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Feuerzeug

Das Bic hat er sich nicht gekauft: Es ist irgendwie gekommen, auf einmal dagewesen, da wo kurz vorher noch gar nichts war, nämlich in seiner Hand, da war es auf einmal, hat dann seinen Weg in Haralds Hosentaschen wie von selbst gefunden, ganz ohne willentliches Zutun von Harald selber. Egal welche Hose er sich anzieht, egal welche Lade er aufmacht – in jeder Tasche, in jedem Sackerl findet sich eines der Dinger, mal schlicht einfärbig, mal beschriftet, besonders viele kommen vom Sägewerk Prödl, was ihn oft irritiert, gehört ihm doch das Unternehmen nicht, kennt er auch keinen Menschen, der da arbeitet, außerdem liegt es gut zweihundert Kilometer südlich in einem anderen Bezirk, einem anderen Bundesland, Harald hat das gegoogelt.

So ist das heute, er kennt es aber auch anders: Im letzten, gnadenlosen Winter durchstöberte er die ganze Wohnung, fand nirgendwo ein Feuerzeug, auch keine Streichhölzer; keine Steine, mit denen er Funken schlagen , kein Stroh, das einen davon auffangen hätte können. Damals arrangierte er am E-Herd ein paar schlanke Späne, die er sich aus seinem Kochlöffel geschnitzt hatte, zu einem kleinen Lagerfeuer, darunter platzierte er die Watte eines ungebrauchten Tampons als Futter, drapierte es noch mit hauchdünnen Streifchen, die er aus dem Klopapier gefuzelt hatte – das Flämmchen brennt aber nur kurz – die Zigaretten liegen noch im Zimmer, die Späne fangen das Feuer nicht wirklich, Harald kommt zu spät zurück.
So ist er doch noch runter auf die Straße, die wenigen Passanten rauchen nicht und fürchten sich vor dem Mann, der sie, mit einer Zigarette im Mundwinkel, eine zweite in der anderen feuchten Hand, seltsam ansieht – so als wollte er sie gleich was fragen. Sie wechseln die Straßenseite, so bald sie ihn sehen und beschleunigen ihre Schritte, so bald Harald Anstalten zeigt, eine Bewegung in ihre Richtung zu machen.

Seine Freunde kennen diese Geschichten, schon seit Jahren stecken sie ihm ab Ende September Feuerzeuge zu, lassen ihre unbeaufsichtigt vor ihm liegen. Ende Oktober ist dann Haralds kleine Wohnung so bunt wie der Frühling: in der Küche zu farbenfrohen Grüppchen arrangiert, im Zimmer nach Grundfarben zusammengefasst, auf der Stellage vor den ungelesenen Büchern in einer lange Doppelreihe platziert – diese Exemplare sind mit Werbeaufschriften versehen, Harald ordnet sie täglich alphabetisch nach den Anfangsbuchstaben der Firmen, die diese Feuerzeuge unters Volk streuen. Auch dieses Jahr ist das Sägewerk Prödl prominent vertreten, Harald reiht sie unter „P“ ein, nicht unter „S“.
Auf der Fensterbank, auf und in der Vitrine, am Spülkasten im Klo, auf und im Alibert, auch auf Tisch und Sessel kugeln ein paar, noch nicht sortierte, herum – es müssen tausende Bics sein, die seiner Bleibe einen etwas seltsamen, aber doch irgendwie lustigen, frohen Eindruck verleihen.

Der November und die ersten beiden Dezemberwochen sind Haralds Hoch-Zeit: Er ist stets gut gelaunt, lässt keine Party, kein Konzert aus, er ist überall anzutreffen, wo sich mehr als fünf befreundete Seelen zusammenrotten. In dieser Zeit geht er nicht aus dem Haus, ohne eine stattliche Anzahl der Feuerzeuge mitzunehmen, alle Taschen seines Sakkos beulen sich fast obszön, und er geht mit seinem Vorrat äußerst großzügig um: Er verschenkt sie wie selbstverständlich bei jeder Gelegenheit, drückt an der Busstation einer Greisin eines in die Hand, auch wenn sie nicht weiß, wie ihr geschieht, beglückt den Buschauffeur mit einem roten, die anderen Fahrgäste mit andersfarbigen Bics, bevor er sich hinsetzt.
In der Stadt angekommen, lässt er mit jeder gerauchten Zigarette einen der Feuerspender liegen, sein Sakko wirkt bald unnatürlich, auch wenn sich in seinen vielen Taschen und Täschchens nur mehr wenige befinden. Es geht sich stets gut aus, vor seiner Haustür zündet er sich eine letzte Zigarette an, nimmt das letzte verbliebene Bic sicherheitshalber mit rauf.

Es reicht jeweils bis knapp zum Jahreswechsel. So ab der dritten Adventwoche wirkt Harald nicht mehr so eloquent, so freundlich, so rund, wie ihn seine Freunde kennen – auch wenn es nach dem ersten Blick noch so scheint, aber selbst darin ist bereits eine gewisse Nervosität zu erkennen.
In der letzten Woche des Jahres Harald sieht nur mehr seine beiden vertrautesten Freunde und das auch nur in seiner Wohnung, die nun farblos wirkt, grau in grau wie das Schwarz-Weiß-Foto von ihm als Kind – diesem jungen, Gesicht, das ihn ständig aus einem kleinen Rahmen beobachtet: Vom Schreibtisch aus hat es auch einen guten Überblick über Haralds Reich.

Harald ist unaufmerksam, lädt das Handy, auch wenn er es nur mehr kurz und bei dringendem Bedarf einschaltet, sucht beständig irgendwas lange, bis er vergisst, was er eigentlich gesucht hat, überprüft ständig den Wasserstand der ‚Estufa Hidroponica’, die er hydrokulturell aufzieht  –  seine Freunde, die nur mehr die Sorge um Harald zu ihm bringt, bleiben jeweils nur kurz.

Harald lässt Silvester aus, rettet sich ins neue Jahr mit Feuerzeugen, die er noch in der einen oder andere Hosentasche findet, in einem schon so lange nicht mehr angezogen Anzug, in einem der vielen Schränke, vielleicht ganz hinten in der Brotlade, versteckt im Sommerschuh, vergraben in der eigentlich für die Petersilie gedachten Erde im Blumentopf in der Küche. Als letzten Ausweg gibt es noch auf kurzer Schnur vom Balkon herabhängende, ständig Wind und Wetter ausgesetzte Exemplare, vorsorglich hat er sie in kleine Plastiksäckchen eingeschweißt. Es handelt sich um völlig ungebrauchte, farbriksneue Reklame-Tools vom Sägewerk Prödl, genau so wie die Chance, die er in besseren Zeiten, mit Resten vom Silvesterblei beschwert, im Spülkasten versenkt hat.

Der Jänner ist hart, gegen Ende des Monats findet Harald auch die beiden Balkon-Exemplare nicht mehr, was ihn halb verrückt macht: Er lebt in seiner Wohnung in einem geschlossenem Inertialsystem, aus dem, rein physikalisch gesehen, einfach nichts verschwinden kann und Harald hat seine Wohnung schon seit Wochen nicht mehr verlassen, keine Freunde mehr empfangen, weiblichen Besuch gibt es in dieser Jahreszeit sowieso nicht. Zigaretten hat er noch genug, er hat für die schwere Zeit sicherheitshalber fünfzehn Stangen Zigaretten gebunkert – es gibt aber kein Feuer, schließlich funktioniert auch die eiserne Reserve aus dem Klo nicht: Er hat wohl in den guten Zeiten schlampig gearbeitet – das Ding schwimmt in dem Plastik wie ein Goldfisch im Glas. Während es Harald im Backrohr bei nur fünfzig Grad und offener Tür vorsichtig trocknet, durchstöbert er die ganze Wohnung, findet nur Bestandteile von Feuerzeugen, allerdings keinen Zündstein, es gibt auch keine Streichhölzer.

Auch keine Steine, mit denen er Funken schlagen könnte, kein Stroh, das einen davon auffangen könnte. Er arrangiert am E-Herd ein paar schlanke Späne, die er sich wieder aus seinem bereits sehr seltsam geformten Kochlöffel schnitzt, zu einem kleinen Lagerfeuer, darunter platziert er die Watte des vorletzten ungebrauchten Tampons als Futter, drapiert es noch mit hauchdünnen Streifchen, die er aus dem Klopapier fuzelt. Die Zigarette hat er bereits im Mund – das Flämmchen brennt aber zu kurz oder Harald saugt etwas zu spät darüber, er zieht nur kalte Luft in seine Lunge, kalte Luft, die etwas nach Tabak schmeckt.

So geht er doch noch runter auf die Straße, die wenigen Passanten rauchen nicht und fürchten sich vor diesem Mann mit dem etwas seltsamen Blick und einer Zigarette im Mundwinkel, eine andere in der feuchten Hand.

Erst dann kommt der Februar, danach der März und so weiter.

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? |Inventarnummer: 16125

panta rhei

es lebe das imperium!
viel besser badet es sich schon
im grenzenlosen rundherum
des  rundherumfinanzstromstroms.

es ist die uferlosigkeit,
die alles kann, die alles weiß:
wer jetzt nicht schwimmt, der geht bald unter
das macht das rundherum nur bunter.

wer kann uns noch das wasser reichen?
handtuchwerfen angesagt!
jeder widerstand muss weichen,
weil unser wasser balken hat:

balken fürs imperium!
und milliarden hungerleider
sitzen ratlos rundherum
und nähen uns die billigkleider.

balken aufstell´n mittendrein
und unsre guten besserwisser
rennen sich die stirnen ein.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16119

Österreich : Brasilien

Er hat siebzehn Tage nichts gesehen außer Tastatur und Bildschirm, nichts gelesen, außer endlose Befehlsketten, nichts gegessen außer Junkfood zwischendurch und zu den unmöglichsten Tageszeiten; keine Familie, keine Wärme, kein helles Kinderlachen, kein vernünftiges Gespräch, von Sex keine Rede; auch kaum geschlafen, nie geduscht, selten rasiert – drei Mal den „Tatort“ versäumt, auch wenn es versprochen war, sich den immer gemeinsam anzusehen.
Martin steht jetzt schon fast eine Stunde vor seinem Haus, dabei hat er sich seit zwei Wochen nichts sehnlicher gewünscht als diesen Moment: Nachhause kommen, duschen, baden, rasieren, Frau und Kinder küssen, was Vernünftiges essen, vielleicht einen Nachschlag und noch einen Humpen heben und dann schlafen, schlafen, schlafen, die ganze Nacht durch, schlafen, auch den ganzen Sonnentag lang.

Ding doing, ding doing – es wird schon Sonntag, Martin lehnt weiter am Gartenzaun gegenüber von seinem Haus, das der Bank gehört. In knapp 34 Stunden wird sich herausstellen, ob es bald seines wird oder er noch gut fünfzehn Jahre ganz tief in leere Taschen greifen wird müssen: Es hängt alles von dieser Präsentation am Montag um zehn ab. Wer wird dabei sein? – hoffentlich nicht dieser Hofer – könnten technische Probleme auftreten? – alles auf der sicheren Seite, but shit happens – wär es vom Konzept her vielleicht nicht besser, das Pferd noch einmal von ganz hinten aufzuzäumen? – …
Es beginnt leicht zu nieseln, Martin bleibt unter einem großen Baum zwar trocken, trotzdem ist ihm klar, dass er all diese Fragen nicht hier heraußen wird klären können, außerdem muss er rauf: Er hat ja auch von hier unten mitbekommen, dass sich hinter dem schwach beleuchteten Fenster die Buben gestritten haben und Peter, der Ältere, dem kleinen Paul kräftig eine drübergezogen haben muss.
Natürlich hat er auch die beiden anderen Fenster zur Straße beobachtet, die von seinem Schlafzimmer, also ihrem Schlafzimmer, dem von Erna und ihm. Den weißen Vorhang treffen unrhythmische bläuliche Blitze – Erna sieht wie immer fern, Martin meint, am Rhythmus der Lichter erkennen zu können, dass sie sich einen Actionfilm reinzieht. Endlich löst er sich, geht rüber – es ist ihm auch schon kalt – und öffnet die Haustür leise. Leise hängt er auch Mantel und Jacke hin, vorsichtig schlüpft er aus den Schuhen, achtsam steigt er die Stiege hinauf, vermeidet die vierte Stufe, die immer knarrt – die Reklamation wollte er immer schon loslassen, spätestens am Dienstag wird sich der Tischler was anhören können.

Oben angekommen schleicht er zur Wand zwischen den Türen von Kinder- und Schlafzimmer. Im Kinderzimmer ist es jetzt leise, wär er gleich raufgegangen, hätte er den Buben noch gute Nacht wünschen können, sie noch was fragen, ihnen noch was erzählen können.
Die Tür zum Schlafzimmer ist nur angelehnt, die Blitze beleuchten einen Spalt des grässlichen Teppichs, der hier immer nur dann liegt, wenn sich Ernas Eltern angesagt haben – sie haben gemeint, ihnen damit ein schönes Geschenk zu machen: shit happens – die werden sich wohl fürs sonntägliche Mittagessen angesagt haben.

Dieser eine Algorithmus in dem Programm macht Martin noch Sorgen: Er ist sich ganz sicher, dass er passt, er funktioniert ganz sicher – nur: Er kann es noch nicht beweisen. Er könnte ihn bei der Präsentation wie selbstverständlich einführen. Nur: Was ist, wenn sich der Hofer genau darin verbeißt? Dieser Algorithmus ist der Clou der ganzen Sache – Martin kann ihn also auch nicht unerwähnt lassen. Außerdem sind da noch ein paar Routinen, die sich sicherlich noch eleganter, noch anwenderfreundlicher gestalten lassen könnten.

Es wird gleich eins und Martin lehnt weiter an die Wand, im Kinderzimmer bleibt es ruhig, und er überlegt sich, noch einmal runterzugehen, in der Küche den Laptop auszupacken und sich bei einem gemütlichen Bier die Sache noch einmal genau durch den Kopf gehen zu lassen. Ja, das wird er machen. Aber erst nachher, zuerst muss er endlich Erna begrüßen, ihr zumindest sagen, dass er noch lebt – und jetzt endlich wieder einmal da ist.
Dabei weiß er, was ihn erwarten wird, es wird so sein, wie vor siebzehn Tagen auch: Erna wird sagen: “Martin, bist du‘s?“ – auch wenn sie ihn schon längst gesehen hat.
Nein: Vorher wird er noch zu den Buben gehen, ihnen einen schnellen, sanften Kuss auf Wange und Schläfe geben, Peter wird dabei aufwachen, nach einem weiteren Gutenachtkuss und dem Versprechen, mit ihm morgen Fußball zu spielen, rasch einschlafen. Erst dann wird er zu Erna gehen und sie wird ihn wieder verblüffen – sie verblüfft ihn immer.

Martin hat sich nicht getäuscht: Peter schläft noch nicht, er kriegt seinen Gutenachtkuss und das Versprechen, Paul schläft bereits tief und fest, Martin sieht ihm dabei zu, verliert sich in dem hübschen Gesicht, schweift gedanklich in die Zeit, in der er gleich alt war und selber dran war, das Verhältnis vom Ich zur restlichen Welt zu klären. Behutsam steht er wieder auf, vorsichtig schließt er die Tür, nicht ohne noch einmal einen Blick ins Zimmer zu werfen, der ihm bestätigt, dass jetzt alles seine gute Ruhe hat.

“Martin, bist du‘s?“, tönt es aus dem Schlafzimmer, im Nachtprogramm gibt es ein Gemetzel: Die trickmäßig ausgefeilteren Guten siegen über die brutalen, aber überlisteten Gangster. Abspann gibt es keinen, und so öffnet Martin sein Herz kurz nach dem letzten letalen Schuss: „Ich möchte mir dir reden, in letzter Zeit sind wir ja nicht mehr recht dazu gekommen.“
Erna sagt „gerne“, sucht die Fernsteuerung, findet sie unter ihrem Hintern und schaltet um.
„Morgen, also am Montag, hab ich den entscheidenden Termin.“
„Gut“, sagt Erna und stellt lauter. In den Nachrichten gibt es Bilder von Horden entschiedener Chinesen, die gegen eine Mauer treten, aus der sie Stück für Stück Steine lösen, die schließlich zu Boden fallen. Die nächste Einstellung zeigt die Szene aus der Luftperspektive: Es ist die chinesische Mauer und sie ist schon zu einem Gutteil beschädigt, im Schwenk wird offensichtlich, dass es sich dabei nicht nur um ein Teilstück handelst, sondern vielmehr großflächig an der Demontage des Weltkulturerbes gearbeitet wird.

„Was ist das?“, fragt Martin mehr in die Luft.
„Na, das mit den Chinesen und ihrer Mauer …“, antwortet Erna und fühlt auch eine Mauer zwischen sich und ihrem Mann, „ …, sie treten sie einfach ein, die Chinesen.“
„Und was bedeutet das?“, fragt Martin eine Spur zu laut, eigentlich wollte er sich diese Frage intern stellen.
„Keine Ahnung. Aber vorige Woche – war eh überall groß drin – sind sie mit Händen und Füßen losgestürmt. Hast du die Bilder nicht gesehen? Hat doch völlig doof ausgesehen: die vielen Menschen, die da mit Füßen auf diese große Mauer eintreten und dann auf einmal: bumm – fliegt wirklich ein Teil um.“
„Welche Bilder …?“, fragt er – wieder eigentlich sich selbst.
„Na, im ORF und ZDF und ARD und NTV und RTL, überall …“ – Erna sieht Martin fragend und ernsthaft und bekümmert und aufmerksam an: „… Sag jetzt bloß, du hast das nicht mitgekriegt?“

Martin steht wieder mit dem Rücken an einer Wand, diesmal im Schlafzimmer. Er braucht sie jetzt dringend als Stütze: Er will aufrecht stehen, sich keinesfalls hinsetzen oder umfallen – das ist er sich schuldig, das hat er geschworen, damals als Pfadfinder oder Ministrant, oder irgendwann: Er will aufrecht bleiben, sich nicht von irgendwelchen Informationen umhauen lassen, auch wenn sie schwer zu verarbeiten sind.
Martin lehnt sich fester an die Wand als notwendig, Ernas Ernst, Kummer und Aufmerksamkeit sickern langsam in ihn, und so vergeht doch einige Zeit, bis er eine schlüssige Antwort auf ihre Frage parat hat, die er zuerst durch ein ganz langsames horizontales Schwenken seines Kopfes kundtut: „Nein, also davon hab ich gar nichts gewusst, davon hab ich nichts mitgekriegt, die Arbeit …”.
Er stammelt das vor sich hin, Erna sieht ihn fragend an: „Na, Und das mit dem Governor …?“, die Frage beruhigt ihn etwas – jaja, da weiß er was: „Du meinst den, der sich bei den Demokraten auch gemeldet hat als Kandi …“
„Nein, den mit dem elektrischen Stuhl.“
„Nein, den mit dem elektrischen Stuhl kenne ich noch nicht …“, gibt er zu.
„Er hat drauf bestanden, selber der Letzte zu sein, der in Amerika auf den elektrischen Stuhl kommt und hat sich draufgesetzt …“

Martin, der in den letzten Minuten gehofft hat, irgendwas zu hören, was ihm Zuversicht geben könnte, erheitern würde oder zu einem Lachanfall verführen könnte, entkommt ein kurzes, schrilles Kichern, dann folgt eine stumme Phase, in der er auch diese Neuigkeiten in sich reinsickern lässt. Er stemmt seinen Rücken immer fester zur Wand, die Füße rutschen dabei immer weiter von ihr weg.
„Du bleibst jetzt ein paar Tage zuhause, ich erzähl dir alles, was so in letzter Zeit passiert ist, du informierst dich, die Zeitungen sind alle noch da, wir schauen ein bisschen fern und in ein paar Tagen bist du wieder dick da.“
„Ich muss am Montag präsentieren“, meint Martin, der an der Wand hängt wie ein geschlagener Preisboxer in den Seilen und ständig tiefer sinkt – die Füße finden auf dem sündteuren und blankpolierten Parkettboden immer weniger Halt.

In den Nachrichten sind sie beim Kurzblock angelangt, in dem es um internationales Papperlapapp geht: Ein paar tausend Ungarn und Ungarinnen haben genauso viele Finnen und Finninnen geheiratet (Erna hat die Live-Übertragung schon am Vormittag auf RTV gesehen), in Belgien ist ein bekennender Nationalsozialist zum Ministerpräsidenten gewählt worden, Indonesien ist durch den steigenden Meeresspiegel innerhalb weniger Tage auf die Hälfte seiner ursprünglichen Fläche reduziert worden, und Aldi erreicht ungeahnte Höhenflüge auf der Börse mit seinen Sonderangeboten mit den Übersiedlungsprogrammen zum Mars.
Martin schüttelt es kurz, er sinkt dadurch noch weiter an der Wand runter, seine Füße rutschen noch ein wenig weiter, schließlich klatscht sein Hintern auf den Boden.
Erna setzt sich neben ihn, hält ihn dabei weiter auf dem Laufenden: „Naja, und letzte Woche hat Österreich im Stadion Pacaembu in Sao Paolo gegen Brasilien 17:2 gewonnen …“
Es dauert einige Zeit, bis Martin vom Hier ins Jetzt findet.
Und: „Ach ja, hätt‘ ich doch glatt vergessen, wollte ich dir eigentlich gleich sagen: Dein Chef hat vorhin angerufen, das mit dem Termin morgen … der ist abgesagt, daraus wird nichts.”

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? |Inventarnummer: 16112

Brief an Felix

Lieber Felix,

Du wurdest im Jahr 2015 geboren. In diesem Jahr befand sich die Welt in einer Krise, deren Ausgang vorherzusagen mir zu dem Zeitpunkt, an dem ich diese Zeilen im Salzamt zu Papier bringe, nicht möglich ist.
Ich bin jedoch zuversichtlich, dass an dem Tag, an dem Du diesen Brief liest, die Stabilität wieder eingekehrt ist. Irgendwie ist es immer mit der Welt im Allgemeinen und mit Europa im Speziellen weitergegangen. Du kannst auf jeden Fall dankbar sein, dass Du im Herzen Europas aufwächst, einem nunmehrigen Hort der Menschenrechte und einem althergebrachten der Kunst – und das musst Du auch. Kleinere Störgeräusche gab es immer und wird es immer geben, doch im Großen und Ganzen ist hier ein sicheres und lebenswertes Existieren möglich.

Was ich mit Bestimmtheit sagen kann ist, dass Du auf eine gänzlich andere Art und Weise aufwachsen wirst, als meine geliebte Schwester, Deine Mutter, und ich selbst aufwachsen durften.
Nun wirst Du wahrscheinlich schmunzeln, denn unser Aufwachsen wird Dir veraltet, wenn nicht gar archaisch erscheinen. Nun schmunzle auch ich, denn verglichen mit der heutigen Zeit war es das auch. Ich hatte meine erste E-Mail-Adresse im Alter von einundzwanzig Jahren, also, so nehme ich an, zumindest zehn Lebensjahre später als Du.
Du wirst von Kleinkindbeinen an vertraut sein mit modernen Kommunikationsmitteln, wie auch mit dem Internet. Dies ist durchaus zu befürworten: Die Möglichkeit, Informationen binnen Sekunden in mund- oder vielmehr gehirngerechten Happen auf dem Tablet oder Mobiltelefon serviert zu bekommen, ist ebenso begrüßenswert wie verführerisch und wohl auch notwendig.

Jedoch ist nicht alles, was diese drei Adjektive in sich vereint, frei von Gefahren (so wie -fast- alles Gute auch seine negativen Seiten hat – aber das hast Du zu dem Zeitpunkt, an dem Du diesen Text liest, bestimmt schon erfahren müssen).
Ich meine damit keineswegs die Überwachung durch den Staat oder ausländische Geheimdienste oder Augenschäden durch zu lange Interaktion mit einem Display und diesen ganzen Zinnober, denn all das ist unausweichlich und als Tatsache hinzunehmen (bis auf den Augenschaden hoffentlich).
„Was ist ein Mensch ohne Papiere? – Weniger als Papier ohne einen Menschen”, hat Joseph Roth geschrieben.
Heute würde er wohl folgende Worte zu Papier bringen: „Was ist ein Mensch ohne Smartphone? – Weniger als ein Display ohne einen Menschen.”
Joseph Roth war gewiss kein einfacher Mann. Er hatte mit vielen Problemen zu kämpfen und trägt selbst die Hauptschuld an seinem frühen Ableben.
Doch trotz all der Unmenschlichkeit, welcher er ohne sein Zutun ausgesetzt war, und trotz der schlechten Erlebnisse mit anderen Menschen, für die er sehr wohl etwas konnte, hatte er sich eine, nicht nur in der Literatur seltene, Sichtweise bewahrt, und zwar bis, das ist verbürgt, wenigstens zwei Tage vor seinem elenden Tod: die warmherzige Sicht auf die Menschen.
Er hatte die Menschen geliebt, mit all ihren Schwächen, Fehlern und sonstigen Unzulänglichkeiten. Einen charakterlosen Karrieristen hat er mit der selben Empathie porträtiert wie eine leichte Dame oder eine einfache Frau, die nur das Beste für ihr Kind wollte und doch einsam endete.

Du wirst Dich nun fragen, warum ich Joseph Roth in diesem Brief hervorhebe. Nun, lies seine Werke – sie gehören zum Besten, was ich je gelesen habe.
Nein, das ist natürlich nicht der Hauptgrund. Ich will auf gänzlich anderes hinaus.
Die moderne Kommunikationstechnologie ist kein Fluch, doch birgt sie die Gefahr, dass die Menschen in ihrem Denken uniform (gemacht) werden. Sie werden dazu gebracht, im Strom mitzuschwimmen (ich habe einige Male vom ‘Mitlaufen im Geläuf der Lemminge’ geschrieben – aber das ist meine persönliche zynische Sichtweise auf die Gesellschaft).
Du darfst Dich niemals auf das verlassen, was Dir als Wahrheit vorgegaukelt wird. Ich verwende dieses harte Zeitwort bewusst. Natürlich ist es nicht so, dass alles, was im Internet zu lesen steht, eine glatte Lüge ist.
Wenn Du jedoch die dort gefundenen Informationen einseitig betrachtest und sie als selbstverständlich korrekt ansiehst, begibst Du Dich in die Gefahr, Dir ein Urteil zu bilden, ohne die Sachlage kritisch von mehreren Seiten betrachtet zu haben.

Das Leben hält viele Überraschungen bereit, positive wie auch negative. Die guten tut man allzu oft allzu schnell ab, denn der Mensch erwartet (weil er sich dies naturgemäß wünscht), dass ihm Gutes widerfährt.
Doch auch die schlimmen Dinge (die man, ebenfalls naturgemäß, nicht erwartet hat) haben etwas Gutes – glaube mir, ich weiß wovon ich rede.
Dies zu erkennen erfordert Zeit, und somit Geduld. Ich selbst habe diese Geduld über viele Jahre nicht aufbringen können und habe im Augenblick, also im Affekt, reagiert. Sei vernünftiger als ich, lieber Felix, und habe Geduld.
Die richtige Bewertung einer üblen Sache ist immer immer immer erst dann möglich, wenn man nicht mehr inmitten des mit ihr verbundenen innerlichen Sturmes steht, dann, wenn man mit ihr fertiggeworden ist und sie von außen betrachten kann.
Für diese beiden Bewertungen, sowohl für die von Informationen als auch die des Dir Widerfahrenen, braucht es andere Menschen, und zwar solche aus Fleisch und Blut.
Nur sie können Dir die richtigen Ratschläge geben oder neue Sichtweisen aufzeigen. Die ‘Freunde’ oder ‘Follower’ sind schön und gut, doch die persönliche Kommunikation, die von Angesicht zu Angesicht, ist unerlässlich.

Schon heute, zu meiner Zeit, ist es für jeden einfacher (und ich nehme mich da keineswegs aus), auf den ‘Gefällt-mir-Button’ zu klicken oder ‘Tut mir leid für dich’ auf eine Pinnwand zu schreiben, als sich näher mit Umständen oder Tatsachen zu befassen. Damit ist die Sache dann abgehakt.
Warum ich so kritisch über dieses Thema schreibe: Schon heute hat die Unpersönlichkeit Auswüchse angenommen, die mich erschrecken. Ich fürchte jedoch (und bin mir dessen beinahe sicher), dass sich dieses Phänomen in den nächsten Jahren, also wenn Du aufwächst, noch viel weiter ausprägen wird.
Nun bin ich wieder bei Joseph Roth angelangt.
Du musst einen warmherzigen Blick auf die Menschen richten, vor allem auf die in Deinem persönlichen Umfeld.
Jeder von ihnen hat Fehler, Schwächen und Unzulänglichkeiten, auch Du. (Ich natürlich auch – Deine Mutter wird Dir eines Tages sicherlich von diesen erzählen.) Dafür darfst Du die Menschen nicht verurteilen, vielmehr musst Du sie so sehen und annehmen, wie sie nun einmal sind.

Diesen warmherzigen Blick wirst Du an dem Tag entwickeln, an dem Du Deine Fehler akzeptierst. Ich meine die ‘Fehler’, die Deinen Charakter, Dein Wesen ausmachen – keineswegs solche, die Du leicht beseitigen kannst (denn die sollst und musst Du beseitigen). Schließlich werden wir nur mitsamt unseren ‘Fehlern’, ‘Schwächen’ und ‘Unzulänglichkeiten’ ehrlich akzeptiert und (im Idealfall) aufrichtig geliebt, sozusagen als Gesamtpaket.
Von ihnen wissen wirst Du klarerweise schon lange vor diesem Tag, doch erst wenn Du sie als Teil von Dir annimmst, wirst Du sagen können: „Ich bin ehrlich zu mir selbst und weiß von meinen Fehlern.” Und dann, glaube mir das, kommt der schönste Moment, nämlich der, wenn Du Dir sagst: „Ich stehe zu mir selbst.”
Ich kann Dir nicht sagen, wann dieser Tag kommt, niemand vermag das, doch er wird kommen.
Spätestens von diesem Tag an wird es Dir dann auch gleichgültig sein, was die ‘Leute’ sagen. Das konnte es Dir zwar bereits am Tag Deiner Geburt sein, denn sie sind und waren nie wichtig, doch ist es manchmal schwer, das Gefiepe der Lemminge zu überhören.

Lieber Felix, ich wünsche Dir auf Deinem Lebensweg nur das Beste in allen Belangen.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16106

Alles und nichts

Alles ist viel, nichts ist wenig. Nein, nichts ist nichts. Als ich mich entscheiden musste, ob alles oder nichts, da wusste ich noch nicht, wie wenig alles sein konnte.

Eine Flasche Whisky, den billigsten Fusel natürlich, zwei Flaschen Bier, Pils natürlich, und zwei Schachteln Zigaretten, West, die ganz starken natürlich, für die Nacht. Der Alkohol sollte reichen, um mich warmzuhalten, und die Kippen lassen die quälenden Stunden bis zum Morgen zwar objektiv nicht schneller vergehen, subjektiv aber schon, ich habe dadurch etwas zu tun, den Glimmstängel zwischen meinen gelbverfärbten Fingern halten und den Rauch einziehen, ausblasen. Beim Einatmen komme ich runter, die Welt dreht sich langsamer, ich habe das Gefühl, alles mir tagsüber Unergründliche zu verstehen. Sobald ich den teergetränkten Rauch ausatme, dreht sich die Welt so schnell wie immer, sodass ich das Gefühl habe, ich könnte herunterfallen. Hinabstürzen in ein endlich großes Nichts und irgendwann aufschlagen, dort liegen und mich nie wieder aus diesem Nichts wegbewegen können.

Ich bin sehr dankbar, dass der Kioskbesitzer an der Ecke heute nichts für die Zigaretten berechnet hat. Er weiß, dass ich meistens genug Geld habe, und wenn nicht, bringe ich es ihm am nächsten Tag zuverlässig. Manchmal schenkt er mir Zahnpasta, und ich kann in seiner Toilette meine langsam braun werdenden Zähne putzen. Danach fühle ich mich schön und lächle den ganzen Tag alle Menschen an, die ich sehe, egal ob sie hersehen oder nicht.
Heute hatte ich nicht genug Geld für Zigaretten, nur für den Alkohol. Heute hat es stark geregnet und es war herbstlich kalt, weswegen nicht viele Menschen in der Innenstadt waren, die mir ein paar Münzen hätten abgeben können.

Ich bin eigentlich nicht dumm, weswegen ich mich oft frage, wie ich hier gelandet bin. Auf Pappkartons und zwischen Mülltonnen, die mich vor kaltem Nordwind schützen. Als Kind fand ich Mülltonnen immer eklig, weil sie so gestunken haben, mittlerweile bin ich sehr froh um meine Mülltonnen.
Ich habe einen tollen Platz, in einer ruhigen Gasse, ein paar Straßen von der Westkirche entfernt. Ich mag es, wenn die Kirchenglocken zu läuten beginnen. Meine Großmutter hat früher, als ich noch ein kleines Mädchen war, immer zu mir gesagt, hörst du die Kirchenglocken? Die Engel feiern ein Fest und trinken auf uns Menschen, weil es uns so gut geht. Ich schraube den Whisky auf und trinke auf meine liebe Großmutter.

Ich bin sehr froh, dass der Regen aufgehört hat und schlendere durch den Park. Sehe Bob auf einer Bank liegen, sein linker Arm hängt hinunter, der rechte Arm liegt ruhig auf seiner Brust. Sein Hund scheint auch zu schlafen. Er heißt Marley. Bob ist beliebt bei Neuankömmlingen, er zeigt ihnen sichere Schlafplätze. Auch mir hat er geholfen, das ist nun schon Jahre her.

Diese Nacht ist ruhig, und ich genieße es sehr, ich muss mich nicht verstecken. In der Dunkelheit sieht niemand, wie schmutzig ich bin. Ich versuche mich einigermaßen sauber zu halten, im Gegensatz zu anderen Obdachlosen, die hier leben. Aber der Schmutz auf meiner Seele geht mit keiner Seife mehr weg.

Ich hatte bis zu dieser Nacht nie das Gefühl, dass ich nichts hätte. Ich fand, ich hätte zu wenig. Aber ich war gesund und trug Luft in meinen Lungen, ich versuchte zu überleben und das schon einige Zeit erfolgreich. Ich hatte also nicht nichts, aber wenig, von allem.

Aber in dieser Nacht, da habe ich erfahren, wie es ist, alles zu haben. Ich habe eine Handtasche gefunden, im Geldbeutel über 200 Euro Bares, sowie Bankkarte, Führerschein, Personalausweis und was die wohl gutbetuchte Dame noch alles in ihrer Tasche mitgeführt hatte, wagte ich kaum zu glauben. Schokolade, Pfefferspray, eine wunderschöne blaue Baumwollweste, einen edlen Schal, einen Regenschirm, allmöglichen Kosmetikkram von Wimperntusche bis Lidschatten, Hustenbonbons und ganz am Ende meiner Durchsuchungsaktion fand ich einen Scheck über 10.000 Euro. Ich malte mir ein völlig neues Leben aus, mein neues Leben, in dem ich reich war und alles hatte, was ich in meinen mutigsten Träumen nicht besaß.

Ich konnte es kaum erwarten, bis die Banken am nächsten Tag öffneten, damit ich das Geld abholen konnte. Ich sah mein neues Leben wie durch einen Trichter, einen Tunnel, ich musste nur einfach schnell an das wunderbare, lichtdurchflutete Ende gelangen, an dem Wohlstand auf mich wartete. Kaum sah ich die Sonne aufgehen, rannte ich los. Bis zur Bank war es ein weiter Weg.

Kurz bevor ich ankam, ich rannte noch immer, konnte ich die goldenen Lettern der großen Stadtbank schon sehen und hatte nur noch ein paar Straßen zu überqueren. Ich hörte die Kirchenglocken läuten, blieb instinktiv stehen und dachte mit einem Lächeln an meine Großmutter. Ich dachte, ja Oma, bald feiere ich wie die Engel.

Kurz bevor ich starb, wurde mir klar, wie wenig „alles“ war. Der Lkw erwischte mich mit voller Kraft, meine Blindheit aus Hoffnung, nun reich zu sein, vermischt mit den Erinnerungen, die die Töne der Kirchenglocken in mir hervorgerufen hatten, hatten mich in der Mitte der Straße zum Stehen gebracht. Ich sah noch die Scheinwerfer aufleuchten, und mir schoss durch den Kopf, wie viel ich von meinem Leben noch gehabt hätte, wäre ich bei meinem Nichts geblieben.

Lena Vilsmeier

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? |Inventarnummer: 16082

Tip

Ich checke im Paradiso ein, ein Fünf-Sterne-Schuppen.

Nachdem das beendet ist, rollt ein Roboter auf mich zu, ziemlich flott, für meinen Geschmack. Er reicht mir bis zur Brust. Ich halte meine Keycard. Er schnappt sich meine Koffer. „Guten Abend, Mr. Simpson, Sie wohnen in Zimmer Nummer 1009?“, fragt er, dabei weiß er es ja, weil er mit dem hotelinternen Netz verbunden ist.

Er rollt zum Aufzug. Ich folge ihm.

Als die Kabine da ist, trete ich ein, er rollt hinein und drückt auf den Knopf mit der Zehn. Ich sehe auf ihn hinab. Er dreht seine elektronischen Augen zu meinen menschlichen. „Ich weiß, was Sie denken, Mister“, sagt er. „Sie denken, Sie brauchen mir kein Trinkgeld zu geben, aber da irren Sie sich, dafür ist ein spezielles Fach in mir integriert.“

Johannes Tosin

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16069

Perechil

Gedicht zur Zeitenwende des 27. Jahrhunderts
(Adidas Grillfuß von Transdanubien zugeschrieben)

Antiborie konokul
Dokaa liku benefit
Dorobian an Klimakat
A, perechil – anlaga sahara

Nichtland der Konokulen
Wozu du gut bist wurdest du gebaut
Damals im 21. Jahrhundert
Oh, Perichil – Afrikas Verlust

Otanu kje tjeilitje brittan:
Kere eitja Mastakart
constructei ti tjiltawa
Tjilta kon bi waratun

Nicht so die heimatlosen Briten
In ihrer großen Not
Errichten sie auf dir Zeltstädte
Zelte ohne Glück und Dauer

Elsei inte Demokrat:
Axen ein tan eredit?
Janit terror, janit warp
Otan ut te geklite

Darauf antwortet Europa
Was hätt ich ohne Grund getan?
Keine Bedrohung, keine Waffen
Jetzt ist beides mir gegeben.

Koniktik geboititet
Ke perechil kei wrapatat
Frogon kono sei su tei
Keu peu dito sigal

Behauptung schafft Bedingung
Nicht unterscheidet der Eingebundene
Ein Frosch weiß nur von seinem Teich
Die Möwe kann von beidem sprechen

Sovrit gilt fer antopos
Wrapan su meriticta
Tixo allam globalkilt

Genauso auch die Menschen
Strebend nach Ruhm und Ehre
Kleben sie doch alle an den Rockfalten der Erde

Insurans Demokratia perechil
thinksit selfan supermacht
Ey tschillig driftan plataa…

Versichert sich Europa Perechils
Glaubt es sich ordnend überlegen
Und doch: Geduldig wandern die Kontinentalplatten…

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? |Inventarnummer: 16049

Kapuzinergruft

Paul sank tiefer, immer tiefer in die Polsterung seines Lehnstuhles. Es bereitete ihm große Mühe, die Augen offen zu halten. Die letzte Zigarette hatte zarte Rauchschwaden hinterlassen, die sich feig in Richtung sichtundurchlässiger Gardine, zum halb geöffneten Fenster hin davonmachten, um sich von dort in trägen blauen Windungen den Weg nach draußen zu suchen, wo sie hoffen konnten, Anschluss an die sonntags eingetroffene Westströmung zu finden.

Er las den letzten Absatz der Zeitung immer und immer wieder. Vielleicht machte ihn gerade das so müde. Niemand könne verhindern, dass sich Täter mit Sprengstoff unter die Menge mischen! Keiner könne eine Messerattacke verhindern! Was für Zeiten! So was hatte es immerhin zu Kaisers Zeiten auch schon gegeben, beruhigte er sich. Schöne Beruhigung! Was für eine Welt, dachte Paul. Die offene Zeitung glitt sanft seine Beine entlang zu Boden.
Als wandelte er wie im Traum seinen gewohnten Weg, die Josefsgasse hinunter, vorbei an dem Haus, wo Oskar Werner gewohnt hatte, an den er sich noch erinnerte, als wäre es gestern und auch an das Gasthaus an der Ecke zur Josefstädterstraße, in dem jener gerne verkehrte, jetzt Restaurant zur „Frommen Helene“. Von dort aus überquerte er die Auerspergstraße, davor der berüchtigte und vor hundert Jahren beliebteste Duellplatz der jungen Herren aus gutem Hause. Duelle gab es hier heutzutage keine mehr, zumindest nicht mit Degen, aber dafür andere, solche mit Autos.

Warum sollte ausgerechnet diese Stadt vielleicht jetzt auch noch Zielscheibe des Terrorismus werden? Pauls Stirne zeigte deutlich Falten. Erst viel später war hier die legendäre Vergnügungsmeile entstanden, eine zwei Kilometer lange Demarkationslinie zwischen Neubau und Josefstadt bildend, zwischen Musik und revolutionärem Geiste. Doch heute – heute donnerte der Verkehr an den ehrwürdigen Palais vorbei und färbte ihre ehemals blendend weißen Kalksteinfassaden grauschwarz. Das vielgerühmte Walzerviertel, in dem einst Strauß und Lanner gewohnt hatten, war mittlerweile alles andere als romantisch, aber – was sollte es, heute war trotzdem ein besonderer Tag, nämlich der Tag des hundertsechsundachtzigsten Geburtstags des Allerhöchsten, der heute gefeiert wurde, posthum quasi, wenn auch nur in kleinem Kreis, und bei weitem nicht so pompös wie damals.

Vom Burggarten her waren Trommeln und Blechmusik zu hören, sie kamen näher und näher, hin in Richtung Kapuzinerkirche am Neuen Markt. Paul schob sich unauffällig unter die Menge, die sich, bunt gemischt, aus Alt und Jung, mit Dirndl und Lederhose oder im T-Shirt, militärbemützt, mit und ohne Regimentsfahne durch die widerspenstige, immer wieder zufallen wollende Kirchentür drängte. Es gab noch freie Plätze. Paul setzte sich in eine Bank nahe dem rechten Seitenaltar. Neben ihm eine ältere Dame mit weißen Handschuhen und Gehstock.

Niemand könne verhindern, dass sich Täter mit Sprengstoff unter die Menge mischen! Der Satz ließ ihn nicht los. Wer würde solche Menschen wie diese Frau hier und diese Menschen hier wegen ihres Glaubens zu Opfern machen wollen?, dachte Paul. Für wen würden solche Sinnlosigkeiten Sinn machen? Was stand wirklich hinter diesem Wahnsinn, der nun schon seit Jahren beinahe weltweit tobte? Paul sah sich um. Das Altarbild zeigte Jesus Christus, auf einer Wolke schwebend, mit der Linken ein mächtiges Holzkreuz umklammernd. Nie zuvor hatte ihn der Anblick dieses Bildes so sehr berührt wie eben. Die Schar der Begeisterten würde auch immer kleiner, raunte ein Besucher hinter ihm. Vor zwanzig Jahren hätte man hier keinen Platz mehr gekriegt um diese Zeit, meinte ein anderer.
Paul schaltete sein Handy ab und schob es in die Rocktasche. Die meisten der Anwesenden waren nicht besonders festlich gekleidet, und unter die Uniformierten und Trachtenbejoppten hatten sich zahlreiche neugierige Touristen gemischt, mit offenen Blusen, verschwitzt, mit allerlei Souvenirzeug beladen. Draußen – ein warmer Augusttag, wo sich Radfahrer auf Radwegen tummelten, drinnen – angenehme Kühle und leises Geflüster. Autolärm drang herein. Rechts von Paul, am Boden, eine von unten her beleuchtete Öffnung, in Stein eingelassen, die Gruft des Marco d´Aviano. Eine Dame links von ihm blätterte laut raschelnd im schwarz-gelb gehaltenen Festprogramm.
Paul rutschte unruhig auf der harten Holzbank hin und her und suchte nach einer bequemen Sitzposition, was ihm nicht so ganz gelingen wollte. Hinter ihm zischelte man sich alte Geschichten längst vergangener Tage zu, wohl um sich einzustimmen auf die Zeitreise für diese alljährliche Feier. Und ob man schon gehört hätte, es wäre wieder wo eine Bombe hochgegangen. Naja, im Ausland, sagte einer.
Nicht nur anderswo, auch bei uns wäre so ein Anschlag möglich, dachte Paul. Schrecklich der Gedanke! Er war neulich im Wiener Musikverein. Ein herrliches Konzert, aber schon in der Eingangshalle überlegte er, da befinden sich Hunderte Menschen völlig unkontrolliert in einem öffentlichen Gebäude. Wenn sich da ein paar Typen mit Sprengstoffgürteln daruntermischten, konnte Fürchterliches geschehen, und er hatte sich besorgt umgesehen. Ausschau halten, dachte er, nach Personen, die so aussehen wie…

Ein kahlköpfiger Pater in brauner Kutte entzündete bedächtig die mächtigen Kerzen am Hauptaltar. Dann strömten ordenbeladene, mit Umhängen ausgestattete, trotz allem Prunk sehr bürgerlich aussehende Würdenträger den Mittelgang entlang, hin zu den vordersten Reihen, um dort ihre Plätze einzunehmen. Mitglieder des Malteserordens wohl, durchfuhr es Paul. Das is´ ja der Präsident!, raunte jemand hinter ihm, do schau her! Was denn für ein Präsident, überlegte Paul fieberhaft und verrenkte sich beinahe den Hals. Zwölf rosarote Gladiolen zierten den Altarraum, in einer überdimensionalen Bodenvase steckend, links und rechts davon stand Grünes, in lehmgebrannten Töpfen. Ein Militärbemützter sank stöhnend auf die Sitzbank nieder, in der Paul saß, dass alles bebte.
Das Alter, dachte Paul. Wie würde er es erleben? Die Weißbemäntelten der ersten Reihen tuschelten untereinander und steckten die Köpfe zusammen. In schwarzem Tüll erschien eine offensichtliche Nachfahrin des Allerhöchsten, würdigen Schrittes, ganz nach vorne stelzend, sich ihrer Schirmfrauenschaft dieser Feier wohl bewusst und von allen begafft, setzte sie sich in die erste Reihe. Hinter ihr, Uniformierte eines Traditionsregimentes, mit Fahne, vorneweg tragend, ein dicker Hauptfeldwebel mit gezogenem Säbel, linke Hand abgewinkelt, Klinge auf seiner linken Schulter ruhend, Tschako schief am Kopfe sitzend, Gesicht hochrot.

Er selbst wäre zwar ein liberaler Mensch, dachte Paul, aber sollte man nicht jetzt überall Metalldetektoren aufstellen? Oder würde man die Leute damit bloß verunsichern? Noch mehr verunsichern als sie ohnehin schon waren? Dann kämen die mit den Säbeln hier erst gar nicht herein, musste Paul schmunzeln. Man muss sich bewusst werden, welch großartige Freiheiten man eigentlich hatte und dass man bislang relativ sicher gelebt hatte. Aber diese neuen Zeiten brachten einen völlig durcheinander.

Die Uniformierten verteilten sich im Kirchenschiff, sozusagen einzeln abfallend, jeder irgendwo, drei von ihnen etwas enger beisammen als der Rest. Der mit der blanken Klinge schritt bedächtig den Mittelgang entlang und musterte mit prüfendem Blick die Seinen und die Übrigen. Ein Säbel gegen Handgranaten oder Dynamit, dachte Paul. Was tun wohl die geheimen Nachrichtendienste vorausblickend, überlegte er? Ob die alle wirklich effizient zusammenarbeiten würden? So betrachtet wäre neun/elf mit hoher Wahrscheinlichkeit vielleicht zu verhindern gewesen, hatte einmal einer gemeint, die Geheimdienste hatten doch alle Informationen beisammen? Man hätte sie nur richtig zusammensetzen müssen.
Irgendwo fiel eine Münze zu Boden. Es gab ein klirrendes Echo. Vielleicht hatte man das große Ganze nicht gesehen, damals? Abgesehen davon hätte man denken müssen, wer heute dein Freund ist, kann schon morgen dein Feind sein. Ist doch lächerlich! Misstrauen wäre ein essenzieller Faktor. Und wenn schon, was könnte man selbst tun?
Paul zermarterte sich das Gehirn. Menschenansammlungen meiden, durchfuhr es ihn. Er betrachtete nochmals die Säbel, die da in die Luft ragten. Ein Ungleichgewicht. Und die Träger dieser archaischen Waffen wankten. Besonders glücklich sah keiner von ihnen drein. Ein alter Major, schief, mit Hohlkreuz, hielt die ihm anvertraute Fahnenstange mit beiden Händen fest umklammert. Seine Backenknochen mahlten hin und her. Die schmalen Lippen eng zusammengepresst, das graue Schnauzbärtchen hochgezogen, dann wieder gesenkt, hochgezogen, gesenkt. Was ging wohl in dem jetzt vor? Hatte er sich mental ins vorige Jahrhundert gebeamt? Oder war im bewusst, in welcher Zeit er eben lebte? Seine Augen lagen in faltenreiche Tränensäcke gebettet und glänzten etwas rot. Er stand Paul am nächsten von allen Militärs. Die Übrigen schienen gleichfalls einen äußerst müden Eindruck zu vermitteln, ja, einen beinahe hoffnungslosen, in ihren schlotternden Gewändern, und so krumm, wie sie alle dastanden.

Da plötzlich setzte die Orgel zu spielen ein, und die Leute begannen schleppend dazu zu singen, obwohl der Organist bemüht war, etwas Tempo in die ganze Sache zu bringen. Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken? Zwei Kapuzinerpater waren da vorne, der eine etwa Mitte fünfzig, mit langem, grauem Rauschebart, er las die Messe, der andere, wahrscheinlich siebzig oder älter, mit kürzerem Bartwuchs, ministrierte ihm. Paul gähnte. Er nahm erst wieder Anteil am Geschehen, als er die böhmakelnden Worte des Predigers vernahm, was dazwischen geschehen war, fehlte ihm plötzlich in seiner Wahrnehmung.

… und am zweiten Dezember achtzehnhundertundachtundvierzig wird er Kaiser von Esterreich gleichsam von Gottes Gnaden. Seine Arbeit war geprägt von großem Reformwerk und die Frichte seiner Arbeit hielten die Monarchie in ihrer Vielfalt zusammen, wodurch er zum Symbol der Esterreichisch-Ungarischen Monarchie geworden war. In fortgeschrittenem Alter zog er sich immer mehr und mehr aus den Amtsgeschäften zürick und wurde mehr und mehr zur Integrationsfigur dieser velkerverbindenden Konstellation. Er fiehlte sich als Soldat und Beamter, nicht zuletzt auch als toleranter, frommer – der Pater machte eine längere Pause – Katholik. So fiehrte ihn sein Weg vom Monarchen zum konstitutionellen Herrscher, der stets seine Pflicht als oberstes Ziel angesehen hatte.
Welche Botschaften aber, liebe Gleibige, soll uns sein Geburtstag ibermitteln? Er, der die Ideale der Monarchie bewusst gelebt hatte, ja, nämlich Pflichtbewusstsein, Unbestechlichkeit, Sparsamkeit, Ehrlichkeit, Ordnungssinn, religiese Toleranz, Achtung gegen den Feind und gerechte Justiz. All diese Werte werden damals wie heite genauso von uns allen gefordert, wie Ehrehrbietung gegen die Gesetze, Vorgesetzte und Angeherige. Franz Josef hatte stets versucht, seine Ideale in die Praxis umzusetzen.
Der Mensch, liebe Gleibige, ist unvollkommen, auch ein Kaiser, und der Mensch bewegt sich ständig in dem Spannungsfeld zwischen Besem und Gutem, darum braucht er Gottes Kraft, als Basis fir sein Lebenswerk. Und in der heitigen Zeit umso mehr. Drum, seien wir wachsam, liebe Gleibige! Das beginnt schon im Baumarkt. Wenn ein Kunde von einer Chemikalie, etwa einem Lesungsmittel, so viel kauft wie iblicherweise zehn andere Kunden zusammen, dann muss man sich als aufmerksamer Verkeifer zumindest die Frage stellen dirfen, wofir braucht der das eigentlich? Wenn wir wollen, dass es bei uns auf Bahnhefen und in Konzertsälen oder in Kirchen keine rigorosen Eingangskontrollen gibt, dann missen wir die Augen viel offener halten, liebe Gleibige, als bisher!
Daher wird von uns verlangt, dass jeder seine Pflicht tut. Eiropa ist heite zu einem mehr oder weniger friedlichen Vielvelkerstaat zusammengewachsen wie damals die Monarchie. Aber, wie wir alle wissen, wir beheimaten heite auch Menschen mit einem extremistischen Weltbild und wir beobachten Zellen gewisser Briderschaften, die uns nix Gutes tun wollen. Iberall suchen diese verstärkt nach deitschsprachigen Kämpfern, sogar in unserem Esterreich, auf dass diese ausgebildet werden, um dann in Deitschland oder sogar bei uns in Esterreich operieren zu kennen. Wir alle missen befirchten, dass es friher oder später auch in Esterreich zu solch einem Anschlage wird kommen kennen. Was der allmächtige Gott verhindern mege!

Paul war der Kopf nach vorn gekippt, als er jäh erwachte. Was hatte der Pater da gesagt? Er hatte nicht ganz verstanden. Paul rieb sich die Augen und sah unauffällig um sich. Er musste wohl eingenickt sein. Der Pater hinterm Altartisch schickte sich bereits an, seine Predigt mit den Worten zu beenden: Das bedeitet, dass unsere Pflichten heite genauso aufrecht sind wie damals und wir uns umsehen und vorsehen missen, damit wir auf dem rechten Wege bleiben! Amen. Vergelt´s Gott, murmelte die Menge. Die Himmel rühmen … klang es an Pauls Ohr und er kramte nach seiner Brieftasche. Der Klingelbeutel wurde herumgereicht. Mit einem Male war auch die Kommunion vorbei, zu der sich alle, höchst umständlich, in ungeordneter Schlangenlinie angestellt und vorgedrängt hatten. Paul war gleichfalls aufgestanden, denn er konnte kaum noch sitzen vor Rückenschmerzen, hielt aber tapfer durch bis zum Schluss. Zum Segen hatte man sich erhoben und wartete die präludierende Paraphrase des Organisten ab, nachdem dieser gerade noch an einer wenig ans Ziel führenden, gefährlichen Modulation das Haydn´schen Themas vorbeigeschrammt war, um danach, gemeinsam mit der Menge, in die Melodie des Liedes „Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser, unser Land! Mächtig durch des Glaubens Stütze führ´ Er uns mit weiser Hand! Lasst uns Seiner Väter Krone schirmen wider jeden Feind: Innig bleibt mit Habsburgs Throne Österreichs Geschick vereint“, einzustimmen.

Paul kratzte sich hinterm Ohr, er sah auf seinen Taschenkalender. Es war schon zweitausendsechzehn, aber ganz sicher war er sich nicht. Ein Blick auf den alten Major machte ihn unsicher. Ein Degen blitzte im Licht der Kronleuchter kurz auf. Die Menge sang mehr oder weniger intoniert. Er selbst wagte anfangs nicht mitzusingen, dann jedoch öffnete er seine Lippen, er wollte singen, aber kein Laut kam über seine Lippen – er selbst meinte, dass er sänge, konnte sich aber nicht hören, und plötzlich schreckte er jäh hoch – in seinem Lehnsessel, im ersten Moment unfähig zu lokalisieren, wo er überhaupt war. Unbewusst führte er seine rechte Hand zum schmerzenden Rücken, um sich durch Reiben ein wenig Linderung zu verschaffen, was völlig wirkungslos blieb. Er gähnte lange und stand schließlich widerwillig auf, um sich Kaffee zu kochen.
Währenddessen steckte er sich eine Zigarette an und überlegte angestrengt, wo war er denn nun eigentlich stehen geblieben? Ach ja, da war doch gleich – ah ja, es war ja nur ein Traum, ein Traum, ja. Wenn auch nicht alles. Manches daran war ja Wirklichkeit, dachte er, als er die Zeitung vom Boden aufhob, verdammte Wirklichkeit! Paul warf einen Blick aus dem Fenster. Der Sommer ging langsam seinem Ende zu, er spürte es, und – irgendetwas erinnerte ihn daran, dass man seine Pflicht zu erfüllen – hätte – seine – Pflicht erfüllen …. wie damals …. aber welche Pflicht?

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16041

Das Ende des Vogelsangs

In sechzehn Stollen und einem Abgesang

1 Da war immer schon viel Verständnis und Freude am Vogelsang. Da wurde das Verlangen nach mehr nicht nur in wissbegierigen Ornithologen geweckt. Da zogen Wesenszüge und Eigengesetze und der musikalische Aussagewert Neugierige schon durch Jahrhunderte in ihren Bann.

2 Nun waren singende Vögel schon immer ein beliebtes Unterhaltungsmittel. Nun wurde Vogelgesang schon immer als wohltönend und angenehm empfunden. Nun ging man oft davon aus, dass Vögel aus Lebensfreude oder zur Erbauung der Umwelt singen.

3 Zumal werden singende Vögel weltweit in mehr oder weniger ausgeprägten Freiräumen gehalten. Zumal singen manche Arten besonders in Isolation sehr stark. Zumal singen sie oft bis zur völligen Erschöpfung. Zumal ist der Vogelgesang eine verhaltensbiologisch bemerkenswerte Leistung. Zumal singen Vögel so, wie sie durch die verschiedensten Umstände beeinflusst werden.

4 Bekanntlich ist der Gesang vieler Singvögel oftmals nicht bloß lyrisch. Bekanntlich ist er meist sogar prosaisch. Bekanntlich verfügen Lyriker oder Prosaisten meist über mehr als einen Strophentyp. Bekanntlich ist der Gesang der Singvögel im Vergleich zu anderen Vogelarten nicht angeboren. Bekanntlich muss diese Kunst, wie jedes Hand- oder Mundwerk, erlernt werden. Bekanntlich gibt es auch versierte Autodidakten unter diesen Tierarten.

5 Derweil ist Vogelsang keine Ausschmückung von etwas, das man auch einfacher oder deutlicher sagen könnte. Derweil ist Vogelsang vielmehr ein Akt, der sich selbst als solcher wahrnimmt und reflektiert. Derweil zeigt sich Vogelsang in seiner Eigentümlichkeit. Derweil ist Vogelsang Vermittler von Welt und Leben. Derweil ist Vogelsang spezifische Ausdrucksform und sich seiner selbst bewusst. Derweil ist Vogelsang nicht kommunikativer Zierrat! Derweil ist Vogelsang nicht Teil von etwas! Derweil ist Vogelsang tiefster Ausdruck der Seele.

6 Aber über den Gipfeln ist keine Ruh. Aber über den Gipfeln kann nie Ruh sein. Aber immer schon lag über den Gipfeln die Unruh. Aber zu allen Zeiten herrschte immer irgendwann Unruh. Aber warum sollte es in einer neuen Zeit anders sein.

7 Ganz plötzlich schien die Vogelwelt erstarrt! Ganz plötzlich lähmte Bestürzung die Singenden. Ganz plötzlich lag Betroffenheit in trock‘nen Kehlen. Ganz plötzlich spie Entsetzen fassungslos sein lähmendes Gift in den Dunst des Spätherbsts.

8 Bewusst wurden schuldlose Leben in den Tod gerissen. Bewusst wurde der Kosmos für Sekunden von Verblendeten vereinnahmt. Bewusst erlaubte eine finstere Macht, ungeschützte Verwundbarkeit feig für mörderisches Spiel zu nutzen.

9 Dann plötzlich ergriff eine Ohnmacht die Hörenden. Dann herrschte die Angst vor koordiniert geistesgestörtem Wahn. Dann hockte man gelähmt von den gräulichen Taten Umnachteter zitternd im Geäst. Dann trat Stille ein, als sich der Pulverdampf verzogen hatte.

10 Danach wuchs stumm im Schatten der ruchlosen Tat tonlos und dornig eine Hecke aus Starre. Danach verstummten die Vögel zur Gänze. Danach schwieg die Natur als Folge der Schauder. Danach ward Grauen und Widerwillen unter den Sängern.

11 Das war das Ende zweckorientierten Gesangs. Das war das Ende belebenden Beitrags Gefiederter. Das war das Ende der Wahrnehmungen ihrer Natur. Das war das Ende der schönen Poesie. Das war der Abschied ihrer provokanten Eleganz.

12 Damit einher begann die Vertreibung des Vogelgesangs. Damit einher ward Vogelsang nie mehr Ruhekissen der Liebesnacht. Damit einher ging das Ende von Idealen ihrer Ziele und Methoden. Damit einher geriet Stummheit zum stillen Protest.

13 Zeitgleich begann ein Rückzug der Vögel in sich selbst. Zeitgleich verkrochen sie sich in ihren Nestern. Zeitgleich verdunkelten sie ihre Nistplätze. Zeitgleich lebten sie innerlich und äußerlich nur Nacht. Zeitgleich erstarrt, gewährten sie niemandem Zutritt zu ihrer Behausung.

14 Letztlich zogen sie die Flügel hoch. Letztlich sahen sie bloß zu Boden. Letztlich verdeckten sie mit ihren Federn die unruhigen Augen. Letztlich verharrten sie mit verschränkten Beinen bewegungslos. Letztlich vermieden sie jegliches Geräusch. Letztlich gebaren ihre Kehlen kein Krächzen und kein Krähen. Letztlich erstarrten sie in ihrem Gefängnis des Schweigens. Letztlich erschien dieses Schweigen als Trotz.

15 Am Anfang vom Ende blieb kein anderer Ausweg. Am Anfang vom Ende nur stille Beobachtung. Am Anfang vom Ende blieb allein schöne Erinnerung. Am Anfang vom Ende ward phonische Leistung für immer verweigert. Am Anfang vom Ende gab es kein Weinen, kein Husten, kein Lachen.

16 So waren weder Atemgeräusch noch Laute des Schmerzes. So waren weder Blickkontakt noch Berührung. So waren nur Schweigen und Stille. So wollten Flügel und Beine ohnehin nur schwach zappeln und schwanken. So blockierten Blockaden das Singen, das Trällern und Fiepen.

Ein Abgesang

Das Geschäft mit dem Vogelsang war zur Talfahrt verkommen. Nicht deswegen, weil die Gier der Verleger neuer Partituren grenzenlos war. Nicht wegen der Provinzialität der Händler, dass Vogelsang nicht mehr unter die Leute gelangte. Nicht deswegen, dass überall gespart werden musste. Nicht deswegen, dass Vogelsangsendungen abgesetzt wurden. Nicht deswegen, dass Vogelsanghäuser geschlossen wurden. Nicht deswegen, dass Vogelsangmagazine, die das Ende des Vogelsangs ankündigten, nicht mehr gedruckt wurden. Nicht deswegen, allein wegen der Verunsicherung des Vogelliedmarktes. Nicht deswegen, dass einige wenige mit Sangesmüll renommierten. Nicht deswegen, weil selbst der vernichtende Cocktail aus Vogelsangwettbewerbskampf und schrumpfendem Markt der Branche nichts hätte anhaben können. Nicht deswegen, weil weder die sich minimierende Liste jämmerlicher Vorsänger noch die Rückläufigkeit der Umsätze bis zum Nullpunkt oder die Aushöhlung durch die Preisbindung dem Vogelsang den Garaus hätten machen können. Nicht deswegen, auch wenn man Parallelausgaben verboten hätte.

Sondern vielmehr lag die Ursache darin, dass aus Protest gegen das Unrecht immer weniger Partituren gekauft wurden. Sondern vielmehr lag es einzig und allein daran, dass aus Schmerz über die ruchlose Tat überhaupt nicht mehr gesungen wurde. Sondern vielmehr lag es daran, dass Vogelsang als Unterhaltung oder Sprachrohr einer bestimmten Geisteshaltung seit dem Tage der Katastrophe seinen Stellenwert verloren hatte. Sondern vielmehr hatte die aktuelle Krise die Konsumenten in Katastrophenstimmung versetzt. Sondern vielmehr verlangten sie nunmehr das Seichte, das Unterhaltsame, das Ablenkende. Sondern vielmehr hatte Vogelsang für den Einzelnen und für die Gemeinschaft das Verbindende geleistet. Sondern vielmehr ist sein Wert durch die ruchlose Tat zur Bedeutung eines Gutenachtliedes verkommen. Sondern vielmehr bedeutet der Verlust der Sangeslust jedoch nicht den Verlust seiner geistigen Fähigkeiten. Sondern vielmehr erlaubte das Entsetzen über das Geschehen nur seine Wiederaufnahme nicht.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16033

Ausschnittsweise

Lara ist Sozialarbeiterin und lebt schon eine ganze Weile alleine. Manchmal vermisst sie das laute und bunte Familienleben, dessen Teil sie nur noch ist, wenn sie gelegentlich ihre Eltern und ihre Geschwister besucht. Zuhause wird noch immer Litauisch gesprochen; sonst verwendet Lara ihre Zweitsprache nie, die sie fließend beherrscht. Selbst mit Bekannten aus Litauen spricht sie nur Deutsch, auch wenn sie auf Litauisch angesprochen wird. Ihre ältere Schwester Audra und ihr Mann Aidis hingegen sprechen hauptsächlich Litauisch und haben nur litauische Freunde, während Lara in jeder Hinsicht Abstand zu ihrem Geburtsland hält. Auch zur weiteren Verwandtschaft wahrt sie Distanz, sie sieht diese nur bei größeren Feiern wie Hochzeiten. Auf Diskussionen diesbezüglich lässt sie schon lange nicht mehr ein. Auch von ihrer Bisexualität weiß ihre Familie nichts. Nicht, weil Lara sich dafür schämt, sondern weil sie ihr Innerstes schützen will. Ihr haben die Diskussionen nach ihrem Kirchenaustritt schon gereicht.

Lara war schon als Kind ehrgeizig, eigensinnig und unangepasst. Während andere Mädchen miteinander und mit ihren Puppen gespielt hatten, hatte sie sich lieber mit Büchern, dem Familienhund Sam und ihrem besten Freund Görkem, dem türkischen Nachbarsjungen, beschäftigt. Diese Freundschaft ist die längste und stabilste in Laras Leben. Sie ist sich ihrer starken Wirkung nach außen nicht bewusst, sehr zum Leidwesen ihrer Mutter, die sie gerne in einer Beziehung – und noch lieber verheiratet – sehen würde.

Leyla wusste schon als Schülerin, dass sie Jugendsozialarbeiterin werden wollte. Vielleicht, weil ihr schon früh klar war, dass es engagierte und couragierte Erwachsene braucht, um eine mündige und verantwortungsgbewusste nächste Generation aufzuziehen. Vielleicht war es auch die couragierte Betreuerin im Jugendzentrum. Seit kurzem lebt sie in ihrer ersten eigenen Wohnung, die voll von Büchern und Fotos ist. Die meisten Fotos zeigen sie und ihre beste Freundin Sara, die ursprünglich aus Kairo stammt. Leyla ist die einzige Frau in ihrer Familie, die kein Kopftuch trägt, und ihr Auszug hat zum endgültigen Bruch mit ihrer konservativen Famile geführt. Irgendwann war ihr die permanente Einbindung in das Familienkollektiv, die keinen Raum für persönliche Entfaltung ließ, zu viel geworden. Selten sieht sie einige Familienmitglieder am Brunnenmarkt, wenn sie dort einkauft oder sich mit Sara zum Frühstück trifft. Schon als kleines Mädchen hat sie sich nie den Mund verbieten lassen. Wie oft hat ihr Bruder sie mit der flachen Hand auf den Mund geschlagen? Sie erinnert sich noch gut daran, wie oft ihr Vater ihr vorgehalten hat, dass es bei ihrer Schönheit leicht wäre, einen Ehemann für sie zu finden, würde sie sich mehr auf ihre Pflichten als Frau konzentrieren, anstatt sich ihren Verstand mit Büchern zu vernebeln. Sie hatte irgendwann gelernt, taktisch zu schweigen, bis sie in der Lage war, für sich selbst zu sorgen.

Auch wenn sie das laute Familienleben jetzt manchmal vermisst, ist sie doch glücklich über ihre eigene Wohnung. So sehr sie ihre Arbeit im Jugendzentrum liebt, an einem freien Tag ist sie froh, wenn sie es sich mit einem Buch auf der Couch bequem machen oder spazieren gehen kann. Die gleiche Strecke, die Lara immer zum Joggen nimmt.

Lara und Leyla haben sich sicher schon oft gesehen; in der kleinen türkischen Bäckerei, am Donaukanal oder an der Straßenbahnhaltestelle. Und unbewusst haben sie sich sicher schon wahrgenommen. Die große, blonde Lara, deren blaue Augen immer eine klare Präsenz ausstrahlen und deren markantes, aber doch zierliches Gesicht stets einen Hauch von Konzentration aufweist. Und Leyla mit ihren schokoladebraunen Locken, ihren bernsteinbraunen Augen, die sie wohl von ihrer Großmutter geerbt hat, ihrer sanften, wohlgeformten Figur und ihrer geerdeten Ausstrahlung. Aber vielleicht verhält es sich auch nur so, dass man einen richtigen Menschen erst zum richtigen Zeitpunkt wahrnimmt. Und dann kann man nur versuchen, den Dingen ihren Lauf zu lassen. An diesem Tag sind Lara und Leyla schon seit vierzehn Stunden auf den Beinen. Die kleine türkische Bäckerei an der Ecke hat bis Mitternacht geöffnet; Spätentschlossene wie sie können so um 23.30 Uhr noch Milch und Brot für den nächsten Tag besorgen. Lara ist müde nach diesem langen Tag und nimmt den Geschmack der Zigarette in ihrer rechten Hand kaum wahr.

Neben ihr, ebenfalls an der Theke, steht Leyla, die lieber Abstand genommen hat von den zwielichtigen Gestalten, die an einem kleinen Tisch Tee trinken. „Auch keine Milch mehr?“, Leyla lächelt Lara an und streicht sich sanft eine schokoladenbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. „Nein“, Lara schüttelt den Kopf und erwidert das Lächeln, „aber das ist nicht tragisch, auf mich wartet niemand!“ „Auf mich auch nicht! Es ist leichter, wenn einem das eigene Leben ganz alleine gehört.“ Lara nickt zustimmend.

Celal, der Besitzer der kleinen Bäckerei, ist schon seit über dreißig Jahren in Wien. Als Zwanzigjähriger hat er Istanbul verlassen, der Liebe wegen, die sich noch immer bewährt. Er kennt die beiden jungen Frauen gut, sie kommen oft – getrennt voneinander – zu ihm in die Bäckerei. Manchmal bleiben sie sogar, um ein Gläschen türkischen Tee mit ihm zu trinken und sich zu unterhalten. Lara ist die Tochter eines alten Freundes von ihm, den ebenfalls die Liebe vor vielen Jahren nach Wien geführt hat; allerdings aus Litauen, und der mit seiner Frau in der Wohnung neben Celal und seiner Frau lebt. Leyla ist die Tochter eines Freundes von ihm aus Istanbul. Er weiß auch von dem Bruch innerhalb Leylas Familie; ihr Vater Ahmet fragt oft nach seiner Tochter. Auch jetzt beobachtet er die beiden, wie sie so zusammenstehen und sich unterhalten, als wäre es eines von vielen, schon vorangegangenen Treffen.

Schon aus Gewohnheit bietet ihnen Celal einen Tee an. Und die kleinen, traditionellen Teegläser scheinen das Bild zu komplettieren. Es ist, als wären sie für die beiden Mädchen gemacht worden. An diesem Abend verlässt Celal seine Bäckerei erst um halb zwei, eineinhalb Stunden später als üblich. Hier zeigt sich die Festigung einer Liebe, die schon einige Jahrzehnte hinter sich hat. Celal weiß, dass seine Frau, wie jeden Abend, schon schläft, wenn er kommt. Er weiß auch, dass sie ihre Zeit nicht mehr mit Eifersucht verschwenden wird, wenn er die Wohnung betritt und sie fast automatisch aufwacht und aufsteht, um ihm einen Tee zu kochen. Sie werden über den Tag sprechen, wie er vergangen ist und wie jede Nacht Arm in Arm einschlafen. Und vielleicht ist gerade das der Segen eines ruhigen, zufriedenen und vor allem überschaubaren Lebens. Eben deshalb beneidet er die beiden jungen Frauen auch nicht. Ihre Generation ist eine sehr gehetzte, eine, die beschädigte Dinge lieber austauscht, als zu versuchen, den Defekt zu beheben. Doch er grollt nicht. Er weiß, dass sich in jeder Zeit das Positive und das Negative die Waage halten.

Es ist spät – oder früh, je nachdem, wie man vier Uhr morgens empfindet –, als die beiden Frauen die Bar neben der nahegelegenen U-Bahnstation verlassen. „Wie heißt du eigentlich?“ In all den Stunden ist ausgerechnet diese Frage nicht gefallen. „Leyla“, wieder erscheint ihr sanftes Lächeln. „Ich bin Lara“, ihre Stimme ist rauchig, „wollen wir noch zu mir gehen?“ Hand in Hand. Und doch schon viel intimer. Sehr viel intimer. Stunden später sind ihre Stimmen schon beinahe brüchig und können dem Gedankenaustausch kaum noch standhalten.

„Weißt du eigentlich, wie wunderschön du bist?“, langsam streicht Lara Leyla eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Suchend, mit geschlossenen Augen berührt sie die warme Hand, erwidert die Geste, zieht ihr Gegenüber bestimmt heran. Und es ist der erste Kuss, der alles Weitere entscheidet. Sie verbringen die Nacht zusammen.

Vielleicht können sich Frauen wirklich besser in andere Frauen hineinversetzen, wenn es um sexuelle Bedürfnisse geht. Oder vielleicht ist es aber auch nur so, dass zwischen den beiden Frauen die Chemie gerade stimmt. Oft schon haben sich die beiden im Morgengrauen aus fremden Wohnungen geschlichen, um peinliches Schweigen oder – noch schlimmer – die Frage nach der Telefonnummer zu vermeiden. Was in diesem Fall anders ist? Es ist keine dieser klassischen Geschichten. Und nichts Pathetisches.

Es ist ein Samstagmorgen, der einen dazu verleitet, einen langen Spaziergang zu machen, obwohl er neblig und verhangen ist. So sitzen sie im Café Central in der Herrengasse, sprechen über ihre Studienzeit, wundern sich, warum sie sich nie begegnet sind, obwohl sie beide oft hier waren. So oft, dass die Kellner beide Frauen noch immer mit dem Vornamen begrüßen. Es ist sogar der gleiche Lieblingsplatz in einer kleinen, versteckten Ecke, wo sie für sich sind. Noch immer Hand in Hand spazieren sie von der U1-Station Donauinsel bis zur U6-Station Neue Donau und wieder zurück. Vier- oder fünfmal, bis sie schließlich in die U6 einsteigen und wieder zu Lara fahren. Weil es irgendwie schon wieder spät geworden ist. Jedenfalls spät genug, um sich noch mit einer Tasse heißen Tee einen Film anzusehen und auf den Sonntag zu warten.

Schweigend liegen sie nebeneinander, ohne etwas anderes wahrzunehmen. Mit geschlossenen Augen und einander streichelnd. Lara genießt es, Leylas Hand auf ihrer Brust zu spüren. Zu spüren, wie die Hand abwärts wandert, nicht zu schnell und nicht zu langsam. Sie zieht Leyla heftig an sich, küsst sie.

Ob es Liebe ist? Das bleibt abzuwarten, es hat doch gerade erst angefangen.

Celal hat die beiden an diesem Tag vorbeigehen gesehen, Hand in Hand. Ob ihn dieses Bild überrascht hat? Nicht sonderlich, über die Jahre hat er viel gesehen. Und seine Einstellung war schon immer sehr liberal. Ob ihm die beiden zusammen gefallen haben? Ja, wenn auch aus ästhetischen Gründen, nicht aufgrund sexueller Phantasien. Solche Bilder reizen ihn nicht mehr in dem Ausmaß, wie sie es in seiner Jugend getan haben. Er muss vor allem an Aphrodite denken, über die er als Junge sehr viel gelesen hat, weil sie ihm von allen Göttinnen die liebste war.

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16024