Schlagwort-Archiv: hardly secret diary

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Ich bin schon so Corona-müde! Ständig allein, das ist schon schlimm! Daher stelle ich mich in die Menschenschlange vor dem A1-Shop in den City Arkaden. Ich stelle mich überhaupt in jede Menschenschlange, um mit jemandem ins Gespräch zu kommen. Am liebsten mit einer hübschen Frau, aber besser mit irgendjemandem als mit niemandem.

Die Menschenschlange beim A1-Shop im Untergeschoß der City Arkaden am 4. Mai 2020

Die Menschenschlange beim A1-Shop im Untergeschoß der City Arkaden am 4. Mai 2020

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 21044

 

Wie Papier

Mit Dank an Kollegin Janschitz

Ich fühle mich wie Papier,
wie Papier, weißt du.
Nicht weil ich so dünn bin,
und weil Papier so dünn ist,
sondern weil ich alles spüre – jedes Ereignis
einen Eindruck in mir hinterlässt –, und weil
ich mich so leicht bewege,
wie Papier.

Papierkinder am Faschingsdienstag 2019 in Waidmannsdorf

Papierkinder am Faschingsdienstag 2019 in Waidmannsdorf

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 21028

Donnerwetter

Die Gedanken an dich
führen zu Lähmungserscheinungen
Was wäre gewesen wenn
Stopp!
Kann wieder einschlafen
Mein Verstand hat sich abgefunden
nach dir zu fragen
ist nicht sinnvoll,
Ich steuere ein neues Ziel an
durch die grauen Wolken
weg von dem erschütternden Donner
du bist ein zu schweres Unwetter

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 21024

Internationaler Sockentag

Meine Bettler-Galerie – 4. Dezember, internationaler Sockentag

Dass der 4. Dezember als internationaler Sockentag eingetragen ist, war mir bis gestern nicht bekannt. Ich bin damit groß und alt geworden, dass das der Barbara-Tag ist. Aber ich bin ja immer offen für das Neue.

Genau an diesem 4. Dezember 2020 ging mir die rumänische Bettlerin vor meinem Spar-Gourmet so sehr auf die Nerven, dass ich zur Tat schritt.
Ich kaufte aus dem Laden alles heraus, was ich für die nächsten vier Tage zu brauchen glaubte.
Fast alles Unsinn, das heißt so viel, dass ich das nicht verkochen, geschweige denn alles allein verdrücken würde können. Gäste? No chance.
Eine Riesenscheibe vom Hokkaido-Kürbis, Zwiebel, Knoblauch, Salat, Paradeiser in jeder Form, dazu Gewürze, Trockenfrüchte und einige Konserven für die nächsten zwanzig Jahre.
Ich bin keine Trümmlerin, sondern wollte nur über meine Grippeperiode drüber kommen, ohne auf die Straße gehen zu müssen.

Als ich mit den Taschen aus dem Spar-Gourmet auf die Wiedner Hauptstraße heraustrat, begrüßte mich diese Bettlerin wieder mit ihrem Danke, guten Tag, alles Gute. Ich habe es mir seit langem zur Gewohnheit gemacht, nur direkt an Projekte zu spenden oder ehrenamtlich Hand anzulegen.
Diese Frau sitzt nun schon drei Jahre vor meinem Laden, immer, ob Sommer oder Winter, in Fetzen eingehüllt, grässlich, abstoßend, unansehnlich, mit einer unangenehm blechernen Stimme sagt sie ihre eingelernten Sprücherl auf. Natürlich habe ich beobachtet, dass immer wieder Männer vorbeikommen, die sie wahrscheinlich abkassieren.
Ich habe ihr noch nie Geld gegeben, wie andere die Wechselmünzen in ihren ausgestreckten Becher reinwerfen. Gar nicht so wenige Wiener machen sich so ihr Gewissen leichter.
Ich denke viel darüber nach, warum sie und ich nicht.

Was mich packte, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls lief ich in einiger Gefühlsaufwallung in meine Wohnung schräg gegenüber und packte alles, was ich für die nächste Lieferung zur Caritas-Sammelstelle am Mittersteig ausgesondert hatte. Ein eigener Sack war eine Sammlung von Socken, zum teil historische, aus Russland, Bosnien, Albanien, der Türkei und Mazedonien. Die meisten Frauen, mit denen ich als ITV-erin in Berührung kam, beschenkten mich mit ihren Handarbeiten: Socken, Satteltaschen, Pölster, Kissen, Decken und gestickte Deckchen, Stick- und Strickwerk. Das meiste habe ich selbst getragen, gepflegt und hochgehalten, sogar ausgelegt, zum Teil bis heute. Zum Beispiel Deckchen von vergewaltigten Frauen aus dem Moraca-Lager.

Die CARLA ist seit dem Lockdown leider auch geschlossen.
Wurscht, dachte ich mir, und lief wieder auf die Straße zum Spar-Gourmet, zur hässlichen, schlecht tönenden, alten Bettlerin. Ich stellte die zwei Taschen vor ihr ab und ging wieder in den Spar hinein, weil ich Eier, Obers und Topfen vergessen hatte. Eine Tasche war voll mit Socken, keine aus der balkanischen Strickung, sondern neumodisch.
Als ich kurz danach zurückkam, sah ich sie, wie sie als Erstes eine Wollmütze über die alten Kopftücher zog, an den Händen meine Handschuhe, und an den Füßen probierte sie gerade die Socken.
Da konnte ich nur flüchten. Wohin nur?

4. Dezember, internationaler Tag der Socken.

Wien, 6.12.20

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 20129

 

Auf Grönland

Vater:           Na, Pauline, erinnerst du dich noch, was dein vertrottelter Exfreund letztes Jahr in unserem Iglu gemacht hat, während deine Mutter und ich uns bei ihren Eltern aufhielten.

Pauline:      Ja.

Vater:          Ja was, Pauline?

Pauline:      Er hat geheizt.

Vater:          Und was ist dann passiert.

Pauline:      Das Iglu ist geschmolzen.

Vater:          Und deshalb hast du ihm den Laufpass gegeben?

Pauline:      Nein, das hatte andere Gründe.

Vater:          In Ordnung, Pauline, ich will ja nicht zu neugierig sein.

 

Pinguine, Eskimos mit einem Iglu und Eisbären auf dem Lokal Marietta in Velden im März 2020

Pinguine, Eskimos mit einem Iglu und Eisbären auf dem Lokal Marietta in Velden im März 2020

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 21007

 

Die Frau im Zug

Sie schlief, als ich sie sah.
Wir hatten California bereits hinter uns gelassen. Die kleinen Flüsse, die neben den Bahnschienen ihre Wege zogen und dem Zug mit Wellen hinterherwinkten, waren lange schon verschwunden. Eine neue Weite begleitete uns nun. Grauer Sand, auf dem sich die Sonne zu spiegeln schien, erstreckte sich kilometerlang außerhalb der Fenster. Steppengebüsch bot die einzige Abwechslung zu den sonst kahlen Dünen. In meiner Vorstellung würde jede Sekunde Lucky Luke vorbeireiten und seinen Schatten jagen.
Stundenlang sah ich aus dem Fenster. In meinem Kopf wiederlebte ich kürzlich Erlebtes. Versuchte meine Erinnerungen zu manipulieren und bereiste Orte aus anderen Blickwinkeln zu betrachten. Dann schlief ich ein, wachte auf. Der einzige Hinweis darauf, dass Zeit vergangen war, war die Sonne, die ein Stück weiter rechts, ein Stück tiefer als zuvor stand. Doch die Landschaft war dieselbe.

Das und die Frau, die mir nun schräg gegenüber saß. Mein Blick fiel auf sie und blieb hängen. Wie bei mir wenige Momente zuvor war ihr Kopf seitlich gegen die Lehne ihres Sitzes geneigt. Ihre Augen waren geschlossen. Sanft. Nicht verkrampft, wie bei jemandem, der schlafen möchte, jedoch scheitert, sein Bewusstsein zurückzulassen. Sanft, wie bei jemandem, auf den der Schlaf bereits gewartet hatte. Ich fragte mich, ob ihre Zunge wohl entspannt in ihrem Mund lag oder an ihren Gaumen gepresst war. Ob sie die letzten Strahlen der Sonne spürte, die ihr Gesicht so zärtlich berührten. Sie beleuchteten jedes kleine Härchen auf ihrer Wange. Verliehen ihr einen Glanz, einen Schimmer, der sonst nur Göttinnen umgibt. Kurz meinte ich, sie würde tatsächlich leuchten.
Eine Haarsträhne löste sich von den anderen, die sie hinter ihr Ohr gestrichen hatte, und rutschte nahe an ihre Lippen. Ich hatte Sorge, dass ihr Haar sie kitzeln und aufwecken würde. Ich wollte es für sie zurückstreifen.

Plötzlich saß ich neben ihr. Behutsam strich ich ihr die Strähne aus ihrem Gesicht. Legte meine Hand auf ihre Hände, die übereinander in ihrem Schoß ruhten. Ich küsste ihren Kopf, der an meinen Oberarm gelehnt war. Vorsichtig. Sie brauchte ihren Schlaf. Wo sie wohl gerade war? Was sie tat? Ob sie mich vermisste?
Sie atmete tief ein. Langsam verließ sie den Ort, an den sie nie wieder zurückkehren würde. Ich sah zu, wie sie in sich ankam. Wie sich zu allererst ihr Zeigefinger bewegte. Dann ihre Lippen. Ich sah auf sie hinunter, als sich ihr Kopf und Körper langsam in eine aufrechte Position begaben. Kurz fiel mir ihre Brust auf, als sie ihren Rücken durchstreckte, jeden Teil ihres Körpers aufweckte.
Erst dann öffnete sie ihre Augen.

Über den Gang hinweg sah ich sie an. Ihre Augen fanden meine. Ich fühlte mich entblößt, ertappt. Doch ich sah nicht weg. Sie hielt meinen Blick fest.
Sie lächelte, als die Sonne hinter dem Horizont verschwand.

Emma Kreska

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 20126