Schlagwort-Archiv: hin & weg

Ich gehe los

Was ich gestern dachte, denke ich heute nicht mehr.
Und was ich heute tue, möchte ich morgen nicht mehr tun.
„Das geht nicht!“, sage ich mir.
Wieso, wer behauptet das?, überlege ich.

Also lege ich meine Arbeitsgeräte nieder,
verabschiede mich von meiner Familie,
schließe die Haustür
und gehe los.

Ankunft, Abfahrt

Ankunft, Abfahrt

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 20027

Lost in Space

Was geht nicht alles verloren. Meine Mutter hat den Verlust der Kamelhaardecke unendlich bedauert, die ihr ihr Bruder aus Holland mitgebracht hat, wo er während des Krieges stationiert gewesen war. Die Kamelhaardecke hat ein besonders tragisches Ende genommen: Mein Bruder hat beim rigorosen Ausmisten der alten Sachen die Decke arglos miteingepackt und zur Sandgrube gebracht, wo sie mit all dem anderen Müll verbrannt und anschließend mit Erde überdeckt worden ist.

Eine Reihe von Fotos, mini-kleine Negativabzüge mit wellig geschnittenem Rand, habe ich als Kind heimlich aus der Zigarrenschachtel genommen und in meine Hosentasche gesteckt. Ich wollte sie mit meiner Tante gemeinsam anschauen und somit einen Grund für den Besuch haben. Ich bin mit dem Fahrrad gefahren, auf dem Sattel hin- und hergerutscht. Die Fotos waren in der Gesäßtasche meiner Jeans. Ich habe wohl auch etwas geschwitzt. Bei der Tante kam es nicht zum Anschauen der Fotos und ich habe vergessen, dass ich sie noch in der Tasche habe. Erst als die Hose in der Wäsche war, wurde meine Freveltat entdeckt. Unwiederbringliche Fotos von längst verstorbenen Vorfahren waren zerstört. Ich spürte den Schmerz und die Trauer meiner Mutter auf mich übertragen, fühlte mich voller Scham. Der Verlust war nicht wiedergutzumachen.
So ist es, wenn der Verlust entdeckt wird. Dann gibt es auch den unentdeckten Verlust, der einen zwar auch schmerzt, der andere aber vermutlich noch viel mehr schmerzen würde, und so hofft man, er möge verborgen bleiben und nach Möglichkeit nicht mit einem in Verbindung gebracht werden. Ja, das sind so Geheimnisse, die man mit sich herumträgt.

Im vergangenen September habe ich mir eine wunderschöne Jeansjacke gekauft, die zu meinem afrikanischen Kleid optimal passen hätte sollen. Ich schreibe im Irrealis, weil es nie dazu gekommen ist, dass ich die Jacke über dem Kleid tragen konnte. Ich zog die Jeansjacke am Tag nach dem Kauf in die Schule an, ging anschließend in die Gärtnerei, um Blumenerde zu besorgen, besuchte auf dem Heimweg noch meine Freundin Melanie, saß eine halbe Stunde auf ihrem Sofa, ohne die Jacke auszuziehen, ging nach Hause, und seither vermisse ich sie. Ich habe alle Orte noch einmal besucht, habe in der Schule beim Hausmeister und den Putzfrauen nachgefragt, habe zu Hause hinter dem Sofa, im Auto unter den Sitzen, in der Garage unter den leeren Bierkästen gesucht. Nirgendwo ist die Jacke aufgetaucht. Ein Mysterium! – Natürlich beobachte ich seither Menschen argwöhnisch, die eine Jeansjacke tragen. Leider erfolglos. Meine ist verschwunden. Lost in Space, wo sonst.

Oma hat eines ihrer beiden Hörgeräte verloren. Unauffindbar. Nicht in der Schürzltasche und auch nicht auf dem Sofa zwischen den Polstern, nicht im Kopftuch eingewickelt und auch nicht im Handtascherl neben dem Gebetbuch, nicht im Rosenkranzschachterl und nicht im Portemonnaie. Verloren für immer! – Das zweite Hörgerät war nach einigen Wochen auch plötzlich verschwunden. Das regte aber jetzt schon niemanden mehr besonders auf. Man gewöhnt sich an Verluste. Umso größer war die Überraschung, als das kleine Wunderwerk der Technik völlig unerwartet im Lockenwickler-Beutel, gut verpackt im Haarnadelschachterl, wieder zum Vorschein kam. Bloß inzwischen hatte sich die Oma schon daran gewöhnt, ohne Hörgerät auszukommen. Es hätte also ruhig verloren bleiben können.

Tina hat nach dem Konzertausflug nach München das Handy verloren. – Nun ist ja ein Handy was anderes als eine Jeansjacke oder ein Hörgerät. Ohne Handy ist man aufgeschmissen. Einen einzigen Tag zu überbrücken, verlangt ein unvorstellbar großes Maß an Selbstüberwindung. Eine Demutsübung. So ein Handy ist praktisch ein Teil der eigenen Festplatte, des Gehirns, der Seele. Der angeborene Speicherplatz reicht ja längst nicht mehr aus. Sim-Karte, Guthaben, Vertrag sind das Eine, persönliche Daten, Telefonnummern, E-Mails, WhatsApp-Nachrichten, gespeicherte Musikvorlieben, eventuell ureigenste Kompositionen, Fotos, Videos sind das Andere. Beim Handy ist es quasi so, als hätte man sich selber verloren. Wahrscheinlich kann man nur einen winzig kleinen Bruchteil davon wieder rekonstruieren. – Bitter, zum Weinen! Ich finde keine Worte.

Tina hat gesucht: vor der Bäckerei, wo sie zum Brezen-Kaufen ausgestiegen ist. – Fehlanzeige! Im fremden Auto, in dem sie mitgefahren ist, mehrmals und besonders gründlich. – Fehlanzeige! Im Tascherl, in der Hosentasche, im Winterstiefel, zwischen den Notizbücherln, unter dem Kopfkissen, im Schminktascherl, im Hut. Überall Fehlanzeige! Keine Chance! Lost in Space! Definitiv.
Das heißt jetzt praktisch, ein neuer Lebensabschnitt muss wohl oder übel beginnen. Gewissermaßen eine Fügung von oben, aus dem Space.
Tina packt es erstaunlich gelassen an. Gar nicht schlecht ohne Handy, auch ohne Uhrzeit. Ein neuartiges Gefühl von Freiheit. Ein unbeschriebenes Blatt. Ein paar Tage ohne Handy, unerreichbar für missliebige Zeitgenossen. Tina kann selber entscheiden, wen sie kontaktieren kann und will. Mich ruft sie auf dem Festnetz an. Eine schon fast vergessene Gewohnheit aus dem letzten Jahrtausend. Vor allem beklagt Tina die auf dem Handy gespeicherte Musik. Sie kann ihre Musik nicht mehr hören. Bitter. Aber das Leben geht weiter.

Was verlieren wir nicht alles im Lauf unseres Lebens. Mit der Datenmenge, die auf einem Handy, einem Laptop, einem Stick Platz hat, ist die Kamelhaardecke vom Anfang der Geschichte natürlich in keinster Weise vergleichbar, aber auch diese Datenmenge ist verschmerzbar. Irgendwo wird sie ja auch noch da sein, irgendwo im Space, wenn wir auch keinen Zugriff mehr darauf haben.

Oma verliert die Erinnerung. Menschen, Orte, Räume, Sicherheiten werden undeutlich, vage und verschwinden. Nur die Hitler-Verserl aus der Lesefibel von 1934 und das „Lied an die Glocke“ bleiben noch eine Weile.

Ich habe nicht nur die Eltern, sondern auch mein Elternhaus verloren. Manche Beziehung zu einem einst nahestehenden Menschen hat sich aufgelöst. Nur diffuse Spinnweben bleiben.

Aber andere verlieren ihren Namen und ihre Identität, wie wir aus Krimis wissen.

Khushal hat seine Heimat verloren, wer weiß für wie lange.

Tina hat die Meerschweinchen, die ihr ans Herz gewachsen waren, schon vor langer Zeit verloren. Schuld war die Mordlust des Fuchses.
Auch die Oma hat sie verloren.

Jakob hat den Anschluss im Studium verloren und die Freundin.

Jonas hat das Rennrad verloren, die Rain und sein bescheidenes Platzerl in der Weltmetropole Berlin. – Neuerdings hat er sein Herz verloren in Arresting.

Josef hat schon mehrere Handys verloren, aber Gott sei Dank nicht den Arbeitsplatz und auch nicht Mona. Die Zigarettensucht verliert er hoffentlich noch ganz.

Sebastian hat eigentlich noch gar nichts verloren, außer seine Unschuld. – Ja, so geht’s den Menschen, die mit einer Glückshaut und an einem Sonntag geboren sind.

Sepp hat auch noch nichts Nennenswertes verloren, nur den orangefarbenen Capri, der nach Sommer und Süden und mehr roch, und den imposanten Schlüsselanhänger aus Fuchsfell, der einst elegant aus der Hosentasche baumelte. Alles andere war nur um Haaresbreite verloren. Nicht einmal die Sterndldecke aus Polyäthylen ist verloren gegangen in den Wirren der Zeit. Dabei wäre ihr Verlust in meinen Augen leichter zu ertragen gewesen, als der der kostbaren Kamelhaardecke. Aber daran sehen wir, dass wir unser Herz manchmal ungerechtfertigt an Dinge heften. Wir müssen manches verlieren, um es im Herzen bewahren zu können. Und im Space wartet ja ohnehin alles auf uns. Das wird eine Wiedersehensfreude geben.

So verlieren wir unablässig etwas und leben trotzdem weiter. Und selbst wenn wir das Leben verlieren, wird es irgendwo weitergehen, dort, wo all die verlorenen Sachen auch aufgehoben sein müssen. – Das Haus verliert bekanntermaßen nichts und das Weltall schon gar nicht. Lost in Space, verloren im Nirgendwo, verloren in der Unendlichkeit des Universums braucht also keinem von uns Angst machen.

So können wir uns geborgen fühlen im Bündel des Lebens. Lost in Space ist ein anderes Wort  für die Ewigkeit. Bestimmt ist dort meine Jeansjacke aufgehoben und Tinas Handy und alles andere auch, an das wir schon gar keine Erinnerung mehr haben. Und ich glaube, dieser ferne Ort geht keinem von uns verloren.

Vor zwei Wochen habe ich mir einen Teppich gekauft, von dem greisen Herrn Reza Gohari, der vor mehr als siebzig Jahren seine Heimat Teheran verloren hat, mitsamt dem Schah Reza Pahlevi und dem Persien seiner großen Familiendynastie. Seither lebt er mit all seinen geretteten Kostbarkeiten in München, in einem Ein-Zimmer-Appartement. Es ist kein fliegender Teppich, aber vielleicht bekommt er diese verlorene Fähigkeit zurück. Ich glaube daran. In Isfahan ist er vor mehr als siebzig Jahren kunstfertig geknüpft worden. Geschickte Frauenhände haben ein Tor zum Paradies aus Seiden- und Wollfäden geknotet, das mit Blumen geschmückt und von lebensfrohen Vögelchen umrahmt ist. Das Paradies lädt dich und mich und uns alle ein, mit den Augen durchzuschreiten und dorthin zu gelangen, wo all unser Verloren-Geglaubtes sicher verwahrt ist. Alles Böse wird von den kampflustigen Hähnen, die über dem Torbogen Wache halten, sofort verschlungen. So gelangt nur das Geläuterte, Reine, Schöne und Gute hinein. In den Space, wie Tina sagt, ins Paradies, oder wie auch immer wir diese himmlischen Sphären nennen. Aber lost ist dort nichts, gar nichts, nicht einmal die Stricknadeln der Oma und auch nicht ihr Kramerladen. Im Space ist Platz für alles.

Weihnachten 2019

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 20012

 

Hulla-Bulla

Helen:  Hast du schon einen Osterurlaub gebucht, Darling?

Rachel: Nicht so richtig.

Helen:  Also nicht. Na ja, ich fliege am Ostersonntag First Class nach Hulla-Bulla auf Mimonesien.

Rachel: Wicked! Na, dann wünsche ich schon viel Spaß dabei. Nimmst du viel mit?

Helen:  Nö, dreißig Bikinis müssen reichen, zwanzig Sommerkleider, zehn Stolen, acht Hüte, fünfzehn Sonnenbrillen, bei den Schuhen weiß ich noch nicht so recht.

Rachel: Du wirst für Übergepäck zahlen müssen.

Helen:  Was soll’s? Das gehört dazu.

Rachel: Gut, gut, dein Wort in Heras Ohr.

Helen:  Weißt du was? Hulla-Bulla gibt’s gar nicht, Mimonesien auch nicht. Ich bleibe über Ostern zuhause.

Rachel: Hu – hu – hu – hu.

Helen:  Hi – hi – hi – hi.

Rotes Paddelboot und grünes Autotretboot

Rotes Paddelboot und grünes Autotretboot

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 20009

Die Frau vom Fluss

Sie wollte nur kurz vorbeikommen.
Aber zu viele Schilder.
Sie hatte sich verirrt.
Es blieb ihr nichts übrig,
sie musste bleiben.

Ihren Fluss im Zweimorgenland
würde sie nicht wiedersehen.
Unsicher war sie zwischen den Menschen,
die anders waren als sie.

Sie war traurig und wurde bitter.
Dem, der sie liebgewonnen hatte,
sagte sie Worte, die ihn
schnitten wie Farn.

Das gelbe Vorsicht!-Schild schwebt über dem Stiegenhaus mit dem roten Geländer

Das gelbe Vorsicht!-Schild schwebt über dem Stiegenhaus mit dem roten Geländer

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 19136

Der Raumfahrer

Im Licht aus Erinnerungen der Strahl der Zeit.
Heute ist gestern und gestern ist morgen.
Ins All geschossen und sich dort verloren.
Zu weit entfernt ist erdiger Boden.

Vielleicht gibt es ja einen Planeten,
auf dem er landen kann irgendwann.
Atmen fremde Luft über Gewächsen spiegelndrot.
Als Einziger seiner Art.

Als Mensch außerhalb der Erden Sicht.
Gegangen und nie mehr wiedergekommen.
Nun ihn wärmend eine unbekannte Sonne.
Ihre Strahlen lösen seine gefrorene Haut.

Faschingsgeschmückte weiße gelochte Kassettendecke

Faschingsgeschmückte weiße gelochte Kassettendecke

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 19098

 

 

(Foto: Faschingsgeschmückte weiße gelochte Kassettendecke.jpg von Johannes Tosin)

Drei Freunde

Nach einer Idee von meinem Sohn Michael

Gum, der in Wirklichkeit David heißt, wurde munter. Sein Spitzname Gum kommt vom Warenhaus Gum in Moskau. Der damalige Freund seiner älteren Schwester nannte ihn einmal so, nachdem David auf dem Hemd das Preisschildchen vergessen hatte. „Hallo Gum!“ „Wie?“ „Sieh mal“, wie hieß er doch nur? Er zeigte David das Preisschildchen. Aber jetzt zurück in die Gegenwart. Gum wusste anfangs nur, dass heute frei war. Sonntag würde Kirche bedeuten. Nun, gestern war noch Schule. Heute war Samstag.

Ein gemeinsames Frühstück gab es vielleicht eine Generation zuvor. Gums Mutter bereitete ihm einen Kakao zu und schmierte ihm ein Honig-, ein Marmelade- und ein Nutellabrot.
Er müsste Mathematik lernen, am Dienstag würde Schularbeit sein. „Musst du nicht Mathematik lernen, Davidchen?“, frage ihn seine Mutter. „Ja, muss ich“, sagte Gum, „später.“

Gegen elf tauchten Eric und Fred mit ihren Skateboards auf. Gum schnappte sich seines, und sie fuhren mit gelegentlichem Absteigen auf ihren Boards zum Skatepark, den heute wieder einmal die Kleinen mit ihren Rollern in Beschlag genommen hatten. Auch war nur ein einziges Teenagermädchen hier, Paula, aber die war schon vergeben.

Die Kleinen mit ihren Rollern im Skatepark

Die Kleinen mit ihren Rollern im Skatepark

Also fuhren die drei ohne besondere Tricks nur ein bisschen in der Halfpipe hin und her. Eigentlich kam das Gum sogar zugute, denn mit Tricks hatte er es nicht so wirklich.

Später fragte Fred: „Sollten wir nicht etwas Mathe machen?“ „Habt ihr eure Sachen mit?“, fragte Gum. „Klar“, sagte Eric. Wieder zuhause bei Gum beschäftigten sie sich eineinhalb Stunden mit dem Metier. „Das reicht für eine Vier“, stellte Eric danach fest. „Würde ich auch sagen“, meinte Gum. „Vielleicht geht sich sogar mehr aus“, befand Eric. „Gut, hören wir auf, ja?“, fragte Gum. „Ja“ und „bestimmt“ sagten Eric und Fred.

Eric und Fred ließen ihre Boards bei Gum, und sie fuhren mit dem Bus in die Stadt. Ein paar Burger, Pommes und Cola bei McDonald‘s und hinterher Eis beim Italiener. Ein bisschen Sommer, heute am 3. Mai.

Am Abend dann sahen sie sich „The Assassin“ im Cineplexx-Kino an, einen historischen Actionfilm aus Taiwan. Sie teilten sich eine gewaltig große Portion Popcorn. Da bemerkte Gum, als er seine linke Hand zum Popcorn-Sackerl auf Freds Schoß ausstreckte, dass sie groß war und knochig und von Papierhaut umspannt.

„Er fügt sich gut in unsere Gemeinschaft ein“, erklärt der Leiter des Pflegeheims Gums Tochter Natalija und dem Schwiegersohn Anton, „aber wir wissen sehr oft nicht, wo er denkt, sich zu befinden.“

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 19079

abwesenheitsnotiz : auf urlaub

ich habe keine gegenwart, nur verlorene gefühle, auf einem balkon ohne haus, moos oder sand unter den füßen (meine unfähigkeit, zwischen beidem zu unterscheiden), ein leben in abwesenheitsnotizen, im nachtkästchen, gespräche nur in den entwürfen, im mailaccount, wir blättern nicht mehr zurück, wir scrollen nach unten, mir fehlt das rascheln der seiten oder seine notizen auf meinen rändern oder die scheinbare leere in unseren atemzügen dazwischen, manchmal.

ich trete vom balkon, zurück in einen anderen raum, in eine andere vergespensterung, alles ist verfärbt, die vorhänge sind altrosa, der bettüberwurf minzgrün, wir fotografieren das zimmer, wir fotografieren uns, verlaufen im spiegel, bevor wir die kofferinhalte, bevor wir uns über den raum verstreuen, ich google den schnellsten weg zum meer oder ich lese ihr vor, von touriseiten, was wir uns alles ansehen könnten, die castello di duino, den rilkeweg, triest, point portopiccolo, wir reden und lachen und reden und ich schiebe die ungeschriebenen gedichte im kopf zur seite, schiebe es zur seite, ich verschmerze das heute nicht.

wir spielen strandurlaub im märz, wir spielen außerhalb der saison, vor geschlossenen lokalen und ohne gäste, zwischen zwei steinen treibt eine qualle an der wasseroberfläche. „glaubst du, dass die tot ist?“, fragt sie mich, dann schaut sie auf ihr handy. ihre locken, meine zigaretten, unsere strandkleider, nur ich ziehe mich aus, obwohl das meer zu kalt ist, mein bikini passt nicht mehr, der busen quillt über, jeder schritt ins wasser ist ein abrutschen, an den steinen, an mir selbst, ich bin froh, dass nur sie mich beobachtet, kein anderer blick ruht auf mir, auf meinem unförmigen körper, auf meinem fehlenden gleichgewicht, der abweisende untergrund, kein halt zu finden, sie fotografiert mich, als nur mehr mein kopf aus dem wasser schaut, ein beweisfoto gegen die ungezählten porträtfotos, die ich später von ihr festhalten werde, am steg, in perfekter pose, wir reden und lachen und reden, an meinen beinen klebt sand, zwischen unseren wörtern verkleben sich die abwesenheiten, die menschen, die uns fehlen, sie sind ohne absicht verblieben, sie wollten ja nicht, dass wir eigenständig weiterfühlen: es war nur ihr versehen, unser gefühl.

„mir tut das herz so weh“, sagt sie und ihr glaube ich das. „manchmal hilft es schon, nicht mit der eigenen geschichte alleine zu sein“, antworte ich, weil ich nach etwas suche, das groß genug sein könnte. ich warte auf ein enden, sie meint: „ich hab einen stein auf die qualle geworfen. sie ist wirklich tot.“

Julia Knaß

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 19070

Hey, Mercedes!

Sie steht müde in der neuen Designerküche und schaltet die Nespresso-Maschine ein. Vor dem Küchenfenster wirbeln dicke Schneeflocken im Halbdunkel, die Fensterläden klappern gedämpft und halten dem starken Wind stand. Leise surrt Kaffee in die kleine Espressotasse, der würzige Duft steigt ihr in die Nase, sie muss an George Clooney denken. Während sie ihren ersten Schluck zu sich nimmt und ihren Gedanken nachhängt, poltert ihr pubertierender Sohn in die Küche. Die Kopfhörer im Ohr, den Blick aufs Smartphone gerichtet, tastet er nach der Kühlschranktür.

„Guten Morgen, Jonas.“ Ohne eine Antwort nimmt er Orangensaft aus dem Kühlschrank, trinkt in einem Satz die halbe Flasche leer und stellt sie auf die Anrichte. Sie kippt um und ein dünnes Rinnsal tropft auf die Steinplatte und anschließend über die weiße Hochglanzfront. „Really, George?“, denkt sie und schmunzelt.

„Alexa, setze Orangensaft auf die Einkaufsliste“, murmelt Jonas und verlässt die Küche.
Beate wischt sauber und entsorgt die PVC-Flasche. Sie atmet tief durch und sieht sich das Schneetreiben an.

„Wie soll ich heute bloß zu meinem Meeting kommen?“, stöhnt sie.
„Nimm meinen Wagen, ist ein Allrad“, ihr Mann betritt den Raum. In der einen Hand hält er ein Tablet, in der anderen eine Mappe.

„Der ist nagelneu, ich bin mit dem noch nie gefahren!“
Ralf lacht laut auf und schüttelt den Kopf.
„Du brauchst nur drinsitzen, das Auto macht alles selber. Ich habe heute eine Telefonkonferenz von zu Hause aus, brauche den Wagen also nicht.“

Beate wählt einen dunkelblauen Hosenanzug und ein buntes Seidentuch, sieht sich in ihrem großen Ankleidezimmer um und überlegt, welche Schuhe sie anziehen soll bei diesem Mistwetter. „Egal, ich werde in einer Tiefgarage parken, da kann ich dann auch die Highheels anziehen, ich werde ja nicht im Schnee rumlaufen müssen.“

„Alexa, schalte die Alarmanlage aus.“ Ihr Sohn schlurft am Schrankraum vorbei, öffnet die Haustür und weg ist er Richtung Bushaltestelle.
An der Küchentheke sitzt ihr Mann am Barhocker, trinkt Espresso und sieht ins Tablet. „Pling …“, das Signal für eine eingehende Mail ertönt.
„Alexa, öffne das Garagentor.“
„Alexa, sag Mercedes starte die Standheizung.“ Ralf dirigiert Alexa, während er weiter in seinem Tablet liest.
Ein lauter Signalton surrt aus Beates iPhone. Anschließend ein „Pling“ und gleich hinterher ein „Sssrrrrrum“.
„Eine WhatsApp Nachricht, ein neuer Facebookbeitrag und eine Mail“, denkt sie, steckt das Telefon in ihre Gucci-Tasche und verlässt die Küche.
„Bis heute Abend dann. Ich nehme uns etwas vom Koreaner mit, okay?“
„Ja, ist gut.“

Beate fühlt schon angenehme Wärme im Auto. Sie legt ihr Smartphone auf den Beifahrersitz und sucht am Cockpit des Wagens nach dem Schalter „Navi“. Das hochauflösende Display kann via Touch bedient werden, das findet sie schon mal prima, damit kann sie umgehen.
Schnell sucht sie in ihrem Handy unter den Mails nach der Adresse, die ihr die Kundin mitgeteilt hat, und tippt sie in die Navigationsleiste.
Der Motor startet sanft schnurrend, und sie biegt in die Straße ein.
„Pling“, „Sssrrrrrum“ am Beifahrersitz.
„Hey, was für ein Sauwetter!“ Beate lehnt sich weiter vor in der Hoffnung, so besser durch das Schneetreiben blicken zu können.
„Wie bitte?“, ertönt es von irgendwoher im Auto.
„Was zum Geier … wer redet hier?“ Beate versucht, sich zu konzentrieren.
„Wie bitte?“  —— „Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.
„Diese Reiseroute enthält Verkehrsbehinderungen. Bitte wählen Sie eine andere Strecke.“ Das muss die Dame aus dem Navi sein, denkt sie, denn die Navigationsroute am Display blinkt auf.

In einer Kurve kommt das Auto leicht ins Schleudern, fängt sich aber sofort wieder.
„Hey, Mercedes, gut gemacht.“ Beate lächelt.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, wieder diese freundliche, andere Frauenstimme aus dem Irgendwo.
Plötzlich erkennt Beate blinkende Rücklichter vor sich, sie drückt etwas umständlich aufs Bremspedal und spürt ein Rattern unter ihrem Stöckelschuh, kurz darauf verstärkt das Auto die Bremse selbständig.
„Mist, Stau!“ Beate schlägt auf das Lenkrad. Ihr Handy läutet.
„Beate Lauterbach“, nimmt sie den Anruf entgegen.
„Guten Tag, Frau Lauterbach. Ohlsberg spricht. Ich habe Ihnen heute schon einige Mails geschickt, haben Sie diese erhalten? Ich brauche dringend ein Angebot von Ihnen …“, die ihr bekannte quietschende Frauenstimme am anderen Ende schmerzt in ihrem Ohr. „Frau Ohlsberg, ich muss mich später darum kümmern. Ich bin unterwegs in ein Meeting und stecke im Stau fest.“
„Aber es ist wirklich dringend …!“

Beate beendet das Gespräch, denn im Rückspiegel sieht sie das gelbe Warnlicht der Straßenräumungsgesellschaft und sie weiß nicht, wie diese weiter durchkommen soll.
„Verdammt!“
„Wie bitte?“ ——— „Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.
Beate fährt ein paar Meter nach vorn zu einer Bushaltestelle, lässt den Räumungsdienst vorbei und wendet den Wagen.
„Die Route enthält Verkehrsbehinderungen …“, wieder diese vorwurfsvolle Stimme des Navis.
Beate will es über die Autobahn versuchen, das ist zwar ein Umweg, aber die ist sicher besser geräumt.
„Bitte wenden Sie jetzt.“
„Halt einfach die Klappe!“ Beate spürt ein krampfendes Gefühl in der Magengegend, und es wird ihr abwechselnd kalt und heiß.
„Wie bitte?“ ———
„Du sollst auch die Klappe halten. Seid BEIDE einfach ruhig!“, schreit Beate jetzt.
„Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.

Die Scheibenwischer arbeiten auf Höchststufe, das Schneetreiben nimmt zu. Beate fährt vorsichtig weiter und sucht auf den Verkehrsschildern nach dem Wegweiser zur Autobahn, doch es sind alle Schilder durch die Schneeverwehungen unlesbar.
„In 500 m rechts halten und auf die A3 auffahren!“
„Na endlich!“, denkt Beate.
Sie beugt sich wieder nach vorne, setzt den Blinker …
„Oh nein!“ Beate springt auf die Bremse. Zwei LKW stehen quer über die Auffahrtsstraße.
„Jaaaa, klar! So ohne Schneeketten wird‘s nicht klappen, ihr Idioten!“
„Wie bitte?“ ———
„Mercedes, du nervst!“
„Wie kann ich behilflich sein?“ Freundlich und ruhig, wie immer.
Beate möchte wieder wenden, sie muss den Gegenverkehr abwarten.
„Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.

Beate überlegt lange Zeit, sie weiß nur mehr eine weitere Strecke, die sie aber über schmale Nebenstraßen führen wird. Ob die geräumt sind?
Sie nimmt ihr Handy und wählt Ralfs Nummer, er soll ihr weiterhelfen. Besetzt! Natürlich, war zu erwarten!
Sie tritt aufs Gaspedal und der Wagen kommt leicht ins Schleudern, ein Warnlicht auf der Tachoanzeige.
„Vielleicht soll ich einfach wieder heimfahren und das Meeting abblasen?“, denkt sie. Doch sie kommt halbwegs gut vorwärts und es ist nur wenig Verkehr auf diesen Straßen.
„Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.
Kurz darauf ein Anruf, leider nicht Ralf. Sie geht nicht ran.
„Bitte wenden Sie nach Möglichkeit jetzt!“
„Hey, ich wende nicht! Blöde Kuh!“ Beates Fingerknöchel leuchten weiß am Lenkrad, sie hält es fest und verkrampft in beiden Händen.
„Wie bitte?“, fragt die Autodame höflich.
„Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.

Beate bremst abrupt, sie sucht verzweifelt nach dem Schalter für das Seitenfenster, drückt ihn fest, der rote Gelnagel löst sich von ihrem Fingernagel, wütend nimmt sie das iPhone vom Beifahrersitz und wirft es aus dem Fenster in den Schnee.
„Aaaaaaaaaaaaaaaaah, ich werde verrückt hier!“
„Wie bitte?“
Sie holt tief Luft, vereinzelt verirren sich die Schneeflocken auf ihrer Kostümjacke, blitzen kurz auf und schmelzen dahin.
Beate schließt das Fenster, drückt den „Off-Schalter“ der Mittelkonsole, das Display verdunkelt sich. Sie legt den Gang ein und fährt langsam weiter. Ziellos, planlos, sie fährt einfach. Es ist nun ganz still im Auto. Nur das leise Summen des Scheibenwischers ist hörbar und das Knarzen der Autoreifen auf der Schneefahrbahn.

Beate spürt Tränen über ihr Gesicht laufen. Sie wischt sie mit dem Handrücken weg.
Nach einigen Kilometern langsamer Fahrt lässt der Schneefall nach. In der Ferne erkennt sie eine kleine Ortschaft.
„Nein, das ist nicht möglich, oder?“, fragt sie leise ins nun stumme Auto. „Das muss Kneidelsdorf sein … es ist Jahre her, Jahre …!“
Wieder ein paar Tränen, die sie schnell wegwischt. Der schneebedeckte Zwiebelturm der Kirche glitzert, Beate fährt durch schmale Straßen, vereinzelt sieht sie ältere Frauen mit Kopftuch die Gehwege freischaufeln.

Der Mercedes surrt an ihnen vorbei. Sie weiß genau, welche Abbiegung sie nehmen muss, kurz nach der Ortstafel. Wie lange hatte sie ihn nicht mehr besucht?
Sie lenkt den Mercedes in einen Innenhof, die Dachschindeln der Stallgebäude sehen schäbig aus. Das Mauerwerk des Wohnhauses ist renovierungsbedürftig, die Fensterrahmen und die Holztür wirken blass. Beate steigt der Duft von Heu und Mist in die Nase.
„Also noch immer Tiere hier?“

In Gedanken sieht sie sich als kleines Mädchen jungen Katzen hinterherlaufen, barfuß durch hohe Wiesen, Bilder von Schafherden auf Weideflächen, von einem alten Schäferhund bewacht, erscheinen. Sie erinnert sich an viele Sommertage hier auf dem Hof, spürt den Geschmack von Butterbrot mit Schnittlauch auf ihrem Gaumen, schmeckt warme, frisch gemolkene Kuhmilch, die sie damals mit einer großen Suppenkelle aus der Kanne schöpfte.
Aus einer klapperigen Stalltür kommt ein alter Mann, er schlurft in Gummistiefeln stark gebückt Richtung Wohnhaus. In seinem Mundwinkel hängt eine Pfeife. Erst jetzt bemerkt er das Auto im Innenhof stehen.

Er lächelt, nimmt die Pfeife aus dem Mund und die Mütze vom Kopf.
Beate öffnet die Tür, versinkt mit ihren Highheels im Schneematsch, bleibt stecken. Sie entledigt sich der Schuhe und läuft in Seidenstrümpfen über den Hof.
„Schicker Wagen!“, ruft er ihr mit heiserer Stimme entgegen.
Beate fällt ihm um den Hals, sie riecht Tabak und Heu.
„Hey, Mädel, was führt dich hierher in die Einöde?“ Er drückt sie fest an sich.
„Ich will mein altes Leben wieder zurück, Opi!“

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

Erstveröffentlichung beim Online-Schreiblust-Verlag

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 19063