Schlagwort-Archiv: Wortglauberei

Generalisierung

Vergangenheit,
eines Tages,
Mein Mund war verschlossen
Wörter versteckten sich
hängen geblieben im Nichts
Sekunden,
Fragen werden nicht beantwortet
Salven abgefeuert
von Schwärze geblendet
Muskeln gehorchen nicht
Kontrolle wurde verschenkt
Hände schlagen ins Leere
durchgeschüttelt liege ich da
müde
Nach den Spike-Wave-Komplexen,
aus dem Delta
meiner Theta-Träume
bin ich ganz bei dir

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 19122

Abgerissene Worte

Komische Sprache,
meine Blicke,
Deine Augen sahen es in meinen,
Nacht umgab mich,
Gedanken verlor der Körper,
Verwirrt spreche ich zu viel,
Zwischen,
mein Lieblingswort,
kein klares Wasser gefunden
Du meine Liebe,
eingeschlossen in Gedanken,
ein eigenes Leben,
blind verlieren,
doch deine ausstrahlende Wärme,
umhüllt mich,
Ich habe vergessen dich zu fragen,
wer du eigentlich warst

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 19118

Hin und Her

Ich wünsche mir eine Schaukel in meinem Garten, ein schlichtes Holzbrett an Seilen.

Eine Schaukel ist ein Hängesitz, mit dem man hin- und herschaukeln kann. Das Schwungholen erfolgt durch Streck- und Beugebewegungen mit den Armen und Beinen oder durch Abstoßen von einem festen Punkt.

Man lacht über meinen Wunsch und missbilligt das Schaukeln als Kinderkram. Ich weiß, es braucht theoretische Rechtfertigung. In aller Knappheit, unter Nichterwähnung der zahllosen esoterisch anmutenden Argumente: Das Hin und Her kann auch Erwachsenen Freude bereiten, das Schwingen wirkt sich wohltuend auf das Gleichgewicht im Innenohr aus und auf das der Seele, Stress wird abgebaut.

Die schaukelnde Person erreicht maximale Geschwindigkeit im tiefsten Punkt der Bahn; am Scheitelpunkt ist ihre Geschwindigkeit dagegen null.

Man fragt, ob ich mich nicht mit Verschaukeln begnügen könnte, also jemanden verschaukeln, ihn irreführen.

Beim Aufrichten muss dabei Arbeit gegen die Gravitation und die Zentrifugalkraft geleistet werden. Letzteres bewirkt eine Energiezufuhr, die zu einer Erhöhung der Geschwindigkeit am tiefsten Punkt führt und damit die Pendelbewegung antreibt.

Prokulus spricht mir aus der Seele:

Reich mir die
Hand durch die Zeit.
Nimm mich
auf Deine Schaukel.
So entgehe ich
allem.

Der Heilige Prokulus, Screenshot Wikipedia

Der Heilige Prokulus, Screenshot Wikipedia

Ich würde einfach gerne manchmal ein wenig meiner Zeit verschaukeln; nicht immer braucht es Erdung.

Quellen:
Wikipedia: Schaukel
Wikipedia: St. Prokulus (Naturns), Foto
Michael E. Sallinger: Proculus auf der Schaukel in: Der Schlern, 86(2012), H.1, S.73

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 19100

Sohn Marius

„Mama, da ist ein Brief vom Finanzamt“, sagt Sohn Marius. Er hat gerade die Post geholt. „Mach ihn auf“, sagt die Mutter, „und lies vor.“ Sohn Marius reißt das Kuvert auf. Er liest das Schreiben vorerst leise. „Mama, das ist ganz seltsam“, sagt er, „da steht: Sie haben zu Unrecht für zweiundzwanzig Jahre und zwei Monate Familienbeihilfe für Ihren Sohn Marius Peternell bezogen, da dieser nicht existiert. Wir bitten Sie“, Sohn Marius nennt einen enormen Betrag „auf“, er nennt das Konto, „zurückzuzahlen.“

„Was bedeutet das, Mama?“, will er fragen, aber bevor er den Satz zu Ende gesprochen hat, löste sich Sohn Marius auf, und das Schreiben fiel zu Boden.

Angebissener Zebra-Donut

Angebissener Zebra-Donut

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 19097

Bibliothek

Köpfe sind starr,
Gespräche verlaufen im Flüsterton
Eine starke Konzentration
schwebt in der Luft,
erstarrte Menschen,
Blätter sind die Meduse

Dort draußen
rasen Füße und Autos

Eine unsichtbare Macht,
in dieser Oase,
verlangsamt die Zeit,
dreht die Lautstärke zurück
Es sind starke Hände,
greifen aus den Bänden
Gewaltige Mächte

sind hier am Werke

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 19028

Kaltes Papier

Ein Stempel,
zwei Stempel,
viele Stempel,
schleiche mich auf das Papier,
es wechselt Hände,
Sie brauchen einheitliche Farbe,
dazu kommen Kürzel,
Finger tippen
Massenhaft verwandeln sie sich,
wie Raupen in Kokons,
elektronisch flimmern sie

Kopien sammeln sich,
zwischen Plastik,
ein Gewächshaus voller Bäume,
es überschwemmt
finstere Regale

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 19017

Prädikat mit Auszeichnung

Im europäischen Osten, Ende der 1960er.
Eine streng frisierte Frau sitzt an ihrem Schreibtisch, auf dem ein hoher Stapel mit Schriftstücken wartet. Sie trägt ein schlichtes, dennoch nicht elegantes Kostüm in einem grauen Beige oder einem beigen Grau und beugt sich ein wenig nach vor, um den klobigen Telefonhörer in die linke Hand zu nehmen, während die rechte sich noch schnell mit einem dunkelblauen Füller ein paar Notizen auf einem schneeweißen Blatt Papier macht. Danach wählt der rechte Zeigefinger mehrere Ziffern hintereinander. Die Wahlscheibe dreht sich jedes Mal mit einem mechanischen Geräusch wieder an den Ausgangspunkt zurück;  ein letztes „Klick“, bevor die Frau zu sprechen beginnt.

„Magda hier. Ich habe hier eine Menge Mitteilsames vor mir liegen, aber noch keine Starterlaubnis für meine Arbeit bekommen. Wenn ich in eurem Sinne bis Ende der Woche damit fertig sein soll, und das nehme ich stark an, dann sollte eure Abteilung in die Gänge kommen und mir einen Boten schicken mit den notwendigen Anweisungen.“

Gemurmel am anderen Ende der Leitung.

„Gut, dann fange ich ausnahmsweise ohne die schriftliche Genehmigung an. Ich verlasse mich auf dich, dass ich sie heute Vormittag noch bekomme. Bis dahin!“

Das andere Ende der Leitung spricht drei bis fünf Worte. Magda legt auf.

Sie nimmt sich den ersten Bogen Papier, beginnt eine wackelige Handschrift zu entziffern und seufzt. Jede Menge Arbeit. Je länger die Insassen hier verweilen, desto mehr haben sie zu erzählen. Und umso mehr ist sie gefordert.

Die Originaldokumente sind bereits kopiert, ein aufwändiger Vorgang, der Mitarbeitern der Sicherheitsstufe 5 vorbehalten ist. So findet sich das Blatt in Kopie direkt unter dem jeweiligen Brief, der für die Lieben daheim bestimmt ist. Sie arbeitet auf dem Original. Sie ist sich der Wichtigkeit ihrer Aufgabe bewusst.

Das Übliche. Verhöre werden nicht beim Namen genannt, denn die Briefschreiber sind gewieft genug zu wissen, dass ihre Mitteilungen nicht einfach ungelesen nach außen wandern. Es wird umschrieben, was das Zeug hält. Auch die Unschuld wird stets betont, immer sei man treu den Interessen des Staates gefolgt, alles ein Missverständnis und werde sich ehebaldigst aufklären. Wie eine Beschwörungsformel, die Magda bereits zur Genüge kennt, in Kopie abgelegt zu Tausenden in ordentlichen, strotzenden Sammelmappen.

Magda tilgt sie nun alle, die Beschreibungen der Unterbringung und Personen, die mit der Inhaftiertenbetreuung beschäftigt sind. Sie stellt ohne große Verwunderung fest, dass ein bestimmter Mitarbeiter, Einheimischer hier aus der Stadt, neuerlich als menschlich sehr zugänglich beschrieben wird. Sie nimmt davon Notiz, sozusagen, bevor der schwarze Balken diesem Lob wie der angedeuteten Beschwerde ein Ende macht.

Die Zensorin blickt auf den vierseitigen Brief, ihr vollendetes Werk. Immer eine gerade Anzahl von dicht beschriebenen Seiten übrigens, denn Papier ist hier ein besonders wertvolles Gut.
Sie ist zufrieden. Nicht nur hat sie sämtliche offensichtlichen Übertretungen ausgemerzt, auch die verklausuliertesten Andeutungen sind ihr nicht entgangen. ‚Du weißt doch noch, Tante Anitas Katze? So fühle ich mich gerade.‘ Was immer Tante Anitas Katze zugestoßen sein mag, es wird nichts Gutes gewesen sein. Weg damit.

Doch dessen nicht genug. Sie kann auch die Passagen, in denen inhaltlich nichts Beanstandenswertes vorkommt, nicht einfach so lassen, wie sie sind. Rechtschreibung und Grammatik sind wichtig. Wenn jemand nicht weiß, wie man schreibt, soll er’s lassen. Ihre Meinung.

So landen auch Stellen, in denen es darum geht, wie groß die Vorfreude aufs Wiedersehen mit der Familie ist, unter Balken. Eigentlich schon egal, denn Briefe aus ihrem Büro ähneln eher einem schwarzen Meer mit einigen Einsprengseln. Was jemand mit so einem Schreiben anfangen soll, war ihr immer schon schleierhaft.

Es klopft. Der Bote mit der schriftlichen Genehmigung; das ist erfreulich rasch gegangen. Er überreicht ihr aber nicht nur das vereinbarte einzelne Dokument, sondern auch ein zweites amtliches Schriftstück in einem Kuvert.  Sie kommt seiner schüchternen Bitte um Gegenzeichnung des Erhalts für beides rasch nach, denn sie ist mehr als neugierig auf das Unangekündigte. Das Kuvert bedeutet: bedeutsam. Der Bote entfernt sich dezent.

Die Genehmigung wandert nach kurzem Kontrollblick sofort in die richtige Mappe.
Sie reißt das Kuvert auf.

 

„Sehr geehrte Frau Dr. T.,

in Anbetracht hervorragender Leistungen in der Zensurbehörde und außerordentlich gewissenhafter Durchführung der Ihnen zugeordneten Aufgaben teilen wir Ihnen mit, dass Sie ab 5. Juno  als neue Leiterin der Zensurbehörde als Nachfolge von Herrn M. vorgemerkt sind. Wir bitten Sie höflichst, sich mit allen notwendigen Unterlagen zur weiteren Vorgehensweise am  25.05. cr. um 9 Uhr 15 in der Abteilung 12, Zimmer 34 einzufinden.

Mit vorzüglichsten Grüßen

Hässliches Gekrakel

Dr. Z., Vorsitzender des Komitees für Datenbearbeitung“

 

Frau Dr. Magda T. lächelt zum ersten Mal an diesem Tag und streicht mit der Hand über das glatte Papier, bevor sie es vorübergehend links hinten neben dem Stapel ablegt. Sie greift nach dem nächsten Brief.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 18136

Schreibend

Um zu schreiben, so dachte er, muss man sich einfach hinsetzen und seinen Gedanken freien Lauf lassen. Dass dies Arbeit erfordern könnte, war ihm nie in den Sinn gekommen. Henrik hatte mit seinen 59 Jahren von Camus bis Kehlmann alles gelesen und hatte die letzten Jahrzehnte damit verbracht, eine beachtliche Sammlung von Erstausgaben der klassischen Literatur anzulegen. Sein besonderer Stolz war eine signierte Erstauflage von Madame Bovary, die er in Paris bei einem Stand auf der Porte de Clignancourt zu einem Spottpreis von dreißig Francs ersteigern hatte können.

Seiner Frau hatte Henrik angekündigt, einen Roman zu schreiben. Einen Roman, von dem man leben könne. Also sprich, ein außerordentliches Epos, das sowohl Kritiker als auch das Lesepublikum in nachhaltige Begeisterung versetzen sollte. Sechs Wochen, hatte seine Frau gesagt. Du hast sechs Wochen. Nimm dir Urlaub. Nach sechs Wochen würde sich die Sache schon weisen.

Die erste Woche verging wie im Flug, er schlief lange, so lange, wie er es seit dreißig Jahren nicht mehr getan hatte. Dann frühstückte er ausgiebig, las die Zeitung und marschierte mit breitem Sonnenhut, einem Stapel Papier und seiner Federschachtel unterm Arm in den Garten. Dort in der Laube, umgeben vom Duft der Rosen und des wilden Weines, ja, dort sollte er seinen Roman beginnen.

Schriftsteller wollte er immer schon werden. Seit er ein kleiner Bub gewesen war und die ersten Zeilen der Wild-West-Romane seines Bruders gelesen hatte. Schreiben, so, dass die staubige, menschenleere Weite der Prärie vor dem geistigen Auge auftaucht, so, dass man die Schüsse knallen hört und die Cowboys und Indianer bluten sieht. Doch weder sein Vater noch seine Mutter waren begeistert. Schriftsteller, das war kein Beruf. Das war kein Leben.

Dennoch begann Klein Henrik alles aufzuschreiben, was ihm in den Sinn kam. Er kritzelte bis spät in die Nacht auf dem alten Zeitungspapier, das eigentlich schon zum Verheizen hinterm Ofen gelegen hatte. Wenn die Mutter es fand, las sie es und lobte ihn für sein „schönes Talent“, aber es landete dennoch jedes Mal in den unerbittlichen Flammen des Kachelofens.

Als er in der Schule durch seinen immer verträumten Blick aus dem Fenster auffiel, empfahl man den Eltern, dem Jungen jegliche Ablenkung zu entreißen. Seine Bücher wurden in einer Kiste auf den Dachboden verbannt, seine Bleistifte wurden in Mutters Kleiderschrank Nacht für Nacht versperrt und in der Früh zurück in den Rucksack gesteckt und jeder gelesene Zeitungsabschnitt wurde sofort verbrannt, damit keinerlei Ideen in dem Kopf des Jungen nisten könnten. Die einzigen Bücher, die ihm geblieben waren, waren die Schulbücher. Ein Stapel unscheinbarer, lustleerer Ansammlungen von quälend langweiligen Vorstellungen, wie das Leben zu lernen und zu leben war. Leidend büffelte er Mathematik und Chemie, er hasste Zahlen. Sie waren unschön, unromantisch und farblos. Er hatte nie einen hässlicheren Klang gehört als das Wort Substitution.

Im Gymnasium schrieb er die schönsten Texte, wurde gelobt und durfte sogar einmal ein Gedicht vor der versammelten Schulgemeinde nach der Weihnachtsmette vortragen. Gut, sagten seine Eltern. Du kannst schreiben, das wird dir beim Studium helfen. Also studierte Henrik Jura. Er schrieb lange Gesetzestexte, formulierte Klagen, konzipierte Briefe und hatte in seiner Karriere abertausende Aktenblätter ausgefüllt.

Er hatte während seines Studiums, bei der ersten Stelle am Gericht und bis er dann endlich seine eigene Kanzlei eröffnet hatte, kein einziges Mal allein zur Freude seiner Schriftstellerseele geschrieben. Erst als er Mitte dreißig war, schrieb er ein paar Leserbriefe und Kommentare an verschiedene Zeitungen, deren Veröffentlichung ihn immer in Höchstlaune versetzte.

Dann, einem lang verdrängten Trieb folgend, begann er wieder zu lesen. Und die ersten Bücher waren wie Tropfen auf einen heißen Stein. Es waren Bücher seiner Frau gewesen, die er immer am Nachttisch vorfand und zu denen er aus reiner Neugierde gegriffen hatte. Geschichten voller Herzeleid und flacher Charaktere, die zu erforschen zu blass waren.

Dennoch las er sie, saugte die Worte auf wie ein Verdurstender das Wasser in der Wüste. Danach las er alles, wofür er nie Zeit gehabt hatte. Ein, zwei Bücher in der Woche lesend bis spät in die Nacht. Jeden Samstag ging er in die Bibliothek, durchstreifte die Gänge, wie ein Raubtier auf der Suche nach seiner nächsten Beute.

Nun, endlich. Mit 59 Jahren sollte er seinen ersten Roman schreiben. Und was für einen noch dazu! Er saß nun mit ausgestreckten Beinen unterm Blätterdach der lieblichen Gartenlaube und sinnierte. Es fiel ihm ein, dass sein Großvater immer mit Pfeife sinniert hatte und wie sehr ihn das immer beeindruckt hatte. Also fuhr er in die Stadt und kaufte sich Tabak und Pfeife.

Als die erste Woche vorbei war, hatte er kein einziges Wort geschrieben. Doch anstatt zu verzweifeln, fühlte er sich so befreit wie noch nie. Er summte, kochte seiner Frau Abendessen und putzte sogar die Fenster, mähte den Rasen und pflanzte Blumen ins Balkongitter.

Nach der zweiten Woche fragte ihn seine Frau, ob sie denn schon etwas lesen dürfe. Henrik schüttelte den Kopf. Es sei noch zu abstrakt, die Ideen seien noch luftleer, und er hätte noch keinen konkreten Handlungsbogen.

Als er bei der Hälfte der vereinbarten sechs Wochen angekommen war, wurde Henrik unruhig. So, sagte er sich, setzt dich hin und schreib. Also setzte er sich hin. Also schrieb er. Er schrieb übers Wetter, über den Garten, über seine Frau. Dokumentarisch. Wie ein Jurist zählte er Vor- und Nachteile auf und schilderte detailgetreue Verläufe von Ereignissen. Das war keine Schriftstellerei. Das war Beamtendeutsch. Wütend zerriss Henrik jeden Abend, was er geschrieben hatte, und verbrannte es im Griller.

Zu dieser Zeit begann er intensiv zu träumen. Charaktere und Ideen flogen wirr in seinem Kopf herum, doch als er aufwachte verblassten sie. All die ungeschriebenen Worte, all die Geschichten und Abenteuer, die ihm als Junge so leicht aus der Feder gekommen waren, schienen jetzt versiegelt und vergraben unter den Jahren seines Lebens.

Während die fünfte Woche anbrach, weinte Henrik sich in den Schlaf. Hatte er es verlernt? War das, was er immer aus tiefster Seele geliebt, ja, was sein innerstes Wesen ausgemacht hatte, ihm nun für immer abhandengekommen?

Panik stieg in ihm hoch, und er las bis spät in die Nacht, begann seine Lieblingsromane, verwarf sie wieder, griff zu neuen Büchern, suchend nach Ideen, nach Inspiration, bis er erschöpft in seinem Ohrensessel und umgeben von knisterndem Papier einschlief.

Er verfluchte seine Eltern, seine Frau und sich selbst. Wie hatte er es zulassen können, dass er sein Leben der niedrigen Laufbahn eines Juristen widmete und nicht der eines Schöpfers, eines Fantasten und Verseschmiedes?

Ende der sechsten Woche resignierte Henrik. Geknickt saß er vor einem Stapel unbeschriebenen Papiers und gestand sich sein Versagen ein. Er würde seiner Frau alles erzählen, er würde am Montag wieder in die Kanzlei gehen und bis zum Ruhestand als braver Diener des Staates sein Bestes geben. Vielleicht in der Pension dann, wenn er wirklich Zeit hätte. Ja, tröstete er sich, dann würde er seine Glanzstunde als Autor haben.

Henrik ging durch den Garten, atmete die süße Schwere der Abendluft ein und atmete tief aus. Er betrachtete den Mond und die ersten aufglimmenden Sterne und empfand eine allumfassende Seelenruhe. Dann schritt er gemächlich hinein, setzte sich an den Küchentisch und schrieb bis zum Morgengrauen.

Nene Stark

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 18121