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Reise nach Asbest

Wo der Teufel nicht selbst hinwill, schickt er einen Pfaffen oder ein altes Weib.
Russische Volksweisheit

Es war einer dieser unvergleichlichen Vorfrühlingstage, die nur in Russland so wunderbar sein können, weil Mensch und Natur sich nach acht Monaten des Eises und der Finsternis in das Ende des Winters hineinsehnen.

Eine schwarze Regierungslimousine, ein dem Opel Kapitän nachgebauter Wolga, holte mich am Morgen von meinem Hotel in Jekaterinburg ab. Ich war in der Funktion der österreichischen Kulturrätin an der Botschaft in Moskau Gast der Stadt- und Regionsregierung. Offenbar damit eines Wolga mit Chauffeur würdig. Eigentlich wäre ich viel lieber mit den jungen Musikern aus Vorarlberg im Bus mitgereist. Das gestattete man mir nicht, man empfand das einer Vertreterin der Republik nicht angemessen. Wenn man die Busse in Russland kennt, ist das auch irgendwie zu verstehen. Diese russische imperiale Mentalität – nur nicht zu viel Volksnähe für die Repräsentanten der Staatsmacht.

Das „Young Brass Ensemble“ war zum Endbewerb des „Internationalen Festivals der Kinder – und Jugendorchester“ eingeladen, und so fuhren wir nach Asbest, in eine Kleinstadt neunzig Kilometer hinter dem Ural. In Sibirien nennt man eine solche Distanz einen „Flohsprung“ oder gleich nebenan. Alles unter tausend Kilometer ist gleich nebenan. Nach dem Zerfall des Ostblocks und der Sowjetunion bedeutete „international“ Russland, die GUS-Staaten plus zwei befreundete Nationen, Türkei und Österreich. Die zwölf Gymnasiasten aus Vorarlberg hatten zuvor schon den Stadtwettbewerb in Jekaterinburg gewonnen. Jetzt sollten in Asbest die „Internationalen“ gegen die Regionsorchester antreten. Im Ausbau der Sowjetunion zu einer Wirtschaftsmacht war es beliebt, neue Städte nach ihren Bodenschätzen oder Produkten zu benennen: Nikel ist so eine, Magnitogorsk, Peschtschannij (Sand), Lesnoj (Wald), Izjumowka (Rosinen), Tekstilnik und eben Asbest.

Ich überquerte den Ural nicht zum ersten Mal, vor vielen Jahren schon einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Irkutsk. Damals hatte ich den Nachtschaffner der Transsib bestochen, mich unbedingt aufzuwecken, ich wollte den sagenhaften Ural nicht verpassen, diese magische Linie zwischen Europa und Asien sehen und erleben.
Er weckte mich nicht auf, ich erwachte am Morgen und sah aus dem Zugfenster – es war nichts zu sehen, nur der lange Zug in einer Schneise durch endlose Wälder, links und rechts Birken und Fichten. Keine Spur von Ural-Gebirge, das wie ein Gebirge ausgesehen hätte. Wenn man wie ich aus den Alpen kommt und diese seit der Kindheit besteigt, waren das nicht einmal wahrnehmbare Hügel. Langgezogene Bahndämme höchstens. In dem schlenkernden Eisenbahnwaggon konnte man keine Höhen und Tiefen empfinden, geschweige denn eine Steigung oder einen Abstieg sehen.
Bei der ersten Reise über den Ural hatte ich noch kein Körpergefühl und keine Augenlust entwickelt für die Weiten, in denen sich über tausend Kilometer nichts ändert. Und die Zeiten, die vergehen sollten, bis sich irgendein Unterschied auftat, um sich zu versichern, dass man überhaupt weitergekommen war. Wie in alten Filmen, in denen ein Bild stehenbleibt und alles wieder zurückläuft.

Aber an diesem April-Tag des Jahres 2004 saß ich in einem Staats-Wolga und schaukelte durch die leere Landschaft Asbest entgegen. Ich sagte mir immer wieder: Ich bin hinter dem Ural, ich bin in Sibirien, in Asien. Die hinteren Seitenfenster hatten noch aus der Zeit vor der Einführung des getönten Glases dunkle Vorhänge, festgehalten an Stäben, sodass sie in Rüschen herabfielen.
Ich machte nach vorne einige Gesprächsversuche, es kam kein ganzes Wort zurück. Dieser Chauffeur hielt es offenbar noch mit der Propaganda von den feindlichen Ausländern, Imperialisten, Kapitalisten, Agenten, Spionen und Verrätern. Oder war das im vierten Putin-Jahr schon die Wende von der Wende? Eine große Tellermütze auf dem klobigen Kopf , darunter ein rötliches Gesicht mit platter Nase, schmalen Lippen und geschlitzten Augen. Meine Einschätzung: eine Mischung aus Lette und Sibijrak.

Immer noch schaukelte ich im Fond des Wolga über die Landstraße. Wie lange sind zweihundertfünfzig Kilometer? Der Chauffeur umfuhr geschickt und weitläufig die tiefsten Löcher. Der Permafrost war nach den Monaten mit Eis und Schnee aufgebrochen. Ich war nicht böse über das Rumpeln, eine kleine Entschädigung für das Fehlen des Gebirges. Ich weiß nicht, wer das erfunden hat, der Opel Kapitän oder der Nachbau des Wolga, auf jeden Fall saß ich im Wagen so tief unten, dass ich vom Chauffeur meistens nur seine Kappe zu sehen bekam. Nach einem kurzen Dösen am Anfang der Reise rappelte ich mich aus dem falschen Leder auf, schaute rechts aus den Fenstern und versuchte mich auf die Landschaft einzulassen, sie zu verstehen, in sie hineinzukriechen, sie einzuatmen, sie in mich aufzunehmen.

Wenn einmal die Wälder zurückwichen, gab es auch nicht viel zu sehen, endlose Wellen, manche noch mit Schneeresten, die Dörfer in die Landschaftsfalten hineingekauert, Katen, Hütten, Stadel, Dächer, Zäune, alles aus grauem Holz, fahl, ausgebleicht und abgeschabt, ohne einen Farbtupfer. Kein höheres Gebäude, selten ein Kirchturm. So konnte es noch siebentausend Kilometer weitergehen durch Sibirien bis nach Nachodka am Japanischen Meer. Ein gängiger russischer Spruch heißt, du musst Russland lieben, einfach weil es deine Heimat ist. Dieser Liebeshunger, auch noch das Hässlichste zu lieben.
Ich liebe mein Volk, ich liebe meine Heimat. Das trägt jeder Russe viel zu leicht auf den Lippen. Ist es denn nicht schwer genug, einen Menschen zu lieben?
Das ist nicht nur ein primitives Gefühlskonstrukt, sondern auch Ideologie. Denn wer kann, darf kritisieren, was man liebt? Wer sein Land nicht liebt, soll es verlassen. Aber wer bestimmt, wie man sein Land zu lieben hat? Mir kommt vor, es handelt sich dabei um so etwas wie Trotz-Patriotismus, Beharrungspatriotismus. In dieser Heimat-Mystik liegt eine Parallele zur Mutterliebe.

Ich weiß, dass ich gegen ein ungeschriebenes Gesetz verstieß, aber ich versuchte trotzdem, ein Gespräch mit dem Fahrer aufzunehmen. Neugierig wie immer, vorlaut, meines Russisch sicher und Volksnähe suchend. Dieser Mann aber war unerbittlich, geschult beim KGB. Er antwortete nie mit einem eindeutigen Wort, keinem ganzen Satz. Hm, ahm mit und ohne Fragezeichen in Variationen von Höhen und Tiefen, von Stöhnen und Grunzen. Nie wandte er sich zu mir mehr zurück als bis ins Halbprofil. Ich bemerkte seine tiefen Falten, die von den Augenwinkeln die Wangen hinunterkrochen. Ein schütterer Schnurrbart in Blond-Grau. Er blickte geradeaus auf die Straße, ein Asphaltband mit einer weißen Mittellinie, eine schnurgerade Schneise durch den Ural.

Manchmal bogen sich die dünnen, kahlen Birkenstämme über die Straße und bildeten einen fast geschlossenen Tunnel. Die Bäume standen tief im Wasser, viele waren umgestürzt oder abgestorben. Tauwasser oder Sumpf, zu dieser Jahreszeit konnte man das nicht sagen.
Wen hatte der schon alles gefahren? Sergej Kirow, den beliebten Parteichef von Swerdlowsk, überlegte ich. Einige Zeit der Konkurrent von Stalin. Das geht sich nicht aus. Den hatte Stalin 1935 in Leningrad umbringen lassen. Aber vielleicht den jungen Kommunisten Boris Jelzin, später Parteichef von Swerdlowsk, bevor er Moskau und ganz Russland eroberte.
Der Kappenkopf wandte sich nie nach rechts oder links, war auch nicht nötig, denn die Straße führte immer geradeaus über sanfte Wellen, dazwischen dürftiges Unterholz aus Sträuchern von Vogelbeeren und Haselnuss. Er musste nur seine Augen bewegen, um alles zu überblicken. Alles? Kein Gegenverkehr. Einige Lastwagen, je mehr wir uns der Stadt Asbest näherten. Einmal blieb der Chauffeur unvermittelt stehen, hieß mich barsch aussteigen und knurrte: Fotografiere! Snimi! Er war also innerlich per Du mit mir.

Am rechten Straßenrand stand in einer kleinen Waldbucht ein Denkmal, unter einem riesigen Schriftzug AC-ECT, das B fehlte gerade, ein unbehauener Felsbrocken, auf dessen Spitze einige aus dem Stein gehauene Figuren kauerten. An ihren demonstrativ hochgehaltenen Werkzeugen waren sie als Bergleute zu erkennen. An der Vorderseite prangte in goldenen Lettern die Inschrift Heldenstadt Asbest 1889 – 1989, wahrscheinlich eines der letzten Denkmäler der alten Sowjetunion. Ich war folgsam und fotografierte. Als wir kurz danach an den Gruben vorbeifuhren und ich die Kamera zückte, gab der Fahrer Gas, sodass ich nur verwackelte Fotos zustandebrachte, im Vordergrund die verwischten Bäume, dahinter einige Bohrtürme, Kranmasten, Schlote, Fabriksgebäude und Baracken.

Aber doch konnte ich sehen, dass der Tagebau riesig war, tiefe Krater wie umgekehrte Kegel in die Erde gegraben, auf deren Grund ich in meiner Lage nicht blicken konnte. Der Globus war über viele Kilometer aufgegraben. In vielen Terrassen konnte ich Schichten von gräulichem und grünlichem Gestein erkennen, ein Blick in die aufgeschnittene Hölle. Die Gruben zogen sich über Kilometer hin, bis wir den Stadtrand erreichten.

Im Bürgermeisteramt wartete man schon auf mich. Neben den Organisatoren des Musik-Festivals war eine Wirtschaftsdelegation aus Japan zu Besuch. Der junge Bürgermeister hielt eine dynamische Lobrede auf das Produkt seiner Stadt, das berühmte russische Asbest. Auf dem langen Tisch waren Broschüren und Bücher über das Mineral aufgelegt, und der Bürgermeister hatte für die Gäste als besonderes Schmankerl Säckchen mit Asbest-Brocken vorbereitet. Wir sollten uns daran bedienen. Die Westeuropäer griffen nur zögerlich zu, wussten sie doch, dass Asbest bei uns schon längere Zeit in Verruf geraten war, ja sogar als Baumaterial verboten war, wie ich mir nicht verkneifen konnte, einzuwenden.
Für den Bürgermeister der Anlass, das russische Asbest in den höchsten Tönen zu loben und den Gegensatz zu dem giftigen aus dem Westen herauszuarbeiten. Er schäumte über vor Asbest. An seiner Seite ein Chemiker und ein Geologe als Vertreter des „Trest Uralasbest“, die die Vorzüge und Harmlosigkeit mit vielen Formeln und Tabellen wissenschaftlich nachzuweisen versuchten. Asbestos kannten schon die alten Griechen und bedeutet unvergänglich, obwohl der Bürgermeister es lieber vom englischen as best abgeleitet gesehen hätte.

Das russische Asbest ist ein Chrysotil und gehört zur Serpentingruppe, faserförmige, kristallisierte Silikat-Minerale. So wie es jetzt in den Plastiksäckchen am Tisch liegt, könnte man meinen, es sei vergilbter Minzetee oder grünstichige Schafwollbällchen. Es habe eine andere chemische Zusammensetzung, die keinen Krebs, keinen heimtückischen, unheilbaren Bauch- und Brustfelltumor, keine Asbestose – das Eindringen von Asbeststaub und -fasern in die Lunge – verursache. Der Stadtobere kam geradezu ins Schwärmen über die hohe Qualität, Reinheit, Dichte, Effizienz.
Nicht einmal die schöne grün-weiße Färbung vergaß er hervorzuheben. Lange verbreitete er sich über die günstigen Investitionsbedingungen im größten Asbestlager der Welt. Sicher weniger an mich und die Kinderkulturaktivisten, denn an die Japaner gerichtet. Das war in etwa so komisch, wie damals, als uns Anhänger der sozialistischen Atomkraft überzeugen wollten, dass die Neutronen im Ostblock in einer anderen, unschädlichen Richtung marschieren oder Mascherl haben, auf denen steht: Keine Angst, wir sind die Guten. Die Japaner nickten zu allem höflich, verzogen keine Miene, stellten keine Fragen, behielten ihre Handschuhe an und die Masken vor den Gesichtern.

In Europa und den USA hat es Jahrzehnte gebraucht, bis die heimtückische Asbestose er- und anerkannt wurde. Aber viele Menschen leiden noch immer unter den Spätfolgen und kämpfen bis heute um eine Entschädigung. Das in Baumaterialien verarbeitete Asbest findet sich als Eternit aber noch immer in vielen Häusern, Mauern, Dächern und Schalungen, deren Beseitigung gefährlich ist und Unsummen verschlingt. Aber bevor man die Schädlichkeit von Asbest erkannte, verwendete man es auch in feuersicheren Textilien, in Estrichen, Dämmungen, im Schiffsbau und sogar in Zahnpasten.

Endlich entließ uns der Bürgermeister, nicht ohne dass er uns reich beschenkt hätte mit Literatur über Asbest, die Stadt und das Mineral, und wer wollte, mit einem Plastiksäckchen, durch das die fasrigen Brocken grünlich durchschimmerten. Mir gelang es, aus den Händen einer Bürgermeister-Assistentin ein solches Päckchen anzunehmen und ohne es zu berühren, mit Hilfe einer Broschüre in meine Tasche zu bugsieren.

Bis zum Konzert blieb noch etwas Zeit, die ich für einen Spaziergang durch die Stadt benützte. Im Zentrum zwei breite Straßen mit gemauerten Häusern, den Lenin- und den Sowjetski-Prospekt, an deren Kreuzungspunkt eine große Lenin-Statue stand. Sakralarchitektur als öffentliches Machtsymbol.
Weiter verliefen sie sich in einem Gewirr von vierstöckigen Plattenbauten, typischen Chruschtschowkas, schnell und billig aufgezogenen Wohnblöcken. Im Sommer könnten sie vielleicht ganz hübsch aussehen mit den Baumgruppen und Grünflächen dazwischen, nun im April wirkten sie räudig wie ein getretener Hund. Der gerade auftauende Ural-Frost hat in die Straßenbeläge tiefe, erodierende Löcher gerissen, in die ich in der Dunkelheit nicht stolpern möchte. Manche so groß wie kleine Kraterseen ohne Grund. Ob darunter nicht gleich der Reichtum der Stadt lag, das Asbest, schoss es mir durch den Kopf. Es ist früher Nachmittag des sonnigen Apriltages. In den zwei Hauptstraßen mit ein paar Geschäften sind Menschen unterwegs. Meistens Frauen, junge, alte, Kinderrudel aus den Schulen, aber keine Männer. Das fällt mir auf. Eine Stadt ohne Männer. Sie sind in der Arbeit.
Aber Alte wird’s doch ein paar geben. Die sitzen doch so gerne vor den Häusern und wärmen sich die alten Knochen. Die Stadt uferte aus in vielen ländlichen Sträßchen, die Holzhäuschen, manche mit geschnitzten und bunt bemalten Verzierungen, windschief standen sie in den endlosen Weiten von Chagalls weißrussischen Landschaften bis hinter den Ural. Von Gärtchen umgeben, zehn Quadratmeter, war die stalinsche Norm für Privatbesitz, es reichte für Petersil, Zwiebel, ein paar Erdäpfel, Gurken, Kraut. Lattenzäune darum so lückrig wie ein durchschnittliches russisches Gebiss. In einer kahlen Hollerstaude tschirpen Spatzen, irgendwo auf einer Zaunzacke sitzt eine schwarze Katze, in einer trockenen Kuhle räkeln sich herrenlose Hunde in den ersten Sonnenstrahlen. Ein leicht eingefärbter Stich von Sibirien aus dem 19. Jahrhundert. Das unveränderliche, ewige Russland, ewig arm und elend, denke ich.

Als ich einmal von einer solchen Straße aufsah, erschrak ich zutiefst. Wo war ich hingeraten, hatte ich mich verirrt? Eine Fata Morgana im Ural, am Westrand von Sibirien? Ich kann beschwören, dass ich beim Bürgermeister keinen Tropfen Wodka angerührt habe, sowenig wie das Asbest! Ich befand mich plötzlich ohne Vorwarnung, Andeutung oder Übergang auf einem anderen Planeten. Vor mir öffnete sich ein Platz so weit, dass er der Hauptstadt würdig gewesen wäre. Aus dem Nichts der absoluten Leere erstand ein griechischer Tempel, nicht in Marmor, ganz in Kalkweiß über russischen Ziegeln, eine breite Treppe, ein doppelreihiger Portikus mit dorischen Säulen, umgeben von korinthischen Girlanden, gekrönt von einer gigantischen Kuppel wie die der Isaaks-Kathedrale auf dem Newski-Prospekt. Ich fühlte mich in einem einzigen Augenblick zur Größe von einer Ameise geschrumpft. Mit vorsichtigen Schritten durchwatete ich die Kraterseen auf dem Platz und näherte mich andächtig über breite Stufen dem „Kulturhaus der Stadt Asbest“. Vor der Giganten-Statue Maxim Gorkis machte ich natürlich meinen Kotau.

Im Dreiecksgiebel über dem Portikus kündeten die goldenen Lettern „Dem siegreichen sowjetischen Volk“ von der Entstehungszeit des Kulturtempels. Väterchen Stalin. Da ich allein hier war, konnte ich mit niemandem die Säulen ausmessen, meine zwei eigenen Arme plus mein Mittelkörper reichten vielleicht für ein Viertel des Umfangs. Weil der Giebel aus unerfindlichen Gründen nach hinten versetzt war, machte das leere Flachdach des Portikus den ernüchternden Eindruck einer Garage.
Ich war viel zu früh dran für das Konzert, stand oben unter dem sibirischen Portikus und sah mich im Rund um: Menschen strömten aus allen Richtungen auf das Kulturhaus zu, viele Kinder, Frauen, Mütter, Großmütter, Tanten, aber keine Männer. Naja, die arbeiten wohl alle, normal, dachte ich.

Der falsche Tempel in Sibirien. Ein leerer Platz mit Schneematsch, Pfützen und Gatsch. Rundherum grindige Holzkaten und schiefe Lattenzäune. Ich ertappte mich beim Gedanken an den französischen Marquis de Custine mit seinen Blicken auf St. Petersburg im Jahr 1839. „Dreckige, verlauste Bauern lagern in Lumpen auf Stroh und Dreck unter falschen griechischen Tempeln.“ So fasst er polemisch seine Eindrücke vom Newski-Prospekt zusammen. Astolphe de Custine, ein reaktionärer französischer Adeliger, hatte in Paris in polnischen Exilantenkreisen verkehrt und bereiste drei Monate Russland ohne Russisch-Kenntnisse und Kontakt zum Volk. Mit seinem bahnbrechenden Werk „ La Russie en 1839“ prägt er noch immer das westliche Bild vom barbarischen Russland. Er beschreibt den zaristischen Absolutismus als „expansionistische und despotische Gefahr für die freiheitliche Kultur und die ganze nicht-orthodoxe Christenheit“. Es erlebte in Frankreich gleich sechs Auflagen und erschien in ganz Europa. In Russland und der Sowjetunion blieb es immer verboten und wurde erst 1985(!) unter Gorbatschows Glasnost auszugsweise als „Russische Schatten“ veröffentlicht.

Einmal war es mir schon ähnlich ergangen, als ich die zentralrussische Stadt Arsamas besuchte.
Dort hatte man nach dem Sieg über Napoleon 1812 die Auferstehungs-Kathedrale erbaut, in der der Petersdom leicht zweimal Platz hätte. Auch er auf einem leeren Platz von enormen Ausmaßen, wie ein Meteor von einem Planeten heruntergefallen. Aber der Unterschied zu Asbest ist wichtig: Arsamas ist ein hübsches, altes Landstädtchen, eingebettet in eine liebliche Landschaft, idyllisch wie in eine Turgenjew-Erzählung oder die Tschechow‘sche Kirschgartenlandschaft vor der Zerstörung. Vielleicht spielt es auch eine Rolle, dass ich an einem herrlichen Sommertag nach Arsamas kam. Die Straßen sind gesäumt von den Köstlichkeiten aus Gärten und Wäldern, Kübel und Körbe voll mit Obst, Gemüse, Beeren und Pilzen. Ich erinnere mich mit Wonne daran, einen 10-Liter-Kübel mit den schönsten Herrenpilzen um 40 Rubel gekauft zu haben. Es sieht aus wie das biblische Land, in dem Milch und Honig fließen.

Arsamas liegt auf einem Hügel am Steilufer der Tjoscha, einem Nebenfluss der Oka. Ein Balkon, von aus dem man meinte, in die Ebenen Sibiriens bis nach Wladiwostok sehen zu können. Kein Hindernis dazwischen. Arsamas besitzt die größte Ansammlung von Holzhäusern, damals schon viele stilvoll restauriert, die ich bis dahin gesehen hatte. Ein Gefühl, durch eine Gemäldegalerie zu spazieren. Die Anmut dieses Ortes und seiner Umgebung hatten auch schon einige Peredwischniki entdeckt. Die russischen Wandermaler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandten sich gegen den steifen Akademismus, einige von ihnen haben sich hier niedergelassen. Bis heute ist ihnen ein kleines, aber liebevoll zusammengestelltes Museum gewidmet.

Noch zwei Besonderheiten hat Arsamas aufzuweisen. Beim Bau der Eisenbahnstrecke Moskau- Nishnij Nowgorod hat man auf Arsamas vergessen und an ihm vorbeigebaut. Arsamas, das einen aufblühenden Handel und eine Textilindustrie hatte, fiel in Dornröschenschlaf, bis etwa hundert Jahre später die Atomindustrie es aufweckte und gleichzeitig wieder versteckte. Eine der größten Forschungs- und Produktionsstätten legte man in die Nähe des Städtchens, eine geheime, geschlossene Stadt, von der man erst erfuhr, nachdem Andrej Sacharow nach Nischnij Nowgorod verbannt worden war. Arsamas 16 war einst sein Arbeitsplatz gewesen, wo er die sowjetischen Atombomben entwickelte.
Bis zu mir, heute vor dem Kulturtempel in Asbest, dringen die Bilder des Marquis de Custine ein.
Weil er ein verdammt genaues Auge hatte und eine genaue Sprache für diese Unterschiede, diese Diskrepanzen. Er hat das Falsche, das nur Nachgeahmte an der russischen Kultur erkannt, ohne jede Kenntnis von ihr zu haben. Das Nachgemachte, das Angenommene, das aus Europa Übernommene und oft falsch Verstandene. Der größte Irrtum war wohl der Marxismus.

Das Innere des Kulturhauses überraschte wiederum mit seiner Nüchternheit: Halle, Garderoben, Treppenhäuser und Korridore – alles war in der sowjetunionweiten Nutzbauweise aus Beton gehalten. Aber dafür hatte es der zentrale Konzertsaal in sich. Ich stand wie geblendet da und brachte meinen Mund nicht mehr zu. Ein in einem Halbrund amphitheaterartig aufsteigender Raum, bestuhlt mit rot-goldenen Reihen in Samt, eine Bühne und ein Orchestergraben vorne. Die Decke bildete eine Kuppel, die zur Gänze ausgemalt war. In den Segmenten konnte man Stalin in verschiedenen lebensnahen Situationen sehen: von Kindern umringt, die ihm Blumen in Körben und Girlanden überreichen, wofür er sie wie der gute Hirte mit ausgebreiteten Armen segnet, von diversem Arbeitsvolk umgeben, das ihm Produkte aus Wald, Feld, Fabriken und Bergwerken überreicht.
Wo in den Barockgemälden die Putti sind, schwebten hier Blumen, einzeln, in Körben oder in Gebinden durch die blauen Hintergründe. Die Stuckrippen prangten in Gold. Vom höchsten Punkt in der Kuppel hing ein riesiger Luster aus Kristallglas, würdig einer Staatsoper. Eindeutig, die Maler kannten sich gut aus in der Kunstgeschichte, praktisch von allen Epochen war etwas in Asbests Theaterhimmel versammelt. Ich bemerkte beim Staunen über dieses in der Provinz vergessene Überbleibsel des grenzenlosen Stalin-Kults, dass ich nach kürzester Zeit in die hier angebrachte Körperhaltung verfiel, in eine Nackenstarre. Um all diese gemalte Pracht und Herrlichkeit zumindest mit Blicken zu erfassen, musste ich den Kopf extrem nach hinten beugen. Mit dem Geist ist es für einen Westler nicht so einfach. Vielleicht ist in Asbest Stalin noch gar nicht tot, so wie manche Zeitgenossen glauben, dass Elvis lebt. Vielleicht ist in Asbest auch der 2. Weltkrieg noch nicht zu Ende?

Unser Schüler-Ensemble gewann wieder unter den ausländischen Formationen. Das Balalaika-Orchester aus Asbest trug natürlich den Gesamtsieg davon. Beim nachfolgenden Bankett kam ich neben einer Journalistin aus Jekaterinburg zu sitzen. Sie klärte mich über das Geheimnis des eklatanten Männermangels auf: In Asbest werden die Männer nicht älter als fünfzig, bis fünfzig graben sie den Schatz aus der Erde.

19., 20.6. 17
Fortsetzung Jekaterinburg – An den Stätten des Zarenmordes

Veronika Seyr
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Provokation

1

Am Anfang war es ein Streit, nicht einmal ein Kampf, geschweige denn ein Krieg. Begonnen hatte die Sache, die sich zwischen Anna und Martin zu einem vernichtenden Krieg auswachsen sollte, als beide dreiundzwanzig Jahre alt waren.
Sie hatten einander vier Jahre zuvor kennengelernt, auf einem Fest auf dem Campus der Universität, an der sie studierten. Anna hatte damals gerade ihr Psychologiestudium begonnen, Martin mit Betriebswirtschaft. Es war eines dieser Feste, die sich dadurch auszeichneten, dass die Lampions tief hingen und die Gläser in die Höhe gehoben wurden. Dieses spezielle Fest fand in einer Vollmondnacht statt. Die Gläser reichten zwar nicht ganz bis an die Lampions heran, doch der Mond und die allgemeine Berauschung hatten zur Folge, dass nur die Allerhässlichsten alleine nach Hause gehen mussten.

Martin hatte Anna angesprochen und sie keck gefragt, ob sie am nächsten Morgen alleine aufwachen wollte.
Sie hatte nur wenige Sekunden um zu entscheiden, welche von zwei Möglichkeiten sie wählen sollte: eine Ohrfeige oder ein Tanz, verbunden mit einem Kuss und einer gemeinsam verbrachten Nacht.
Am nächsten Morgen führten sie ein langes Gespräch über ihre beruflichen und privaten Ziele und kamen überein, es miteinander zu versuchen.

Vier Jahre lang ging das gut, sie kamen auf der Universität gut voran, und auch privat schien alles nach Plan zu laufen. Sie nahmen einander als gegeben, als selbstverständlich wahr.
Eines Tages jedoch brach das Eis, welches das Schweigen über kleine Unzulänglichkeiten des Partners gewesen war, explosionsartig auf. Eine achtlos in die Ecke des Schlafzimmers geworfene Socke Martins war der Zündfunke.
Anna nahm die Socke zum Anlass, ihn mit harschen Worten auf seine sämtlichen Versäumnisse im Haushalt aufmerksam zu machen, derer er sich ihrer Ansicht nach schuldig gemacht hatte.
Martin war erst verdutzt, dann gekränkt, und schließlich verärgert. Er wies sie in ebenso scharfen Worten auf ihre Unzulänglichkeiten hin und auch dafür zurecht.
Zwei Tage lang sprachen sie bloß das Nötigste miteinander, dann setzten sie sich zusammen und sprachen sich aus.
Friede war wieder eingekehrt, doch in jedem von ihnen blieb etwas von diesem Zerwürfnis zurück. In Anna war es der unterschwellig weiterbohrende Ärger über seine Unordentlichkeit, und in Martin blieb der Stachel der Verletzung zurück, so plötzlich und seiner Meinung nach grundlos angeherrscht worden zu sein.

2

Claudia, die Tochter von Anna und Martin, war fünf Jahre alt, als sie sich an der Klinge eines Küchenmessers in den Daumen schnitt. Ihr Vater war an diesem Abend für sie verantwortlich, denn Anna war mit Freundinnen ausgegangen, um auf ihren zwei Wochen zurückliegenden dreiunddreißigsten Geburtstag anzustoßen.
Er desinfizierte die Wunde und wickelte Gaze um sie, sodass sie zuverlässig vor Schmutz geschützt war.
Gegen zweiundzwanzig Uhr kam Anna in angeheitertem Zustand nach Hause. Sie schlich ins Kinderzimmer, um ihrer Tochter einen Kuss zu geben. Unglücklicherweise stieß sie mit dem Fuß an einen Sessel und Claudia erwachte. Stolz zeigte sie ihrer Mutter den eingebundenen Daumen. Anna fragte wie das geschehen wäre, und Claudia teilte ihr mit, dass Martin sie mit dem Messer hatte hantieren lassen.
Die Ohrfeige, die Martin aus dem Schlaf riss, war erst der Anfang.

Anna schlug auf ihn ein und warf ihm vor, das Leben ihrer Tochter vorsätzlich zu gefährden. Martin wehrte sich nicht mit Körperkraft, und nachdem seine Frau aufgehört hatte, ihn zu schlagen, fuhr er sie an. Was sie sich denn einbildete, ihm so etwas zu unterstellen, brüllte er. Kinder würden sich nun einmal von Zeit zu Zeit verletzen, das gehörte zum Aufwachsen.
Der Streit zog sich über eine volle Woche hin, erst dann konnten Anna und Martin wieder eine vernünftige Gesprächsbasis finden.
Ihr Eheleben jedoch hatte erheblichen Schaden genommen.

Martin war vom Gewaltausbruch seiner Frau dermaßen eingeschüchtert, dass er sich ihr kaum körperlich zu nähern wagte. Anna wollte dies auch gar nicht. Sie blockte seine Annäherungsversuche ab und machte es sich zur Angewohnheit, im Wohnzimmer auf dem Sofa zu schlafen. Jedes Mal, wenn Martin sie flehentlich bat, die Dinge doch wieder so werden zu lassen wie sie einst gewesen waren, lächelte sie bloß milde und schüttelte den Kopf.
Eines Abends sprach Martin das Thema Trennung an, da rastete Anna erneut aus. Niemals würde sie sich von ihm trennen, rief sie. Er wäre ein Teil ihres Lebens, einmal gebrauchte sie sogar das Wort Besitz, und sie würde ihn eher töten, als ihn ziehen zu lassen.
Martin war schockiert. Er fragte sie, ob sie das ernst meinte, und als sie bejahte, hatte er zum ersten Mal wirklich Angst vor ihr.
Claudias Wunde verheilte so gut, dass nach zwei Wochen keine Narbe mehr zu sehen war.

3

Im Alter von achtzehn Jahren schloss Claudia das Gymnasium mit ausgezeichnetem Erfolg ab. Anna und Martin lebten danach alleine in ihrer Wohnung, denn ihre Tochter hatte sich für ein Studium in Amerika entschieden. Am Tag nach Claudias Abreise begannen die Dinge aus dem Ruder zu laufen.
Waren Anna und Martin durch die Anwesenheit ihres Kindes noch gezwungen gewesen, wenigstens ein wenig Anstand im Umgang miteinander zu wahren, so konnten sie nun, da sie zu zweit waren, ihren aufgestauten Gefühlen freien Lauf lassen.
Bei jeder sich bietenden Gelegenheit stichelte sie gegen ihn. Diese Sticheleien waren oft durchsetzt von Suggestivfragen und versteckten Anspielungen – als Psychologin kamen ihr diese leicht über die Lippen.

Martin fand keinen probaten Weg, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Als Betriebswirt war er es gewöhnt, die Dinge nüchtern zu analysieren und sachlich zu diskutieren. Jedes Mal, wenn er ansetzte, genau dies zu tun, hörte sie ihm mit einer Miene zu, in der aufgesetzte Geduld lag. Dadurch vermittelte sie ihm das Gefühl, ein lästiger Patient in einer Therapiestunde zu sein, ein hoffnungsloser Fall, den sie bloß aufgrund ihres Langmutes anhörte – oder weil sie gerade nichts Besseres zu tun hatte.
Er kam sich so vor, wie sie ihn behandelte – wie ein Tölpel. Tatsachen, welche erwachsene, intelligente Menschen in wenigen Minuten besprochen gehabt hätten, breitete sie wortreich vor ihm aus, wie vor einem uneinsichtigen Kind, und stets endeten ihre Ausführungen mit der Phrase, dass er das eben Gehörte doch verstehen müsste.

Damit versuchte sie ihn zur Weißglut zu treiben, und Martin wusste das. Er fragte sich oft, was ihre Beweggründe dafür sein mochten, doch er konnte sich keinen Reim darauf machen.
Er fragte auch Anna einige Male, was sie mit ihren Provokationen bezweckte, doch antwortete sie stets mit triumphierenden Blicken, Worte kamen nicht aus ihrem Mund. Eines Tages, nachdem sie ihm wieder einmal gesagt hatte, dass er ihre Sichtweise doch verstehen müsste und er bloß stumm dagesessen und sie angestarrt hatte, schlug sie ihm ins Gesicht. Er nahm die Ohrfeige stoisch zur Kenntnis, wie er es immer machte, doch etwas in ihrem Blick irritierte ihn. Hatte sie bislang bei solchen Gelegenheiten wütend dreingeblickt, so tat sie dies nun auffordernd, als würde sie seine Reaktion erwarten. Martin indes reagierte nicht.

4

Acht Jahre später sollte sich das ändern.
Sie hatten ihre Wohnung in Zonen aufgeteilt und diese mit Klebeband kenntlich gemacht. Die Sanitärräume und die Küche waren, ebenso wie die Diele, beiden erlaubtes Gebiet, das Wohnzimmer hingegen war streng aufgeteilt. Dies hatte ganze drei Tage Bestand.
Claudia hatte sich überraschend angesagt, ihr Ehemann und ihr Baby kamen auch mit.
Anna und Martin entfernten die Klebebänder und mussten, als sie sich dabei in die Augen sahen, unwillkürlich lachen.
Claudia blieb eine Woche und danach ging alles wieder seinen gewohnten Gang. Anna und Martin arbeiteten am Tage, und an den Abenden stritten sie.
Anna schlug Martin noch einige Male ins Gesicht, und eines Tages kam er der Aufforderung in ihrem Blick nach. Er schlug zurück. Es war keine allzu feste Ohrfeige, die er ihr verabreichte, doch reichte sie aus, um Anna zu der mit Zufriedenheit geäußerten Feststellung zu bewegen, dass er nach so vielen Jahren endlich aus sich herausgegangen wäre.
Doch es waren zu viele Jahre gewesen. Martin konnte an diesem Abend nicht mehr aufhören, sie zu schlagen.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens |Inventarnummer: 17117

Krieg I

Stimmen bringen ihn zur Lähmung,
er macht nichts richtig,
Verspätungen,
Nichts als Verspätungen,
Er hasst mich,
wirf mir Flüche in die Seele,
kann dir nicht vergeben,
Bomben platzen,
so nahe der Abgrund,
ein Bild von Aufschlag,
Liegt der Kopf in Trümmern,
wird es still,
Er wird mir vergeben

Florian Pfeffer

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Eingegraben

Die Sanduhr längst abgelaufen,
im Glas wachsen Sprünge
Weiche Hände sind selten geworden,
Salzwasser und Minustemperaturen
Nachts schwimmen Träume,
Momente kurzer Bewusstlosigkeit
Jemand hat den Föhn in das warme Wasser,
fallen lassen,
Schwarze Erde,
Faulig und matschig gräbt man,
nach Samen,
Welche im Frühling blühen

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 17108

Das Feuer oder die Kerze

Eine Kerze kannst du natürlich ausblasen.

Ja, das kann ich. Und genau das habe ich auch vor zu tun.

Aber du wirst, du kannst es nicht fertigbringen, ein Feuer auszublasen.

Ist das nicht dasselbe?

Nein, das ist nicht dasselbe. Überhaupt nicht!

Ich sehe das anders.

Dann erkläre mir bitte, wie du die Sache siehst.

Ich sehe sie folgendermaßen: Wenn eine Kerze erlischt, wenn sie ausgeblasen wird, ist alles, was in dieser Kerze war, weg, fortgeblasen.

Und was ist das, ›alles‹?

Na, ihr Licht, das sie abgibt, ihr Schein, der das erleuchtet, was sich in ihrem Umkreis, in ihrem Lichtfeld befindet, ist weg. Einfach weg, verschwunden. Und die Wärme, die sie abstrahlt, die ist natürlich auch weg.

Und was ist dann noch übrig?

Rauch, der sich bald verzieht. Dunkelheit. Und natürlich Kälte.

Du hast etwas vergessen.

Was?

Den Stumpen der Kerze. Der ist auch noch da.

Ja, ein Fragment. Erkaltet, verrußt und oftmals unförmig, wenigstens an der oberen Seite, dort, wo die Hitze der Flamme das Wachs verformt hat. Wo sie den ursprünglich glatten Rand weggeschmolzen hat.

Unförmig – ein gutes Wort. Wie ein lebloses Lebewesen.

Du sagst es.

Und? Ist sie ein erstrebenswerter Zustand, die Unförmigkeit?

Dieser Zustand lässt sich letzten Endes nicht vermeiden. Am Ende, wenn alles vorbei ist, ist doch jeder und alles unförmig. Das geht gar nicht anders.

Das ist richtig. Jedoch sollte diese Unförmigkeit erst dann eintreten, nachdem alles auf natürliche Art und Weise geendet hat.

Oftmals ist es aber so, dass sie viel früher eintritt.

Ja, durch Abnützung, Materialermüdung, mutwillige Zerstörung, Krankheit und andere Umstände.

Eintreten wird dieser Zustand dennoch unweigerlich.

Bei Menschen darf er aber nicht vor der Zeit eintreten!

Ist es nicht jedem Menschen von Geburt an freigestellt, den Zeitpunkt des Eintretens dieses Zustands selbst festzulegen?

Du meinst, sich auszusuchen, wann genau er einzutreten hat?

Ja.

Aber was soll es bringen, diesen Zustand selbst herbeizuführen?

Sehr viel. Freiheit, das Ende einer Krankheit, ein Zeichen des Protests setzen.

Protest? Wogegen denn?

Gegen Umstände, die ein einzelnes Individuum nicht ändern kann.

Und wenn die Kerze dieses Menschen erloschen ist? Ändern sich dann die Umstände oder Zustände, gegen die er protestiert hat?

Natürlich!

Nein! Das ist einfach falsch! Diese Person hat dann zwar mit den Umständen nichts mehr zu schaffen, muss nicht mehr unter ihnen leiden, doch sind sie weiterhin vorhanden. Bloß diese eine Person kann sie nicht mehr wahrnehmen.

Das ist doch schon was!

Aber für alle anderen Menschen ändern sie sich doch nicht dadurch, dass einer von ihnen sein Licht zum Verlöschen gebracht hat!

Das stimmt, doch dieser eine Mensch hat dann seine Ruhe.

Aber das Feuer brennt weiter. Das ganz große, alles verschlingende Feuer, es wird nicht, es kann nicht ausgehen, bloß weil das Feuer einer Kerze verloschen ist. Was ist denn mit den Menschen, die sich anzünden, sich also selbst zu Kerzen machen?

Die haben dann ihren Frieden.

Aber ändert das etwas an den Zuständen, derentwegen sie sich verbrennen?

Nein, nicht wirklich.

Eben. Also, ich frage dich direkt heraus: Glaubst du wirklich, dass du das Feuer der Oberflächlichkeit und der Ignoranz zum Ausgehen bringen kannst, oder wirst, indem du deine eigene Kerze ausbläst?

Nein, ich weiß, dass ich das nicht kann.

Warum hast du dann vor, dein Licht auszublasen?

Um meine Ruhe und meinen Frieden zu haben. Und natürlich um ein Zeichen zu setzen.

Ein Zeichen? Wogegen?

Gegen die Oberflächlichkeit und die Ignoranz natürlich.

Aber die wird es nach dir weiterhin geben, sie werden weiterexistieren. Die Tat des Märtyrers, die du vorhast, wird an dieser Tatsache nichts ändern, wie du selbst sagst!

Wenigstens setze ich ein Zeichen dagegen!

Eines, das mit dem größten aller Risiken behaftet ist!

Warum?

Weil noch etwas kommen könnte!

Was sollte denn noch kommen?

Etwas Schönes vielleicht?

Das wäre möglich, so etwas könnte noch kommen.

Dann warte noch ab! Deine Kerze kannst du zu einem späteren Zeitpunkt immer noch ausblasen. Außerdem würde später vielleicht dichterer Rauch vom Stumpen deiner Kerze aufsteigen als der gegenwärtig dünne des verzweifelten Märtyrers.

Das stimmt, ich kann es später auch noch tun.

Es erfüllt mich mit Freude, dass du die Sache mittlerweile auch so zu sehen scheinst.

Ich mache anderen Menschen eben gerne eine Freude.

Möchtest du mir eine weitere machen?

Ja. Was soll ich tun?

Nimm die Pistole von deiner Schläfe und gib sie mir.

Bitte sehr.

Danke. Sag, warum ist sie nicht geladen?

Ich war mir eben selbst nicht sicher, ob der Rauch, der von meinem Stumpen aufsteigen würde, dicht genug wäre.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens |Inventarnummer: 17085

Lebendige Waffen

Die Horde hat eine Meinung,
Horden haben immer Recht,
zerschmettern Sätze,
drehen die Lautstärke auf,
dort rufen sie
Der Betrachter wird verflucht,
eine wirre Kette schlingt sich hinauf,
der Baum soll fallen,
er soll zerschellen,
an den dicken Wurzeln

Die Betrachtung besteht jetzt aus Stille,
ein roter Saft saugt sich in das Moos,
Rot wie die Blätter,
die bedecken den Körper,
es ging um nichts,
Herbst gehe mit ihm,
Verstreut den Toten Samen,
In alle Windrichtungen
Die Horde hat eine Meinung,
Horden haben immer Recht,
zerschmettern Sätze,
drehen die Lautstärke auf,
dort rufen sie
Der Betrachter wird verflucht,
eine wirre Kette schlingt sich hinauf,
der Baum soll fallen,
er soll zerschellen,
an den dicken Wurzeln

Die Betrachtung besteht jetzt aus Stille,
ein roter Saft saugt sich in das Moos,
Rot wie die Blätter,
die bedecken den Körper,
es ging um nichts,
Herbst gehe mit ihm,
Verstreut den Toten Samen,
In alle Windrichtungen

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens| Inventarnummer: 17078

Ein einsames Gespräch

Was starrst du mich so an?

Was ist? Was?

Antworte mir!

Sag etwas. Bitte!

Seit Wochen sprichst du nicht mit mir.

Ich bin deine Frau. Du sollst mit mir reden. Du musst!

Weißt du noch, welch gute Gespräche wir früher geführt haben?

Wir haben nächtelang geredet.

Über alles. Einfach alles.

Was hat sich geändert?

Ich bin immer noch dieselbe Frau. Deine Frau.

Ich liebe dich doch!

Wie an dem Tag, als wir uns kennengelernt haben.

Seit mehr als sechs Wochen sprichst du nicht mit mir!

Sag, liebst du mich eigentlich noch?

Nicht einmal jetzt sagst du etwas!

Früher warst du kommunikativer. Und liebevoller.

Denkst du etwa an eine andere Frau?

Ich weiß, ich kann dir keine Kinder schenken.

Aber das habe ich dir zu Beginn unserer Beziehung gesagt.

Und du hast gesagt, dass das kein Problem ist.

Sag was. Rede mit mir. Bitte!

Du isst auch nicht mehr.

Wann hast du zum letzten Mal was gegessen?

Jeden Tag koche ich ein Gericht, von dem ich weiß, dass es dir schmeckt.

Und du isst nichts! Jeden Tag muss ich die Hälfte wegwerfen.

Ach, es ist schlimm mit dir. Willst du mich überhaupt noch?

Seit Wochen hast du mich nicht mehr berührt.

Kein Kuss, kein Streicheln, kein Beischlaf.

Findest du mich denn gar nicht mehr anziehend?

Jedenfalls lasse ich mich nicht gehen!

So wie viele Frauen in meinem Alter.

Und so wie du!

Du hast schon recht gehört!

Jeden Tag mache ich mich für dich schön. Und was tust du?

Du lässt dich gehen! Wann hast du dich das letzte Mal rasiert?

Wann hast du dir zum letzten Mal die Haare gewaschen? Wann die Zähne geputzt?

Du siehst aus wie ein Penner!

Und du riechst auch so. Wenn nicht schlimmer!

Du stinkst! Wenigstens nicht mehr nach Bier und Schnaps.

Ich bin ja glücklich darüber, dass du nicht mehr säufst.

Trotzdem stinkst du. Wie ein nasser Hund.

Nein, wie ein Iltis! Und du hast auch schon Krallen wie ein solcher.

Wann hast du dir das letzte Mal die Fingernägel geschnitten?

Ich liebe dich sehr, aber in diesem Zustand widerst du mich an.

Seit Wochen kann ich meine Freundinnen nicht einladen.

Ich kann ihnen doch nicht zumuten, dich so zu sehen.

Ich will mich nicht für dich schämen müssen!

Früher warst du ein attraktiver Mann.

Und ein gepflegter. Und heute?

Wann hast du zuletzt die Kleidung gewechselt?

Vor Wochen, möchte man meinen.

Nein, so geht es nicht weiter. Ich liebe dich, aber so kann es nicht weitergehen.

Ich habe alles versucht. Wirklich alles! Was soll ich denn noch tun?

Dass ich dir vorgestern ein Büschel Haare ausgerissen habe, tut mir leid.

Du hast nicht einmal reagiert. Keinen Ton hast du von dir gegeben.

Gestern erst habe ich sechzehn Fliegen auf deinem Kopf erschlagen. Sechzehn!

Ich weiß nicht mehr weiter! So kann es nicht weitergehen. Ich muss mich von dir trennen.

Ja, das muss ich tun. Um mich selbst zu schützen.

Glaube aber nicht, dass ich das Haus verlassen werde!

Du wirst das Haus verlassen!

Ich werde dir dabei helfen. Weil ich dich immer noch liebe.

Ich gehe dabei sogar so weit, dich zu tragen.

Ich trage dich in den Garten. Noch heute Nacht.

Ich habe dort ein Loch gegraben.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens |Inventarnummer: 17085

Verwirklichung

Sonja begann zu schreiben. Sie hatte keine Erfahrung mit Schreiben oder mit Kindern. Dennoch begann sie, eine Erzählung für Kinder zu schreiben. Über Tage hatte sie sich die Handlung ihrer Erzählung zurechtgelegt. Sie sollte von Mark handeln, einem Menschen, der im Wald von einem aus dem Nichts auftauchenden schwarzen Wolf verfolgt wird. Mark kann sich das Auftauchen der Bestie nicht erklären und versucht, ihr zu entkommen.

‘Mark ging durch den von Buchen bestandenen Wald, es war der achtzehnte März, als der Waldboden vor ihm eine riesige und grässlich anzusehende Bestie freigab.’
So lautete der erste Satz der Erzählung. Sonja tippte ihn in ihren Computer und fühlte Beklommenheit. Nicht die Art Beklommenheit, die sie aus verschiedenen Gründen schon gefühlt hatte. Es war eine grauenhafte Art von Beklommenheit, so eine hatte sie nie zuvor gefühlt.

Sie saß in ihrer geräumigen Altbauwohnung mit hohen Decken vor ihrem Computer und versuchte, dem ersten Satz einen zweiten hintanzustellen. Logischerweise kannte sie dessen Inhalt. Sie hatte ihn im Kopf, wusste, aus welchen Worten er zu bestehen hatte, auch über die Syntax war sie sich im Klaren, doch konnte sie den Satz nicht schreiben.

Sie fühlte grauenvolle Beklommenheit, wollte sich an jemanden lehnen, sich in die Arme dieses Jemand fallen lassen. Allein, es war niemand anwesend. Sie war alleine.
Ihr langjähriger Freund hatte sie verlassen, als Grund hierfür hatte er ihre Oberflächlichkeit angeführt.
Sie presste ihren Oberkörper in die weiche Lederpolsterung ihres Schreibtischstuhls, um zumindest irgendeine Art von Halt zu finden. Sonja fühlte Grauen, als ob ein schwarzer Wolf jeden Augenblick vom Parkettboden freigegeben werden würde.

Sie wollte telefonieren. Jemand anrufen und mit ihm reden. Doch aus zwei Gründen konnte sie nicht. Zum einen lag ihr Mobiltelefon etwa einen Meter von ihr entfernt auf der Tischplatte, Sonja jedoch erschien dieser Meter wie  deren  fünf. Somit war ihr Telefon unerreichbar.
Zum anderen hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wen sie anrufen sollte. Allen ihren Freundinnen und Freunden hatte sie sich als lebenslustige, stets positiv denkende Person präsentiert. Sie  hatte  nicht  gelogen,  hatte  sich  ihnen  schlicht so präsentiert, wie sie sich selbst gesehen hatte. Stets hatte sie es abgelehnt, Gedanken und Gefühle zuzulassen, die nicht lebenslustig oder die negativ waren. Diese passten schlicht nicht in das Bild, das Sonja von sich selbst hatte. Nun jemand anzurufen und von dem Grauen zu erzählen, brachte sie nicht fertig.

Sie versuchte, mit den wenigen und unzureichenden Mitteln einer diesbezüglich unerfahrenen Person, die Ursache des Grauens auszumachen, doch konnte sie es nicht. Sie beschloss, an einem Punkt der Erzählung weiterzuschreiben, an dem der schwarze Wolf keine allzu große Rolle spielte.
‘Mark hatte sich von Frida losgesagt. Er wollte sie niemals wieder sehen, nie wieder mit ihr sprechen. Er hatte sich gesagt: ‘Die Sache mit dieser Verrückten ist für mich abgeschlossen!’ Der Nachteil dabei war, dass Mark nun alleine im Wald stand. Nun, da er Frida am dringendsten gebraucht hätte, war sie weg. ‘Was auch immer du machst, mach es gut!’, hatten seine letzten Worte an sie gelautet.’

Sonja tippte die Sätze in ihren Computer. Dann begann sie zu weinen. Dicke Tränen rannen in großer Zahl ihre Wangen hinab. Sie erkannte, dass sie sich selbst an dieser Stelle ihrer Erzählung porträtiert hatte. Denn sie hatte sich auf die selbe Art und Weise verhalten. Sie hatte die Person aus ihrem Leben ausgeschlossen, die als einzige jederzeit zu ihr geeilt wäre, um sie in den Arm zu nehmen. Sie dachte daran, diese Person anzurufen, doch hatte sie deren Nummer aus dem Speicher ihres Telefons, das gefühlt bloß noch anderthalb Meter entfernt vor ihr lag, gelöscht. Sonja verfluchte sich dafür, anderen Menschen gegenüber so verschlossen gewesen zu sein.

Um sich abzulenken, übersetzte sie den eben geschriebenen Absatz ins Englische. Da sie studierte Dolmetscherin war, fiel ihr dies allzu leicht und brachte sie nicht auf andere Gedanken. Sie zwang sich, langsam zu atmen und eine weitere Passage ihrer  Erzählung  einzutippen.
‘Ein  schwarzer  Bussard  mit orangen Augen stieß herab und landete auf seiner Schulter. Mark sah den Vogel an, erschrocken, doch nicht ängstlich, und sagte: ‘Nun, Bussard, wie geht es weiter?’ Der Raubvogel sah ihm lange in die Augen und antwortete: ‘Du, Mark, willst dem Wolf entkommen. Ich kann dir dabei helfen. Doch wisse: Mein Preis ist hoch!’ ‘Was, Bussard, verlangst du für deine Hilfe?’ ‘Deine Zukunft, Mark.’ Mark sah den schwarzen Vogel fragend an. Er verstand nicht, was der Bussard meinte. ‘Künftig wirst du mein Gefährte sein.’ ‘Wie soll ich das verstehen?’ ‘Ich werde dich vor dem Wolf retten, und danach lasse ich dich nicht alleine ziehen. Ich werde dir Sicherheit und Halt geben. Dafür bleibst du bei mir.’ ‘Aber das­’’

Wieder weinte Sonja. Sie meinte, tapsende Laute zu vernehmen, wie von den Pfoten eines großen Hundes. In diese Laute mischte sich das Kratzen, das lange Krallen auf hölzernen Böden verursachen. Sonja wandte sich langsam um, sah in die Richtung, aus der die Geräusche zu kommen schienen und erwartete, einen riesigen Wolf zu sehen. Sie zitterte vor Angst, und ihre Augen waren weit aufgerissen. Allein, es befand sich kein Wolf im Raum. Sie war alleine.
Sie schloss die Augen und erwartete, das Heulen der eingebildeten Bestie zu vernehmen, doch der Raum war erfüllt von Stille. Von tiefer Stille, die lediglich von ihrem schnellen Atem durchbrochen wurde. Sonja zwang sich ein weiteres Mal zum ruhigen Atemholen und beschloss, den letzten Satz ihrer Erzählung für Kinder einzutippen.
‘Mark und der schwarze Bussard verbrachten viele Jahre gemeinsam, der schwarze Wolf war besiegt.’

Sonja war erleichtert, diese positiven Worte niederschreiben und auf dem Bildschirm ihres Computers lesen zu können. Sie hatte ihre Erzählung zu einem guten Ende gebracht, auch wenn sie tatsächlich erst wenige Sätze geschrieben hatte.
Sie ging in ihre unaufgeräumte Küche, um sich einen Kaffee zu brühen, dann setzte sie sich mit der Tasse in der Hand guten Mutes wieder vor ihren Computer. Sie beschloss, nun die gesamte Erzählung einzutippen.
Sie las den ersten Satz, wollte eben den zweiten, den Folgesatz, beginnen, als sie ein ohrenbetäubendes Geheul vernahm, das sich hinter ihr erhob. Dieses Geheul wurde von kehligem Knurren unterbrochen, so böse und Unheil sowie Tod verheißend, dass Sonja erstarrte. In der Hoffnung, wieder bloß den leeren Raum zu sehen, blickte sie über ihre Schulter. Da sah sie ihn.

Ein riesiger schwarzer Wolf stand im Raum und heulte. Dann knurrte er aus tiefer Kehle. Sein Fell war verklebt, Sonja erkannte, von Blut, seine Augen waren von funkelndem Grün, und seine Reißzähne rot von Blut und Fetzen von Fleisch. Und der Wolf war nicht alleine gekommen.
Um seinen Hals lag eine aus scharfkantigen Gliedern zusammengesetzte Kette, deren Ende eine menschliche Gestalt in Händen hielt. Sonja erkannte die Gestalt sofort. Es handelte sich um Mark, den Helden ihrer Erzählung. Sein Erscheinungsbild glich dem, das sie vor ihrem geistigen Auge gehabt hatte, als sie ihn erschaffen, ihn sich ausgedacht hatte. Als sie jedoch ihrem Helden in die Augen sah, erkannte sie, dass diese nicht grün waren, wie sie sie  sich ausgemalt hatte. Sie waren schwarz. Glanzlos schwarz, aus ihnen sprach der Tod.

Sonja wollte etwas sagen, doch sie brachte keine Silbe über ihre Lippen. Sie schloss die Augen, hoffte, die Gestalten wären weg, wenn sie sie wieder öffnete. Doch sie blieben. Und sie kamen näher. Sonja wusste keinen anderen Ausweg aus ihrer Lage.
Sie sprang auf und lief zum Fenster des Zimmers. Sie öffnete es, stieg auf das Fensterbrett und sah nach unten. Ihre Wohnung befand sich im vierten Stockwerk. Sie wandte sich um, hoffte, die Gestalten wären verschwunden. Waren sie aber nicht. Sonja sprang aus dem Fenster. Sie dachte, dies war ihr letzter Gedanke, noch an einen schwarzen Bussard, der sie retten würde. Allein, die Uhr zeigte zweiundzwanzig Uhr dreizehn an.
Und Bussarde sind tagaktiv.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens |Inventarnummer: 17084

In der Nähe das Böse

Zum ersten Kaffee am Morgen lese ich üblicherweise fünf überregionale Tageszeitungen, zwei Wochen-Magazine, Beiträge mehrerer Nachrichten-Agenturen und drei Lokalzeitungen, online kostenlos natürlich. Ich stürze mich in die großen internationalen Ereignisse, ob Politik oder Naturkatastrophen, Kultur oder Wirtschaft, manchmal schaue ich noch in Science und People rein. Das Einzige, was ich wirklich nie lese, sind Börsenkurse und Sport. Am längsten bleibe ich bei den vermischten Nachrichten hängen, sei es ein Haiangriff in Australien, tot, mit einem abgebissenen Arm oder Bein, ein brennender Schweinestall in der Steiermark, entlaufene Pferde auf der A1 oder ein Familiendrama im Mühlviertel. Manches notiere ich mir oder kopiere etwas, vor allem wenn die Meldung eine irrwitzige oder komische Note hat. Immer auf Themensuche. Ich kann von mir sagen, dass ich eine recht geübte und abgebrühte Leserin bin.

Und trotzdem komme ich von einem Ereignis nicht los. Der Mord an einer jungen Frau, Amerikanerin, Studentin und Babysitterin in einer Wiener Familie, schreibt die Zeitung unter Lokales. Sie war an einem Montagmorgen nicht zur Arbeit erschienen; die Arbeitgeber informierten die Polizei, die die 26-Jährige tot in ihrer Wohnung fand, erdrosselt oder erstickt. Dazu war ein Foto abgedruckt, das Polizisten auf der Straße vor einem Haus zeigte, das ich sofort erkannte.
Es war mein Nachbarhaus, zweistöckig, gelbes Biedermeier, lange Ruine, kürzlich vorbildlich renoviert, mit einem grünen Innenhof, obenherum zwei Stockwerke bewachsene Pawlatschen-Gänge, genutzt von einem Edel-Italiener und hoffentlich auch den Bewohnern. Ein Juwel, ein Idyll und ein hervorragendes Beispiel für moderne Altstadt-Wiederbelebung. Ich pflegte dorthin öfter meine bevorzugten Gäste auszuführen oder chillte gern dort allein ab. Hier war für mich Wien, wie es von der besten Seite nur Wien sein kann.
Eigentlich liegt das Haus auf meiner Straße zwei Nummern entfernt, aber ein Stück seiner Rückseite ragt in meinen Hof hinein, so dass ich sie hinter den Bäumen immer im Blick habe. Mit einigem Kopfverrenken könnte ich auf die kleinen Klopfbalkone, in die schmalen Fenster der Gangklos und in die Gangfenster hineinsehen. Im Sommer mit den Blättern der Bäume ist alles verborgen, im kahlen Winter allzu deutlich.

Ich muss bekennen, dass mich dieser Mord mehr erschütterte als alles andere in der Welt. Seither denke ich darüber nach, warum das so ist, warum mich das Gefühl des Grauens bis heute in den Krallen hält. Ich spüre es, wie sich mein Herz zusammenkrampft und immer wieder Übelkeit aufkommt. Nimmt die Stärke der Betroffenheit mit der Anzahl der Kilometer ab, und mit der Nähe von ein paar Schritten zu, obwohl ich diesen Menschen gar nicht kenne?

Die Zeitung berichtete, dass Mary Louise M. aus Houston, Texas, seit einem Jahr dort gewohnt hatte und von ihren Arbeitgebern als äußerst verlässlich beschrieben wurde. Ich hätte sie auf meiner Straße gesehen haben können, an der Straßenbahnhaltestelle direkt vor dem Haus, im Supermarkt in einer Schlange mit ihr gestanden, in der Trafik, dem Blumengeschäft oder der Parfümerie. Ein Detail im Zeitungsbericht machte mir besonders zu schaffen: In der Wohnung des Opfers seien alle Glühbirnen herausgeschraubt, aber überall Kerzen aufgestellt gewesen. Eine Romantikerin, eine Ästhetin, ein Sparefroh?
Die ausgeschraubten Fassungen rauben mir die Fassung.

War es notwendig, dass man sogar ihr Passbild abdruckte, das eine hübsche, junge Frau mit langen, blonden Haaren und einem strahlenden Lächeln zeigte? Das pralle Leben, mit viel Hoffnung in den leuchtenden Augen sichtbar, alles vor sich. In mehreren Folgeberichten, die ich alle verschlang, kamen immer mehr Details ans Tageslicht. Die junge Amerikanerin habe nicht nur an der Universität studiert und die Au-pair-Kinder betreut, sondern ein lustiges Nachtleben geführt. Nachbarn wollen beobachtet haben, dass sie oft Besuch hatte und in der Einzimmer-Wohnung gerne Partys feierte. Nach einigen Tagen fällt der Verdacht auf einen neunzehnjährigen Ghanesen, einen Asylwerber, den man in der Schweiz aufgegriffen hat. Es wird seine Auslieferung beantragt. Dann war länger nichts mehr über den Fall zu lesen. Ich war allein mit meinen Überlegungen, warum sie nicht stärker gewesen war als ein unterernährter Flüchtling, sich zu wehren gegen etwas, was sie nicht wollte. Das durchtrainierte mexikanische Girl. Weil sie so etwas nicht in Wien erwartet hat. Aber das ist zu schrecklich. Und daran kranke ich.

Bei meinem nächsten Ausgang zündete ich eine Kerze an und legte ein paar Blumen vor dem Hauseingang nieder. Ich war nicht die Einzige, gut zu wissen, dass es anderen ähnlich ging, mit Grausen, Trauer und Trostsuche. Rechts vom steingemeißelten Torbogen waren im ersten Stock zwei Fenster mit braunem Packpapier verklebt. Davor waren noch immer zwei halb abgebrannte Kerzenstümpfe zu sehen.
Danach konnte ich nie wieder direkt am Haus vorbeigehen, sondern wechselte schon bei meiner Haustüre die Straßenseite, wobei ich immer auf die blinden Fenster blicken musste. Das ist jetzt ein Jahr her; der Ghanese wurde ausgeliefert und erwartet seinen Prozess. Er leugnet, obwohl die forensischen Beweise erdrückend sind. Vielleicht nur ein Unfall, kein Mord? Auch nicht tröstlich. Das Letzte, was ich darüber in der Zeitung las, waren Aussagen aus ihrem Umfeld, dass Mary Louise öfters Flüchtlinge bei sich übernachten ließ. Eine warmherzige, mitfühlende Seele.

Das hätte ich nicht lesen sollen, denn seither wird mir dieses fremde Schicksal vollkommen zur Obsession.
Ich konnte nun nicht einmal mehr dieses Stück der Straße benützen, mied die Trafik, den Bankomaten und den Blumenladen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ließ die Straßenbahnstation vor dem Haus aus, nahm einen Umweg über mehrere Gassen zur U-Bahn in Kauf und richtete nie wieder einen Blick auf die verklebten Fenster. Meine Schreibtisch-Sicht auf die Rückseite des Mordhauses deckte ich mit Hilfe des rechten Vorhangteils ab. Das waren natürlich nur hilflose Versuche, diesen Mord aus meinem Sinn und meinen Gefühlen zu vertreiben. Vielleicht sollte ich auch mit aufgeklebtem Packpapier das Grauen draußen halten.

Das Grauen blieb allgegenwärtig. War es die örtliche Nähe, die mir so ins Herz griff? Viel mehr als die hunderttausenden Kriegs- und Hungertoten in aller Welt? Als alle seither im Verkehr Verunfallten oder Lawinenopfer? War es die Vorstellung von einer lebenslustigen, jungen Frau, die Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf gab? Wurde sie auf diese schreckliche Art dafür belohnt, bestraft? Diese himmelschreiende Ungerechtigkeit! Wer macht so etwas, wer lässt das zu? Der Groll, die Wut wird nicht weniger. Groll und Wut, gegen wen eigentlich? Ich haderte mit den kindlichen Vorstellungen von einem barmherzigen oder rächenden Gott. Diese Mary Louise M. aus Texas, die hier selbst eine Fremde war. Vielleicht nannten sie ihre Freunde Malou? Hi Malou! Die Kinder riefen sie vielleicht Malli oder Ma-lo! Und sie sagte, Hallo, my sweety, my honey, my darling. Sie konnte gut singen und spielte Gitarre. Die Kinder liebten sie und verbrachten viel Zeit mit Malli, Mulli, Mallo.

Und der Gedanke an ihre Familie in Houston, die sich nicht vorstellen hatte können, dass ihrer Tochter, Schwester, Enkelin ausgerechnet in Vienna, Austria, eine Gefahr drohte. Ich sehe sie in der Gerichtsmedizin, wie sie sie identifizieren müssen und später weinend am Rückflug nach Houston mit dem Sarg. Ich lege darauf einen spirituellen Blumenstrauß, umarme die Eltern, spende in der Paulaner Kirche ein Requiem, stelle eine Kerze in mein Hoffenster, eine dunkellila Primel dazu und merke, wie der Bann langsam zu wirken beginnt.

Vor einigen Tagen ertappte ich mich dabei, dass ich an dem Torbogen vorübergelaufen bin und nebenan beim Installateur B. eine Klobrille gekauft habe, ohne an Malou zu denken.

23.1.17

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 17045

Hundert Jahre Unsterblichkeit

Als Alois Peter 122 Jahre zählte, war die Kraft, die ihn über unmenschlich lange Zeit jugendlich gehalten hatte, am Schwinden und ließ ihn des Morgens kaum aus dem Bett kommen.
Von Tag zu Tag wurde er immer schwächer und lag schließlich da, hingerafft von Alter und Krankheit, weder fähig zu sprechen noch zu essen, und doch nicht willens, sein Leben auszuhauchen.
Man ließ den Pfarrer rufen, der jedoch nach der siebten Nacht in Folge dem Kranken die letzte Salbung verwehrte, mit der Begründung, den Mann in den Tod zu geleiten, liege nun nur mehr in Gottes Hand, er habe seine Schuldigkeit getan.
Selbst im hohen Fieber konnte Alois Peter sein Leben nicht loslassen. Er fantasierte von grässlichen Grimassen und den eiskalten Fingern des Gevatters Tod, die ihn umschmeichelten, aber nie zu fassen bekamen. Er steigerte sich in ruhelose Angst hinein, die ihn immer wieder schreiend aufschrecken ließ und der Familie am Hof schlaflose Nächte bereitete.
Doch kein Weinen, Flehen, Beten und Betteln am Bett des Kranken verschaffte der gebeutelten Familie die Ruhe eines friedlichen Todes.

Karmella, die Jüngste am Hof, gerade sechs geworden, kam eines Abends in die Kammer gestolpert und schreckte aus den fantastischen Tagträumen ihrer kindlichen Welt auf, als sie ihren Ururgroßvater murmelnd auf seiner Liegestätte fand. Sie setzte sich zu ihm, nahm seine eiskalte Hand in ihre warme und blieb sitzen, bis die Schatten im Zimmer immer länger wurden.
Nun geschah es, dass Alois solchen Komfort, solchen Trost in dieser Berührung fand, dass er für kurze Zeit alle Dämonen aus der Umnebelung seines Hirns verjagen und mit klarem Verstand eine Entscheidung treffen konnte: So wollte er nicht mehr leben. Er tat seinen letzten Atemzug und schied dahin.

Sein Tod sollte der letzte für lange Zeit in diesem Dorf sein, denn mit seinem Dahinscheiden ging der Fluch der Unsterblichkeit auf dessen Bewohner über.
Keiner starb mehr, wenn er es nicht aus eigenem Willen tat, und weder Unfälle noch Krankheiten konnten dem kleinen Dorf etwas anhaben. Die Kinder wurden geboren, und die Alten wurden immer älter.
Als dann moderne Schmerzmittel in Form einer eigenen kleinen Dorfapotheke Einzug hielten, wurde das Altsein sogar noch angenehmer und Krankheiten erträglicher. Es schien ein unglaubliches Glück damit einherzugehen.

Die Kirche verlor zunehmend an Einfluss und wurde jeden Sonntagmorgen immer leerer, bis nur noch ein taubstummer Einsiedler bei schlechtem Wetter in ihr Zuflucht fand.
Der Pfarrer suchte Frauen und Männer auf, um mit ihnen über Gott zu reden. Doch Gott existierte nicht in einer Gesellschaft von Unsterblichen, und so traf er nur auf Unverständnis und Spott. Nach fünf Jahren ohne ein Begräbnis oder eine Taufe gab er es schließlich auf und widmete sich ganz seinem Kräutergarten. Zu Hochzeiten wurde er nur mehr formhalber eingeladen. Niemand legte mehr Wert auf den Segen Gottes, denn man fühlte sich emanzipiert, ja, befreit von der Illusion eines allmächtigen Wesens, das seinen einzigen irdischen Beweis, nämlich den des unwillkürlichen Dahinraffens von Menschenleben, eingebüßt hatte.

Nach  zwanzig Jahren gab es den ersten freiwilligen Tod. Eine Urururenkelin Alois‘ hatte sich in den Tod gestürzt. Ein Unglück, das nur eine kurze Phase der Trauer und Besinnung in das Dorf brachte.
Ein Einlenken hielt man für nötig, als der junge Müller im Dorf seinen Arm im Mühlrad zerquetschte, weil sich dort etwas verfangen hatte. Besinnungslos vor Schmerzen griff er zur Axt und schlug sich den Unterarm ab. Er verlor viel Blut, und als man endlich in der Lage war, die Wunde zu stillen, zog er sich eine Blutvergiftung zu. Er brüllte tagelang vor Schmerzen, und jeder im Dorf konnte es kaum mehr ertragen. So pumpten sie ihn mit Schmerztabletten voll, und als das nichts mehr half, redeten sie auf ihn ein, doch endlich das Leben auszuhauchen.
Als dies wieder nichts half,  fügte man ihm zusätzliche Schmerzen zu, um ihn am Weiterleben zu hindern. Sie brachen ihm ein Bein und legten glühendheiße Kohlestücke auf seinen nackten Bauch.
Man zerrte den fast vergessenen Pfarrer herbei, um ihn zu zwingen, den letzten Beistand zu leisten. Doch der besah sich den Verletzten nur und lächelte traurig. „Seine Knochen könnt ihr ihm brechen, doch seinen Willen nicht.“
Und so war es dann auch. Denn die Schmerzen waren nichts im Vergleich zu der unendlichen Angst vor dem Unbekannten nach dem Leben. Der Müller fürchtete sich vor dem Tode, weil er ihn nicht kannte, denn er war geboren worden, nachdem Alois seine letzte Ruhestätte gefunden hatte.
So lebte er in unbeschreiblichem Leid, verbannt von der Dorfgemeinschaft in einer Hütte am Waldesrand, wo niemand seine Schreie hören konnte.

Es dauerte hundert Jahre, bis der Fluch der Unsterblichkeit aufgehoben wurde. Mittlerweile gab es endloses Leid und Krankheit in dem kleinen Dorf und alle Schmerzmittel der Welt halfen nichts mehr dagegen. Und eine neue Unbekannte hatte sich im Laufe der Zeit in die Herzen der Menschen eingeschlichen: die Langeweile.
Wer nicht mit dem Stillen seines eigenen Leides und seiner Krankheit beschäftigt war, hatte nichts zu tun. Genuss und Lebensfreude waren einer immer gleichbleibenden Monotonie von Abläufen gewichen. Die Alten hockten in ihren Häusern, die Jungen bestellten die Arbeit am Hof. Es war ein sinnloses Dahinvegetieren.

Nun kam es, dass ausgerechnet Karmella, Alois‘ Ururgroßenkelin, die ihm in den Tod verholfen hatte, hundert Jahre nach seinem Tod wieder in ihr Heimatdorf zurückkehrte. Sie war mit siebzehn ausgezogen, hatte die Welt bereist und viele Seiten des Leben und Sterbens kennengelernt.
Sie war mit ihren hundertsechs Jahren körperlich und seelisch gesund geblieben und glich in ihrer Lebenskraft ihrem Ururgroßvater bevor dieser in seine schreckliche Welt des Schmerzes versunken war.
Mit Entsetzen betrat sie das ehemals kleine, idyllische Dorf, in dem nun keiner mehr seinen Frieden fand. Sie weinte bitterlich, als sie ihre Mutter wiedersah. Uralt saß diese im Schaukelstuhl, die Haut mit Flechten überzogen, bis auf die Knochen abgemagert und im Wahn vor sich hinredend. Sie musste schon Jahrzehnte hier sitzen, alleingelassen, und mit dem Stuhl verwachsen.

In der darauffolgenden Nacht träumten alle Bewohner den selben Traum und erwachten, bevor die Sonne aufging.
Karmella stand auf, ging zur Türe hinaus in Richtung Westen. Und während hinter ihr die Sonne langsam einen neuen Tag ankündigte, versammelten sich mehrere Dorfbewohner wie von einer unsichtbaren Macht geleitet, um Karmella herum. Der wahnsinnige Lebensdurst und die Angst waren aus ihren Augen gewichen und die Ruhe in ihren Seelen eingekehrt.
Wer wollte, begleitete Karmella an diesem Morgen in den Wald hinein. Sie sollten nie wieder zurückkehren.

Kurz danach erlagen die ersten Bewohner ihrer Krankheit oder ihrem Alter. Sie wurden bestattet und betrauert, es gab nach langer Zeit wieder Kirchengeläut und Nachtwachen. Und das Entsetzen vor dem plötzlich zurückkehrenden Tod wich nach kürzester Zeit wieder dem Alltag und der Menschlichkeit.

Nene Stark

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 17021