, doch habe ich auch Verständnis dafür. Ich bin schließlich ein Teil des früheren Lebens von Martina.
Die Taube auf ihrem letzten Werk sieht mir nun bei der Arbeit zu. Wenige Tage nach diesem Erlebnis kam ich wieder in meine Wohnung und habe das Bild ausgepackt und an die Wand meines Arbeitszimmers gehängt.
Auch wenn es mich heute noch schmerzt, dass Martina gegangen ist, so weiß ich doch, dass ihr Schritt der für sie richtige war, denn nun ist sie frei.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques |Inventarnummer: 17013

Roboter träumen

Eine künstliche Intelligenz zu erschaffen, stand schon seit Langem im  Forderungskatalog vieler Wissenschaftler. Es erwies sich als weit schwieriger als gedacht. Die Rechenleistung stieg geradezu exponenziell, aber das reichte nicht. Ein Roboter, der alle Möglichkeiten durchrechnete, blieb ein tumber Rechenapparat. Er war nicht intelligent. Der Schwerpunkt lag woanders. Der Mensch war einem Roboter deshalb voraus, weil er Wichtiges von Unwichtigem trennen konnte, daraufhin Prioritäten setzte, weil er Eindrücke mit gemachten Erfahrungen verglich, und weil er lernte. Er war mit Filtern ausgestattet, die er einsetzte. Und er wusste, was für ihn notwendig war. Ein Mann brauchte 0,3 Sekunden, um herauszufinden, ob er eine Frau hübsch fand. So schnell war kein Roboter.
Selbst wenn ein Supercomputer an seiner Stelle in dem Mann gerechnet hätte, wäre er langsamer gewesen. Was den Menschen intelligent machte, war, dass er ein weiterentwickeltes Tier war. Er tat alles, um zu überleben oder zumindest seine Gene weiterzugeben. Das war das Tierische an ihm. Und zudem hatte er denken gelernt. Es war die Kombination aus Instinkt und Gedankenkraft, die ihn blitzschnell richtige Schlüsse ziehen ließ. Und es war auch das, dass er immer nur einen Teil seines Gehirns, den zur Problemlösung spezialisierten, nützte und den Rest damit schonte. Und, worauf die Wissenschaftler schließlich kamen, was vielleicht den Durchbruch einleitete, der Mensch träumte. Er verband damit verschiedene Bewusstseinsebenen.

Mit dem Stur-Chips-parallel-Schalten und ein paar Programme Einspeisen war es nicht getan. Die Wissenschaftlerteams bestanden dann zu größeren Teilen aus Psychologen und Neurologen. „Das künstlich intelligente Wesen muss ein Egoist sein“, wurde zum geflügelten Satz.

Erste Ergebnisse zeigten sich. Manche Roboter begannen zu denken, auf einfache Weise, schwerfällig und langsam, aber doch. Es waren an das Menschliche angelehnte Denkmuster. Dann lernten die Roboter. Man gab ihnen drei Aktivitätszustände, ein, aus und Standby, die durch einen Schieberegler eingestellt wurden. Im Standby-Modus sollte es für die Roboter möglich sein zu träumen. Das funktionierte auch, denn einige Roboter erzählten danach von schlimmen Alpträumen. In weiterer Folge entfiel der Schieberegler, und die Roboter wählten selbständig ihren Zustand. Die Roboter wurden intelligent. Bei Intelligenztests hätten sie wohl noch schlecht abgeschnitten, aber trotzdem: Die Aufgabe, künstliche Intelligenz zu erschaffen, war erfüllt.

Zu Intelligenz gehört auch ein gewisses sich entwickelt habendes Bewusstsein. Das äußerte sich so, dass einige Roboter bockig reagierten, wenn ihnen etwas nicht passte. So interessierte sich das Militär für ein paar Exemplare. Die Roboter verweigerten mit der Begründung: „Wer intelligent ist, geht nicht zum Heer.“

Oder der Roboter, den ein Wissenschaftler zum Abendessen mit zu sich nach Hause nahm. Er saß mit der Familie zu Tisch, er schüttete das Essen einfach in einen Hohlraum in seinem Inneren, er betrieb Konversation, aber als die Tochter des Wissenschaftlers zu ihrem Papa sagte, der Roboter habe da einen Rostfleck, war er beleidigt und wurde patzig.

Das waren noch die einfachen Fälle. Die intelligenten Roboter wurden zuverlässige Gehilfen, die man mit Nachsicht und Respekt behandeln musste. Kam man ihnen herablassend oder unfreundlich, stellten sie die Arbeit ein und schmollten, manche beschwerten sich auch. Aber nach einiger Zeit renkte sich das wieder ein.

Es kam aber noch etwas ganz anderes auf: Wer mit Geist behaftet war, konnte auch eine Störung dessen haben. Geist bedingte ebenso Geisteskrankheiten.
Neue Berufszweige entstanden: Roboter-Psychologen, Roboter-Psychiater, Roboter-Psychotherapeuten. Und eine neue Einrichtung, die der Roboterpsychiatrie.
In einer solchen traf man den Kehrroboter mit den vielen Bürsten an seiner Unterseite, der größenwahnsinnig geworden war. Er bildete sich ein, er wäre Astrophysiker. Aus einem Pappendeckel hatte er sich ein Fernrohr zusammengerollt und beobachtete damit, wenn die anderen Roboter in seinem Zimmer schliefen, den Sternenhimmel.
Oder man lernte den Roboter mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung kennen, der ständig vor spiegelnden Flächen stand, in denen er sich selbst bewunderte.
Und viele andere Roboter waren noch dort, denen man half und sie überwachte.

Die Zukunft hatte schon angefangen und war noch lange nicht zu Ende.

Johannes Tosin

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 17014

Die Nacht der grünen Sichel

Es geschah an einem warmen Abend im Mai in einem kleinen Waldstück im steirischen Hügelland.
Gustav Fiedler, ein Bauer von dreiundsechzig Jahren, ging gerade spazieren, als er in dem Wäldchen, das er auf seinem weitläufigen Grundstück hatte stehen lassen, um Lebewesen Raum zu geben, das Brechen von Zweigen hörte. Er ging ein Stück weit auf dem Weg, der zwischen den Bäumen durch den Wald führte, und dachte an einen Keiler oder Rehbock als Verursacher des Geräuschs. Angestrengt lauschte er, ob weitere folgen würden, doch es blieb still.

So ging er mit langsamen Schritten zum Wohnhaus seines Hofes und zog sich für die Nacht um. In seinem abgewetzten Schlafanzug legte er sich neben seine Ehefrau Aloisia. Sie hatte bereits geschlafen, doch die Bewegungen des Bettes und das ächzende Geräusch, das es von sich ab, als er sich darauf legte, ließen sie erwachen. Auf Nachfrage erzählte er ihr, dass er durch den Wald gegangen wäre und ein Reh oder ein Wildschwein gehört hätte, welches er in den nächsten Tagen wohl erlegen würde.
Seine Frau stieß einen gellenden Schrei aus, bekreuzigte sich und flehte ihn an, seinem Schwur treu zu bleiben, nämlich das Haus nach Einbruch der Dunkelheit nicht zu verlassen. Er beruhigte sie und versprach ihr, sich künftig daran zu halten. In seinem Inneren wusste er jedoch, dass er genau das nicht machen würde, dafür war sein Jagdtrieb einfach zu stark ausgeprägt.

Am nächsten Morgen bereitete Gustav, was selten vorkam, das Frühstück zu. Aloisia war erfreut, einmal nicht diese Arbeit verrichten zu müssen, und nahm die Entschuldigung für den Bruch des Versprechens an.
Sie war gleich alt wie ihr Gatte. Mit zwanzig Jahren hatten sie geheiratet, doch Kinder hatten sich keine einstellen wollen. Dennoch wussten sie, wie es mit ihrem Hof, den sie von seinen Eltern übernommen hatten, nach ihrem Tod weitergehen würde. Aloisia hatte darauf bestanden, dass er ihrer geliebten Kirche zufallen sollte, und Gustav hatte sich gefügt.

Von Wert war ohnehin bloß das große Grundstück, alles andere hatten sie aufgegeben. Zwei Katzen, Murli und Minka wurden sie gerufen, lebten noch auf dem Gehöft, nebst einer Vielzahl an Mäusen, von welchen sie sich ernährten. Vieh gab es keines mehr. Die Fiedlers waren arm, das waren sie ihr ganzes Leben hindurch gewesen. Aloisia hatte sich leicht mit diesem Umstand abfinden können, Geld bedeutete ihr wenig. Ihr Mann hingegen litt sehr unter der Armut. Wie gerne hätte er ein großes Auto gefahren und sein Wohnhaus renoviert und stilvoll eingerichtet, doch war ihm dies nicht beschieden gewesen.
Nachdem ihre letzte Kuh geschlachtet worden war und der Hahn, der seine letzten Jahre ohne Hennen hatte zubringen müssen, im Suppentopf geendet hatte, ernährte sich das Ehepaar von Gemüse, welches Aloisia mit viel Liebe zog, nur selten gab es Gerichte aus Wildfleisch. Gustav war zwar ein begeisterter Jäger, allerdings traf er selten.

Die Furcht seiner Frau vor der Dunkelheit lag in der uralten Mär vom Steirerwolf begründet, einer Kreatur, Dürers Werwolf sollte sie nicht unähnlich sehen, die in gewissen Nächten die Menschen der Umgebung plagen würde. Strenge Gottesfurcht und oftmaliges Beten würde sie fernhalten, erfuhr er von seiner Gemahlin, doch gab er nichts auf solches Gerede, ebenso wenig gab er auf das Gebet und die Beichte.

Nach dem Frühstück erwachte seine Jagdlust. Den ganzen Tag über nagte sie an dem Bauern, er konnte kaum das Einsetzen der Nacht erwarten. Er beschäftigte sich mit dem Mähen von Gras und begab sich, nachdem er damit fertig war, in den Keller, um schlecht gewordenes Gemüse auszusortieren. Das wenigstens sagte er zu Aloisia.
In Wahrheit reinigte er hingebungsvoll seine Büchse. Mit Öl befreite er die Waffe von Flugrost, mehrere Male zog er den Lauf durch, er reinigte die Patronenkammer und polierte den hölzernen Schaft, bis dieser glänzte.

Als es dunkel zu werden begann, brachte er seiner Frau eine Kanne Tee, in welche er eine ordentliche Menge Schnaps gegossen hatte. Alsbald war sie eingeschlafen.
Gustav ging in den Keller, holte sein Gewehr und schlich mit langsamen leisen Schritten zum Waldstück. Dort wartete er einige Minuten, und als er erneut das Geräusch von brechendem Holz vernahm, lief er in das Wäldchen, welches vom Schein des Halbmondes einigermaßen gut erleuchtet wurde.
Er fühlte, dass er nicht alleine war.

Erst konnte er kein Lebewesen ausmachen, doch als er das Brechen der Zweige immer näherkommen hörte, wusste er, dass er in wenigen Augenblicken ein Wildschwein oder ein Reh schemenhaft erkennen würde.
Und schon sah er tatsächlich ein Wesen auf sich zukommen. Bei diesem handelte es sich jedoch weder um einen Keiler noch um einen Bock, dafür war die Kreatur viel zu groß. Auf vier Beinen kam sie näher und begann, fünf Meter vor Fiedler, kehlige knurrende Laute auszustoßen, die sich bald in ohrenbetäubendes Geheul steigerten.
Er wich zurück und zog mit zitternder Hand seine Taschenlampe hervor, schaltete sie ein und richtete den Lichtkegel auf das Antlitz des Wesens.
Da gefror ihm das Blut in den Adern.

Im Schein des künstlichen Lichts leuchteten die Augen der Kreatur grün, ihr Kopf war schwarz befellt und ihr offenes Maul ließ Reißzähne erkennen, die von einem Säbelzahntiger hätten stammen können. Gustavs Hand bebte so stark, dass das Licht der Lampe auch den Rest der Kreatur illuminierte. Sie war drei Meter hoch, hatte ein pechschwarzes Fell und Krallen, die jene eines Bären hätten sein können. Ein langer behaarter Schwanz an der Kehrseite und spitze Ohren an der vorderen rundeten das Bild ab, das Gustav Fiedler in dieser warmen Mainacht vor sich sah. Es war die Schnauze der Bestie, die ihn auf eine morbide Art und Weise faszinierte.

Wie das bei Hunden der Fall ist, hatte auch die Schnauze der Bestie zwei Löcher, doch, von unten betrachtet, kam es Gustav so vor, als ob die Nasenwände eine bestimmte Form aufnähmen, die er schon oft gesehen hatte. Als er ein Giebelkreuz erkannte, wusste er: Er stand dem Steirerwolf gegenüber.
Schnell entsicherte er sein Gewehr, richtete es auf den Brustkorb des Untiers und drückte ab. Das Projektil drang in den Körper des Biests ein, jedoch nicht in die Brust, sondern in die rechte der baumdicken Vorderpfoten. Es heulte auf, sprang seinen Peiniger an und biss in dessen Schulter. Augenblicklich fiel Gustav in Ohnmacht.

Als er am nächsten Morgen im Wald erwachte, entledigte er sich seiner Oberbekleidung und untersuchte die Stelle, an der der Steirerwolf ihn gebissen hatte. Die Wunde musste tief sein, denn er fühlte starke Schmerzen, doch blutete sie nicht mehr. Mühsam stand er auf und schleppte sich zum Hof zurück. Seine Ehefrau war gerade dabei, die beiden Katzen auf der Schwelle des Wohnhauses zu streicheln, als sie ihren Mann erblickte und die Wunde sah.
Sogleich fiel sie auf die Knie und flehte Gott um Gnade an. Ihr Mann erzählte ihr, was vorgefallen war, und zwar in allen Einzelheiten. Sie lief aus dem Raum und in das Schlafzimmer, wo sie sich auf das Bett fallen ließ und unablässig vom Steirerwolf stammelte.
Er wartete geduldig, bis sie sich wieder gefangen hatte, dann bat er sie, ihm die Sage von der Kreatur vorzulesen. Sie holte ein grünes Buch aus dem untersten Fach des Regals im Wohnzimmer. Auf dem Bucheinband erkannte er einen Apfel, dem ein Pentagramm eingezeichnet war. Dann las sie.

Als sie fertig war, wusste er, dass von nun an keine Halbmondnacht mehr so sein würde wie jene, die er bislang erlebt hatte. Aloisia verbot ihm, sich vor der Nacht der grünen Sichel, so wurde die Phase des Halbmondes im Buch genannt, in der Nähe des Hofes aufzuhalten. Er versprach, sich wenigstens an dieses Verbot zu halten. Die nächsten Tage verliefen ruhig für das Ehepaar Fiedler. Sie kümmerte sich um den Garten, er widmete sich der Lektüre von Büchern über Gestaltenwandler und besuchte seinen Onkel im Krankenhaus, der sich bei der Jagd versehentlich in die rechte Hand geschossen hatte.

Dann nahte Gustavs erste Nacht der grünen Sichel.
Er fühlte, dass sich etwas in seinem Körper veränderte. Er hörte besser als zuvor, selbst das Fiepen der Mäuse im ehemaligen Kuhstall konnte er vernehmen, obwohl er im viele Meter entfernten Wohnzimmer saß. Sein Bart wuchs schneller und dichter, und seine Nase und Augen nahmen Gerüche und Dinge in nie zuvor gerochener und gesehener Reinheit und Schärfe wahr.
Die bei Weitem intensivste Veränderung aber fand in seinem Innersten, seiner Seele, statt. Das Gefühl des Hasses auf seine Armut wuchs beständig, nie zuvor war ihm diese so grässlich erschienen wie nun. Also beschloss er, etwas dagegen zu unternehmen.

Als die Phase des Halbmondes einsetzte, warf Aloisia Fiedler ihren Mann aus dem Haus. Die Tage brachte er in einer baufälligen Holzhütte am Rande seines Grundstücks zu, in den Nächten marodierte er durch die Obstgärten der Nachbarn. Er ernährte sich von Mäusen und Ratten, selbst ein Steinkauz fiel ihm zum Opfer. Einmal wurde er von einem Nachbarn dabei beobachtet, wie er sich über eine Katze hermachte. Da sein Fell zu diesem Zeitpunkt noch kurz war, sodass er es unter seiner Kleidung verbergen konnte, glaubte der Nachbar, der obendrein schwer betrunken war, dass Gustav die Katze lediglich liebkosen würde.

Dann kam die Nacht, in der die grüne Sichel in voller Schärfe am Himmel hing.
Gustav Fiedler hatte schon den ganzen Tag über starke Schmerzen verspürt, dazu kam ein Ziehen in seinen Gliedern und starker Fellwuchs am ganzen Körper. Als die Nacht hereinbrach, begann die Stelle, an der er gebissen worden war, wie Feuer zu brennen, und er gab in einem fort knurrende Laute von sich.
Eine Stunde vor Mitternacht war es so weit. Als der Halbmond von den Wolken, die ihn zuvor verhangen hatten, freigegeben wurde, starrte er diesen aus leuchtenden grünen Augen, die zuvor braun gewesen waren, an und begann zu heulen.
Nachdem er sich unter beinahe unerträglichen Schmerzen in das Ebenbild der Kreatur, die ihn gebissen hatte, verwandelt hatte, machte er sich auf den Weg zu seinem ersten Opfer.

Dieses war Josef Reinprecht, der reichste Bauer der Umgebung. Gustav stand vor dessen Haustüre und einen Tritt mit dem kräftigen Hinterlauf später in des Großbauern Vorraum. Mit schnellen Sprüngen brachte er die Treppe, die in den ersten Stock führte, hinter sich und stand neben Reinprechts Bett, aus welchem dieser sprang, sobald er des Wesens ansichtig wurde, das soeben mit einem kraftvollen Hieb seiner neben ihm schlafenden Ehefrau den Garaus gemacht hatte.
Um Gnade flehend stand er vor der Bestie, die Hose seines Schlafanzugs verfärbte sich, doch Gustav kannte kein Erbarmen. Er fuhr seinem Opfer mit der Pranke über den Hals, der sich sogleich öffnete. Aus der Wunde schoss Blut, und Josef Reinprecht sank zu Boden, um nur Augenblicke später zu verscheiden. Fiedler warf einen Blick auf die Armbanduhr des reichen Bauern, erkannte, dass sie aus Gold gefertigt war und nahm sie mitsamt dem Unterarm an sich, welchen er im Maul in den kleinen Wald trug.

Zufrieden mit sich und seiner Tat legte er sich auf den Boden, rollte sich ein und schlief bis zur Mittagszeit des nächsten Tages. Als er erwachte, war nichts mehr übrig vom Steirerwolf, er war wieder Gustav, der nackte Gustav Fiedler.
Er nahm die goldene Uhr von Reinprechts Arm und legte sie an. Sie passte. Dann machte er sich auf den Weg zu seinem Hof. Er begrüßte Aloisia, die eben aufgestanden war und ihn mit argwöhnischen Blicken bedachte. Sie bemerkte, dass er einen teuren Zeitmesser trug und fragte nach dessen Herkunft. Gustav sagte ihr die Wahrheit, worauf sie sogleich ein Gebet für die Seele der Opfer ihres Mannes sprach. Hernach stellte sie fest, dass dieser der Welt einen Gefallen erwiesen hätte, denn der Großbauer wäre fürwahr kein großes Licht auf dem Kronleuchter der Gottesfurcht gewesen.
Nach dem Mittagessen fuhr Gustav mit dem Zug nach Graz, wo er die Uhr versetzte. Von dem Geld kaufte er einen Ring und ein Kleid für seine Frau, und für sich selbst einen Anzug und ein Paar Schuhe. Den Rest brachte er nach Hause und legte ihn in eine alte metallene Handkasse, die viele Jahre lang leer im Keller gestanden hatte.

Gustav und Aloisia Fiedler führten wieder ihr gewohntes kleines Leben, jedoch im Wissen, dass sie eine kleine Summe Bargeld im Haus hatten, über die sie verfügen konnten. Er dachte über den Ankauf einer neuen Jagdwaffe nach, doch da seine Frau beim nächsten Kirchgang endlich eine größere Summe in den Klingelbeutel werfen wollte, begrub er diesen Wunsch vorerst.

Der Zufall wollte es, dass der alte, mit Holz beheizte Ofen in der Küche den Geist aufgab und Ersatz angeschafft werden musste, und das eine Woche vor dem nächsten Halbmond. Da der Hafner eine Unsumme für die Errichtung eines neuen Ofens veranschlagt hatte, von dem Geld für die Uhr aber nicht mehr viel übrig war, teilte Gustav seiner Frau mit, dass sie ein paar Tage von Rohkost würde leben müssen, doch bald würde ein neuer Ofen ihre Küche zieren. Dann musste er den Hof verlassen.

Im Dorf war der Tod Josef Reinprechts kein allzu großes Thema, schließlich war er vielen Menschen verhasst gewesen, vor allem denjenigen, die Schulden bei ihm gehabt hatten. Die Polizei untersuchte sein Ende und schloss den Bericht mit der Vermutung, dass es sich um Raubmord gehandelt hätte, denn es fehlte die Uhr, mit der der reiche Bauer gerne und oft im Wirtshaus geprahlt hatte.

Nachdem Gustav nicht einmal befragt worden war, fühlte er sich sicher.
Wieder durchstreifte er die Gärten, zwei Katzen waren ihm Nahrung für drei Tage, einen Kater, den er gefangen hatte, ließ er wieder frei. Sein feiner Geruchssinn sagte ihm, dass das Fleisch des Tieres nahe der Grenze zur Ungenießbarkeit angesiedelt war. Einen Tag vor seiner Verwandlung fasste Gustav nicht nur den Plan, den Direktor der örtlichen Bank seines Lebens zu berauben, sondern auch sein Geldhaus um eine erkleckliche Summe zu erleichtern, denn ein neuer Küchenofen stellte eine finanzielle Herausforderung dar.

Zufrieden mit sich und seinem Plan, brachte er es nicht übers Herz, ein Rehkitz, das nur zwei Meter vor ihm über den Weg lief, zu töten und aufzufressen. Stattdessen suchte er nach der Mutter des Rehleins. Er fand sie im Unterholz, tot, aber noch warm. Ihr Fell war blutverkrustet, und als er den Körper des Tieres näher betrachtete, entdeckte er zwei Einschusslöcher im Bauchbereich, jedoch keine Austrittslöcher auf der anderen Seite des Bauches. Der Jäger, der zweimal auf das Reh angelegt hatte, musste dies mit einer kleinkalibrigen Waffe gemacht haben und bescherte dem Tier dadurch tagelanges Leid. Gustav riss den Kadaver mit bloßen Pranken auf und fraß die Leber, das Herz und beide hinteren Oberschenkel, denn er brauchte Kraft für seine bevorstehende Verwandlung.

In dieser Nacht verwandelte sich Gustav Fiedler zum zweiten Mal.
Er schlich ein paarmal um das weitläufige Anwesen des Bankdirektors, erkannte, dass dieser alleine war und sich ein Fußballspiel im Fernsehen ansah und brach durch die Türe aus Sicherheitsglas, die das Wohnzimmer vom Garten trennte. Walter Pichlbauer, so hieß Fiedlers drittes Opfer, fiel vor Schreck aus seinem Fernsehsessel. Er rappelte sich auf, drehte sich um und blickte in Gustavs leuchtend grüne Augen. Wieder fiel er vor Schreck, dieses Mal in Ohnmacht. Sein Mordtrieb sagte dem Biest, dass es die Sache rasch zu Ende bringen sollte, doch da der immer noch im Wolf steckende Mensch auf Bargeld aus war, wartete er erst einmal ab.
Als Pichlbauer wieder erwachte, stand Gustav zwei Meter von ihm entfernt in einer Ecke des Raumes. Der Direktor starrte fassungslos auf die Kreatur, dann rang er sich einige wenige Worte ab, um am Leben gelassen zu werden. Der Wolf näherte sich ihm mit langsamen Schritten, und als Walter die Nasenwände der Bestie sah und das Firmenzeichen seiner Bank oberhalb der gierigen Zähne erkannte, da fiel er auf die Knie und betete den Steirerwolf mit der Giebelkreuzschnauze an. Dieser ließ sich davon nicht beeindrucken und packte Pichlbauer mit den Zähnen im Genick und hob ihn hoch.
Mit langen schnellen Sätzen brachte er den Direktor zur Bank und zwang ihn, den Sicherheitscode der Türe einzutippen, indem er mit der Vorderpranke auf das kleine Tastenfeld neben dem Eingang wies und dabei bedrohlich knurrte. Die Türe öffnete sich, und Gustav warf Walter in den Kassenraum. Mit einem Satz war er wieder bei ihm, hob ihn erneut hoch und ließ ihn vor der Türe des Tresorraumes fallen.

Am nächsten Tag machten Gerüchte die Runde im Dorf. Gustav Fiedler wurden diese am Vormittag am Tresen des örtlichen Gasthauses zugetragen. Demnach hatte Walter Pichlbauer vermutlich seine private Schatulle auffüllen wollen. Ansonsten hätte er sich wohl kaum mitten in der Nacht Zutritt zum Safe seiner Bank verschafft. Dort, im begehbaren Tresor, war er nämlich aufgefunden worden. Es war wohl ein riesiger Keiler, der ihn derart zugerichtet hatte. Man fand Haare auf dem Boden, lange schwarze Grannen, wie von einem Wildschwein. Was es dort zu suchen hatte, konnte jedoch niemand erklären. Pichlbauers Leib war von tiefen Wunden übersät, wie von Hauern verursacht. Die Überwachungskamera hatte den Keiler unscharf gefilmt, und die Polizei wollte noch einen erfahrenen Jäger hinzuziehen. Sie war sich nämlich nicht sicher, ob das Ungetüm auf dem Video tatsächlich ein Wildschwein war.

Die Angelegenheit verlief im Sande, wenigstens behördlich, doch nachdem es auch den Besitzer des Sägewerks erwischt hatte, machte sich allmählich Angst unter den Reichen des Dorfes breit.
Kurt Haas hatte er geheißen und hatte grässlich geendet. Er wurde vor seinem Sägewerk gefunden, am Morgen nach der Nacht der grünen Sichel. Die Arme und Beine waren ihm herausgerissen worden, wie auch der Tresor in seinem Büro. Offenbar war der Geldschrank etliche Male zu Boden geschleudert worden, bevor er nach- und das Geld darin freigegeben hatte.
Gustav hatte keine Angst, und bald auch keine Geldsorgen mehr. Er stellte seinen Reichtum nicht zur Schau, kaufte bloß zwei Kühe und drei Hennen. Im Wohnhaus beließ er alles so, wie er es jahrzehntelang gekannt hatte, erneuerte lediglich den Fernseher und das Sofa. Aloisia stiftete der Dorfkirche eine neue Orgel, dies jedoch mit der strengen Auflage, dass niemand den Namen der Stifterin erfahren durfte.

Mit der Zeit wurden Gustav die schmerzhaften Verwandlungen zu kräftezehrend, also beschloss er, dass noch ein letztes Opfer dran glauben musste. In der darauffolgenden Nacht der grünen Sichel würde er einen unbescholtenen Mann in die Schulter beißen, dadurch den Steirerwolf übertragen und dann wäre er frei. So stand es im Buch seiner Ehefrau. Und er wäre nicht bloß frei, sondern auch reich.
Seitdem er der Steirerwolf war, hatte sich Gustav Fiedlers Blick auf das Geld nämlich geändert. Hatte er vor seiner Wolfwerdung mit verachtenswertem Begehren auf Geld geblickt, so tat er dies nunmehr mit begehrlicher Verachtung.

Sein letztes Opfer war Josefa Bohnstingl, die Besitzerin der größten Sattlerei im Umkreis von sechzig Kilometern. Sie führte den Betrieb in der achten Generation und war für ihren Geiz, somit auch für dementsprechenden Reichtum, bekannt. Gustav suchte sie auf und musste erkennen, dass nicht nur Aloisia und er von der Existenz des Steirerwolfs wussten. Die alte Frau empfing ihn in ihrem Bett, eine Schrotflinte hatte sie im Anschlag und drückte ohne Vorwarnung ab. Ein Schrotkorn streifte sein linkes Ohr, ansonsten blieb er unverletzt. Nach einer Schrecksekunde knurrte er böse und sprang zu ihr ins Himmelbett, dessen weiße Laken sich binnen Sekunden rot färbten. Im Keller fand er eine Truhe, voll mit Münzen aus Gold und Silber, und trug diese im Maul in das Wäldchen. Mühsam schleppte er am Morgen nach seiner letzten Untat als Steirerwolf den Schatz zu seinem Haus und teilte Aloisia mit, dass er in der nächsten Nacht der grünen Sichel das Wesen des Wolfs weitergeben würde. Sie umarmte ihn und fragte, an wen er es denn weitergeben würde.
Er wüsste es noch nicht, log er.

Gustav Fiedlers letzte Nacht der grünen Sichel war angebrochen. In den Tagen davor hatte er sich von Fasanen und Rebhühnern ernährt, ein Hundewelpe wurde ihm ebenso zur Nahrung wie ein Wellensittich und ein Kalb, denn er hatte sich vorgenommen, gut genährt in diese Nacht zu gehen.
Kurz vor Mitternacht, die Verwandlung war längst vollzogen, läutete die Glocke der Dorfkirche. Johannes Zirngast, der Pfarrer, schrak aus seinen Träumen auf und lief in sein Bethaus, um zu sehen, was vor sich ging. Dort sah er sogleich den mächtigen Steirerwolf, der von der Kanzel herab abwechselnd heulte und knurrte. Zirngast reckte seine Arme gen Himmel, doch Gott war in dieser Nacht nicht anwesend. Der Wolf sprang, riss den Gottesmann zu Boden und vergrub seine Zähne in dessen Schulter. Dann lief er aus der Kirche.

Aloisia und Gustav Fiedler lebten noch zwölf Jahre lang ein bescheidenes, jedoch nicht armes Leben, bis sie im selben Monat friedlich einschliefen.
Ihr Geld vermachten sie der Dorfkirche, die eine hohe Mauer um das Wohnhaus des Pfarrers errichten ließ, die nach dessen Tod wieder abgetragen wurde.

Michael Timoschek

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Greta und Hans

Hans und Greta wuchsen in einem kleinen, von dichten Wäldern umgebenen Dorf auf. Ihre Familien lebten auf benachbarten Höfen, auf welchen sie Vieh züchteten. Sie waren rechtschaffene Leute, die mit allen Menschen im Dorf gut auskamen. Dies war auch notwendig, denn ihr Dorf war so abgelegen, dass nur selten ein Fremder dorthin gelangte. Zwistigkeiten oder gar Streit galt es also zu vermeiden.
Sie wuchsen gemeinsam auf, saßen im einzigen Klassenzimmer der Volksschule nebeneinander und verbrachten auch ihre Freizeit zusammen. Nach der letzten Klasse folgten sie dem Wunsch ihrer Familien und blieben auf den Gehöften ihrer Eltern, um alles Wissenswerte für das Leben als Bauer und Bäuerin zu erlernen.
Sie waren zufrieden und freuten sich auf die Zukunft, die vor ihnen lag und die mit jedem Tag rosiger zu werden schien. Bald trafen sie sich nämlich nicht mehr bloß, weil sie nichts Besseres zu tun hatten, sondern weil in ihnen das Verlangen wuchs, den anderen Menschen zu sehen und ihm nahe zu sein. Sie hatten zarte Bande zueinander geknüpft und nach dem ersten Kuss im Alter von sechzehn Jahren waren sie sich sicher, dass sie einander liebten.

Umso tragischer war das, was ihnen widerfahren sollte.
Zwei Wochen nach dem ersten Kuss verschwand Hans. Das ganze Dorf suchte nach ihm, doch ohne Erfolg. Greta ging von Haus zu Haus und fragte jeden Ortsansässigen, ob er ihren Freund gesehen hätte, doch die Antwort war stets die selbe: “Nein, Greta. Tut mir leid.”
Ihr fiel auf, dass seine Familie sein Verschwinden weit weniger tragisch nahm als sie selbst es tat. Seine Eltern waren ihr gegenüber reserviert, sagten bloß: “Wir wissen doch auch nicht, wo er ist. Mach dir nichts draus – du wirst einen neuen Freund finden.”
Erst konnte sich Greta keinen Reim auf diese Gefühlskälte machen; als die Großmutter ihres Freundes sie jedoch an der Hand in ihr Häuschen zog und aufklärte, begann sie zu verstehen.

“Es scheint, dass es an der Zeit ist, dich einzuweihen”, begann die Alte ohne Umschweife. “Hans ist weg und er wird es bleiben.”
“Aber-”, stotterte Greta, den Tränen nahe. “Warum?”
“Auf unserer Familie lastet ein uralter Fluch. Aus jeder Generation befällt er ein Kind. Vor Hans war der jüngere Bruder seines Vaters an der Reihe.” Sie räusperte sich und sagte mit tonloser Stimme: “Er wurde nie wieder gesehen. Vor zwei Wochen war der Mond voll, da hat er Hans zu dem gemacht, was er jetzt ist.”
“Was ist er jetzt?”, rief Greta.
Die Alte ging nicht auf die Frage ein. Sie sah das Mädchen mit düsterem Blick an und meinte: “Was, glaubst du, ist der Grund, dass es in den Wäldern so gut wie kein Wild mehr gibt?”
“Sie wollen mir doch nicht etwa weismachen, dass Hans als Einsiedler im Wald lebt und sich von Rehen und Wildschweinen ernährt!”
“Ein Einsiedler ist ein Mensch, Greta. Hans ist keiner mehr.”
Greta sprang auf.
“Das kann ich nicht glauben!”, rief sie und eilte zur Türe.
“Es ist nicht wichtig, was du glaubst, mein Kind. Halte dich bloß vom Wald fern!”

Greta dachte nicht daran, dies zu tun. Obwohl die Dämmerung hereinbrach, lief sie tief in den dunklen Wald und rief nach Hans.
Es war still im Wald. Kein Vogel gab einen Laut von sich, das Geräusch der Blätter der Bäume, die vom Wind bewegt wurden, war das einzige, das an Gretas Ohren drang.
Plötzlich hörte sie Zweige brechen. Etwas kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Instinktiv suchte sie hinter dem Stamm einer alten Buche Schutz, doch Hans hatte sie bereits gesehen.
Er blieb zwei Meter vor ihr stehen und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Greta hatte Angst, doch ging sie zu ihm, umarmte ihn – und machte einen Satz nach hinten.
Es war zum einen der Geruch, den er verströmte, er roch wie ein nasser Hund, zum anderen hatte sie sein zerrissenes Hemd bemerkt, unter dessen Fetzen tiefe Wunden auf seiner Brust zu sehen waren, die von mächtigen Klauen herzurühren schienen.
“Hans, was ist mit dir geschehen?”, rief sie entsetzt.
Er gab einige undefinierbare Laute von sich, und sie zog, um ihn besser verstehen zu können, seine Hände von seinem Gesicht. Es war kreidebleich, die Wangen waren eingefallen und seine Kiefer waren verformt, als wären sie gewachsen und wieder geschrumpft. Greta erschrak erst, doch als sie in seine Augen blickte, wurde sie von Panik ergriffen.
Seine Augen hatten zwar noch die selbe grüne Farbe, die sie so geliebt hatte, doch lag nichts Menschliches mehr in ihnen.
“Mein Gott, Hans!”, stammelte sie, doch Gott hatte diesen Wald längst verlassen.
Er sah sie an und knurrte mehr als dass er sprach: “Nun – Wolf.”
Greta lief so schnell sie konnte aus dem Wald, sperrte sich in ihrem Zimmer ein und zog die Bettdecke über ihren Kopf.

Etwas Unmenschliches hatte von Hans Besitz ergriffen, und Greta wusste das.
“Hans ist verflucht”, sagte seine Großmutter, als Greta ihr am nächsten Vormittag von der Begegnung im Wald erzählte. Sie packte Gretas Hand und rief: “Du darfst nie wieder in den Wald gehen, hörst du! Er würde dich in Stücke reißen, so wie es mein Sohn bei seinem-” Sie stockte, doch Greta wusste, was sie sagen wollte.
“Gibt es denn keine Erlösung von diesem Fluch?”, fragte sie verzweifelt.
Die Alte legte ihre Stirn in Falten und zögerte ihre Antwort hinaus.
“Nun?”, fragte das Mädchen ungeduldig.
“Es gibt eine Möglichkeit, doch ist sie sehr gefährlich für den Menschen, der den Verfluchten retten möchte.”
“Welche?”
“Man muss sich der Bestie bei Vollmond bis auf einen Meter nähern und ihr einen Pflock mit silberner Spitze ins Herz stoßen.”
“Nein!”, rief Greta entsetzt.
“Doch, mein Kind. Dies ist die einzige Möglichkeit, Hans zu befreien.”
“Was geschieht dann mit ihm?”
“Er nimmt seine menschliche Gestalt wieder an und kann beerdigt werden. Damit ist der Fluch für alle Zeit aufgehoben.”
Greta schluchzte.
“Das werde ich niemals machen!”
“Das weiß ich doch, Greta”, sagte die Alte mit listigem Blick. “Es wäre aber das Beste, sowohl für dich als auch für Hans. Er würde seinen Frieden finden, und du müsstest nicht den Rest deines Lebens an den Wolf denken, den du nicht erlöst hast.”
Sie zog einen Pflock unter dem Tisch hervor.
“Mein Mann hat ihn für unseren Sohn angefertigt, aber-”, ihr versagte die Stimme.
“Was ist geschehen?”, fragte Greta leise.
“Man fand den Pflock neben der grausam zugerichteten Leiche meines Mannes.”
“Sollte ich mich dazu durchringen können, Hans zu erlösen -”
“Ja?” Die Alte war plötzlich hellwach.
“Was, wenn die Sache danebengeht?”
“In diesem Fall kannst du bloß zu Gott beten, dass Hans dich tötet.”
“Wie bitte?”
“Keine Angst, du wirst nicht lange leiden, glaub mir.”
“Und wenn er mich nicht tötet, sondern bloß verletzt?”
“Dann wirst du eine Bestie werden, so wie er.”
Greta dachte einige Minuten lang nach, dann streckte sie ihren Arm aus und sagte: “Den Pflock, bitte.”
“Das ist die richtige Entscheidung, mein Kind”, sagte die Greisin und küsste Greta auf die Stirn.
Greta ging nach Hause und versteckte den Pflock.

Als es dunkel wurde, ging sie in den Wald zu der Stelle, an der sie Hans am Vortag getroffen hatte und rief nach ihm.
Wieder hörte sie das rasch näherkommende Brechen von Zweigen, doch hielt die Bestie in einigem Abstand inne. Sie konnte Hans nicht sehen, hörte bloß sein kehliges Knurren, das ihr jedoch keine Furcht einflößte.
“Hans, ich habe mit deiner Großmutter gesprochen”, rief sie.
Knurren war seine Antwort.
“Ich weiß nun einen Weg, wie du deinen Frieden finden kannst.”
Er gab keinen Laut von sich.
“Ich komme zu dir, wenn der Mond voll ist. Hier, an dieser Stelle, treffen wir uns.”
Hans knurrte zweimal, was Greta als Zustimmung wertete.

Die folgenden Tage bis zum nächsten Vollmond verbrachte Greta in großer innerlicher Aufregung. Sie dachte unablässig an Hans und ihre gemeinsam verbrachten Tage, und schließlich entschloss sie sich, das zu tun, was ihrem Freund Glück bringen würde.
Ihrer Familie konnte sie natürlich nichts davon erzählen, ebensowenig wie anderen Menschen aus dem Dorf. Sprachen ihre Eltern von Hans, so gab sie sich reserviert und sagte, dass er wohl in einem anderen Dorf sein Glück gefunden hätte.
Sie verrichtete die ihr zugewiesenen Tätigkeiten auf dem Hof gewissenhaft, jedoch ohne mit dem Herzen bei der Sache zu sein.

Am Tag des Vollmondes besuchte sie die Großmutter ihres Freundes.
“Ich habe den Pflock gut versteckt. Heute Nacht werde ich ihn holen und in den Wald gehen.”
Die Alte strahlte vor Freude.
“Du musst aber achtgeben, Greta! Hans ist nicht mehr der, den du gekannt hast. Bei der ersten Gelegenheit wird er dich anfallen, und dann ist es um dich geschehen!”
“Das weiß ich.”
“Ich wünsche dir alles Gute, mein Kind.”
“Danke”, seufzte Greta und verließ das Häuschen.

Um Mitternacht rief Greta nach Hans. Sie wartete auf das Brechen von Zweigen auf dem Waldboden, doch der Wald blieb still. Eine Wolke gab den Mond frei, da hörte sie Zweige brechen, nur wenige Meter hinter sich. Sie wandte sich, den Pflock in der Hand, um und erblickte den größten Wolf, den sie je gesehen hatte.
Die Augen, aus welchen Hans sie anstarrte, ließen sie frösteln. Es lag nichts Menschliches mehr in ihnen, sie waren schwarz, so schwarz wie das Fell der Bestie. Der Wolf knurrte, dann öffnete er sein mit riesigen Reißzähnen bewehrtes Maul und ließ ein ohrenbetäubendes Geheul ertönen.
Greta stand vor dem Biest, hielt diesem die silberne Spitze vor die Schnauze und sagte mit fester Stimme: “Dieser Pflock könnte dich töten.”
Der Wolf knurrte.
“Doch das wird er nicht tun”, fuhr sie fort und schleuderte die Waffe von sich.
Hans sah dem im Mondschein davonfliegenden Silber nach und hörte auf zu knurren.
Das Mädchen setzte sich auf den Boden und sah zum Wolf auf.
“Du kannst mich töten, Hans”, sagte Greta mit ruhiger Stimme, in der keine Furcht lag. “Du kannst mich jedoch auch zu deiner Gefährtin machen.”
Der Werwolf reagierte nicht.
Greta entblößte ihre rechte Schulter und hauchte: “Beiß mich, aber sei vorsichtig!”
Als Hans seine Zähne im Fleisch seiner Freundin vergrub, fiel diese in eine tiefe Ohnmacht.

Nach drei Tagen erwachte sie orientierungslos in einer Höhle. Ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, doch ihr Geruchssinn funktionierte einwandfrei. Unsicher ging sie durch die Höhle, die erfüllt war vom Geruch der unzähligen Skelette von Rehen und Wildschweinen, die überall herumlagen.
Ein schwacher Lichtschein wies ihr den Weg nach draußen. Vor der Höhle setzte sie sich auf den Boden und atmete die klare Morgenluft tief ein. Dabei stieg ihr ihr eigener Geruch in die Nase. Sie roch wie ein nasser Hund.

Michael Timoschek

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Der Froschküsser

Ich, Igor Kushkurow, wurde heute von einem Tier angefallen.
Von meiner Mutter zu dieser Tätigkeit verdonnert, reinigte ich den Skimmer des riesigen Schwimmteiches meiner Familie. Meine Familie ist reich, also hat der Teich solche Dimensionen, dass mein Vater, Vladimir Kushkurow, ohne Weiteres einen Schwarzrussischen Adlerwal darin halten könnte und anzunehmenderweise auch würde, hätte er die Zeit, sich der Erziehung dieses Wesens zu widmen. Ein Adlerwal ist nämlich ein überaus störrisches Tier, das gut abgerichtet werden muss, damit es davon absieht, sich aus dem Wasser in die Lüfte zu erheben und unter der schwarzrussischen Bevölkerung grässlich zu marodieren.

Mein Vater Vladimir ist ein vielbeschäftigter Mann. Als oberster Kontrolleur der Ausfuhr von Schwarzrussischen Diamantrosinen hat er es zu beträchtlichem Wohlstand gebracht. Der Export von Diamantrosinen ist in meiner schönen Heimat dem Staat vorbehalten, wie auch der von Schwarzrussischen Eulenhamstern, welcher ebenfalls von meinem Vater überwacht wird. Eulenhamster sind nachtaktive Nagetiere mit vier Zahnreihen. Sie geraten schnell in Harnisch, was angesichts ihres Lebendgewichts von acht Kilogramm für Menschen letal ausgehen kann. Für ihre bevorzugten Beutetiere, Schwarzrussische Kuheulen, harmlose Flugkreaturen, die sich von Gras ernähren, das sie wiederkäuen, enden Begegnungen mit den Hamstern stets tödlich.

Da mein Vater die Ausfuhr dieser beiden überaus seltenen und aus diesem Grund höchst wertvollen Güter kontrolliert, darf es nicht verwundern, dass er steinreich ist. Meine Familie lebt in einem Palast, der in der Nähe des Zentrums der schwarzrussischen Hauptstadt gelegen ist. Das Haupthaus ist zwar dem französischen Schloss Versailles nachempfunden, doch ist es dreimal so groß. In dieser bescheidenen Behausung lebe ich mit meinen Eltern und meiner Großmutter. Meine Mutter ist, das darf ich so sagen, meine beste Freundin, und ihre Mutter meine zweitbeste. Als Einzelkind hatte ich das große Glück, die ungeteilte Aufmerksamkeit dieser beiden Frauen zu erhalten.

Als ich einmal schlecht in der Schule war, verbannte mich meine Mutter für ganze drei Wochen in mein Lernzimmer. Meine Noten besserten sich zwar nicht, doch fiel meiner Großmutter auf, dass ich jedes Mal, wenn ich das Zimmer verließ, dies lächelnd und mit gelöstem Gesichtsausdruck machte. Eines Tages durchsuchte sie das Zimmer und fand meinen Schatz. Sie übermalte in allen vierundneunzig Zeitschriften die deutlich sichtbaren und oft in Nahaufnahme abgelichteten Geschlechtsteile der Frauen mit schwarzer Tinte bester schwarzrussischer Provenienz und Permanenz, doch sah sie davon ab, die Teile der abgebildeten Männer ebenfalls zu übermalen.
Schlagartig besserten sich meine Noten, und ich wurde an der Staatlichen Schwarzrussischen Kunstakademie als Student zugelassen.

Erst studierte ich Film, denn ich hatte den Plan, ein großer Regisseur zu werden. Da ich mich schon immer für das Thema Paarung interessierte, reichte ich ein Filmprojekt für die Jahrespräsentation ein, welches die Paarung eines Schwarzrussischen Raupenebers mit einem Exemplar der Gattung Schwarzrussischer Seidenrammler allen Professoren und Studenten anschaulich machen sollte. Erst ging alles gut, doch als der Rammler den Spieß umdrehte und den Eber zu begatten begann, wobei er ebenso rüde wie stellungskreativ ans Werk ging, hielt ich auch diese Szene mit der Kamera fest. Ich hatte irrtümlich zwei männliche Exemplare zusammengebracht, doch maß ich diesem Umstand keine große Bedeutung bei. Mein Professor dafür umso mehr, denn als der zweite Teil meines Films im großen Filmsaal der Akademie über die Leinwand flimmerte, begann der Lehrer zu brüllen und warf mich aus seinem Studiengang.
Ein großzügiges Entschuldigungsschreiben meiner Mutter ließ den Rektor der Hochschule erkennen, dass meine wahre Berufung in der Malerei und Bildhauerei lag, und so wurde ich bildender Künstler.

Mit meinem neuen Professor überwarf ich mich bald, da er meine überragende künstlerische Begabung nicht erkennen konnte, und sie folglich auch nicht zu würdigen wusste.
Meine Mutter erlaubte mir daraufhin, in einem Nebentrakt unseres Zuhauses ein geräumiges Atelier einzurichten und stattete mich dankenswerterweise mit etwas Geld aus. Meine Großmutter wollte mich ebenfalls unterstützen und beauftragte mich, sie in Öl zu porträtieren. Tagelang beobachtete ich sie, dann hatte ich das perfekte Sujet für eine realistische Darstellung der alten Frau.

Der Zufall wollte es, dass ich mein Gemälde an dem Tag vollendete, an dem ein Ball im Wohnsaal meiner Familie stattfand. Alle wichtigen Menschen Schwarzrusslands waren anwesend, als mein Vater mich auf die Bühne holte und mich als großen Künstler vorstellte. Dann bat er meine Großmutter, das Bild, das außer mir niemand zu Gesicht bekommen hatte, zu enthüllen. Mir war zwar etwas mulmig zumute, doch da ich ein großer Künstler war, hielt ich dieses Gefühl für die Angst vor dem großen Erfolg. Meine Großmutter zog das schwarze Tuch vom Bild und fiel in Ohnmacht. Mein Vater wurde puterrot und bald übertönte sein Gebrüll das durch die Menge gehende Raunen. Meine Gemälde zeigte meine Großmutter im Badezimmer, und zwar mit allen Attributen einer nackten sechsundachtzigjährigen Frau vor dem Spiegel. Auf dem Rand ihres goldenen Waschbeckens lag ihr schneeweißes Gebiss, daneben stand eine soeben geleerte Flasche Schnaps. Ihr zahnloser Mund formulierte einige höchst unflätige Worte, welche ich mit dem schönen Stilmittel der Sprechblase anschaulich gemacht hatte.
Drei Wochen nach diesem künstlerischen Eklat, der es bis ins Staatliche Schwarzrussische Fernsehen geschafft hatte, sprach meine Mutter wieder mit mir und erklärte meine große Karriere als Maler für beendet. Sie wies mich an, Bildhauer zu werden.

Ich besorgte mir einen riesigen Block Marmor und machte mich an die Arbeit. Ich hämmerte, meißelte, schabte und am Ende polierte ich. Dann orderte ich einen Kran, der mein Kunstwerk aufrichten sollte. Meine Eltern waren mit meiner Großmutter auf Urlaub, und am Tag ihrer Rückkehr stand mein fünfzehn Meter hohes Meisterwerk auf dem Rasen vor unserem Palast. Die schwarze Limousine meines Vaters fuhr vor. Er sprang aus dem Fond, blickte auf mein Werk, rieb sich die Augen, blickte ein weiteres Mal auf die Skulptur, dann begann er zu brüllen. Dass ich nicht ganz dicht wäre, hätte er geahnt, aber nun hätte er den Beweis für meine völlige Verrücktheit und Infantilität. Dann lief er in den Palast.

Meine Mutter und meine Großmutter betrachteten mein Werk und konnten nicht verstehen, warum mein Vater so böse geworden war. Also schlenderten sie zu einem Hügel auf unserem schönen Anwesen, wo meine Großmutter in Ohnmacht fiel. Meine Mutter betrachtete mein Werk erst verständnislos, doch bald erkannte sie, was sich da vor ihrer bescheidenen Bleibe entphallte. Sie lief zu mir und machte mir schwere Vorhaltungen. Ich hätte meine Familie in der ganzen Stadt unmöglich gemacht, schrie sie. In diesem Augenblick fuhr die Karosse des Vizeministers für die moralische Ordnung in Schwarzrussland vor, und der hohe Politiker bezeichnete mich als schlimmen Finger. Ich protestierte lautstark, pochte auf die Freiheit der Kunst, doch es half nichts. Mein mächtiger Phallus wurde von einem rasch angeforderten Kran zum Liegen gebracht, noch bevor ich eine Wasserleitung zu meinem Kunstwerk hatte legen können. Ich hatte nämlich vorgehabt, Wasser in meinem Meisterwerk hochzupumpen, sodass eine Fontäne aus dessen Spitze geschossen wäre.

Nach diesem Vorfall wurde ich von meiner Mutter zum Hausmeister ohne künstlerischen Aufgabenbereich ernannt.
Ich bin für die Instandhaltung unseres Palastes zuständig. Ich sauge, schraube, kehre, bohre, poliere und wische feucht auf. Darüber hinaus darf ich mich um den imposanten Fuhrpark meines Vaters kümmern. Außerdem obliegt mir die ehrenhafte Aufgabe, den Skimmer des Schwimmteiches zu reinigen, und das dreimal täglich.
Heute befand sich nicht bloß Schlamm im Sieb, sondern eine Kreatur von einiger Hässlichkeit und Gefährlichkeit, nämlich ein Schwarzrussischer Kleinkarierter Habichtsfrosch. Sofort war ich mir der Gefahr bewusst, in der ich schwebte. Habichtsfrösche haben überaus scharfe Schnäbel, und ihre Zehen sind mit Krallen bewehrt, die einem Menschen schwere Verletzungen zufügen können.
Ich lief in die am Teich gelegene Badevilla meiner Mutter und holte ein Paar Handschuhe aus dem Leder einer Schwarzrussischen Steppenbergziege, welches sich durch ein hohes Maß an Robustheit auszeichnet.

So ausgerüstet, hob ich das Sieb aus der Halterung und fing den drei Kilogramm schweren adulten Habichtsfrosch ein. Da die Kreatur helle Federn auf ihren Antriebsflügeln hatte, wusste ich, dass es sich um ein weibliches Exemplar handelte. Es sah mich aus großen Augen an, dann begann es abwechselnd zu quaken und zu kreischen. Ich war unschlüssig, wie ich mich verhalten sollte, also hielt ich den Frosch so, dass er mich nicht verletzen konnte, und küsste ihn in der Hoffnung, dass er sich in eine schöne Frau verwandeln würde.

Plötzlich ertönte hinter mir ohrenbetäubendes Gebrüll. Ich wandte mich um und sah meinen Vater, der den Kuss offensichtlich beobachtet hatte. Mein Erzeuger stattete mich mit dem Wissen aus, dass es sich bei mir um einen gleichermaßen postpubertären wie präsenilen Tagedieb handelte, der der völligen Übergeschnapptheit anheimgefallen wäre.
Der Frosch, der die Tirade mithören hatte müssen, blickte mich mitleidig an. Ich küsste ihn ein zweites Mal und ließ ihn sanft ins Wasser zurückgleiten. Mein Vater offerierte gerade, mir schon noch Manieren beizubringen, da begann das Wasser des Teiches zu brodeln, und eine wunderschöne nackte Frau entstieg dem Nass. Sie kam auf mich zu, küsste mich und führte mich an der Hand in mein Schlafgemach, wo sie sich auf eine Art und Weise gerierte, dass ich fürchte, meine Großmutter würde auf der Stelle das Zeitliche segnen, erführe sie von diesen Unmanierlichkeiten.

Seit heute bin ich also in einer Beziehung. Meine Freundin ist, das darf ich kundtun, ein sehr ehrlicher und direkter Mensch. Wenn sie mir etwas mitteilen möchte, dann quakt sie, und wenn ihr etwas missfällt, kreischt sie.

Michael Timoschek

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