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Fährten

Den Blick hielt er nach unten gerichtet. Schneefall von schräg vorne machte dies notwendig. Mütze und Kapuze tief ins Gesicht gezogen, der Schal doppelt gewunden, um dicht abzuschließen gegen die nachmittäglichen Unbilden der Witterung. Beim steilen Anstieg in den Wald versuchte er, die Spuren der Tiere zu erkennen, die den Weg kreuzten, in rechtem oder spitzem Winkel, oder derjenigen, die den stark begangenen Weg der Dorfbewohner zu ihrem eigenen Pfad machten und ihre Tritte parallel zu ihnen setzten, zeitversetzt, versteht sich.
Die Parallelität lässt sich natürlich bei Hunden erklären, deren kräftige Krallen gut sichtbar. Im Umkreis der Gehöfte Katzentatzen ohne sichtbare Krallen.
Die Fährten erzählen kleine Geschichten.
Das Fehlen von Fuchsspuren leider auch.

Und natürlich die Spuren, die die Menschen hinterlassen, ihre Schuh- und Stiefelabdrücke, tiefe Stollen in den Gummisohlen mit Mustern, mit Kreuzen, Rauten, Streifen, Punkten, Sternen, Pfeilen, Dreiecken, Quadraten. Eindrücke von Schneeschuhen, die vieles unter sich lassen, Schnee und die Zeichen der Vorgänger.
Womit sonst sollte man sich befassen, wenn der Blick gesenkt ist?
Er musste lächeln, als er glaubte, in einem der Abdrücke den von Paula erkennen zu können, mit der er gemeinsam am Vortag auch hier entlanggegangen war, ein kleiner Kreis, der einen größeren schneidet und eine Schnittmenge Schnee bildet oder Matsch, je nach Beschaffenheit des Untergrundes.

Weiters jede Menge Pferdehufspuren, der Reiterhof lag in der Nähe. Und Pferdeäpfel. Waren es jene der viel zitierten zehn Pferde, die Paula heute nicht zum Mitgehen bewegen hatten können? Das Wetter zu widrig, Schneefall, Schneesturm, ein Wetterumschwung auf wärmere Temperaturen, das merke man beim Gehen, der Schnee ein wenig wässriger als gestern noch. Wahrlich kein Pulverschnee, der ihm nun beinahe waagrecht entgegenkam, sondern Eiskristalle, scharfe Eiskörnchen, die seinem Gesicht eine unverdiente Abreibung verpassten.
Kein Wunder, dass Paula heute ihr Zuhause vorgezogen hatte.

Er besah sich eine Mäusespur, die wie in einem Nähschnittmuster in Bögen und Zickzack von einer Seite des Waldes in die andere übersetzte. Gehäuft zu sehen waren die Doppelhufe der Rehe, vereinzelt die markanten Hasenspuren, manchmal mit charakteristischem Richtungswechsel. Der Schneesturm würde alle Spuren bald verwehen. Und hier – er musste blinzeln und sich hinunterbücken, um seinen Eindruck zu verifizieren – war ein kleiner hellroter Blutfleck im Schnee, frisches Blut!?
Er sollte sich sputen, die Dämmerung setzte bereits ein, aber die Blutflecken wiederholten sich in regelmäßigen Abständen, er glaubte, sie inmitten von Pferdehufabdrücken orten zu können, war sich da aber nicht ganz sicher. Die Sicht wurde immer schlechter. Vermutlich hatte ein Pferd eine Verletzung, auf die er aufmerksam machen sollte, damit sie nicht unentdeckt blieb. Es war wohl anzunehmen, dass der Ritt den Reiterhof zum Ziel hatte und der lag ohnedies auf seinem Weg. Also folgte er der Spur, obwohl der Schneesturm an Vehemenz zugenommen hatte und ihm inzwischen beinahe die Sicht nahm.

Auch das Atmen fiel schwer, der Wind drückte ihm die Luft ab. Noch war er nach seiner Erkrankung nicht in bester körperlicher Verfassung. Aber er fühlte sich kraftvoll genug und die Leistungsfähigkeit wollte schließlich trainiert werden, rüstig sein, so nannte man das bei Menschen seines Alters, nichts anderes wollte er von sich erwarten. Damals hatte er erst unter Atemnot und hustend zu seinem Arzt und dann zu den vermummten Sanitätern gesagt, dass ihn nichts und niemand …, doch als seine Frau ihn leise bat, gab er klein bei und sich in die Hände der Mediziner. Schon nach eineinhalb Wochen konnte er das Spital wieder verlassen und galt als gesund, mehr oder minder. Wie viel Glück kann man haben?! Und dann noch viel mehr davon: Die Krankheit war bei Paula nur mit leichten Symptomen verlaufen!

Dem Tag ging die Kraft aus, nicht so dem Sturm. Die Dunkelheit sickerte rasch in den Wald, füllte, was das Flockengeschwader übrig ließ, verdichtete jegliche Zwischenräume, undurchdringlich und fremd schien ihm der Wald. Einzig der Schnee am Boden erlaubte es, den Weg zu erahnen. Behäbig und schwerfällig fühlte er sich, sein Puls ging schneller. Er kam nur langsam voran, längst war nicht mehr daran zu denken, die Blutspur ausmachen zu können, nicht einmal die Hufabdrücke waren sichtbar. War er überhaupt noch auf dem Waldweg, ebendieser vermeintliche wand sich im Zickzack zwischen den Bäumen durch, ein Hasensteig eher. Da kam er auch noch zu Fall und kurz wurde ihm schwarz vor Augen, doch war er unverletzt. Paula hatte immer gemahnt, viele Stiegen zu steigen würde jene Muskeln trainieren, die man brauchte, um nach einem Sturz ohne Hilfe wieder aufstehen zu können, und so gelang es ihm mit Mühe und unter Zuhilfenahme seiner Wanderstöcke, sich wieder aufzurichten und weiterzugehen, Stapfen auf klägliche Weise.

Ein Stapfen ins Ungewisse, denn der Wind kam längst aus einer anderen Richtung. Er bekam es mit der Angst zu tun, hätte er doch längst den Pferdehof erreicht haben müssen. Im Sog der dichten Schneeflocken verließ ihn langsam die Zuversicht. Als sich endlich nach banger Zeit der Wald öffnete und er auf eine Lichtung gelangte, die ihrer Bezeichnung in dieser Finsternis nicht gerecht wurde, atmete er auf und wusste, dass er sich zwar verirrt hatte, sein Leichtsinn aber ohne Folgen bleiben würde. Die Straße war in der Ferne sichtbar, er würde ihr nur folgen müssen, um heim zu Paula zu kommen.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 21031

 

 

Materie

Materie geht nicht verloren, sie wandelt sich nur um.
Am Ende ist das Rauschen.
Ich bin ein flackender Bildpunkt.
Ich verlasse das Dunkel und gehe ins Licht.

Heiligenfiguren an der Wand der Pfarrkirche Maria im Dorn zu Beginn der Allerseelennacht 2020 in Feldkirchen

Heiligenfiguren an der Wand der Pfarrkirche Maria im Dorn zu Beginn der Allerseelennacht 2020 in Feldkirchen

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 21008

Deine Exfirma

Du bist arbeitslos geworden. Hast deine persönlichen Sachen aus dem Büro entfernen und den Schlüssel abgeben müssen. Dein Vorgesetzter hat sogar die Rezeptionistin angewiesen, ihn sofort zu benachrichtigen, solltest du die Firma betreten. Und die Kollegen haben dir hämisch nachgegrinst.

Brutal, nicht? Wieso? Das ist Marktwirtschaft. Du hast gut verdient, und hast du nicht noch mehr verdient, war es dein Fehler, dann hast du dich zu schlecht verkauft. Du hast dich bewusst dazu entschlossen, einen Schleudersitzjob auszuüben. Es ist halt immer auch eine Wette: Bist du gut im Job, wozu natürlich auch Glück gehört, kannst du hoch steigen. Scheiterst du, wirst du mit Schimpf und Schande aus der Firma gejagt.

Und jetzt, wo dies geschehen ist, verfluche am besten die ganze Belegschaft deiner nun Exfirma: „Typhus, die Pest und Hämorrhoiden sollen über euch kommen! Ich wünsche euch alles Schlechte! Satanas wird die Hölle verlassen und euch aufsuchen. Lacht nur, bevor das Weinen und Schreien kein Ende nehmen wird!“

Man muss seinem Ärger schließlich auch Luft machen, nicht?

Die kugelförmige orange Tischlampe und das lilafarbene NO W! in der Nacht

Die kugelförmige orange Tischlampe und das lilafarbene NO W! in der Nacht

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 21006

(Meine) Sonne

Sie bemerkte heute, dass der Wind manchmal sehr wie das Meer klingt.
Das Wetter war willkürlich gewesen in letzter Zeit. Samstags noch war sie bis zur Hüfte in der Donau gestanden und hatte befürchtet, dass sie sich wohl einen Sonnenbrand zuziehen würde. Heute waren beinahe den ganzen Tag lang sämtliche Lichter in der Wohnung aufgedreht. Der Himmel war vollständig von schweren, dunklen Wolken bedeckt gewesen. Es schien ihr, als hätte der Himmel am Tag zuvor seine ganze Energie verbraucht. Als sei der Himmel so müde wie sie. Wolle wie sie bloß schlafen, schreien und loslassen. Und wie der Himmel schrie.

Ihr fiel auf, wie dunkel es war. Sie sah aus dem Fenster hinaus und fragte sich, ob es zu regnen beginnen würde. Im nächsten Moment antwortete der Himmel. Donnerte die Antwort laut und nass gegen die Fensterscheibe.
Die Sonne war nie hinter den Wolken hervorgekommen, doch kam sie zu ihr nach Hause. Zuerst mit Brille, durch die sie braune Augen anlächelten, frischem Haarschnitt und Jeansjacke. Dann mit elfengleich blondem Haar, einem hellblauen Blazer und allen Möbeln, die noch nicht nach Wien gezogen waren.
Sie sah zu, wie die Wohnung, die sie ihr Zuhause nennt, aufwachte und zu leben begann. Sie horchte und roch. Jeder Raum fand seinen Nutzen.

Ihr Fenster stand offen. Warme, feuchte Luft strömte in ihr Zimmer. Es roch süßlich. Ein Nachklang der Zigarette, die sie Stunden zuvor geraucht hatte. Sie trat ein, ignorierte gekonnt die Unordnung, die sich darin breitgemacht hatte. Ohne Sonne war es ihr schwergefallen, Licht auf sich selbst und ihre Umwelt fallen zu lassen. So hatte sie ihr Zimmer, solange es nur ein Raum, solange die Wohnung nur das, aber kein Zuhause war, und das Chaos darin weit möglichst gemieden. Sie betrat es nur, um ihr Feuerzeug zu holen. Als sie es verließ, hielt sie jedoch im Türrahmen inne.
Ihre Sonne kam auf sie zu. Sie sah zu ihr hin, sagte ihr, dass sie bei ihr stehen und ihre Augen schließen solle.

„Hörst du den Wind? Er klingt wie das Meer.“ Sie legte ihre Hand auf den Kopf ihrer Sonne, spürte die Wärme, die endlich durch ihren Körper floss.
Sie hörte das Meer vor ihrem Zimmer, sah den großen Baum vor ihrem inneren Auge. Wie er sich den Wogen der Luft hingab und seine Blätter tanzten. Als sie ihre Augen öffnete, wurde sie angestrahlt. Nicht von einem sterbenden Stern, sondern dem Leben selbst.
Sie holte eine Zigarette und folgte ihrer Sonne in die Nacht.

Emma Kreska

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 20125

Die Welle

Die Welle kommt.
Sie bäumt sich auf,
hundert Meter hoch,
und sie wird noch höher werden,
da das Meer seicht ist vor dem Strand.

Also: Lauf!
Lass alles liegen und stehen
und lauf, so schnell du kannst!
Nimm nur deine Kinder mit
und deine Frau, wenn du mit ihr glücklich bist.

Der Traum vom Meer

Der Traum vom Meer

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 21003

Vanikoro

Die Seiten zeigen eine Insel.
Dabei ist eine Karte.
Vanikoro.
Fünfundzwanzig Namen für Wind gibt es hier
und vermutlich ebenso viele für die Strömungen im Meer.
Wo die Sicht zu Ende ist, ist es auch die Welt.

Das bunte Windrad auf dem Holzgebäude im Wind

Das bunte Windrad auf dem Holzgebäude im Wind

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 20102

Online

Hier kenne ich keinen
auf der Straße auch nicht
das hier ist ein anonymes Online-Portal
Leben
Byte für Byte
ein Tollhaus an Gedanken
Schrift fließt über den Bildschirm
Viele suchen nach Liebe
mehr Fehlschläge
als Glückstreffer,
Trolle lachen vor ihren Geräten
während sie weiter Öl ins Feuer gießen
dazu bekommen sie Gesellschaft von Spammern,
Selbsthilfegruppen
Hobbypsychologen
retten Leute aus brennenden Häusern,
Was so manch einer nie ausspricht
findet man hier
Roh
Kein Schnitt
Brutal
In primitiver Form ohne Hemmung
so beschreibt er, was sein Reptiliengehirn spricht

Herunterfahren
meine Augen sind verstrahlt,
Zurück zur Straße
nur Bewegungen
eine ruhige Welt
Der Spielplatz ist verschwunden

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 20075

Das Zeiträtsel

Es war gerade so schön mit uns, daher hielt ich die Zeit an. Aber das galt nur für die Situation und für mich. Du altertest dennoch, deine Haut wurde faltig, deine Zähne fielen aus, du begannst schlecht zu riechen. Da ließ ich die Zeit wieder weiterlaufen und verließ dich. Ich weiß nicht, was dann mit dir geschah. Wahrscheinlich bist du bald gestorben.

Die Skulptur der sitzenden Frau auf der Baustelle

Die Skulptur der sitzenden Frau auf der Baustelle

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 20061

Der Heimkehrer oder Ein Telefonat am Sonntagabend

Er:
Hallihallo, Kati, wollte mich zurückmelden, hab dir so viel zu erzählen, und wie geht’s dir?

Sie:
Na ja, es geht so. Seit wann bist du denn wieder da?

Er:
Gerade hereinspaziert bei der Haustüre, das Handy geschnappt und dich angerufen.
Ich sag dir was, das war ein Erlebnis. Dieses Detox, ewig wollte ich das schon machen. Kennst mich eh, immer am Smartphone, Tablet, Laptop, aber alles weg, drei Wochen lang, weil die Wochenendseminare, alles Scharlatane, das ist viel zu kurz, das macht nichts mit dir, das löst nichts aus, also unter drei Wochen ganz schwierig. Und was hast du so gemacht inzwischen? Während ich im Wald war und in der Hütte auf dem Berg und meine Gedanken von dem ganzen Digitalmüll befreit habe? (lacht)

Sie:
Nicht so viel, ich war daheim, fast durchgehend, hab viel ferngesehen, Social Media gecheckt, gesmst, … hie und da telefoniert.

Er:
Gift, Kati, reinstes Gift! Ich weiß ja, wie gern du zu Hause rumhängst. Aber auf die Dauer ist das nichts, für niemanden. Dir täte so ein Digital Detox auch gut. Alles hinter dir lassen, ganz du selbst sein …

Sie hüstelt.

Er:
Schau, das macht jeden krank, immer nur drin rumsitzen. Als ich in die Stadt zurückgefahren bin, ist es mir so richtig aufgefallen. Nicht mal die Kinder sind draußen, alle hocken drinnen und schauen wahrscheinlich in die Glotze oder aufs Handy. Furchtbar!

Sie:
Ja, da hast du recht.

Er:
Natürlich hab ich recht. Und ich hab gesehen, was die drei Wochen gemacht haben mit mir, mit mir als Mensch. Die Stadt erscheint mir nicht mehr ein Ort der permanenten Hektik und Überforderung, sondern fast ruhig, still. Im Park vorm Haus hab ich sogar die Vögel zwitschern gehört. Den Verkehrslärm hab ich anscheinend völlig ausblenden können, alles in mir ist angekommen. Die innere Verwandlung ist unfassbar.

Sie:
Ich glaube, du hast da was verpasst …

Er:
Nein, gar nicht! Das war die beste Zeit meines Lebens!

Sie:
Google mal „Corona“.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 20033