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Danach

Völlig erschöpft haben wir uns jeder auf seine Seite plumpsen lassen. Ich betrachte dich lange. Du atmest noch schwer. Wie viele Jahre sind schon vergangen, die wir uns geliebt haben? Du sagst nichts. Liegst nur still da. Wie immer. Alles ist, wie immer. Und ich? Jetzt soll ich mich mit der Erinnerung an die Vergangenheit begnügen und muss feststellen, dass sie mir zusehends entgleitet. An die Zukunft will ich erst gar nicht denken. Wir sind beide älter geworden. Ziemlich älter. Nebeneinander sozusagen. Und man kann nichts dagegen tun, als zusehen. Ohnmächtig zusehen. Du sagst immer, denk an das Jetzt.

Alles andere kommt von allein. Aber wie viel Gegenwart braucht man eigentlich? Ich habe bisher ausschließlich von der Vergangenheit gezehrt. Du doch auch? Ich betrachte die Dellen auf deiner Haut, deinen Beinen, deinem nackten Bauch. Mein Gott, wo ist das alles hin? Die Jugend? Die Anmut und Grazie? So sagt man doch? Und ich? Trockene Haut. In Falten. Bleich und fahl. Die Haut über den Knien wird runzelig. Ebenso an den Ellenbogen. Wo sind meine Haare geblieben? Und von den Ringen unter den Augen reden wir beide schon gar nicht. Du bewegst dich nicht.
Aber ich liege da, starre an die Decke und die Gedanken beginnen zu kreisen. Meine Hand liegt auf deiner Hüfte. Schläfst du? Bald werden wir uns bloß noch um das Private kümmern müssen. Was bedeutet schon unser Leben jenseits des Privaten? Irgendein Insekt fliegt da herum. Soll heißen, niemand braucht uns mehr.
Indirekt bedeutet es, abhängig sein. Von der Politik, dass sie die Pensionen nicht verramscht. Von der Medizin meinetwegen, der klassenhaften, dass sie uns wieder hinkriegt, wenn was kaputt geht. Aber was ist das schon gegen jene Abhängigkeiten, denen man nicht zu entkommen vermag? Den Ängsten? Der inneren Verelendung? Da hilft dir kein Schwein.

Ich habe kein Vergnügen an der Gegenwart, ganz einfach, weil ich sie nicht bestimmen kann. Ja, mit der Vergangenheit ist das was ganz anderes. Sie ist mir eher dienlich, ist knetbar, dehnbar, interpretierbarer als die Gegenwart. Ich kann sie in eine bestimmte Richtung erscheinen lassen. Die Gegenwart, ach, die ist eben gegenwärtig. Viel zu realistisch. Unbrauchbar für einen Träumer wie mich. Die Vergangenheit ist mir Vehikel, ist das Transportmittel meiner persönlichen Eindrücke geworden, Tendenzen meiner Umwelt erkennen zu können. Jetzt drehst du dich um.
Hast du schon geschlafen? Aber du lächelst ja. Komm, spiel mir nichts vor! Die Gegenwart kann noch nichts dazu sagen. Sie ist einfach nur da – und –auch gleich wieder weg. Und immer so fort. Aber die Vergangenheit? Begehbar – ja, mein Treppenhaus ist sie mir, die Vergangenheit, mit ihren dunklen Winkeln, ihren Freuden, ihren Leiden, aber doch – immerhin – vertraut. Ich kenne sie, wie meine eigene Westentasche.
Das kann ich von der Gegenwart nicht behaupten. Die ist ja permanent neu. Du atmest jetzt ruhiger. Deine Augen sind geschlossen. Ich decke dich sanft zu. Schläfst du jetzt? Du sagst gar nichts. Ich werde auch versuchen zu schlafen. Im Schlaf vergesse ich auf mich. Bin nicht mehr so wichtig. So angestrengt bemüht, alles auf die Reihe zu kriegen.

Ich sehe zur Decke. Liege so da und starre an die Decke. Dort ist ein dunkler Fleck. Schon lange. Den kenne ich gut. Hat die Form eines, ich weiß nicht, jedes Mal anders. Vielleicht einer Fledermaus? Ach! Man sollte schon einiges ausbessern. Aber, naja, hat Zeit. Was auf mich lauert, ist das Unbekannte, das Gefährliche, Unberechenbare. Es liegt in der Zukunft, im Heute vielleicht schon? Im Morgen? Was wird sein? Vielleicht ist alles gar nicht so furchtbar, wie ich es mir vorstelle? Wer weiß? Jetzt atmest du regelmäßig. Ja, du bist eingeschlafen. Ich weiß es. Ich kenne dich ja lange genug. Ich kenne alles an dir. Du bist Teil von mir geworden. Wir sind eins. Auch in Gedanken.

Bei dir ist alles immer so einfach. Du bist viel mehr du selbst. Bist du selbst. Lebst deine Natur. Ich beuge mich vorsichtig über dein Gesicht und küsse dich sanft. Aber ich? Tief in meinem Innersten, der Brutstätte meiner Zwistigkeiten und Widersprüche kämpfen die unsinnigsten Mächte zwischen dem Hang zur Nüchternheit, dem Profanen und der Besessenheit, denen ich ausgeliefert bin auf Gedeih und Verderb. Für das Übersinnliche? Für den Mythos? Für das Rituelle? Ich habe es mir immer schon schwer gemacht. Andere suchen nach Hülsen, in die sie ihre traurige Wirklichkeit verpacken und darin kaschieren. Das bring ich nicht fertig. Mir sieht man sofort an, dass ich leide. Ich kann nichts verbergen. Vielleicht leide ich bloß am Neid, andere hätten mehr Glück als ich?

Und dann ist da das Wetter. Natürlich! Dem kann ich leicht die Schuld für meine eigenen Unzulänglichkeiten in die feuchten Schuhe schieben. An der Alpennordseite so wie im Norden – am Morgen, genau!, das ist jetzt – können, und auch im Osten – das sind wir hier – noch leichte Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen das Leistungsniveau herabsetzen.
Na bitte! Von irgendwoher müssen meine Kopfschmerzen ja kommen. Schwach wirksame Bioreize. Bei mir sind sie immer stark. Und gereizt bin ich auch immer! Da lieg ich einfach untätig herum und starre an die Decke. Und du schläfst seelenruhig, weißt nicht, was in mir vorgeht.
Der Zwang zu allgemein gültigen Wahrheiten und deren Vermittlung sowie die Anstrengungen, sich gegen einseitige Ratschläge mittelbarer Erkenntnisse wehren zu müssen, setzen mir immer häufiger zu. Daraus analog auf ein sich in Wirklichkeit Darstellendes zu schließen, in dem ich womöglich als klinischer Fall gehandelt werden könnte, verursacht mir Unbehagen. Es ist eine Fliege, die da herumschwirrt. Ich glaube nicht, dass ich in der Lage wäre, meinen derzeitigen Zustand noch komplizierter zu beschreiben.
Und du kannst so unbekümmert vor dich hindösen, während es in mir kocht und gärt. Du jammerst ja auch, dass du das Leben im Hamsterrad der Bürokratie nicht mehr erträgst. Tagaus tagein dieselben blöden Fragen beantworten. Das Gesumse von diesem Tier geht ziemlich auf die Nerven! Täglich die gleichen Auskünfte geben. Irgendwann muss Schluss sein damit. Verlogene Politik redet uns ein, wir hielten das locker bis fünfundsechzig aus. Statistisch gesehen hätten wir dann noch fünfundzwanzig Jahre Ruhegenuss. Schöner Genuss! Ich bin so aufgekratzt und es ist ungerecht, dass du einschlafen kannst und ich nicht. Das sollte kein Vorwurf sein, mein Liebes. Aber du hast es ohnehin nicht gehört. Mein Gott, so nimm mich mit, ins Traumland!

Während ich meine Arme über meiner Brust verschränke, denke ich, ich belüge mich gerne damit, dass dieses Leben jenseits der Pensionsberechtigung doch noch nicht zu Ende ist und träume davon, dass es vielleicht eine zweite, ja eine dritte Karriere für mich gibt. Spinn nicht, sagst du dann immer zu mir. Sei froh, dass du noch aufrecht gehen kannst, allein. Dass du manchmal auch so hart sein kannst!

Meine Gedanken überfliegen die Annoncen eines fiktiven über der Steppdecke aufgeblätterten Karriere-Standards, den ich gleich wieder sinken lasse. In meiner Vorstellung falle ich schon bei der ersten Fragestellung des Einstellungsgespräches durch. Keine Ahnung, welcher Unterschied zwischen präpositionalen Verbartikeln und Präfix-Verben besteht und welcher amerikanische Autor den Roman Independence Day geschrieben hat, ganz zu schweigen davon, was das Goedel’sche Theorem besagt. Irgendwann hab ich davon gehört. Ich muss gähnen. Wann kommt endlich bei mir der Schlaf? Das würde nicht gefragt werden. Und solche Fragen wären der Einstieg. Sollte man mit Leichtigkeit beantworten können. Ja sicher doch.

Was ist nun in den letzten paar Wochen alles geschehen? Mir ist manchmal, als würde ich plötzlich immer wieder aus einem unglaublich langen Traum erwachen, durch den ich meine Kindheit und Jugend noch einmal durchlebt habe, auftauchen, an die Oberfläche des Lebens kommen. Ich sehe mich, ich sehe Bilder, mich mit meinen Schulfreunden herumbalgen, mit ihnen lachen. Ich höre aus dem Wohnzimmer Papas Geigenspiel, ein Motiv, welches er immer und immer wiederholt, bis es irgendwann verklingt. Die Mama, am Herd, wie sie stundenlang kocht, mit dem Gesicht zur Küchenzeile gewandt, sich nicht umsehend. Um mich steht der Kollegenkreis des Herrn Papa, riesige Gestalten, zu denen ich aufblicken muss, in ihre strengen Gesichter sehe, die starr sind, ohne Lächeln, und wie sie ihre Zeigefinger erheben, drohend und mahnend, wie Obelisken ausgestreckt, die in den Himmel zu ragen scheinen. Ein Dechant wird der Tür verwiesen, der mit hochrotem Gesicht davoneilt.
Meine jüngere Schwester, spindeldürr, stürzt eine Treppe hinunter und bleibt am Fuße derselben regungslos liegen. Die Mama, die sich fassungslos über sie beugt, versucht, sie aufzurichten, die Bleiche, Wasserleichenfarbige. Der allmächtige Herr Vater steht hinter ihnen, lacht sogar, mehr ein Grinsen, welches er mit einem seiner ziemlich beleibten Kollegen zu teilen versucht. Bin ich jetzt etwa kurz eingenickt? Ich höre dein leises Atmen. Hin und wieder ist ein Schnarchen dabei. Das willst du nicht hören, wenn ich es dir hinterher erzähle, ich weiß. Blöde Fliege! Aber ist wahr, ich kann es bezeugen. Hätte ich mein Handy hier, würde ich dich aufnehmen.

Über all dem, was ich mir so im Halbschlaf zusammenspinne, schwebt der verstorbene Bruder, den wir nie gesehen haben, von dem es eine blonde Locke gab, die man ihm abgeschnitten hatte, bevor er begraben worden war. Diese Locke lag in der obersten Schublade einer Kommode im Schlafzimmer, nahe bei seiner Taufkerze, Mutters geheimem Altar, ähnlich dem meinen in meinem Kleiderschrank, in dem ich meine Devotionalien aufgestellt habe. Ein altes Weihwassergefäß aus der elterlichen Wohnung, ein Kruzifix von der Großmutter. Die Fotos meiner Eltern. Still kniete sie immer davor und bedeckte ihr Gesicht mit einem Taschentuch.

Meine innere Einsamkeit hat sich einen imaginären Zuhörer erschaffen, den ich um Verständnis gebeten habe, mir die Erinnerungsknäuel entwirren zu helfen, um mich darin nicht noch mehr zu verfangen und gefesselt zu sein, als ich es ohnehin schon bin. Die eigene Haut war nicht imstande, mir noch Schutz zu bieten. Ich habe mich zu sehr selbst geliebt, mehr als andere, die meine Liebe notwendiger gebraucht hätten, und längst meine Zuneigung erbeten haben. Und es sind zwei Fliegen, ich werd verrückt! Und nichts davon habe ich bemerkt. Taub hab ich mich gestellt und mich aufgeführt wie ein kleines Kind, jedes Mal, wenn meine Wiesen um einen Baum beraubt, jedes Mal, wenn Teile jener Landschaft, die meine Erinnerungen am Leben erhalten haben, zuasphaltiert und -betoniert worden sind.
Es hätte Wichtigeres gegeben, sagst du immer. Ich müsste eben alles für schön befinden, das würde das Hässliche schon ersetzen können. Oder alles für gut befinden, um dadurch das Nichtgute zu ersetzen. Dass du immer so klug bist, hättest du jetzt gesagt. Ist nicht von mir, ist von Laotse. Tja. Aber so weit bin ich noch nicht. So weit bin ich noch nicht, dass ich in mir ruhe, ohne zu handeln. Dass ich belehre, ohne zu reden. Dass ich überzeuge, nicht zu besitzen. Irgendwann wollte man sein wie Jack Kerouac. Aber das hat heute keine Bedeutung. Die Vorbilder der Jugend sind verblasst, ebenso wie die Erinnerung daran.

Nach uns kräht kein Hahn mehr!, hat mir ein lieber Freund neulich geflüstert. Du hast gesagt, such dir andere Freunde. Wenn du wieder wach bist, werde ich dich daraufhin ansprechen.

Ich wundere mich immer wieder, worüber Schriftsteller so schreiben. Sind es wirklich die kleinen Aufmerksamkeiten, denen sich der begnadete Dichter widmet, den kleinen, alltäglichen Dingen des Lebens, so wie ich es hier liegend tue, in meiner Krisennotiz? Der Fleck an der Decke ist ein Wasserfleck. Gewiss. Über den täglichen Mord an einem Silberfischchen auf dem WC?

Die kleinen, alltäglichen Dinge des Lebens! Ich habe nicht gewusst, was an denen so wichtig sein soll? Mir hat man immer eingebläut, dass es um die großen Dinge ginge, um Karriere, um Selbstverwirklichung und solche Sachen. Mir fällt da so ein Kerl ein, der nie bitte und danke sagt. Der auch gesagt hat, man muss aus allem etwas machen, auch wenn es im Grunde nichts ist. Und man muss die anderen glauben machen, dass es etwas ist, sonst haben sie keinen Respekt vor dir. Ich will ganz gegen meine Natur versuchen, das einmal zu verstehen, vom eigentlichen Versuch halte ich besser Abstand.

Wenn es also um die kleinen Dinge des alltäglichen Lebens geht, dann auch um das Tropfen des Wasserhahnes aus der undichten Leitung im WC. Um den Gestank, der aus dem Auspuff der Dieselautos kommt. Um das Scheppern der Mülleimer, wenn sie von der Müllabfuhr um sechs Uhr morgens abgeholt werden. Dahinter verbergen sich die vielen kleinen Geschichten, die man lebendig erhalten soll? Ich weiß nicht.
Das ist die Aufgabe der Literatur? Jetzt sitzt eine auf meiner Hand, das gibt´s nicht! Doch die Zeiten haben sich gewandelt. Das habe sogar ich bemerkt. Spektakulär wäre es nicht, was sie da erzählen, sagen manche über die Dichter. Keine hippen Dialoge, kein mitreißender Plot, doch verfüge manch ein Roman über das gewisse „Nichts“. Ein „Ich-Erzähler“ erlebt das Natürlichste auf der Welt, den Arbeitsprozess und – sein Scheitern daran. Beinah wie ich! Was heißt? Das bin ich!
Was auffällt, sei die präzise, unerhört dichte Prosa, die darüber berichtet, wie der arme Kerl im Laufe der Jahre an seinem Ehrgeiz, an seinem Engagement, seinem Idealismus langsam aber sicher zugrunde geht. An sich eine traurige, jedoch völlig alltägliche Geschichte. Schatz, du schnarchst! Niemand möchte meinen, dass so etwas thematisch was hergibt, und immer wieder wären die Leser darüber im höchsten Maße erstaunt, woher der junge Mann die Fähigkeit zur Darstellung dieser außergewöhnlich subjektiven Darstellung der Wirklichkeit nimmt, so jung, wie er ist. Warum werde ich nicht müde?, frag ich mich. Und da ist eines von den Ludern, ich sollte zuschlagen. Aber dann wachst du auf. Ich verscheuche das Biest mit der Hand.

Ganz im Gegenteil, denn voll Tagendrang überlege ich stattdessen, fieberhaft beinah, mein Krisenkonzept zu ergänzen und quasi einen Zusatz anzubringen, ob ich meinen Schuldgefühlen nicht vielleicht noch eins draufsetzen sollte, einen Mord gar?! Thema Nummer eins. Ich stelle mir vor, einen Mord verübt zu haben. Ja, vielleicht einen Mord verübt zu haben, mir anzumaßen, wie schon eben vorhin angedacht, in dem ich, auf dem WC in entspannt sitzender Position, völlig überlegen, rein physisch, dachte ich, einer wehrlosen Kreatur unter mir, einem kleinen Silberfischchen, mit dem rechten Daumenzeh auf einer der weißen Fliesen, auf denen es sich besonders gut vom Hintergrund abhebt, den Garaus gemacht zu haben, und ob ich diesem Umstand hernach literarische Bedeutung beimessen dürfte oder nicht?
Sie schnarcht ja schon wieder! Und ob ich, qualifiziert durch diese ruchlose Tat, diese als alltägliche erkannt zu haben und sie als solche überhaupt erwähnt und literarisch genutzt zu haben, schlicht und einfach bemerkt zu haben, ob ich also von nun an zu jenen sensiblen Menschen gezählt werden dürfte, wie all diese begnadeten Dichter? Das alles verwirrt mich.

Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Wo war ich stehen geblieben? Wenn? Wenn auch nur auf dem Gebiet der Krisenliteratur. Diesen Dichtern, denen die Weltöffentlichkeit daher, wegen ihrer genialen Darstellung solcher Banalitäten, die Fähigkeit zur totalen Innovation, endlich etwas Neues gefunden zu haben, äh, diesen Dichtern ihr Tun und Treiben andauernd und immer wieder so überschwänglich bestätigt würde?
Träum ich schon? Nein, da ist die andere Fliege! Schließlich wäre Innovation dringend vonnöten, in dieser liberalistischen Zeit. Wo ja doch jeder nur an sich selber denkt. Und ob ich eben durch diese Beschreibung des belanglosen Alltäglichen über die Maßen hinaus nun auch zur Kunst des Dichterischen befähigt wäre? Und nicht zuletzt durch das Formen barocker Satzgirlanden bewiesen hätte, so völlig aus dem Bauch heraus und eigenständig imstande zu sein, allerlei wirres Zeug und Spitzbübereien komponieren zu können, was in der Leserschaft gefragt wäre?
Langes Gähnen. Nämlich eigenständige Dichtkunst hervorbringen zu können, die in der Abbildung der Wirklichkeit wie auch in ihrer Darstellung eins zu eins dem entsprächen, was man landläufig so als Literatur bezeichnen könnte? Und die in ihrer Gestalt für den geübten Belletristen auch als solche nachvollziehbar sei und überhaupt? Was ist los?

Jetzt ist aber Schluss! Aufhören, bitte aufhören! Ich will ja schlafen. Bitte liebes Gehirn, lass mich auf der Stelle müde werden. Jetzt und gleich, ich flehe dich an. Nimm dir ein Beispiel an meinem alten Mädchen hier, das so unschuldig vor sich hin schlummert. Gnade! Und nimm mich in deine Arme, lieber Schlaf! Ich hab´s verdient! Das siehst du doch ein?

Norbert Johannes Prenner
(bearbeiteter) Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 16046

 

Perception

Ich saß in der zweiten Bankreihe der Kirche. Ich war allein, meine Augen waren geschlossen. Konzentriert hörte ich meinem Atem zu, wie er durch Nase und Luftröhre hindurchstrich, meine Lungen durchströmte und schließlich meinen Körper wieder über meinen Mund verließ. Meine Lippen waren ausgetrocknet, die Hände lagen zusammengefaltet in meinem Schoß. Es war eine Beruhigungsübung, die ich in den vergangenen Wochen gelernt hatte.
Ich öffnete die Augen und sah auf den Altar, der mit einem kleinen Blumenstrauß geschmückt war. Ein Überbleibsel der letzten Messe. Die Blumen waren noch frisch. Wenn man nah genug hinging, konnte man den intensiven Duft der Blüten riechen. Blumenduft war der Inbegriff von Leben. Im Leben stehen. In voller Blüte stehen.
Mit einem leisen Seufzer richtete sich mein Blick auf das Kreuz hinter dem Altar. Da war er, der Sohn Gottes. 33% der christlichen Dreifaltigkeit. Der sich geopfert hatte für uns Sünder. Ich saß hier, in einer römisch-katholischen Kirche, als getauftes Mitglied dieser Gemeinschaft. Aber nicht, um die Vergebung meiner Sünden zu erbitten.

Kirchen hatten mich früher nicht oft gesehen. Schulmessen, Erstkommunion, Taufen und Hochzeiten in der Verwandtschaft. Mehr nicht. Mein Elternhaus war nicht religiös. Dass Kinder getauft und Ehen in der Kirche geschlossen wurden, geschah aufgrund historisch gewachsener Bräuche und Sitten, nicht aus religiöser Überzeugung.
Um ehrlich zu sein: Eigentlich mochte ich Kirchen nicht. Ich fühlte mich von der überladenen Ausstattung wie erschlagen. Diese Darstellung von Glanz, Gloria und Reichtum war für mich gleichbedeutend mit Hochmut und Überheblichkeit. Was im totalen Widerspruch zu den Lehren dieser Kirche stand. Schließlich war Hochmut eine Todsünde.
Da hielt ich es eher mit der Interpretation à la Indiana Jones. Der den richtigen Heiligen Gral aus einer Vielzahl an Kelchen auswählte. Einen einfachen Tonkelch, aus dem Besitz des Sohnes eines Zimmermanns. Keine Diamanten, innen unscheinbar mit einer dünnen Goldschicht überzogen. Eine weise Entscheidung. Für einen Augenblick musste ich schmunzeln. Dann sah ich mich um. Diese Kirche war anders. Sie war im Jugendstil gebaut. Viel Gold, aber nicht zu viel. Mit einer gewissen Schlichtheit. Das mochte ich. Sie war groß und hell, ich fühlte mich nicht erdrückt, wenn ich hier saß.

In den letzten Wochen hatte ich viel Zeit hier verbracht. In der Nähe befand sich ein psychiatrisches Zentrum, in dem seit drei Monaten regelmäßig meine Therapiesitzungen stattfanden. Ich war keine Gefahr für mich selbst oder andere, aber ich wurde mit dem Leben nicht mehr fertig. Ein spezielles Ereignis hatte mich aus der Bahn geworfen: der Selbstmord meines Ex-Freundes ein Jahr zuvor.
Zum Zeitpunkt unserer Beziehung war ich 19 Jahre alt, er ein Jahr älter. Unsere gemeinsame Zeit war nicht lang, aber sehr intensiv. Er war charmant und draufgängerisch, aber schon bald merkte ich, dass er ein Gefangener seines Geistes war. Sein Vater erklärte mir, dass sich seine Mutter umgebracht hatte, weil sie depressiv gewesen war. Und dass auch sein Sohn Anzeichen in sich trug, dass diese Krankheit einmal ausbrechen könnte. Ich war bestürzt, aber ich war verliebt. Es war mir zu dieser Zeit egal, was die Zukunft bringen würde. Ich war überzeugt davon, dass ich bei ihm bleiben wollte, egal was geschehen würde.
Nach vier Monaten ließ er mich für seine vorige Freundin stehen und ging zu ihr zurück. Ich war eine Art Lückenfüller gewesen – jedenfalls versuchte sie mir das einzureden. Er selbst wirkte schuldbewusst und traurig, als wir uns aussprachen. Ich glaubte ihm, wie gingen im Guten auseinander. Ich versprach ihm, Kontakt zu halten. Zu seinem Geburtstag schenkte ich ihm einen eingerahmten Freundschaftsspruch, den er mit Tränen in den Augen annahm. Aussage des Spruches war: Egal was passiert, ich bin für dich da. Aber etwas in mir versuchte bereits zu diesem Zeitpunkt unbewusst, sich von ihm abzukapseln.

Ein paar Wochen nach unserer Trennung hörte ich, dass ihn seine Freundin betrogen und mit ihm Schluss gemacht hatte. Die Folge war ein psychotischer Schub, bei dem er versucht hatte, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Sein Bruder hatte ihn rechtzeitig gefunden. Sein Vater rief mich an und bat mich, ihn im Krankenhaus zu besuchen. Er hatte nach mir gefragt.
In diesem Augenblick fiel mir wieder das Geschenk ein. Dass ich ihm versprochen hatte, da zu sein. Es fiel mir schwer. Ich wollte mein Versprechen halten, aber ich hatte auch Angst vor der Situation. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde. Eine Freundin begleitete mich schließlich ins Krankenhaus. Ich hielt es für falsch, meinen damaligen Freund darum zu bitten.

Dieser lange Gang der psychiatrischen Station, mit dem hellen Tageslicht am Ende, war einerseits beklemmend, andererseits Hoffnung gebend. Mit jedem Schritt hatte ich das Gefühl, immer kleiner und hilfloser zu werden. Gleichzeitig machte sich ein Gefühl der wohligen Wärme in mir breit, je näher ich der Fensterfront kam. Als ich der Schwester erklärte, wer ich war und zu wem ich wollte, holte sie einen Arzt, der mich über die aktuelle Situation aufklärte. Sie hatten eine manisch-depressive Erkrankung bei meinem Ex-Freund diagnostiziert. Er deutete mit dem Kopf zur Zimmertür schräg gegenüber. „Er fragt täglich nach Ihnen. Gehen Sie rein, aber erschrecken Sie nicht. Wir mussten ihn fixieren.“
Meine Nasenflügel weiteten sich und mein gesamter Körper spannte sich an, mein Atem ging schnell. Die Angst davor, in diesen Raum zu gehen, ließ mich erstarren. Ich sah zu meiner Freundin, die mich umarmte und mir beruhigend über den Rücken streichelte. „Du schaffst das“, flüsterte sie und schob mich sachte Richtung Tür.
Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem Zimmer war. Aber ich kann mich an ihn erinnern. Wie er im Bett lag, mit Schnallen an den bandagierten Handgelenken. Über seinem Körper war eine Art Netz gespannt. Er bewegte sich nicht. Ich stellte mich zu seinem Bett und versperrte ihm die Sicht. Sein Blick war starr und leer, er sah durch mich hindurch. Sie hatten ihn mit Medikamenten ruhiggestellt. Sein Mund war leicht geöffnet, und Speichel floss auf den Polster.

Ich war erschüttert. Das war nicht mehr der junge Mann, mit dem ich eine Beziehung geführt hatte. Um meine Brust schien sich ein unsichtbarer Strick zu legen, der sich kontinuierlich zuzog und mich nach Luft schnappen ließ. Meine Atemzüge wurden kürzer und ich merkte, dass mir schwindlig wurde.
Ich kann gar nicht sagen, ob er mich erkannt hatte. Einige Male versuchte ich, ihn anzusprechen. Aber er reagierte nicht, dazu war er in seiner Verfassung anscheinend nicht fähig. Als ich aus dem Zimmer ging, konnte ich nicht schnell genug das Krankenhaus verlassen. Meine Freundin kam mir kaum hinterher. Schnell raus. Frische Luft einatmen. Alles hinter mir lassen. Ihn hinter mir lassen. Und feststellen, dass ich nicht den Mut aufbringen würde, mein Versprechen ein weiteres Mal einzulösen.

Zwei Jahre lang hörte ich kaum etwas von ihm. Bis mein damaliger Freund – er hatte meinen Ex-Freund gekannt – eines Abends vor meiner Wohnungstür stand und mich mit den Worten „Er hat es heute beendet. Medikamenten-Überdosis“, begrüßte. Ich wusste sofort, was und wen er damit meinte. Wie ferngesteuert ging ich in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Mein Freund blieb im Wohnzimmer bei meinem Vater, meine Mutter folgte mir.
Reglos saß ich auf meinem Bett und starrte an die gegenüberliegende Wand. Wortlos saß meine Mutter neben mir und wartete darauf, dass ich zu reden begann. Die Vorwürfe stellten sich alsbald ein. In Tränen aufgelöst erklärte ich ihr, dass ich ihn allein gelassen hatte. Zu feig gewesen war, um mit der Situation anders – besser – umgehen zu können. Meine Mutter versuchte mir klar zu machen, dass meine Vorwürfe nichts an der Situation änderten. Dass er krank gewesen war. Dass seine Familie für ihn da gewesen war. Dass mich keine Schuld traf. Auch mein Freund versuchte mich davon zu überzeugen, aber ganz abschütteln konnte ich die Gedanken nicht.

Bei der Beerdigung zwei Wochen später stand der Sarg offen, aber ich brachte es nicht fertig, ihn noch einmal zu sehen. Ich versteckte mich hinter unseren gemeinsamen Freunden. Wie aus weiter Entfernung hörte ich die Reden seines Vaters und seines Bruders, dessen letzter Kontakt mit ihm ein dummer Streit über zu lang ausgeborgte Videokassetten war.
Mein letzter Kontakt war … keinen Kontakt mehr gehabt zu haben. Meine letzte Erinnerung war … sein fixierter Körper und sein leerer Blick in einem Raum, der nach Desinfektionsmittel stank. Meine Erkenntnis war, dass ich nie wieder eine Möglichkeit haben würde, mit ihm zu sprechen, mich zu entschuldigen oder ihm einfach zuzuhören. Keine Träne verließ meine Augen, während der Trauerreden und dem Gang zum Grab. Ich sprach der engsten Familie mein Beileid aus, auch dann musste ich nicht weinen. Ich fühlte mich leer, kalt, emotionslos. Stand neben mir selbst.

Tage und Wochen vergingen, und diese Gefühle beherrschten mein Leben. Ich verkroch mich zu Hause, kapselte mich von meinem sozialen Umfeld ab. Ich ertappte mich dabei, wie ich im Büro saß und mit einer aufgebogenen Büroklammer immer wieder über dieselbe Stelle meines Handrückens fuhr, bis die Wunde zu bluten begann. Ich bedeckte sie mit einem Pflaster, wenn ich zu Hause war. Sobald sich Krusten bildeten und die Wundheilung einsetzte, kratzte ich weiter. Es tat gut, es war eine Ablenkung. Schmerzen zu fühlen hieß, am Leben zu sein. Nicht an den Tod denken zu müssen.

Die Kirchentüren wurden geöffnet, und ich spürte den Luftstrom, der von hinten durch meine Haare fuhr. Mit einem Blinzeln verscheuchte ich kurz meine Gedanken und setzte mich gerade hin. Ein älteres Ehepaar war eingetreten und lächelte mich freundlich an, als sie an mir vorbeigingen und schräg vor mir in der ersten Bankreihe Platz nahmen. Ich erwiderte ihr Lächeln kurz und wandte meinen Blick wieder dem Kreuz zu. Obwohl ich so oft hier saß, hatte ich nie das Bedürfnis, mich in meinem mir vorgegebenen Glauben zu finden und zu beten oder zu beichten.
Ich war ein Mensch der Wissenschaft, nicht des Glaubens. Die Therapiestunden hatten mir auch geholfen. Es war eine Zwangsstörung, die ich nach dem Tod meines Ex-Freundes entwickelt hatte. Und die mir das alltägliche Leben erschwerte. Es war die persönliche Erkenntnis über die Endlichkeit des Lebens. Der Tod meines Ex-Freundes war der erste eines mir nahestehenden Menschen gewesen, den ich erleben musste.

Diese Angst vor dem Sterben erzeugte Panikattacken. Anfangs hauptsächlich abends beim Einschlafen. Im Schlafzimmer, sachte dösend, und plötzlich der Gedanke: Wenn du tot bist, ist da nichts mehr. Du denkst nicht mehr, du liebst nicht mehr, du lachst nicht mehr, du hasst nicht mehr. Es ist nichts mehr da. Dein ganzes Leben, deine Erinnerungen, deine Handlungen – alles weg.
Diese Gedanken äußerten sich in Herzrasen, ich versuchte verzweifelt mich abzulenken und sie wieder loszuwerden. Ich kratzte die Wunde auf meinem Handrücken auf und beobachtete, wie das Blut wieder stockte. Ich stieß mit Absicht den Fuß gegen den Bettpfosten oder biss meine Lippen blutig, um kurzfristig eine andere Art von Schmerz zu erfahren. Ich stand auf und lief durch die Wohnung, um auf andere Gedanken zu kommen.

Als ich nicht mehr schlafen konnte, meine Nerven blank lagen und die Panikattacken auch untertags auftraten, entschied ich mich für eine Therapie. In langen Gesprächen mit meinem Therapeuten arbeitete ich diese Geschichte auf. Teilweise gelang es mittlerweile auch. Ich war froh, dass ich mir alles von der Seele reden konnte. Dass ich es jemandem erzählen konnte, den ich nicht kannte. Mit dem mich nichts verband außer unsere gemeinsamen Termine. Mit meinen Freunden oder meiner Familie zu reden – dazu war ich einfach nicht in der Lage. Ich brauchte diesen Abstand.
Gott sei Dank benötigte ich keine Medikamente. Zu Beginn wären sie eine Option gewesen, um zumindest ein paar Stunden erholsamen Schlaf zu finden. Aber ich hatte es auch ohne geschafft. Die Atemübungen hatte ich schnell verinnerlicht. Ich musste mir jetzt auch keine physischen Schmerzen mehr zuführen, um mich von den psychischen abzulenken. Ein Blick auf meine Handrücken bewies es. Meine Wunde, die ich wochenlang immer wieder aufgekratzt hatte, war verheilt. Die Narbe würde mich jedoch immer an diese Phase meines Lebens erinnern.

Ich stand auf, um die Kirche zu verlassen. Ein letzter Blick auf den Sohn Gottes. „Wir sehen uns“, dachte ich entspannt und nickte dem Kreuz zu. Dann trat ich hinaus auf den Vorplatz. Es war ein schöner Tag, ein laues Lüftchen trug den Duft der umliegenden Bäume und Blüten mit sich.

Ich genoss das Leben wieder. Einerseits ging ich wieder hinaus, traf mich mit Freunden, nahm mir immer wieder neue Dinge vor, die ich noch nie zuvor gemacht hatte. Andererseits setzte ich mich bewusst mit dem Tod auseinander. Spaziergänge auf Friedhöfen waren ein regelmäßiger Bestandteil meines Lebens geworden. Ein Ort der Ruhe, der Erkenntnis. Meine Erkenntnis war: Der Tod trifft uns alle irgendwann. Aber das Leben davor ist gar nicht so schlecht.

Petra Hechenberger

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 16037

Nicht ohne dich

Noch täuschen meine Augen mich mit Bildern der Erinnerung. Jetzt, wo ich dich lang genug gekannt – jetzt kann ich erst ermessen, wie einzigartig alles du mir warst. Ohne dich, so ohne dich, beginn ich langsam alles zu vergessen. Wo war ich bloß? Von purer Blindheit derb geschlagen? War’s Ignoranz? Ach, wenn ich an dich, mein Liebes, denke, du bist für mich so unbewölkt, so sonnig und so klar. Und ich hingegen? Pechrabenschwarz die Seele, ein Griesgram wohl. Es ist noch kaum ein Jahr vorbei. Schon schwindet beinah alles, wie das mit dir so war.
Gewiss, du konntest kühl sein, wenn du wolltest. Das wusstest du. Genau wie ich, und schattig. Jedoch – dein Schatten spendete begehrten Trost, den ich an heißen Tagen oft entbehrte. Noch fühl ich deine Haut, so blühend hell wie eine Rose. Als wär’s erst gestern. Wie oft war ich dein warmer Frühlingstag, dein Berg im Süden. Und totes Grau fiel oft von mir auf dich und tauchte dich geheimnisvoll ins Dunkel. Ich dachte stets, die Ruhe brächte Glück und Eintracht. Nicht immer, sagtest du. Ich weiß. Denkst du daran, was ich dir oftmals vorgeworfen? Heut lach ich drüber. Es ist vorbei. Ich sehe ein, dass ich kein Recht gehabt, was vorzuhalten. Jedoch, ich tat es nur aus Angst davor dich zu verlieren! Im Ernst! Es klingt grotesk. Verzeih, wenn du noch kannst.

Mag sein, dass ich die Worte, die du sprachst, nur aus Gewohnheit nicht gehört. Verstünd mich heute besser drauf zu hören. Noch klingt in meinen Ohren, ich sei dein Sonnenlicht und stünde für das Hell, die Quelle deines Lebens. Was ist das für ein Deal gewesen? Die Sache mit uns beiden? Du, und ich?
Und dennoch ist – was war, das waren wir gemeinsam. Wir beide, ja, ganz offensichtlich. Und was wird von uns bleiben? Nichts? Du warst mein Licht. Und ich? Ach ich – ich fühl mit Wonne den belebend schöpfend kühlen, feuchten Tau, den dein Füße sanft berührten, wenn du auf Erden schwebtest.

Bist du mir böse, weil ich, dein dunkler Schatten, dir manchmal deinen Atem nahm? Gewiss, ich war nicht aufmerksam genug. Ich flüchtete zu dir aus Kummer und Enttäuschung. Wirfst du mir vielleicht vor, dass es nicht bloß aus Liebe war? Dann bitt ich dich, sei wieder für mich da. Sei mir der Tag, sei mir der Sommer meines Lebens. Entfach mit deinem Sturm in mir das Feuer. Sonst bleibt es Nacht in meinen öden Wangentälern, die die Tränen gruben.
Doch, ach, ich weiß nur allzu gut. Einmal ist immer – irgendwann. Bei uns ist’s jetzt. Ich suchte nach Geborgenheit und dachte nur an mich dabei. Du sagtest, füg dich drein, ohne zu fragen. Das hab ich nicht verstanden. Zwar bin ich heute klüger, doch trotzdem dümmer als zuvor. Zu spät! Oh wärme mich an deinen sonn’gen Hängen die nach Süden steh’n, die ich so brauchte wie der Weinstock selbst.

In deiner Nähe schrieb ich ungeles’ne, Briefe nur an dich, ich schwör’s! Du kannst es mir ruhig glauben. Und willst du wissen, was drin stand? In meinen Zeilen stand die Angst, es käm der Tag, an dem wir nicht mehr zweisam wären. Du würdest mich an Alter überholen. Ein Unsinn sicherlich. Ich sah den Berg als Ganzes. Und fühlte kühles Wetter. Wenn nicht gleich gar die Winternacht. Nun steh ich vor verschloss’nen Türen, wo deine stets geöffnet waren.

Du Himmlisches! Was bin ich müd’ und du bist fort. In welche ausgebreitet’ Arme soll ich sinken, wenn nicht in deine? Wer wird mich jetzt in Tätigkeit versetzen? In Lethargie, als wär ich wie gelähmt! Nach einer halben Ewigkeit der gleichen Atmung und desselben Rhythmus! Du und ich – war alles zwischen Haupt und Gliedern. Das ist vorbei.
Weißt du noch, den Baum, den wir gepflanzt? Heut ist er größer als ein Haus. Du hattest ihn umarmt, nicht mich. Als Ausgleich zwischen unt’ und oben sagtest du. Versteh kein Wort. Auch muss man alles nicht versteh’n. Er ist wie wir, hast du gesagt. Blüht auf, belebend schöpferisch, ich kann mich gut erinnern. Und glänzend war sein schlankes Antlitz. Ich stand dabei, verborgen – mich zusammenziehend. Mein mattes Inneres nach außen. Ganz einfach passiv. Ich hab dich stets dafür bewundert, dass du so anders warst.

Wir waren sehr verschieden, das sei nicht bös gemeint, ich weiß. Das Harte und das Weiche – hast du einmal gesagt. Das eine kann nicht ohne andrem sein. Und doch – es ist nicht wichtig. Und rein moralisch gibt es keinen Überleg’nen. Schau unsre Liebe an, da ist der Anfang und das Ende. Dazwischen da sind wir. Ich weiß, wir waren’s! Doch welchem misst du mehr Bedeutung? Das eine ist ohne das andre nichts. Die Liebe selbst, ist es. Die war uns wichtig.

Vergieß doch deine heißen Tränen, wenn’s dir hilft!, ich hör dich diese Worte flüstern. Ich kann mich an den ew’gen Kreislauf schwer gewöhnen. In diesen Dingen warst du geübter, mehr als ich. Das Leben kommt, das Leben geht, so wie die Hoffnung. Mal steigt sie, doch dann sinkt sie wieder. Das eine folgt dem anderen und umgekehrt. Mich in mein Schicksal fügen – darin war ich schon immer ungeschickt. Vergeblich wart ich auf die Stille, der meist Bewegung folgt. Ganz ohne dich hab ich’s verlernt zu fühlen.

Mein Gott, wie schön das war, mit dir so Hand in Hand zu gehen. Sind jetzt die schlechten Zeiten angebrochen? Mir bleibt nicht mal die Hoffnung mehr auf bess’re. Ich weiß, dass du nicht wiederkehrst. Sonst war es immer so gewesen, wenn sich die Not vermehrt, verringert sie sich wieder durch die Hoffnung. Doch diesmal bleibt sie aus. Der einst’gen Fülle durch dein blühend Leben folgt nichts als Leere. Und du, mein Sonnenlicht, bist ganz verhüllt durch meine dunkle Wolke.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 16029

Liebe und Glamour

Als Ditta das Haus betrat, wusste sie sofort, dass ihr Mann aus der Firma zurück war. Im Vorhaus standen seine Schuhe exakt parallel auf der Matte, der beige Staubmantel und der grüne Schirm hingen in der Garderobe, die dünne schweinslederne Aktentasche und der Schlüsselbund lagen auf dem Board unterhalb des Spiegels. Alles sah aus wie immer, wenn sie aus dem Golfclub, der Sauna oder von der Bridge-Runde zurückkam. Nur sie war eine andere geworden, ganz plötzlich, heute Nachmittag.
Schon an der offenen Türe rief sie ins Haus hinein:
„Ich bin wieder da, Darling! Was machst du, Heinzi?“

Dieselbe Frage wie jeden Tag, obwohl sie wusste, dass er im Wohnzimmer, das er „Office“ nannte, in seinem Ohrensessel saß, in der New York Times Börsenberichte studierte und Kreuzwort- und Sudoku-Rätsel löste. Dazu gönnte er sich die einzige Zigarre des Tages, die sie ihm erlaubte, während er darauf wartete, dass sie das Abendessen servierte.
Ditta war aufgeregt, sie atmete schwer, spürte auf den Wangen rote Flecken aufziehen und zitterte so, dass sie gegen ihre Gewohnheit mit Schuhen, Jacke und Tasche ins Zimmer stürzte. Ihr Mann schaute kurz auf, zuckte mit den Schultern und brummte:
„Nanana, wo brennt`s denn? Was gibt es zu essen?“

Auch diese Frage kam jeden Tag und war so überflüssig wie ihre, weil er sich jeden Abend einen Wurst- und Käseaufschnitt mit Beilagen und ein reichhaltiges Brot- und Gebäckkörbchen wünschte. Obwohl er Knäckebrot verachtete und es noch nie angefasst hatte, musste es immer dabei liegen. Es könnte ja jemand vorbeikommen, der Knäckebrot schätzte. Es war aber noch nie ein Schwede bei ihnen vorbeigekommen. Bei ihnen kam schon lange niemand mehr einfach so vorbei.
„Gleich, ich komme!“
„Stell dir vor, was mir heute passiert ist.“
„Kann das nicht später sein? Ich habe Hunger und bin müde.“

Dass Heinz Hofferer hungrig war, konnte sie nicht ausschließen, denn er machte sich nie selbst etwas zu essen. Dass er heute müde war von einem langen Arbeitstag, war übertrieben, denn er hatte schon vor drei Jahren einen tüchtigen Geschäftsführer in seiner Firma eingestellt. Hofferer ging nur noch ins Büro, weil ihm zu Hause langweilig war. Er hatte als Geschäftsmann über viele Jahre äußerst erfolgreich eine Firma aufgebaut, die Glückskarten und Rubbellose herstellte, also eine Grafikanstalt und eine Spezial-Druckerei betrieb. Zum Verkauf konnte er sich noch immer nicht entschließen, die Firma war ihm ans Herz gewachsen wie ein Kind, sie war sein Kind, das verkauft man doch nicht einfach.

Ihre Tochter Miriam wohnte mit Mann und Enkelkindern in der westlichsten Hauptstadt B., und der Garten interessierte ihn nur so weit, als er jeden Abend Runden durch das weitläufige Gelände unternahm, vom Naturteich im Obstgarten ganz hinten zum künstlich angelegten japanischen vor der Terrasse, immer hin und her. Beim Naturteich stand er auf dem Badesteg und starrte auf die Frösche im Wasser und die Libellen im Schilf, beim Japaner fixierte er von der geschwungenen Brücke aus die Goldfische, so gedankenlos und träge wie sie selbst. Kürzlich hatte er einen Roboter angeschafft, der das Gras mäht, ihr neues Familienmitglied, den sie Butler James nannten. Wenn Heinz sich in der Hollywoodschaukel niederließ, die an einem zentralen Ort aufgestellt war, von dem man fast den ganzen Garten überblicken konnte, sah er James dabei zu, wie er Runde um Runde drehte, an ein Hindernis stieß und danach seine Richtung änderte.
Je nachdem, wie die Uhr gestellt war, steuerte James sich selbst zu einem kleinen Schuppen Mit einem runden Tor ähnlich wie bei einer Hundehütte, parkte sich ein und schaltete sich ab.
Heinz`s Blicke waren dabei gespannt aufmerksam, leicht belustigt und fast liebevoll. Er betrachtete ihn wie ein Tierliebhaber einen spielenden Hund oder ein weidendes Schaf. Oder Kinder.

Ditta war ihr ganzes Leben eine passionierte Gärtnerin gewesen, das sah man ihrem Garten auch an – sie hatte als Auszeichnung eine ovale Plakette bekommen „Traditioneller Naturgarten“, die vorne an der Straße über dem Gartenzaun prangte und auf die sie stolz war wie andere auf den Nobelpreis. Allerdings hatte sie sich seit einiger Zeit einen Helfer genommen, den kräftigen, jungen Asylwerber aus Afghanistan Mahmoud, einen sogenannten umF (unbegleiteten minderjährigen Flüchtling), weil ihre Bandscheiben die meisten Arbeiten nicht mehr zuließen. Nicht schlimm, nur „altersgemäß abgenutzt“, hatte der Orthopäde gesagt. An Alis Seite verbrachte sie mehr Zeit als mit ihrem Mann. Ali lernte gerade die ersten deutschen Worte im Kurs der Kirchengemeinde, aber beim Gärtnern war die gesprochene Sprache ohnehin nicht das Wichtigste. Wegen des Rückens hatte sie auch ihr geliebtes Tennis ganz aufgegeben und beim Golf reduziert, sie machte nicht mehr alle Löcher und saß immer häufiger mit Freunden beim Bridge in der Club-Lounge.
Ditta holte aus der Küche Heinz’s „Vorspeise“, wie sie sein abendliches Glas Bourbon mit Eiswürfeln nannte, zog einen einfachen Stuhl an den Ohrensessel ihres Mann heran und sprudelte nur so über.

„Heinzi-Schatzi, hör zu, heute im Golfclub, wir waren gerade mit dem letzten Rubber fertig, sagt Henriette, die Neue in der Runde, dass sie die berühmte Schriftstellerin Arabell Inenda kennt. Du weißt ja, wie sehr ich sie liebe und verehre. Stell dir vor, das neueste Buch ist gerade heraußen und schon wieder ein Bestseller, ein world bestseller. Das könnte dich auch interessieren, es soll ein Politkrimi sein. Jetzt kommt sie zu einer Lesung nach Wien, und Henriette würde sie zu sich einladen, ein kleine, private Runde, und ich dabei! Ein internationaler Star kommt zu ihr ins Haus, sie hat mich persönlich eingeladen: `Ditta, mein Kleines, komm doch nächsten Donnerstag zum Tee, Arabell wird vorbeischauen.
Vorbeischauen, stell dir vor, ein Star schaut vorbei, einfach so! Henriette ist so cool. Kleines, sagte sie, ich weiß, wie du sie liebst, ihre Bücher, und du kennst sie am besten von uns allen.
Da kannst neben ihr sitzen und sie selbst befragen, alles, was du willst, sie ist ein Superstar, aber auch nur ein Mensch.“

Bei diesem Gedanken erstarrte Ditta, es war für sie unvorstellbar, ihren Körper neben dem ihren zu spüren oder gar Fragen an sie zu stellen und ihr dabei in das Gesicht zu sehen. Was sollte sie sagen, wie sie ansprechen, sehr geehrte Frau Inenda… liebe Arabell… ich, … sie sagt zu mir, liebe Ditta, mein Liebes, … ich sage, höre Henriette, „sei nicht so schüchtern, mein Kleines….“
„Arabell – wer?“
„Heinz, also wirklich, das ist nicht fair, du bist gemein, sie ist doch ein Star!“
Ditta wollte so streng klingen, wie sie nur sein konnte, kein Darling, kein Heinzi oder Schatzi.

Sie hatte das neue Buch über Liebe und Schatten natürlich schon bestellt. Seit dem ersten Roman vom Spukschloss hat sie jede Zeile von ihr gelesen, Artikel und Bilder gesammelt, in Alben eingeklebt wie Teenager das mit Fußball- oder Popstars machen. Ditta genierte sich nicht dafür, auch wenn Heinz sie dafür verspottete. Sie verteidigte ihr Reich. Sie schreibt so schön, einfach und romantisch, sie trifft alle meine Gefühle und Gedanken, als würde sie mich persönlich kennen, man kann alles sofort verstehen, sich die Menschen und Situationen vorstellen, ohne lang nachdenken zu müssen.

Heinz brummt und sagt, ohne von seinem Sudoku aufzuschauen:
„Diese Kitschziege, die kann doch gar nicht schreiben, sie hat ihren Ruhm nur durch den Namen ihres Vaters.“
„Nein, Heinz, das ist ungerecht, sie hat sich ihren Ruhm selbst erschrieben. Jedes Buch wird ein Bestseller, in der ganzen Welt.“
„Ja, die stecken doch alle unter einer Decke, alle schreiben voneinander ab, ich kenne diese Geschäftemacher.“
„Das siehst du nicht richtig, wie bist du denn drauf! Sie ist eine wunderbare Frau, ich war einmal bei einer Lesung von ihr in Wien, weißt du noch, bei der Thalia, so herzlich, so charmant, ganz ohne Arroganz, sie schaut nicht auf ihre Leser herab und erhebt sich nicht über sie. Ich nehme ihr jedes Wort ab und ….“
„Ach, du Armutschkerl, dir kann man jeden Schmus andrehen. Dabei sieht sie aus wie ein aufgetakeltes Hutschpferd mit einem Kilo Schminke und tausend Narben im Gesicht, eine alte Schabracke wie das Biest aus Dynasty, wie hieß die noch?“
„Joan Collins, als würde dir Sophia Loren nicht einfallen.“
„Du bist zu nah ans Wasser gebaut.“ Das sagte er immer, wenn sie sich für etwas begeisterte.
Er konnte mit ihrem Gefühlsüberschwang nichts anfangen, und sie hatte sich schon oft darüber gekränkt. Heinz war ein guter Mensch, aber ins Herz konnte er ihr nicht schauen.

Aber so ist er halt, der Heinz, sie entschuldigte ihn immer, ein Geschäftsmann mit einem kühlen Kopf, sonst wäre er nicht so erfolgreich gewesen.
„Also gut, Heinz, wenn du so bist. Das ist nicht sehr nett, jemandem die Freude zu verderben.
Aber lassen wir das, ich will nicht streiten.“
Im Stillen dachte sie: Er ist hundsgemein, mein Heinz.
Nach solch einer Szene flüchtete sie meistens zu ihrer Tochter und den Enkeln nach B. Dort war es auch nicht das reinste Honiglecken, weil ihre Tochter sich genervt fühlte, wenn sie ihr mit den alten, grindigen Eheproblemen die Ohren volljammerte.
„Hi Mom, der Oberjammergau ist wieder da“, sagte Miriam mit einem Lächeln, aber etwas despektierlich, deutete eine Umarmung an und hauchte Küsse auf die welken Mutter-Wangen.

Sie ließ sie ein, zusammen mit ihrer rot-gelben Hermes-Reisetasche ins bio-ökologische Holzhaus in der typischen Vorarlberger Bauweise. Ihr Mann hatte einen europäischen Preis, viel gute Presse und neue Aufträge bekommen. Immer nahm Ditta Heinz vor der Tochter in Schutz, „er ist dein Vater, er ist, wie er ist, du musst ihn halt so akzeptieren, er kann nicht aus seiner Haut heraus. Er hat uns erhalten, uns ein gutes Leben garantiert und dir viele Möglichkeiten geschaffen…“
„Und wie viele hat er mir verbaut?“ unterbrach sie die Mutter scharf. Ein Wort ergab das andere, sie wurden wütend, steigerten das Gefecht bis zu den Tränen, fielen einander dann unter Liebesschwüren in die Arme und rüsteten wieder ab. Aber in den Seelen erreichen konnten sie einander nicht mehr, auch wenn ihre Hände noch lange verflochten auf dem Küchentisch lagen.

Mit einem Knall ging die Haustür auf, Lacher zerplatzten und herein polterten die neunjährigen Zwillinge Viktoria -Vicky und Valentin – Voiti, mit ihrem Vater Vitus-Veit.
Schultaschen, Jacken, Schuhe, Kulturbeutel und Skateboards flogen mit großem Getöse durch das geräumige Vorhaus und durch das hölzerne Treppenhaus nach unten. Manches blieb an dem geschwungenen Geländer hängen.
Omama, du bist da, great, Grandma is here, sie gingen schließlich schon in eine Englisch-Klasse und Miriam übte ihr New Yorker Englisch ständig mit ihrem alemannischen Ehemann.

Vicky und Voiti flogen ihr in die Arme, Küsse auf die Wangen und in die Haare, aber boshaft, wie Kinder in diesem Alter nun einmal sind, schalteten sie sofort auf ihren Reim um:
Oberjammergau, Obermammagau, Jammergauoma, Grauejammeroma.
Dabei tanzten sie um sie und die hohe Küchentheke mit den hohen Tresen herum.
Wer hatte ihnen das beigebracht?
Sollte sie jetzt die Geschenke herausholen? Vielleicht später, sie musste Miriam fragen.
Veit trudelte herein, küsste sie flüchtig auf die Wangen, hi, Schwiemu, wie geht’s? Dann holte er eine Packung Orangensaft aus dem dreiteiligen, verchromten Kühlschrank, trank sie halb leer und verdrückte sich wie immer, wenn sie da war, schnell in sein Arbeitszimmer, der preisgekrönte Architekt, oder er hatte plötzlich noch einen Termin auswärts. Er schlug das Sakko über die Schulter und Tschüss, Schatz, tschüss Ditta, wir sehen uns, Bussels, Büsseli, Kinder! Die Zwillinge verschwanden in ihren Zimmern, später aßen sie zu Abend eine Pizza, und Miriam verscheuchte die Kinder bald ins Badezimmer und in die Betten.

Mutter und Tochter machten gemeinsam die Küche sauber. Sie ist eine gute Mutter, meine Miriam. Aber warum kamen keine eigenen Kinder? Sie verstand es nicht, wagte aber nicht zu fragen. Vitus hatte ganz in der Nähe seine Eltern, hingebungsvolle Großeltern, die die Enkel vergötterten und umgekehrt, eine Traum-Oma und einen Bilderbuch-Großvater, mit denen sie und Heinz nicht konkurrieren konnten, es erst gar nicht versuchten, Miriam und ihr Mann hatten auch nie etwas Derartiges eingefordert. Das war`s, die Familie.
Ditta übernachtete im Gästezimmer, schlief wenig und unruhig und fuhr nach einem flüchtigen Frühstück wieder nach Hause. Während ihr BMW mit ruhigen 160 km/h summte, gelang es ihr, die Familie in eine abgelegene Gedächtnisecke zu verschieben und zu ihrer Lieblingsbeschäftigung zu kommen: in visionären Bildern über den kommenden Donnerstag zu schwelgen. Würde Arabell sie mit ihrem Vornamen anreden oder Frau Hofferer sagen, Kleines oder Herzchen, so wie Henriette? Heinz hatte sie in ihren jungen Jahren immer das Dittale genannt, mein Dittale, weil sie ihm einmal verraten hatte, dass ihr Vater eigentlich einen Dieter haben wollte, so wurde sie zu Ditta. Dem Vater hat sie noch knapp vor seinem Tod vergeben.

Sie wusste es, auch Heinz hatte sie mit der Geburt einer Tochter enttäuscht. Sein Plan, wenn schon ein Kind, das er eigentlich nicht wollte, oder nicht so wollte wie sie, dann sollte es ein Sohn sein, und wenn der sechs oder sieben war, würde er Interesse an ihm gewinnen und mit ihm zum Football gehen, sie würden einen Lieblingsclub haben, alle Spieler aufzählen können, alle Tore und ihre Vorbereitung kennen, ihre Bilder sammeln, die Kappen und Schals tragen, eine gemeinsame Leidenschaft haben, die nur ihnen gehörte und wo niemand eindringen konnte. Dass Miriam nach ihrem Kunststudium einen jungen Witwer mit zwei Kindern geheiratet hatte und in die entfernteste Stadt des Landes gezogen war, nahm er ihr persönlich übel und entwickelte kein Interesse und Talent als Großvater.

Ditta hatte ihren Fehler zu spät erkannt, sie durfte vor ihrem Mann den Namen Henriette Schrodt nicht aussprechen, er konnte sie nicht ausstehen, Edelschrott nannte er sie, eine Schreckschraube, eine überkandidelte Alte, die sich immer noch wie ein Hippie-Mädchen anzog, echte Blumen ins Haar steckte, an den Ohren Plastikgehänge in grellen Zuckerlfarben baumeln hatte, ständig rauchte und Gipsmodelle von nackten Frauen produzierte, alle waren sie Lilith. Sie wusste alles und kannte alle Leute. Genau diese Henriette war auch der Grund, warum er kaum mehr in den Golf-Club ging. Dabei war er vor vielen Jahren einer seiner Gründer und Förderer gewesen.

Ditta bedauerte das sehr und lag ihm damit in den Ohren. Es war ein ständiges gereiztes Thema zwischen ihnen. Dabei zeigte sie sich gerne mit ihm, sie liebte es, seine Begleiterin zu sein. Am Anfang war er sogar stolz, wenn andere Männer sie anschauten und bewunderten.
Er war nicht eifersüchtig, im Gegenteil, es geilte ihn auf, wenn sie von anderen begehrt wurde. Sie hatten nie darüber geredet, es war nur eine andere Form, in der er sagte:
Ich bin deins, du bist meins. Sie hatten sich in einem Flugzeug nach New York kennengelernt, klassisch, er Geschäftsmann, sie Flugbegleiterin. Er hatte sie gezwungen, ihren Job aufzugeben, soll ich dich etwa nur im Flugzeug sehen, eine Frau gehört ins Haus und an die Seite ihres Mannes. Der Mann macht Karriere und die Frau das Heim. Und als das Kind kam, war ihre Arbeit nicht einmal mehr ein Gedanke. Die ersten zehn Jahre ihrer Ehe hatten sie am Nordrand von New York gelebt, Heinz hatte seine Firma in Downtown, und sie war eine richtige amerikanische Vorstadtfrau. Dann, mit dem Ende des Ostblocks, zogen sie nach P., und Heinz baute seine Firma in den neuen Ländern aus. Alle wollten ihren Anteil am Glück, das ihnen der Sozialismus versagt hatte. Rubbellose und alle Arten von Glückskarten boomten, und Heinz wurde reich.

„Komm mit in den Club, ignoriere sie einfach, sie tut dir doch nichts, sie ist ganz harmlos und will nur ihren Spaß haben wie alle anderen auch. Außerdem sind noch viele andere Leute da, der Max, die Roswitha, die Karoline erzählt so interessante Sachen aus Afrika, den Stefan, ihren Sohn, den magst du doch. Der ist so ein lieber, kluger Mensch und dazu noch ein guter Arzt….“
„Es gibt keinen guten Arzt, es gibt nur mehr oder weniger große Zyniker, sie erfreuen sich daran, dass es ihren Opfern noch schlechter geht als ihnen selbst.“ Ja, Opfer, sagte er. Alle Patienten sind Opfer der Ärzte. Sie hatte ihm durch ihre Unachtsamkeit die Gelegenheit gegeben, dazusitzen und so pikiert und eitel, so verächtlich und triumphierend dreinzuschauen wie ein Porträtfoto von Sigmund Freud persönlich.
„Heinz, früher warst du nicht so. Wir wollen uns nicht über Worte streiten.“
„Früher ist früher. Basta, aus, vorbei. Und merk dir endlich, ich streite nie.“
Das stimmte, er äußerte immer nur fest und frei heraus seine Meinung.
„Heinz, wirklich, das ist nicht fair von dir, einfach nicht fair, dass du mir so die Freude verdirbst, nicht das kleinste Glück willst du mir gönnen.“
„Ich gönn dir alles, aber lass mich in Ruhe damit. Und überhaupt, die Welt ist nicht fair.“

Ditta schmollte und zog sich in die Küche zurück. Sie konnte sich kaum auf das Beladen des Servierwagens mit dem Abendessen konzentrieren, weil sie in Gedanken schon beim Tee mit Henriette und dem Star war. Sie stützte sich auf den Abwaschtisch und schaute durch das große Küchenfenster in den Garten hinaus. Hinten an der Ligusterhecke hüpfte eine Amsel, ein Männchen, dachte Ditta, mit dem dunkelgelben Schnabel, und das Weibchen stöberte im Komposthaufen. So ein Einklang, dachte sie, die haben etwas gemeinsam. Sie würde morgen mit Mahmoud nachschauen, ob sie das Nest im Liguster oder im Flieder gebaut hatten.

Im Speisezimmer deckte Ditta den viel zu großen, ovalen Tisch: Aufschnitt auf Holzbrettern, verschiedene Wurstsorten, Schinken, Speck, Kalbsleberpastete, ein reiches Käsesortiment, Gurkerl, Pfefferoni mild und scharf, Braten- und Grammelschmalz, Weintrauben, Nüsse, Oliven, Radieschen, frische und getrocknete Tomaten – eine Auswahl wie in einem Heurigenbuffet – darauf bestand Heinz, er hielt das für Heimatverbundenheit, sogar in New York hatte er auf dieser Rustikalität bestanden. Sie saßen einander schweigend gegenüber, Ditta brachte kaum einen Bissen hinunter und gab nur vor, etwas zu essen. Dafür nahm sie umso öfter ihr Wasserglas zur Hand und knetete mit den Fingern die Schmolle der Semmel zu Kugeln. Das Gebäckkörbchen wurde auf dem Tisch hin- und her geschoben, manchmal auch die Senftuben und das Mayonnaiseglas, das Knäckebrot blieb unberührt, Blicke huschten knapp unter den Augen vorbei, Heinz räusperte sich mehrmals und rückte seinen Körper im Sessel zurecht, fand aber kein Wort mehr. Heinz aß wie immer viel und mit provokantem Appetit. Ob er ihr das zu Fleiß tat? Zum richtigen Zeitpunkt holte Ditta aus der Küche eine zweite Flasche Bier für ihn, öffnete sie und stellte sie neben das Glas, eingießen wollte er immer selbst, denn das können Frauen nicht.

Eigentlich war auch beim Abendessen alles so wie immer, den Wortwechsel mit ihrem Mann hatte sie schon vergessen und gab sich ihren süßen Träumereien hin. Henriette hatte ihr die Eröffnungsszene eines Films geliefert, den sie in Gedanken ablaufen lassen oder stoppen konnte, sooft sie Lust dazu hatte. Sie würde neben Arabell sitzen, mit ihr reden, ihr sagen, was sie noch nie jemandem sagen hatte können und sonst auch noch alles Mögliche fragen, so vieles hatte sich angesammelt in den Jahren der Anbetung… Das Brötchen nehmen, die Serviette, die Teetasse dazwischen balancieren und etwas fragen, etwas Persönliches, nein, das würde nicht gut gehen, sie würde an der Frage ersticken oder an dem Brötchen oder den

Tee über Arabells Knie gießen, oder alle Damen würden sie schon beim ersten Wort auslachen, sie würde erröten, die Fassung verlieren und zu weinen beginnen … Sie war nicht mehr ganz da, vielleicht war es besser so, oh Gott, was soll ich anziehen? Komm zu dir, beruhige dich, der Tee ist erst nächste Woche. Ich muss Henriette noch einmal sagen, wie dankbar ich ihr bin, dass sie mich zu sich einlädt, wenn Arabell vorbeikommt. Hoffentlich überlebe ich bis zum Donnerstag, Todesursache Glück. Heinz verzog sich auf die Fernsehcouch, während Ditta den Tisch abräumte und die Küche saubermachte.
„So, ich geh jetzt schlafen, ist schon spät, gute Nacht, Schatz.“
Sie ging hinter ihm vorbei, beugte sich in seine Richtung und deutete einen Kuss auf seine Glatze an. Sie wollte sich ihre Donnerstags-Phantasien für später aufbewahren, wenn sie allein war.
Heinz faltete die Zeitung lose zusammen und warf sie auf den Beistelltisch.
„Dir auch gute Nacht, ich schaue noch die Nachrichten an.“

Heinz war depressiv, dessen war sich Ditta sicher, zumindest deprimiert, nein keine richtige Depression, das nicht. Aber sie wagte es nicht, das Gespräch darauf zu bringen, Heinz würde sie fressen, sollte sie das aussprechen und eine Methode dagegen vorschlagen. Alles, was mit Psych- begann, war ihm zuwider, er hielt das für dummen Hokuspokus und ein Ausredespiel für Loser. Ich warne dich, leg mich nicht auf die Couch. Er wollte kein heimtückisches, psychiatrisches Kauderwelsch in seinem Haus, obwohl ihn verschiedene Leute gedrängt hatten, sich „professionelle Hilfe“ zu holen.
Wenn er schon nicht mehr zum Golf gehen wollte, dann doch zum Tennis, seine Bandscheiben gaben ihm noch Ruhe, obwohl er fünf Jahre älter war als sie. Oder angeln.

Früher war er ein leidenschaftlicher Fliegenfischer gewesen, er hatte sogar seine Geschäftsfreunde aus aller Welt zum Fischen eingeladen. Welche schönen Erlebnisse hatten sie gehabt, herrliche Forellen aus der Schwarza, Salza, Triesting, Piesting, Krems und Traisen. Die Lagerfeuer am Ufer oder auf einer Flussinsel, diese wunderbaren Abende, die Sonnenuntergänge und dann die Sterne, manchmal sah man bei klarem Himmel den ganzen Bogen der Milchstraße. Wie weggewischt, als hätte es das alles nie gegeben. Er sitzt in einem tiefen, dunklen Loch und lässt sich nicht rauslocken. Stefan, Karolines Sohn, meint, das könne nur er selbst, also Selbsteinsicht und Selbstheilung. Der Arbeitsalltag eines Firmenchefs fand unter ständiger Hochspannung statt, auf der Überholspur, die Jagd von einem Termin zum anderen, immer im Bewusstsein seiner eigenen Bedeutung – und dann plötzlich eine Vollbremsung, Stillstand und Sturz ins Bodenlose. Als Chef war die Fallhöhe besonders groß. Und Geld über eine bestimmte Menge hinaus machte auch nicht glücklicher und zufriedener.

Allein das Wort Hobby machte ihn wütend. Das ist etwas was für Kinder und Schwachköpfe.
Deswegen traute sie sich nicht, ihm den Kulturclub von P. anzuraten, wo die Leute Karten spielten oder Schach, Mikado oder Puzzle legten, manche hatten sich fürs Stricken, Sticken, Aquarellieren oder Porzellanmalen entschieden, wieder andere für die japanischen Künste des Ikebana und Origami. Flugzeugmodellbau, Laubsägearbeiten, eine Schreib- und eine Filmgruppe wurden noch angeboten, sogar Lesungen und Konzerte. Das Bridge vermiesten ihm die alten Weiber, Dittas Freundinnen. Ditta hatte noch an Bienenzucht und Honigproduktion gedacht, an Goldfische oder Koi, an Bingo, Bowling oder Poker.
Sogar einen Hund würde sie akzeptieren, was er aber empört zurückwies; ein Hund ist keine Lebensaufgabe für einen Mann, sagte Heinz. Ja, das war die Antwort auf sein Leiden, die Lebensaufgabe. Die Seele ist ein Schloss mit vielen Räumen, die von Heinz waren leer. Ditta hatte tiefes Mitleid, kam aber nicht mehr an ihn heran.
„Dann musst du dir ein Laster suchen, Fressen, Saufen, Koksen, Huren“, das war ihre Schlussfolgerung. Da musste sogar Heinz grinsen:
„Na wart nur, wenn ich einmal Blut geleckt habe…“

Als endlich der nächste Donnerstag kam, spürte sie beim Aufwachen, dass Heinz schon das Haus verlassen hatte. Ihr war nicht ganz wohl dabei, weil das praktisch nie vorkam, aber sie hatte jetzt andere Sorgen und vergaß ihren Mann. Sie widmete ihre ganze Aufmerksamkeit der Auswahl ihrer Garderobe. Wie sollte sie ihr gegenübertreten? Sicher, ein Tee bei Henriette war kein Staatsbesuch, wie Präsidenten und ihre Gattinnen aus dem Flugzeug heraustreten, den Hut halten, winken, lächeln, Küsschen werfen, die Gangway herunterschreiten, Hände schütteln, küssen, umarmen und Blumensträuße entgegennehmen. Aber das war sie ja nicht, sie sollte nur ein wenig neben Arabell Inenda sitzen und mit ihr plaudern. Nein, sie würde nichts sagen und nichts fragen, nur zuhören und anbeten. Denn wer war sie schon, ein Niemand.

Recht schnell stand für sie fest, dass sie ihr Kleid aus gelbem Crêpe de Chine mit den schwarzen Krausen an Hals und Ärmeln anziehen würde. Dafür bekam sie immer Komplimente, es machte sie so jugendlich, vielleicht sogar mädchenhaft. Aber sowohl Arabell als auch Henriette waren älter als sie, da durfte sie auch aussehen wie ihr Kleines.
Dazu ihre schwarzen Lackpumps mit den kleinen Absätzen und eine zierliche Clutch von Dior. Ditta drehte sich vor ihrem Spiegel hin und her und war zufrieden mit ihrem Bild. Fast hatte sie schon vergessen, dass sie sich in ihren Träumen so blamiert hatte.

Kurz vor fünf Uhr machte sich Ditta in fast trunkener Verwirrung auf den Weg zu Henriettes Haus. Sie und Heinz wohnten etwas abseits zwischen dem Fluss und der Lindenallee mit den gepflegten Villen der Wiener Sommerfrischler. Sie kannte den Weg so gut, dass sie ihn blind hätte gehen können. Ein Stück den Fluss entlang über die Brücke, durch die Lindenalle mit dem plätschernden Springbrunnen, vorbei am Gemeindeamt, dem Supermarkt zum Hauptplatz von P., der eigentlich nur eine mit Rosen bepflanzte Verkehrsinsel auf einer Kreuzung von drei Straßen war, an der einen Seite der Traditions-Gasthof Markwart mit einem schönen Garten, auf der gegenüberliegenden ein geschlossener Drogeriemarkt und an der kurzen dritten ein verstaubtes Haushaltswarengeschäft. Henriettes Haus war ein unscheinbarer Mehrparteienbau, darin waren untergebracht: der Versicherungsmakler Travner, der früher Travnicek hieß, der Rauchfangkehrermeister Brandeis, im Ort Brandeins genannt, zwei Arztpraxen, gegen deren Kunden Henriette einen Kleinkrieg führte, weil sie ihren Privatparkplatz benützten.
Alles war gleichzeitig da und glitt wie in einer 3-D-Animation an ihr vorbei. Oder war es umgekehrt? Die ständig wachsende Erwartung drückten ihr auf Herz und Atmung. Der Eingang, eine Glastüre, daneben in einem trostlosen Holzkübel eine fast immer ausgetrocknete Kaktuspflanze, drinnen ein viel zu enges Treppenhaus mit braun gesprenkeltem Kunststein. Aber dann, wenn sich bei ihr oben im zweiten Stock die Türe öffnete, da zeigten sich Henriettes Klasse, ihr Stil und ihre Persönlichkeit.
Weiß in Weiß der Boden mit kühlen Kacheln und die Wände, beige die Seidenvorhänge, weiße Orchideen und kleine Vogelskulpturen auf den Fensterbrettern. Auf einem Treppenabsatz in einer Nische stand eine spätbarocke Schnitzfigur, mein Paulchen, sagte Henriette und streichelte ihm immer zärtlich über den Kopf, obwohl er für Ditta eher wie ein Florian aussah. Aber bei den Heiligen war sie nicht firm. „In Kärnten, wo ich herkomme, da gibt es 44 Kirchen mit dem Paul.“
So überzeugend, man vergaß sofort ihre klimpernden Plastikohrgehänge, ihre schillernden Wallekleider im Hippie-Look, die lächerliche Blume über der linken Schläfe im ausgebleichten Löckchenhaar, die qualmende, an der Unterlippe klebende Zigarette, vielleicht sogar die untalentiert geschaffenen Liliths. Aber darüber wollte sich Ditta kein Urteil erlauben, von darstellender Kunst verstand sie nichts.

Sie läutete, und das philippinische Hausmädchen, meine kleine Maid Lily, nannte sie Henriette, öffnete die Tür so schnell, als wäre sie direkt an der Klingel gestanden. Henriette liebte das Bunte und Grelle an sich selbst, aber die Wohnung hielt sie in Weiß, mit einigen geschickt angebrachten Farbtupfern wie Bilder, Blumen und Kissen. Ansonsten weiße Bodenfliesen, durchgehend einheitlich durch den ganzen Raum, eine riesige weiße Ledergarnitur mit weißen Korbstühlen, lange, fließende cremefarbene Seidenvorhänge in verchromten Haltern vor den Fenstern und im Hallendurchgang, gegenüber eine Glaswand zu einer Terrasse, die auch weiß ausgelegt und mit einer stattlichen Anzahl von Blumentöpfen bestückt war, weiße Rosen, weißer Oleander und weiße Kletterpflanzen.
Henriettes Wohnzimmer war weit und groß wie ein Fußballfeld, oben allerdings von einigen Spitzwinkeln und Schrägen des Daches in der Höhe eingeschränkt. Dafür waren in der Decke viereckige Bullaugen eingelassen, die einem das Gefühl gaben, auf einem Schiff zu sein. Ditta atmete auf, sie war zum Glück nicht die Erste, soweit sie sah, waren da schon Karoline, ihr Fels in der Brandung, Stefan, deren Sohn, und seine schwedische Model-Frau Linda. Die halbwüchsigen, wohlerzogenen, der Literatur aufgeschlossenen Kinder Jan-Philip und Bridget-Marie hatten mitkommen dürfen, um den Star zu treffen, da war auch Roswitha, ihre Partnerin aus dem Bridge-Club, und Marion, eine pensionierte Diplomatin aus der OSZE, deren lauter Mann Tim, ein riesenhafter, rotgesichtiger, immer besoffener Finne, der in der ganzen ehemaligen Sowjetunion mit Medizin-Geräten handelte und später als österreichischer Ehrenkonsul in St. Petersburg seine dunklen Geschäfte machte, dann noch der mächtige Max, Heinz`s früherer engster Freund, der Papierfabriksbesitzer.
Heinz, er fehlte er ihr jetzt so sehr, als sei sie einseitig nackt. Aber ihr Kleid kam an, alle lobten es als jugendlich, na, eben wie du bist, schaut sie an, wie dreißig und kein Jahr mehr! Henriette küsste sie auf beide Wangen und war offensichtlich schon in Fahrt. Ditta, mein Kleines, hello, sagte die Gastgeberin bedeutungsvoll mit tiefer Stimme. Ditta nahm sich ein Glas Orangensaft vom Tablett der Maid, weil sie absolut nichts vertrug und daher nie Alkohol trank. Immer noch die Flugbegleiterin mit ihrer Disziplin.

Henriette beherrschte die Szene wie eine Königin, sie unterhielt die Gäste mit amüsanten Geschichten aus alten Zeiten und mit neuen Plänen. Sie wollte eine Ausstellung in der Schlosskirche machen, ausschließlich mit ihren nackten Liliths. Noch war der Stadtpfarrer dagegen, zu wenig religiöse Konnotation, fanden er und der Kirchenrat, aber die Unterstützung des Kulturvereins hatte sie schon, zumindest der Obmann Thomas war für sie, selbst ein Künstler und Kunsterzieher im Gymnasium. Neuerdings betätigte er sich auch als Truthahnzüchter. Sein Hobby war aber umstritten, weil seine Truthähne inzwischen lauter waren als die berühmten Glocken, die zu jeder vollen Stunde vom Berg auf den Ort herunter schallten.

Thomas saß an Henriettes Seite auf der weißen Lederbank, auf die andere wies sie jetzt Ditta mit einer bestimmten Geste.
„Hierher, komm zu mir, mein Liebes“, und klopfte mit der Hand auf den Sitz, dass Ringe und Armreifen klimperten.
„Oh Gott, Henriette, bin ich aufgeregt“, sagte Ditta und wischte sich heimlich hinter dem Glas mit der Serviette die Schweißperlchen von der Oberlippe.
„Mach dir nichts draus, ich bin auch völlig fertig, habe fast nichts geschlafen, eine Figur wollte und wollte einfach nicht kommen, es war wie verhext.“
„Probierst du etwas Neues?“
Thomas neigte sein junges, hübsches Gesicht vertraulich Henriette zu.
„Wissen Sie, die Skulpturen, die haben etwas von….“ Er suchte nach einem möglichst originellen Wort. Sie brauchten einander, mussten zusammenhalten, die Künstler in so einem kleinen Ort.

Wo war SIE denn nur? Wer würde als Erstes die Nerven verlieren und fragen, warum Arabell noch immer nicht da war? Henriette, die Gastgeberin, oder Max, der ungeduldige Unternehmer, Thomas, der Künstler, ein Kind oder die immer vorlaute Roswitha? Karoline sicher nicht, und Ditta selbst noch weniger als die Maid.
Sie glättete ihren Rock und sah von den auf der Clutch gefalteten Händen auf ihre Lackschuhe hinunter. In den leise rauschenden Small-Talk platzte Henriette.
„Mein Gott, die Arme, was sie alles erlebt hat. Und jetzt die Scheidung, nach 27 Jahren, alles hat er ihr genommen, dieses Schwein..“
Henriette sog an der Zigarette und wedelte mit ihrem chinesischen Fächer den Rauch durch den Raum.
„Ich verstehe es nicht, wo sie bleibt, sie wollte als Erste kommen, hat sie am Telefon gesagt.

Vielleicht gibt es Probleme im Verlag oder mit ihrem Agenten. Ihr habt ja keine Vorstellung, welche Sorgen so ein Star hat. Da geht nicht alles glatt, immer muss sie kämpfen, noch immer, obwohl sie schon lange weltberühmt ist. Alle wollen etwas von ihr, alle wollen sich in ihrem Licht sonnen und sie bestehlen. Sie verschenkt ihr Geld mit beiden Händen. Die Männer, die Ärmste, ihre Männer, nur Schweine um sie herum.
Sie nehmen sie aus und bringen das Geld dann durch mit ihren Hürchen. Und sie merkt es nicht. Nicht einmal ich kann ihr in dieser Sache Vernunft beibringen. Mein Gott, was muss die gute Bella alles aushalten.“
Henriette durfte sie so abkürzen, Bella oder Ara, meine Bella, Bellissima.
Niemand in der Runde verstand sie genau, und die Gäste schauten einander fragend an.

Henriette schüttelte ungefähr fünfmal ihren Lockenkopf, zog die Mundwinkel herunter und die Augenbrauen hoch, strich ihre weiten indischen Ärmel zurück und zündete sich eine neue Zigarette an. Alle Gäste richteten sich auf sie aus, in Erwartung der Lösung des Rätsels.
Neinneinnein, das kann nicht sein. Ditta hielt sich mit einer Hand an der Clutch auf ihrem Schoß fest, mit der anderen an ihrem Saftglas. Sie war verwirrt, musste sich sammeln und grübelte: Die großartige Arabell Inenda soll Probleme, Sorgen haben wie wir, wie ich, eine gewöhnliche Sterbliche, ein Niemand. Haushypothek, Rechnungen, Ehemann, Schwiegereltern, Kinder, Enkel, Nachbarn mit Kampfhunden, Schnellstraßen vor dem Haus, Fluglinien über dem Kopf und Luftverschmutzung durch die Papierfabrik? Nein, das konnte nicht ihre Welt sein. Sie hatte Henriette wahrscheinlich nicht richtig verstanden. Ein großer Star, diese in aller Welt verehrte Schriftstellerin, die alle ihre Leser verzauberte, einfach nur durch das, was sie schrieb, welch wunderbaren Helden sie schuf und welche Welten sie eröffnete. Selbst schreiben. Nein. Sie hatte nichts zu sagen. Was gab es da schon? Heinz, das Haus, der Garten, Golf, Bridge, Miriam, Butler James, Mahmoud, Frösche, Libellen und Goldfische. Ich und….…, das passte gar nicht. Schnell scheuchte sie den Gedanken weg.

Als es läutete, ging Lily ins Vorzimmer, und Henriette bewegte sich leichtfüßig durch den Salon. Im Vorbeigehen griff sie Ditta unter das Kinn und hauchte ihr ins Ohr:
„Kleines, bitte, sag`s nicht der Bella.“
Sie war verwirrt, was sollte sie Arabell nicht sagen? Wie konnte sie denken, sie würde die eben vernommenen Vertraulichkeiten weitererzählen? Aber es blieb keine Zeit mehr zum Grübeln. Arabell Inenda stand im Bogen des Durchgangs, und zwischen den Seidenstores sah sie aus, als würde sie eine Bühne betreten und auf den Auftrittsapplaus warten. Sie knickte die Hüfte leicht ein und stellte gleichzeitig ein Bein vor das andere, dabei hob sie eine Hand zu einem leichten Winken, während die andere in die Hüfte gestützt war. Einfach göttlich, Ditta schmolz dahin. Genau das war es, wofür sie lebte.

Arabell trägt ein veilchenblaues Dior-Kostüm mit einem zu kurzen Rock, der die spitzen Kniescheiben etwas zu sehr betonte, fand Ditta, aber sie hatte wirklich schöne Beine, lang und schmal wie die einer Tänzerin, sie steckten in hochhackigen rosafarbenen Lackpumps, die von einer großen, gleichfarbigen Seidenrose am Jackettaufschlag gematcht wurden. Den über die linke Schulter baumelnden Silberzobel fand die größte Anbeterin très chic, aber angesichts des heißen Wetters an einem hellen Nachmittag im Juni etwas unzeitgemäß.
Obwohl, sie wollte den Star keineswegs kritisieren und ihn sich madig machen. Sie trug ihre dicken, kastanienbraunen Locken hoch aufgesteckt, die von einigen rosaroten Klipsen so unterstützt wurden, dass sie sich zu einem Krönchen türmten wie zu einem zweiten Kopf. Das machte sie größer, jünger und streckte ihren Hals. Aber im Juni-Licht sah sie doch etwas fülliger aus, als Ditta sie von ihren Fotos kannte. Als sie sich vom Torbogen und den Stores löste und sich auf die Sitzgruppe zubewegte, kam es Ditta vor, als würde sie nicht gehen, sondern schweben. Schweben, sicher, nicht schwanken. Henriette bot ihr den thronartigen indischen Schnitzstuhl an, auf dem sie sich einigermaßen graziös niederließ, Beine und Kostüm ordnete und mit der Zigarette fuchtelte.

Ihr schön geschnittenes Gesicht wurde belebt von den großen, dunklen Augen, die wie Kohlestückchen in einem Teig steckten. Aber darunter hingen faltige Hautsäcke wie kleine Hängematten, die sich auch am Hals fortsetzten. Diese waren natürlich auf den ihr bekannten Fotos nicht zu sehen und auch nicht, dass das Weiße um ihre Iris von kleinen, roten Äderchen durchzogen war.
`Wahrscheinlich strengt sie das Schreiben so an, sie muss Tag und Nacht an ihrem Schreibtisch sitzen. Und wenn nicht, dann ist sie in der ganzen Welt auf Lesereisen und Buchpräsentationen unterwegs, Autogramme und Interviews geben.` Sie macht alles für ihre Fans, ihre Leserinnen, ihre Anbeterinnen. Sie opfert sich auf. Auch für mich. Vor lauter Dankbarkeit und Mitgefühl spürte Ditta einen Stich im Herzen.

Arabell war wie Henriette eine starke Raucherin, nur zelebrierte sie diese Gewohnheit noch theatralischer, indem sie aus einer elfenbeinernen Spitze rauchte. Diese hielt sie ganz hinten mit in weißen Handschuhen steckenden Fingern. Aber wenn sie nicht irrte, meinte Ditta, in den Falten des brüchigen Satins unregelmäßige Flecken und abgelagerte Staubstreifen zu entdecken, vielleicht waren es auch Brösel oder Bröckchen von etwas vor langer Zeit Genossenem. Nein, sie sah sicher nicht richtig, böse Ditta, schäm dich, du bist eine Verräterin. Wie konnte sie nur so etwas denken. Sie krümmte ihren Rücken, damit niemand ihr Herz klopfen sah. Sie starrte in ihr Glas, wo sich die schmelzenden Eiswürfel im Orangensaft in trüben Schlieren kringelten.

„Liebling“, rief Henriette.
„Engel“, flötete Arabell, „mein Süßes“.
Mein Gott, diese Stimme, das war die Stimme, an der sie sie endgültig erkannte. Ja, das war sie, die echte, leibhaftige Arabell Inenda. Ditta spürte, dass sie in den Boden versank. Dieser tiefe Samt, dieses sanfte Glühen, in irgendeinem Artikel hatte jemand einmal „Purpur-Samt“ geschrieben.
„Engelchen, was gibt es zu trinken, was trinken die Leute?“
„Alles gibt es, Tee, Kaffee, Saft, Wasser….“
„Pfft, Wasser, bist du mein Feind, willst du mich vernichten?“
Henriette warf sich herum, fuchtelte mit ihrem Fächer wie mit einem Generalstab und deutete auf ihre Gesellschaft.
„Bella-Darling, du weißt, ich passe auf dich auf, immer, du hast heute Abend noch eine Lesung.“
„Musst nicht aufpassen, ich bin schon ein großes Mädchen.“
Der Purpur-Samt kicherte und rutschte leicht ab in ein spitzes, ungeputztes Blech.
„Engelchen, du hast doch deinen köstlichen Wodka.“
„Darling, ich sag nicht nein, zu dir nie, aber denk an die Lesung, an deinen neuen Bestseller.“
Trotzdem rief sie nach Lily und dem Wodka.
„Lily-Schätzchen, keinen Fingerhut, die Flasche!“

Ditta bemühte sich, an etwas anderes zu denken, als sie eben gehört und gesehen hatte.
Aber es nutzte nichts.
„Engel, Henry, wer ist denn das? Was hast du denn da Niedliches bei dir?“
„Ist das mein Kleines, das du mir versprochen hast?“
„Was für ein süßes, kluges Gesicht, und das gelbe Kleidchen, ein wunder-wunderschönes Stück, schaut mal, sehen alle, was ich sehe?“
Lily näherte sich mit einem fünfeckigen Tablett, auf dem ein tiefes Glas, eine Wasserkaraffe, eine kaum angebrochene Wodka-Flasche und ein Eiskübel mit Zange standen. Lily stellte alles am Beitisch ab und machte sich daran, ihr einzuschenken.
„Schätzchen, lass das, das bleibt hier bei mir, nicht wahr.“

Arabell schlug den Zobel um ihren Hals herum, befreite sich von ihrer Zigarette und schenkte sich selbst bis zum Rand ein.
Ditta war nicht mehr ganz sie selbst, als sie im Pelz einige Bewegungen zu sehen glaubte, die nicht von der Trägerin selbst ausgingen.
„Wollt ihr etwas hören aus meinem letzten Roman, schon wieder ein Bestseller, diese Idioten fressen doch alles, diese …. Aber was haben wir denn da? Henry, wen hast du mir denn da angeschleppt, so ein Sweetheart, dieses süße Gesichtchen, süß, süß, süß, ein Herzchen, ein Herzgesicht. Was machen Sie noch mal?“

Arabell klopfte ihr mit der Zigarettenspitze auf die Schulter, als sei sie ein Aschenbecher, den sie übrigens nie benutzte, sondern selbstverständlich auf Henriettes weiße Marmorkacheln aschte. Die kleine Lily huschte unbemerkt um sie herum und wischte den Boden auf.
„Ach, Sie schreiben auch? Wie schön, eine Kollegin, eine Herzensfreundin, was schreiben Sie?“
„Ich, ähm, ich schreibe nie…. Nichts, ich lese…. Ich lese Ihre Bücher, manchmal auch andere, aber Ihre sind mir die liebsten, ich…. weil…. mein Mann….“
Ditta wusste nicht, was sie davon halten sollte, es hatte etwas Unbefriedigendes, das sie nicht so richtig in den Blick bekam.
„Wie süß, hallo Leute, Henriette hat mir heute…..“
Arabell griff wieder zur Flasche, goss das Glas randvoll und zündete sich die nächste Zigarette an, ein tiefer Zug von da und dort. Alle wurden Zeugen, wie der Wodka in ihrem Blut und ihrem Gehirn seine wunderbare Arbeit verrichtete.

„Henry, mein Engelchen, was wolltest du mir sagen, Jugend, ja Jugend, wir waren auch einmal….. Sie hat einen Mann, ist das nicht entzückend, und sie liebt ihn auch noch, sagt sie, einen einzigen Mann, ihren Mann. Synopsis oder ein Skript zuschicken, an meinen Verlag, ich bin wahnsinnig interessiert, ich nehme neue Ideen auf, Sie wissen, ich bin immer in Verbindung, Verbindung mit, mit….., ja, mit wem, Henry, sag mir‘s.“
Ihre Augen schienen aus den Hängematten herausspringen zu wollen, die Kohlestücke zerbröselten im Gesichtsteig, das Haarkrönchen neigte sich bedenklich zur Seite, die Seidenblume wurde welk, und aus dem Zobel begannen kleine Tierchen über Hals und Gesicht zu krabbeln.

Ditta sah es mit ihren eigenen Augen, wollte das nicht sehen und errötete so stark, dass ihr ganzer Körper schmerzte.
Sie nahm all ihren Mut zusammen, griff nach ihrer Clutch und stand mit steifen Beinen auf:
„Vielen Dank, ich muss jetzt wirklich…..Henriette, Frau Inenda, entschuldigen Sie mich, ich muss jetzt wirklich, mein Mann, die Katze, der Garten, ich habe noch…“
„SchschreibenSie, Goethe hat auch, war …. Sie sind eine Heilige“, rief Arabell ihr nach, „sie hat einen Mann, einen, und liebt ihn auch noch, sagt sie, so eine süße Idiotin, und mich auch, nochmal Idiotiiin.“
Dabei lachte sie schrill auf, ließ sich in ihren Sessel zurückfallen und fing unmittelbar zu schnarchen an.
Henriette flüsterte Ditta ins Ohr: „Du verstehst ja, Kleines, dass sie sich vor ihrem Abend noch ausruhen muss.“

Lily begleitete sie an die Tür. Obwohl die Maid von Henriette zur ultimativen Zurückhaltung erzogen worden war, meinte Ditta ein mitleidiges Lächeln zu entdecken, oder war es Schadenfreude?
Wie sie durch das steile Treppenhaus hinunter auf die Straße kam, erinnert sie nicht mehr. Draußen war es noch nicht ganz dunkel, eine schwüle, wattige Dämmerung. Ditta schleppte sich über den Hauptplatz vor Henriettes Haus, durch die alte Lindenallee, vorbei am Rosengarten des Klosters bis zur Schwarza. Es war die Jahreszeit, die sie sonst über alles liebte, wenn sich die Düfte der Linden mit Flieder und Rosen mischten. Jetzt war ihr die süße Luft unangenehm und sogar peinlich. Ihr wäre ein Geruch von Jauche lieber gewesen.
Einige Zeit stand sie auf der Brücke ans Geländer gelehnt, aber das Wasser war zu seicht, als dass es sich ausgezahlt hätte. Menschen haben manchmal Gedanken, die sie besser nicht hätten. Manches, was man tat im Leben, war bereuenswert, anderes nicht.
Aus allen Gärten drangen die Amsel-Flöten, die Nacht war so klar, dass sich der Bogen der Milchstraße deutlich abzeichnete. Sie dachte an vieles, an die Sterne, an Heinz, James, Mahmoud, die Frösche, Libellen, Goldfische und an das Amsel-Pärchen und an alles andere, nur nicht an Arabell. Immer glaubt man, man könnte sich mit einer Art Schild dagegen schützen, aber die Erinnerung kommt nie von vorne auf dich zu, sondern seitlich um die Ecke. Mit einem Schwung warf sie die Clutch über die Brücke. Nur ein schwaches Klatschen kam vom Wasser. Sie zog ihre Lieblingsschuhe aus und schleuderte sie in die ausgetrocknete Schwarza, zweimal ein höhnisches Klacken auf den Kieseln ohne Echo, nur noch Schotter, Edelschrott.
„Wider-hallende Leere“, diese zwei Wörter drehten sich unter ihrer harten Schädeldecke, immer und immer wieder, bis sie zu Hause ankam.

Sie schloss die Türe auf und rief mit gebrochener Stimme, fast nicht mehr als ein Krächzen, ins Haus hinein:
„Bist du da, Darl, ich bin‘s.“
Er saß wie immer im Office, aber nicht in seinem Ohrensessel und nicht von Börsenberichten und Sudokus umgeben, sondern am Schreibtisch. Den hatte er seit seiner Pensionierung vor drei Jahren nicht mehr aufgesucht. Jetzt war er überhäuft mit Bauanleitungen für Laubsägearbeiten, Plänen für Häuser, Kirchen, Pfarrhaus, Schulen, Geschäfte, Bäckerei, Fleischerei, Brauerei, Sportplatz, Brunnen, Feuerwehrhaus und allem, was ein Dorf ausmacht. Zu seinen Füßen sah sie ein Laubsägeset und einige Packungen mit Brettern. Sein Mund stand halboffen, die Zunge lag leicht vorgestreckt im linken Mundwinkel, die Lesebrille saß ihm auf der Nasenspitze, sein Gesicht glühte, die Zigarre qualmte ungeraucht neben ihm im Aschenbecher, am Beitisch ein Tablett mit dem Abendessen: Aufschnitt am Holzbrett, das Brotkörbchen, eine ungeöffnete Bierflasche und die Vorspeise, in der die Eiswürfel längst zerschmolzen waren.

Ditta blieb wie angewurzelt in der Türe stehen.
„Um Gottes Willen, Heinz, was soll das werden?“
„Siehst du‘s nicht, ich baue dem James ein Dorf. Und bei dir, wie war`s?“
„Sehr interessant, wirklich, alle waren da, nur du hast gefehlt. Und sie hat auch vorbeigeschaut.“
„Wer hat vorbeigeschaut?“
„Na, wer schon, Heinz, wirklich, du bist unmöglich.“
Am liebsten hätte sie mit den Füßen aufgestampft und ihren Tränen freien Lauf gelassen.
„Ach, die alte Schabracke meinst du. Worüber habt ihr geredet?“
Mit letzter Beherrschung hauchte sie:
„Über…. Goethe.“
„Du – und – Goethe?“

Er hackte die Wörter scharf auseinander, zog das U und das Ö so in die Länge und in die Höhe, dass das dreifache Fragezeichen fast sichtbar in der Luft stand. Er nahm die Brille ab, leckte sich mit der Zunge über die Lippen und schaute sie mit so jungen, frisch-funkelnden Augen an, seit langem zum ersten Mal direkt in die Augen, ein Blinken und Blitzen, wie sie es schon lange nicht mehr bei ihm bemerkt und schon vergessen hatte, dass es das bei ihnen einmal gegeben hatte. Eine Mischung aus Mitleid, zärtlicher Neckerei und Liebesbereitschaft. Sogar sein schwerer Körper schien ihr für einen Augenblick leichter, hatte irgendeinen jungen Schwung, eine neue Streckung. Wenn James Dean nicht so früh gestorben wäre, hätte er vielleicht ausgesehen wie Heinz jetzt. Ditta hatte mit der Geduld der Liebenden gelernt, auf solche Augenblicke zu warten, und wenn sie kamen, sie auch zu genießen. Wenn er sie länger angesehen hätte, würde er festgestellt haben, dass ihr zittriges Lächeln jetzt aussah wie ein verlorenes Blatt. Es sollte vermutlich mädchenhaft und entwaffnend aussehen, doch es hätte die Aufmerksamkeit nur auf die schlaffe Leere ihres Gesichts gelenkt, ein erschauernder Clown.

„Ja, Goethe, sie hat mit mir über Goethe geredet.“
„Wirklich? Na, dann gute Nacht. Ich bleib, hab noch zu tun.“
„Das sehe ich, dir auch gute Nacht.“

Epilog: Während sich Ditta in ihrem Zimmer auszog, im Finstern wohlweislich, damit sie nicht in Gefahr geriet, sich im Spiegel zu sehen, hörte sie vom Garten herauf einen lauten Knall. Als sie den Vorhang vom Fenster wegzog, sah sie James` rauchende Trümmer über den Rasen verstreut liegen. Wahrscheinlich hatte er sich heute nicht selbst abgeschaltet, und der Akku war viele Stunden lang heiß gelaufen, bis er explodierte. Die Gebrauchsanweisung hatte vor diesem, als unwahrscheinlich eingestuften Fall gewarnt. Durch die Rauchwolken hindurch sah Ditta Heinz am Rande des japanischen Teiches stehen, gebeugt und den Kopf tief auf die Brust gesenkt – der Inbegriff eines gebrochenen Mannes.
Sie befürchtete das Schlimmste: Ob er sich wohl je an James II. gewöhnen würde?

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
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www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 16027

 

Stammtischgebet

So einen kleinen Knick, den haben wir schon verkraftet, damals. Kleine Delle gekriegt, der Aufschwung, die Konjunktur und alles. Wegen dem Bisschen Öl und so. Aber sonst – nein, da sind wir die Alten geblieben, nicht? Kein Problem! Da gab’s noch Tauschhandel, Schwarzmarkt und so. Mein Gott! Aber dann – immer bergauf, haben wir gesagt, nicht? Und alles hat man sagen können, nicht? Und was ist jetzt? Jetzt sitzen sie wieder da an allen Ecken und strecken die Hände aus, nicht? Haben wir nicht geschuftet vierzig Jahre lang? Jetzt wollen die da alles geschenkt! Vielleicht gar unsre Wohnungen, nicht? Unsere Autos? Unsere Frauen, nicht? Sind ja alles Männer, die da kommen. Beinahe jedenfalls, nicht?
Wohin mit denen, fragt man sich? Geht ihnen ja gut bei uns. Warum auch nicht? Sind alle voll, unserer Regale. Volle Schüsseln, nicht? Was haben wir denn schon gehabt, danach, damals? Nichts! Aber jetzt – sollen wir wieder alles hergeben, wegen denen? Schon einmal sind welche gekommen, als Gäste, hat man gesagt, nicht? Nur nicht so zahlreich. Zum Arbeiten. Damals hat’s wenigstens noch Arbeit gegeben, nicht? Aber heut’? Und jetzt die hier? Wo soll man denn die hin? Stehen bloß rum. Warten auf Zuwendungen, nicht? Übersiedler waren das damals, aber immerhin. Hatten was drauf! Zumindest Muskelschmalz, nicht?

Aber die hier? Was kann denn so einer schon können, muss man sich fragen, nicht? Kann der was? Weiß der, was das heißt, zupacken, nicht? Is’ ja alles industrialisiert worden seither. Und da waren wir, nicht? Wir haben das alles großgezogen. Ohne uns wäre das alles nichts geworden, nicht? Jeder hatte da seinen Käfer, nicht? Manche schon einen Mercedes oder so. Modernste Technologien, nicht? Wettbewerbsfähige Forschung und Entwicklung, nicht? Zehnprozentwachstum, nicht?
Und heute? Was is’ heute? Nichts! Wird alles in die da reingebuttert, nicht? Tja, ein Wunder war’s, sagt man heute, ein Wunder, nicht? Und was ist jetzt? Na? Ein blaues Wunder! Wir erleben grad’ unser blaues Wunder. Direkt aus’m US- Standard ins Nichts katapultiert. Nur sagen darf man nichts.

Was woll’n die überhaupt hier? Was stell’n die sich vor? Vielleicht auch noch Vollbeschäftigung, wie? Wie soll das gehen, wenn überall abgebaut wird, nicht? Überall diese Computer? Wer braucht uns denn noch? Wir sind ja alle Auslaufmodelle sind wir, nicht?
Und überhaupt, pfh!, Landwirtschaft – wo gibt’s denn heut’ noch Landwirtschaft? Könnten ja in der Landwirtschaft arbeiten, die da. Aber’s gibt ja keine mehr! Alles künstlich. Wird ja alles künstlich hergestellt, nicht? Strukturwandel ist das. Und Dienstleistungen? Was sollen die sonst machen?
Die versteht ja keiner. Wer versteht denn die, nicht? Ach früher, Gotteswillen, war ja kein Malheur, mal eine kleine Rezession so zwischendurch. Aber jetzt? Jetzt? Jetzt is’ nur mehr Rezession, nicht? Was kriegst’n du heute für dein Geld? Nix! Oder? Damals hatten wir die Taschen voll, ums gute Geld, beim Einkauf. Aber heute? Unsere alten Leitbetriebe sind marod, nicht? Die meisten gibt’s gar nicht mehr.
Ja, Essensbuden, die schießen aus dem Boden wie die Pilze! Die brauchen wir! Wer braucht die, nicht? Alles von überall her. Nix Bodenständiges, nicht? Nur sagen darf man nichts.

Der soziale Frieden, hat es immer geheißen. Was ist mit dem heute? Der ist hin, nicht? Unsere Staatsunternehmen, nicht? Alles hin. Weg! Verramscht, nicht? Dein Paket musst du dir neuerdings vom Nachbarn abholen, nicht? Da musst du Glück haben, wenn der überhaupt daheim ist. Und alles so teuer! Weltwirtschaftskrise ist das, nur sagt’s keiner, nicht? Vorkriegsboom ist das. Müssen froh sein, dass es überhaupt noch was gibt, nicht? Angebots- oder Nachfragekräfte! Lachhaft das alles, nicht? Nur sagen darf man nichts.

Flexibles Arbeitsangebot! Firmenpleiten! Wo du hinschaust, Pleiten! So sieht’s aus, nicht? Und da wollen die zu uns? Wissen die überhaupt, was hier läuft? Nein, das wissen die nicht! Und es sagt ihnen auch niemand. Ein paar machen dabei Sonntagsgesichter und reiben sich die Patschhändchen, wenn sie ein paar Löffel Suppe ausschenken dürfen, nicht? Dann haben sie schon ein reines Gewissen und können vor lauter Sozialsein gar nicht mehr gerade gehen, nicht? Aber die werden auch noch schön dreinschauen, wenn’s umkippt. Wenn die alle Hunger kriegen, und es gibt nichts mehr, nicht? Dann heißt’s wieder: Löhne gering halten! Dann werden wieder soziale Bündnisse geschmiedet, zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften und den staatlichen Preiskontrolleuren, nicht? Dann werden wir bald wieder einen Marshallplan brauchen. Dann sind die vierzig glorreichen Jahre endgültig vorbei, nicht? Nur sagen darf man nichts.

Und unsere Jungen? Sollen die sich gar einschränken müssen wegen denen? Dürfen die jetzt keinen Spaß mehr haben? Nur, weil die keinen Spaß verstehen? Wir haben schließlich das kleinbürgerliche Leben endlich überwunden, nicht? Sollen die jetzt wegen denen von vorne anfangen? War das alles umsonst? Wir haben uns emanzipiert, nicht? Sollen wir uns jetzt wieder unterwerfen, wegen den paar da? Wollen die uns unseren Nonkonformismus madig machen, nicht? Uns unpatriotischen Umstürzlern vielleicht am Zeug flicken? Mit ihren Vorschriften etwa, nicht? Unsere geliebte bürgerliche Dekadenz unterwandern? Unsere kulturelle Zusammenhörigkeit unterbinden, nicht? Unsere Stammtische abschaffen und in Teestuben verlegen? Wollen die uns unsere sexuelle Revolution unter ihren Gebetsteppich kehren, nicht? Wollen die uns vielleicht noch unsere Musik verbieten und durch ihr Vierteltongewinsel ersetzen? Nur sagen darf man nichts.

Oder – sollen wir durch die vielleicht wieder zum Organisationsmenschen werden, nicht? Vielleicht wieder die grausige Einsamkeit des autonomen Einzelnen in einer entseelten Welt spielen, nicht? Jetzt, wo wir das alles mühsam überwunden haben? Wissen die überhaupt, was unkonventionell bedeutet? Wissen die, was kreativ sein heißt? Wissen die, was Gesellschaftskritik ist? Wissen die, wie es ist, seine eigene Meinung zu sagen, ohne gleich dafür ausgepeitscht zu werden? Soll das alles vergeblich gewesen sein, nicht? Sollen wir uns jetzt wegen denen wieder irgendeinem Willen unterwerfen? Sollen wir wegen denen wieder Regeln aufstellen müssen? Für alle Lebensbereiche, und stereotyp irgendwelche Strophen heruntermurmeln, nicht? Und nur wegen denen schon wieder einmal nicht sagen dürfen, was man sich denkt, wie damals, nicht? Und dann wieder das Dilemma, dass nicht alle gleich sind, nach sechzig Jahren Demokratie? Und müssen wir das wirklich ertragen, dass ein paar Fanatiker in dunklen Hinterzimmern planen, uns irgendwann an den Kragen zu gehen, während sie am Tage um Mietzinsbeihilfe Schlange stehen, nicht? Nur sagen darf man nichts.

Und sollen unsere Frauen vielleicht wieder schamhaft die Blicke zu Boden richten, wenn ein Mann sie ansieht, nicht? Und dass sie ihren Schmuck nicht herzeigen dürfen? Und sie sich in Tücher hüllen müssen, dumpfe Symbole der Rückständigkeit, des vorsätzlichen Belästigungsschutzes, nicht? Damit haben die ihre Frauen aus der Öffentlichkeit gerückt, hört man. Wollen wir das bei unseren Frauen hinnehmen? Nur sagen darf man nichts.

Und dass wir wochenlang am Tag nicht essen und trinken dürfen, nicht? Und das, bei unserer ausgeprägten Ess- und Trinkkultur, nicht? Und schließlich sind wir ein Weinland, nicht? Und woll’n die uns gar unseren Wein nehmen, nicht? Das wär ja noch schöner! Und wir werden denen schon zeigen, wo bei uns die andersrum Veranlagten hinkommen, nicht? In die Hölle nicht, aber auf die Fußgeherampeln! So schaut’s aus, nicht? Aber sagen darf man nichts. Und überhaupt – die können doch nicht einfach Dirndlkleid und Lederhose anziehen! Das wär fesch, nicht? Und mitpaschen dürfen sie auch nicht. Das dürfen ja wir aus dem Nachbarort schon nicht, nicht? Und unsere Lieder singen? Das sollen sie schon eigentlich gar nicht. Die haben das nicht zu können, nicht? Weil die – die wissen nicht einmal, wie man ein WC benützt. Weil die glauben, man muss auf die Klobrille steigen dabei. Solche sind das, nicht? Und Taschentücher – das kennen die gar nicht. Weil’s dort nur heiß ist, und man sich nicht schnäuzen muss. Und die sollen uns einmal erhalten? Nicht? Und wegen solchen wird das Fußballmatch abgesagt, und wir kriegen vielleicht sogar noch Ausgangssperre, nicht? Nur sagen darf man nichts.

Ihre Jungen, sagen die, die hätten ein Jugendproblem. Und dass sie anfällig wären, für Extreme, und was sie da alles anrichten. Das alles, das wäre nur ein Jugendstreich, nicht? Da danken wir schön! Und dass sie alle so empfindlich wären, sagen die, wenn man sie verarscht, nicht? Dabei schreien die gerade danach, verarscht zu werden, nicht? So ernst, wie sich die nehmen, nicht? Und dass sie keinen Spaß verstehen, nicht? Das sieht man! Aber die können nicht wissen, wie empfindlich wir sind, nicht? Meiner Seel’, was haben wir nicht schon alles ertragen müssen? Und? Haben wir uns dagegen gewehrt? Haben wir? Und noch dazu mit solchen Mitteln – gewehrt? Das hätten wir versuchen sollen, nicht? Nur sagen darf man nichts.

Und alles bloß, weil wir uns so postkolonial verhalten, ihnen gegenüber, nicht? Da muss einer sich ja in seine eigene Welt zurückziehen. Da muss sich einer ja in sein Schneckenhaus verkriechen. Nur sagen darf man nichts.

Aber wir pfeifen auf ihren Ehrenkodex und ihre Stammesregeln! Weil wir haben unsere eigenen Dingsda, nicht? Und überhaupt, alles wäre ohnehin nur ein humanitärer Imperativ gewesen, dass sie hätten kommen sollen, nicht? War alles nur ein PR-Gag. Aber dann – jetzt – ab jetzt wird wieder hingeschaut! Jetzt schauen die auch nicht mehr weg, die, die vorher dafür gewesen sind, nicht? So wie die, die nie dafür waren, und die ja auch immer hingeschaut haben, nicht? Jetzt heißt es Hand auf, und geschworen – für die Ewigkeit – und ob man da bleiben darf und ein guter Mensch werden will, oder nicht! Nicht? Nur sagen darf man nichts.

Und bei all dem, was da passiert, muss man bloß ruhig bleiben, sagen alle. Und sie hätten alles im Griff, sagen sie, nicht? Aber, sag ich, bei all dem, was da passiert – man traut sich ja bald nicht mehr aus dem Haus wegen denen – wenn da einer keine Angst kriegt, dann hat er keine Fantasie, nicht? Nur sagen darf man nichts! Prost!

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at |Kategorie: hardly secret diary |Inventarnummer: 16008

 

Dem Zweifel entfliehen, der Leere, der Traurigkeit

Wenn Müdigkeit sich in mir auszubreiten beginnt, lasse ich sie Besitz von mir ergreifen. Sie kommt mir gerade recht. Ich spüre, wie sie anfängt, meinen Verstand zu lähmen. Alles in meinem Hirn wird unwichtig. Die Augen fallen mir zu und ich gebe mich dem angenehmen Gefühl hin, hinabzusinken in die lautlose Dunkelheit. Während ich das Schweben noch wahrnehme und völlig angstlos genieße, entzieht sich mir jegliche Vorstellung von Ankunft. Nur das Sinken nehme ich wahr, es dauert und dauert und ich gelange nie an den Grund. Daran finde ich mehr und mehr Gefallen. Verschließen will ich die Augen vor den unermüdlich eintretenden Ereignissen. Die Notwendigkeiten schaffen es nicht mehr, meine Sensoren zu erreichen. Wissen will ich nicht, was ich tun soll und muss. Nur schwerelos gleiten möchte ich und nie ankommen.

Es ist Geborgenheit, die mich durch diesen Dämmer trägt und hält und schützt. Dann verliert sich auch die Erinnerung daran und es gibt nichts mehr, was mein Bewusstsein beschäftigt. Lediglich ein wohliges Gewogensein von geheimen Kräften umgibt mich. Sonst ist da nur der Rhythmus des Atems, der im Geheimen die Verbindung zum Leben wahrt. Zeit und Raum verschwinden und ich spüre die Schichten meines kümmerlichen Daseins, die ihre Schalen öffnen vor dem, der ohnehin weiß, was im Innersten wohnt. Mit seinem liebenden Herzen fühlt er hinein und lässt ein leises Lied erklingen, das vom Wunder des Paradieses zu künden weiß, vom Gleichklang der Lebenskräfte, die mich aber taumeln lassen im Sturm und mich zu verwehen drohen im Dickicht, sodass ich mich auflöse in abertausend Fäden, die an den Ästen der Bäume hängen bleiben und ein Spiel der Lüfte werden, völlig substanzlos.

Aufgetrennt ist meine Seele und zerstückelt, und die Enden suchen nach der gewohnten Selbstverständlichkeit, mit der sie dem Lebensfaden verbunden waren. Abzuwickeln schien ihn Zentimeter für Zentimeter eine schicksalhafte Kraft, die sich des Ziels sicher war. Doch plötzlich gelangte er in den Besitz bislang verborgener Kräfte, und neue Türen tun sich auf und lassen die verblüfften Augen Ungeahntes schauen, das mit Macht und Unerbittlichkeit zum Gehen auf den neuen Wegen drängt. Kein Aufschub wird erlaubt, es eilt. Die Zeit ist dicht, kein Millimeter findet sich zwischen den Momenten, angefüllt ist jede Sekunde mit Ungeduld und Drängen. Ein Sehnen zieht die Seele mit sich fort und kündet ihr von ungeschauten Plätzen, die wohl verborgen hinter Zauberwäldern die Quelle der vier Flüsse ahnen lässt. Und in dem atemlosen Hecheln dieser vielfach angehäuften Zeit reißt der letzte Faden jäh entzwei und alles taumelt.

So finde ich mich losgelöst von den gewohnten Banden und baumle in nie gekannter Weise an seidenen Gespinsten, die Achtsamkeit und Mut mir gleichermaßen abverlangen, um nicht zu stürzen in den Höllenschlund. Viele Worte dringen an mein Ohr, sie sprechen Warnungen und drohen, sie beschwören meine Sinne und äußern immer wieder das Zauberwort Vernunft, Vernunft, Vernunft. Verstohlen klopft es an die Schädelwand von innen, auf dass ich öffne Aug und Ohr und Herz. Geheime Mächte sind es aber, die sich gegen dieses Drängen sperren. Vernunft kann nicht der Maßstab sein. Soll denn das Herz zur Marionette werden? Soll es geleitet werden von den Messgeräten, die mit der Macht der Zahlen betören und verführen, und oftmals schon das Unheil überschwappen ließen trotz zweifelsfreier Expertisen?

Die schwerelosen, dem wachen Auge stets verborgnen Seidenfäden sind von den Raupen ahnungsvoll gesponnen. Sehr wohl wissen sie, was an ihnen hängt und was sie bewahren müssen vor der ewigen Verdammnis. So lasse ich mich in jenen Dämmer gleiten und spüre im Innern der Erinnerung, die meine Ahnen mir nicht grundlos weitergaben, dass ich getragen bin, wenn auch ganz zart. Nur trauen kann ich dem Vertrauen, das in mir lebt und mir den schmalen Pfad zu gehen rät. Wer weiß schon um die sorgenvollen Kammern in den entlegnen Winkeln meiner Kreatur, die ähnlich den himmlischen Hallen sich ineinander bauen und verzweigen und endlich doch das Auge schauen lassen in jenes Licht.

So kann ich der lautlosen Dunkelheit vertrauen. Sie fängt mich auf und lässt mich träumen von Plätzen, die kein Wissen jemals sieht. Im zärtlichen Vergessen ruh ich mich aus und schwebe unmerklich leise wieder empor zu jenem Horizont, der mich empfängt und weckt und zärtlich aufnimmt in die neue Zeit. Lang ist sie und anders und doch gleich. (Allein in mir hat sich ein Auge aufgetan, das auf dem mühevollen Gang durch die Windungen des Schneckenhauses die Zeit und alles, was in ihrem Licht erscheint, ganz neu erscheinen lässt.)

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 15086

Der Verbalist

Was ist, fragt ihr, ein Verbalist? Bedaure, dass für derart’ge Debatten kein Vorschlag einzubringen ist. Doch längst ist so den Herrn, wohl auch den Damen, aufgefallen, als wär er tot und sein Verschwinden leis‘ verschwiegen. Sein‘ Aufgab‘ war, uns stets zu unterhalten. Doch galt er nicht in aller Munde gleich. Dem einen war er Schalk und Narr, dem andren Anarchist. So war er allen das, was sie aus ihm gemacht. War einmal dies und einmal das. Ganz je nachdem, wie es die Zeit verlangt. Was liegt daran, wer spricht? Ist nicht die Stille mehr dem Lärm der Worte vorzuziehen?

Doch noch einmal zurück zur Frage, was er denn sei, der Verbalist? Vielleicht ein Schöpfer? Urheber sprachlicher Gebilde? Veranlasser geistiger, sprachlich‘ oder bildlich‘ Werke? So hört denn selbst, was uns so einer zu erzählen hat:

Beinah ein halbes Leben habe ich verschwendet, um zu berichten. Habe das Publikum verätzt. Mir manches damit auch verbaut. Doch stets darauf bedacht, mir Ungereimtes zu verbeten. War da und dort die Wahrheit selbst verbogen. Vielleicht verdichtet? Ich wär verbohrt, warf man mir vor. Was ich verbrach, sei niemals wieder gutzumachen. Den Rest des Lebens sollt‘ ich nun mit Stillesein verbüßen. Verdacht, sagen die, bestünde, ich hätte sie verladen. Bin nun verdammt, das Maul zu halten. Und was ich schrieb, wär schwer verdaulich. Jetzt steh ich da, verdutzt. Versteht: All das tat ich bloß aus Verehrung um Veredelung der Worte. Doch eines tat ich nie, die Zeit verdösen. Schrieb niemals unverdrossen in den Tag hinein. Gar zum Verdruss für andere? Hab niemals je verdünnt. Schon eher dicke aufgetragen, wenn Fakten oft nicht immer das gehalten, was sie zu allererst versprachen. Doch mit der Zeit verebben alle Worte. Hab unverblümt gesagt, was ich mir denke. Nur um der Wahrheit Willen Getratsche zu verbreiten?
Ich tat’s, das Wort galt’s zu verehren. Mal zu entzwei’n, mal zu vereinen. Mein Umfeld wollte ich vereisen, manch einen gern verekeln, wenn es danach schrie. Dann schließlich, wenn leise sich der Horizont verengte – mein Geist verfällt – hab ich nichts weiter zu vererben. Wollte die Welt zum Kritischen verfärben. Verzeiht, wenn das, was ich verfasst‘, nicht gleich in eure Lade passt. Und manch Histörchen war wohl bass verfault. Verflixt, nie wollt‘ ich mich mit euch verfemen. Verzeiht mein unwürdig‘ Vergehen.
Die Zeit verfloss, derweil ich schrieb. Mich nun zu loben oder zu verdammen, scheint noch verfrüht. Gebt eine letzte Chance. Doch wenn ich euch verletzt‘, jetzt könnt ihr über mich verfügen. Mir auch vergeben oder mich vergessen, denn das Papier, auf dem ich schrieb, schon ist’s vergilbt. Der Geist vergisst leicht mit der Zeit, was er erfuhr. Und dennoch bin ich stets vergnügt. Nichts könnt‘ man Schön’res mir vergüten, als um den Augenblick des Schreibens. Und nichts von alledem war mir verhasster, mehr, als dumpfes Brüten.
Ich hätte mich verhauen können. Verheult hätt‘ ich den längst verlor’nen Tag. Verhext! Nun will man mich verhören, was ich dazu zu sagen hätte. Verhüten hätt ich sollen. Einer wie ich würd‘ alles nur verhuren. Tät‘ sich in Wortlaut-Labyrinthen stets verirren. Man könnte mich, wenn man das wollt‘, verjagen. Einer wie ich würd‘ ohnehin die Ehr‘ verjuxen. Dann auch noch jammern, weil man ihn verkannt‘! So weit soll’s auch noch kommen! Ist diese Welt denn nicht verkehrt?
Was kann denn ich dafür, dass sie mich jetzt verlässt? Verlaust, verlebt, verklebt. Ein Wortverdreher. Na und? Was wurde schon verlegt? Das Bisschen? Nein, nein, man hat sich nicht verlesen. Zuwenig war’s verlinkt. Und alles wär‘ verlogen. Doch noch ist nichts verloren. Wolltet ihr schon mein Seel‘ verlosen? Vermeint ihr, dass ihr’s könnt? Und mir den Lebensabend trüben? Ohn‘ jegliche Vernunft. Ihr habt vermutet, dass ich den Anschluss hätt‘ verpasst? Von wegen! Doch was ich tat, war höchst verpönt. Ich geb es zu. Kritik zu üben! Wer meint er, dass er sei?, sagt ihr. Nun, einerlei, der Vorschuss ist verprasst. Da kann man halt nix machen. Ich hätte mich verrannt, sag’n die! Herkunft und Vaterland verraten. Dass ich nicht lach!

Meine verruchten Schriften soll’n verrohen? Ich hör euch schon von Weitem drohen. Jetzt wäre ich verrufen. Nun gut. Ich schreib nicht mehr. Beschloss’ne Sache. Tasten, die verrußen. Ideen versagen. Hilferuf versandt. Den Rest des Lebens nicht versauern. Ihr werdet’s schon bedauern. Ist kein Verschiss, auf meine Ehr! Ihr dachtet erst, er wäre recht versiert im Schreiben? Macht selbst ein Bild. Bloß Neider nennen mich versifft. Und andere sagen, er ist total versnobt. Kein‘ Red‘ auch von Verstand.

So bleib ich im Versteck. Ich schließe das Verdeck. Werd‘ mir das Leben schon versüßen. Wenn mir was einfiel, so ließ ich’s nicht vertagen. Ideen sofort auf dem Papier vertäut und rasch für mich in Wort und Laut vertont. Wer kann’s einem verübeln? Natürlich kam es vor, dass mancher auch verulkt sein muss, weil er so blöd war. Das soll beileib‘ kein Vorwurf sein. Ist jeder nur so wie er ist. Verwandte blieben da nicht ausgenommen. Und innig tat verwegen ich Zug um Zug mein Spinnennetz verweben. Gedanken kommen und verwehen. Zurück bleibt oft das Auge nur, verweint. Der Schreiber wird verwesen, und sein Schreibtisch? Der verwaist. Verzicht‘ die Welt auf mich! Ich bin verzogen. Sie ist mir zu verzopft. Ich will sie ganz verachten. Verändern kann ich’s nimmermehr.
Schluss ist’s schließ- und endlich mit Veräppeln und der Verarschung sei’s genug. Kein Wort mehr von verbrannter Erde. Mag niemand‘ mehr verbellen. Der Hund bleibt stumm. Ich werd‘ mich vor den Lesern tief verbeugen. Habt Dank, dass ihr so brav mir zugehört. War auch nicht alles klug, was ich gesagt, hab nicht gedacht, und nur mein Herz gefragt. Was soll’s. Mein Image ist verbeult. Wer will mich denn dafür verbimsen? Mich gar verbläuen, weil so verbissen ich dran schuf? Mein Geist ist hell, ich wollte nicht verblöden. Hat oft verblüfft. Und ist bereits verblüht, mein Schwung.
Hab’s selber mir verbockt und mir den Mund verbrannt, die Zung‘ verbrüht. Und ich gesteh, in meinem Wahn hab alles ich verbraten, was mir wert. Kaum kam ein Lob. Viel Arbeit, wenig Brot. Wie sollt‘ man selbes auch verbuchen? Verdamm mich, wenn meine Gabe doch nicht bloß genetisch wär. Vererbung, ja, natürlich. Ein jeder hat verdient, was er bekommt. Womit sollt‘ ich mir sonst die Stund‘ verdingen? Zu sonst nichts Lust, als wär mir alles schon verdorben. Die Hand, die stetig schrieb, verdorrt. Den hingeworf’nen Brocken schwer verdaut. Das Unheil um den hoffnungsvollen Satz beinah vereitelt. Na und?
Wo find’st du den Verfasser? Ist er zu Haus? I wo! Im Internet. Na klar! Denn dort ist alles nachzulesen, was du anderswo nit find‘st. Verewigt. Für die Ewigkeit. Das hätt’ste nicht vermutet, was? Doch immer schon, die Zeit heilt alle Wunden. Der Schreiber ist schon längst verfault. Verziehen das verfehlte Wort. Verfeuert in die Menge und verheizt. Verjubelt. Verflucht! Jetzt sag bloß ohne Honorar! Ganz unverfroren. Die Chance, Millionär zu werden, ist vergeigt. Ist and’ren Schreibern vorbehalten, gar jenen, die die Welt vermessen. Ich möchte sie vergiften! Besser wär’s, sie gleich vergessen. Nicht sinnlos Energie vergeuden. Auch geniale Hirne werden irgendwann vergipsen. Und der Pokal in dem Regal, der wird verrosten, wenn Lobeshymnen längst verhallen. Der Glanz verhuscht. Trotz alledem. All jenen will ich ihren Ruhm vergönnen, wenn sie ihn hart verdient‘. Wir soll’n nicht die Ehr‘ verhunzen. Ach, könnt ich mich verjüngen! Und mit Vokabeln mich verkabeln. Stattdessen bin ich schon verkalkt. Genie verkapptes! Und die Ernücht’rung macht verkatert.
Ein Typ, wie ich, gänzlich verkokst. Verkünder krauser Theorien. Und selbstverliebt, das ja, und nicht zu wenig. Zu schwach verlinkt. Bekanntheitsgrad verlischt. Bleib ohnedies nur der Verlierer, trotz der Verlockung, die so groß. Vermarktung ausgeblieben. Was blieb, ist lediglich verludern und verlumpen. Vermessen wär’s, sich forthin zu vernetzen. Ganz schlecht verpackt. Die Zeit verpennt. Man sollte sich verpissen. Der frühe Lorbeer ist verprasst. Und ums Verrecken niemals wieder zu erringen. Die Zukunft scheint verregnet und versalzen. Verspür schon den Verstand versanden. Die elektronisch‘ Feder rasch verstauen. Sie rasch verstecken. Und selbst? Verstört, verwirrt, verstockt, versunken. Verbittert. Zurück bleibt, leicht verblasst, verblichen und verdummt, ein Schreiber.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at |Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 15085

Die Nuss

Ich war noch sehr jung.
Aber egal wie alt ich damals auch gewesen sein mag, manche Dinge begreift man erst, wenn man „erwachsen“ wird. – Andere Dinge dafür nie wieder.

Es geschah an einem heißen Tag im Sommer. Die Sonne hatte über die Erde gelächelt als kannte sie nichts Böses, denn nur wenig Wolken hangen als weißwachende Gesichter am Himmel. An jenem Tag besuchten mein Vater und ich seinen Bruder, den wir lange Zeit nicht mehr gesehen hatten, und so fuhren wir mit dem neuen Automobil hinaus aufs Land.
Während der Fahrt wagte ich weder von etwas zu erzählen noch mich zu erkundigen, wie lange wir denn unterwegs wären, da es damals nicht üblich war, den Vater mit Nebensächlichkeiten zu belästigen, weswegen rege Stille zwischen uns herrschte.

Gegen Ende der Fahrt hin machte mich mein Vater jedoch aufmerksam auf die Landschaft, die sich gleich auf meiner Fensterseite erstrecken würde.
„Sieh, Sohn“, bedeutete er, und sodann sah ich nach rechts:
Zuerst erblickte ich bloß einige Bäume, die in rasender Geschwindigkeit an uns vorbeiliefen, aber hernach, nachdem alle vorüber waren, klaffte ein weiter Landstrich auf, der sich bis zum Horizont ausbreitete, und bestückt war mit einem Volk aus Nussbäumen. Reihe an Reihe wachten sie im Wind, der über ihre Häupter hinwegzog, und starr beäugten sie hinter dem Zaun das schnelle Automobil, das die staubige Straße hinaufjagte. Die Plantage war riesig, und erst als mein Vater sie im folgenden Gespräch erwähnte, entdeckte ich zwischen den Beinen der Bäume die Arbeiter, die wie Ameisen unter den mächtigen Kronen umherliefen.

„Mein Bruder hat hier gearbeitet“, erwähnte mein Vater: „Es war wohl gleichzeitig sein Verderben.“
Trotzdem ich meinen Onkel lange Zeit nicht mehr gesehen hatte, erinnerte ich mich doch daran, dass er ein kräftiger Mann gewesen war. Umso mehr wunderte ich mich über die Aussage meines Vaters.
„Er schrieb mir – neulich“, begann mein Vater plötzlich, als hätte er meine Gedanken gehört: „Anscheinend war es der Regen gewesen. Der künstliche natürlich – der aus den Wassersprinklern. Durch den Wind und die Nässe, denen er ausgesetzt war … -“, er räusperte sich: „- das vertrug sein Körper nicht. Sklavenarbeit!, hab ich ihm gesagt, sei das, Sklavenarbeit! Du kennst sie ja, die Plantagen in Amerika – die mit den Negern – so etwas.“

Inzwischen wanderte das Nussvolk an uns vorüber und wir bogen von der Straße auf einen Schotterweg ab. Demnach mussten wir gleich angekommen sein.
„Jetzt schmerzen ihn die Gelenke oder Glieder – was weiß ich – er schreibt, er kann sich kaum noch rühren – jedenfalls. Starr ihn ja nicht an! Hörst du?“
„Ja, Vater“, antwortete ich ihm, als wir ausstiegen.

Wir kamen durch ein Tor in den großen Garten meines Onkels mit glattrasiertem Rasen und in Form geschnittenen Büschen. Man hätte meinen können, es wären hunderte Gärtner am Werk gewesen, so zahm wie die Natur auf diesem Grundstück war. Während ich noch über den Garten staunte, und das Knirschen des Kieses auf dem angelegten Weg meinen Schritt begleitete, rief ein Mann von Weitem: „Bruder!“
Ich sah zum Haus, das in der Sonne blitzend weiß erstrahlte, und entdeckte meinen Onkel auf der Veranda in einer Hängeschaukel sitzend. Als wir herankamen, begrüßten sich die beiden Männer und mein Vater stellte mich seinem Bruder vor: „Vielleicht kannst du dich nicht mehr erinnern: mein Sohn“, präsentierte er mich und schob mich vor sich hin.
„Es ist lange her“, antwortete sein Bruder, während er mich musterte: „Du bist gewachsen.“

Und vor mir saß ein Mann, von dem ich schon so viel erfahren hatte, dass ich eine genaue Vorstellung besaß, doch dieser Mann da vor mir, der erfüllte sie nicht. Was ich sah, war ein Mann in den besten Jahren seines Lebens, doch sein Körper war bereits müde und erschlafft, wie bei einem Greis.
Schwerfällig hoben sich seine Arme für eine Umarmung, dabei schien er aber glücklich. Der Schmerz kam nachher und löste sich in Form eines Aufstöhnens.
Mein Vater ignorierte die Qualen, unter denen sein Bruder litt, und sagte stattdessen: „Was für einen schönen Garten du hast.“ Dabei wandte er seinen Blick gewählt um und betrachtete zufrieden das Grundstück, als gehörte es ihm.
„Nicht wahr?“, antwortete sein Bruder.
„Hat es dich von der Plantage in die eigenen vier Wände getrieben?“
„Meine Frau ist wohl dafür verantwortlich. Da ich die Arbeit auf der Nussplantage beenden musste, wegen meiner … Man überließ mir das Haus und den Garten. Meine Frau -“, er lächelte: „- sie versucht, alles auf Vordermann zu bringen.“

Da fragte mein Vater, wo seine Frau denn sei.
„Meine Frau?“, wiederholte mein Onkel und meinte, dass sie in der Stadt unterwegs sei, um einzukaufen. „Vielleicht werdet ihr sie noch erwischen.“
„Das wäre schön“, antwortete mein Vater knapp.
„Wenn ihr wollt, können wir auch hineingehen.“
„Nein, nein“, blockierte mein Vater: „Wir werden ohnehin nicht so lange bleiben.“

Sie unterhielten sich weiter, als hätten sie einander nichts zu sagen. Später redete mein Vater über die Arbeit: „Du weißt, wie wichtig meine Arbeit ist“, bekräftigte er.
Mein Onkel hatte bloß genickt, denn es war ihm schwer zu reden. Ein anderer hätte vielleicht gemeint, es wäre ihm leid gewesen, sich mit meinem Vater im seichten Hin und Her zu unterhalten, aber ich erkannte genau, dass wir vor uns einen körperlich gebrochenen Mann sitzen hatten. Es schmerzte mich, und so verlor ich das Gespräch, bis mir irgendwann klar wurde, dass sie aufgehört hatten zu sprechen.

Es war das Ende unseres Besuches, und tatsächlich, erst zum gewissenhaften Schluss fragte mein Vater, als sich sein Bruder erhoben hatte, um für den Abschied vor ihn zu treten. „Wie geht es dir?“
Mein Onkel hatte ihn bloß angesehen, und erst nach einigen Momenten diese Frage mit einer knappen Antwort gewürdigt.
„Dann wünsche ich dir gute Genesung“, sagte mein Vater etwas verunsichert in seinem rechten Sinne: „Denn die Gesundheit ist das Wichtigste im Leben.“

Der Weg durch den Garten schien zurück deutlich länger zu sein, so die Autofahrt. Vielleicht lag es daran, dass mein Geist zutiefst zerrüttet durch die Zeichnung meines Vaters war.
Doch ich war sein Sohn, und mein Vater war stets im Recht.

Wie froh bin ich heute noch, dass ich zurückgerannt bin. Kurz vor dem Gartentor war ich einfach umgekehrt und war noch einmal zu meinem Onkel gelaufen, um ihm zu danken. Dafür, was er mich gelehrt hatte.
Denn dem letzten Satz meines Vaters war er mit einem „Nein“ entgegengetreten.
„Nein“, hatte er geantwortet und ihn umarmt: „Das Wichtigste im Leben ist die Zufriedenheit.“

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 15057

 

Fragment

Der erste Absatz des Textes ist von Nobelpreisträger Patrick Modiano, den Rest habe ich ergänzt.

Oft hatte ich Angst, und um wieder Mut zu schöpfen, wäre ich gerne zu meiner Mutter gelaufen, aber ich hätte sie nur bei der Arbeit gestört. Heute weiß ich, sie hätte mich nicht ausgeschimpft, denn in jener Nacht, als sie mich vom Polizeirevier abholte, habe ich von ihr keinen Vorwurf gehört, keine Drohung, keine Moralpredigt. Wir gingen stumm nebeneinander. Mitten auf der Straße hörte ich sie mit teilnahmsloser Stimme sagen: „Meine arme Kleine!“ Ich fragte mich jedoch, ob sie zu mir sprach oder zu sich selbst. Sie hat gewartet, bis ich ausgezogen war und im Bett lag, dann kam sie zu mir ins Zimmer. Sie setzte sich ans Fußende und schwieg. Und ich ebenfalls. Schließlich lächelte sie. Sie hat gesagt: „Wir sind beide nicht sehr gesprächig!“ Und sie hat mir gerade in die Augen geblickt.

„Ich mache uns einen Kakao“, hat sie dann gesagt, „es gibt nichts Besseres zum Einschlafen.“ Ich wusste nicht, was ich sagen – wo ich beginnen sollte. Gerade weil sie mich nicht, wie früher als Volksschulkind, zum Beichten zwingen wollte, hatte ich eine Sperre im Hals. Aber vielleicht löst sie sich im warmen, süßen Kakao auf, diese Sperre im Hals? Ganz schön schlau, meine Mutter.

Aber vielleicht ist der Grund ein anderer? Vielleicht ist sie auch unsicher, verletzt, weil ihre liebevolle Erziehung solche stinkenden Früchte trägt? Enttäuscht, weil sie mich nicht mehr versteht? Ja, das ist es, sie versteht mich einfach nicht mehr – sie weiß nicht, was für mich wichtiger ist als das tägliche Geradeaus-Denken, die Pflichten, die ewige Routine, das langweilige immer gleiche harmlose „sicher“ Leben! Das kann ja nicht alles sein! Ich bin jung, ich will was erleben, andere Burschen und Mädchen kennenlernen, ohne dauernde Kontrolle, ob der oder die „in Ordnung“ ist. Wenn ich das schon höre „in Ordnung“! Nichts ist in Ordnung, außer dass es jeden Morgen hell und jeden Abend dunkel wird. Ich hasse die braven Klamotten und die langlebigen „guten“ Schuhe, ich will was Buntes, Ausgeflipptes, Aufregendes, ich will nicht immer angepasst, leise und höflich sein; wenn einer sich wie ein seniler Trottel aufführt, dann sage ich ihm das, auch wenn‘s der Schuldirektor ist.

Ja, es war Scheiße, dass ich mit dem Herbert von der Klasse über mir mitgegangen bin und mir in seiner Runde einen Joint aufdrängen hab lassen. Aber dass ich hinterher gekotzt habe wie ein Reiher, war wohl Strafe genug!
So, jetzt kommt meine Mutter mit dem Kakao, wie gut der riecht! Aber dass sie mein Kinderhäferl mit dem Elefanten genommen hat, ist echt ungeil. Ich bin doch kein Kind mehr, ich hab schon ein Jahr meine Periode.
Ja, danke Mama! Eigentlich ist es urkomisch – auf der einen Seite kotzt mich der gutbürgerliche Scheiß an, aber zu Hause im Bett mit einem Kakao ist wunderbar und urgemütlich. Wie passt das zusammen?

Wahnsinn, Mutter kann Gedanken lesen: „Ich weiß, es ist eine schwierige Zeit für dich“, sagt sie, „dein Körper wächst und die Hormone spielen verrückt, und ich wusste in deinem Alter auch oft nicht, wer ich bin und was ich will. Ich will dir nicht im Weg stehen, ich möchte, dass du deinen eigenen Weg gehst, aber zuerst musst du ihn finden.“ Sie lehnt sich zurück und trinkt einen Schluck Kakao, da sehe ich, dass ihre Augen nass sind. „Mama, was ist mit dir?“ frage ich. „Du wirst erwachsen, und das ist der Beginn unserer Trennung“, sagt sie leise, „aber ich will ja nur, dass du nur deinem eigenen Willen folgst, lass dich nie von anderen dumm machen und zu etwas überreden!“

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 15041

Liebster Papa

Liebster Papa!
Ich hoffe, dort wo du jetzt bist, geht es dir gut? Heute habe ich dir vieles zu berichten. Angenehmes, aber auch Unangenehmes. Aber höre selbst. Das Leben hier hat sich, seit du von uns fort bist, sehr verändert. Weiß nicht, ob man sagen kann, zum Vorteil. Oft vermeinte ich schon, den Weltuntergang zu ahnen. Erinnerst du dich, Hemingway: „Aber der Weltuntergang läuft nicht so ab, wie Bobby es auf einem der großen Gemälde projektiert hatte. Er kommt mit einem von den Inseljungen, der die Straße vom Postamt heraufeilt, ein Radiotelegramm bringt und sagt: Bitte unterschreiben Sie hier auf dem abreißbaren Teil des Umschlags. Es tut uns leid, Mr. Tom!“
Zu mir hat der Postmensch nicht gesagt „Es tut uns leid.“ Er hat gar nichts gesagt, außer: „Ein Einschreiben.“ Er hält mir den Stift hin. „Da unten. Fest aufdrücken! Auf Wiederschaun.“ Vom Finanzamt. Ich denke daran, wegzufahren. Auf meine Insel.

Ach, Papa, wer auf meine Insel kommt, macht eine Zeitreise. Die Häuser, die Pflastersteine in den engen Gassen, die kleine Kirche oben am Hügel. Alles ist einige Hundert Jahre alt. In der näheren Umgebung gibt es eine Ölmühle, ein paar Weinkeller und Stallungen, inmitten von Olivenhainen, gesäumt von Orangen- und Zitronenbäumen. Die alten Gemäuer – alles liebevoll restauriert, den alten Stil beibehalten. Nichts, was das Auge stört. Kaum Asphalt.
Nicht so wie hier! Jeder Feldweg zuasphaltiert. Auch die Einfahrt beim Bürgermeister. Aber dort? Alles grün, dahinter das blaue Meer, der azurblaue Himmel, ein paar Federwölkchen, ganz hoch, nur ein Hauch. Eine Oase der Ruhe und Entspannung, geprägt von der Freundlichkeit der wenigen Einwohner, die nie um ein Lachen verlegen sind, wenn ich irgendwo auftauche.
Ach, Papa, ich wollte, du könntest es sehen! Ich weiß, dir wäre es viel zu heiß hier. Hitze konntest du nie ausstehen. Bist mehr der Typ fürs Kühle. Mama wäre gerne hier, denke ich, schon wegen ihrer Gicht. Auf der Insel gibt es kein Gemeindeamt. Überhaupt kein Amt. Gott sei Dank! Die Administration ist weit, weit weg, irgendwo auf dem Festland. Und Exekutive ist nicht nötig hier. Alles geht seinen jahrhundertealten Weg. Einträchtig, besonnen. Der Wein ist leicht und hell, beinahe ein Rosé. Man kann ihn zu jeder Tageszeit trinken, ohne sofort einen Schwips zu kriegen. Und das Brot! Dieses Brot, olivig, mit ein wenig Oregano, himmlisches Manna ganz einfach!

Auf meiner Insel ist eben alles anders. Die Jungen, wenn sie Spaß wollen, nehmen ein Boot und fahren ans Festland. Und wenn es daheim Feste zu feiern gibt, bleiben sie alle da. Die Alten, die haben das Sagen. Vor denen hat man Respekt. Nicht wie bei uns. Und die Jungen lassen sich was sagen von ihnen. Hören auf ihre Ratschläge.
Nicht so, wie … aber, höre selbst: Gar nicht so weit von uns beginnen die Jugendlichen zu rebellieren. Sie verwüsten die Innenstädte, zünden Autos an, werfen die Auslagenscheiben ein. Fragt man sich, warum? Ich weiß es nicht. Vielleicht wollen sie die Kontrolle über die Straße haben. Ein wenig Machtfantasien ausleben. Macht, die sie nicht besitzen. Darum plündern sie, um das alles endlich auch zu besitzen, was die anderen schon lange haben.
Weißt du, ich denke, ihnen fehlt das soziale Bewusstsein. Wir Wirtschaftswunderkinder, wir sind da anders. Wir hatten erst nichts, dann ein wenig und schließlich haben wir alles gehabt. Radio, Fernsehen, Video. Richtig satt sind wir. Denen aber fehlt der Bezug zur Gesellschaft, würdest du sagen. Die Hoffnungslosigkeit hat sie erfasst. Aber diese Modefummel, oder was weiß ich, das alles ist kein Ersatz für das, was ihnen wirklich fehlt. Sie reden verschlüsselt und du kommst nicht ran an sie. Ihre virtuelle Welt ist aus dem Nichts entstanden, nicht gewachsen, wie unsere. Sie praktizieren eine Kultur des Diebstahls und der Fantasie, völlig ohne Regeln. Und weil ihnen niemand zuhört, müssen sie jeden Furz, den sie lassen, auch noch www-mäßig posten.
Aber eine ungeregelte Welt funktioniert nicht. Du weißt das, Papa. Ein Mensch braucht Regeln, hast du immer gesagt, weißt du noch?

Hier, auf meiner Insel, wird nicht viel geschrieben. Alles, was man so hört, lebt aus Erzählungen. Was man wissen muss, wird von Mund zu Mund weitergegeben. Meinetwegen wo’s die besten Fischgründe gibt, wo noch nicht alles leergefischt ist. Oder wo man eine tolle Disco findet. Auch der Mythos lebt aus den Erzählungen der Alten. Gottlob gibt es auf der Insel keine Politiker. Jeder macht seinen Job.
Für Hobbys hat man hier keine Zeit. Auch zum Streiten nicht. Nachdem hier niemand reich ist, gibt es auch keinen Neid, vor allem aber keine sozialen Spannungen und Gegensätze. Kein Stress, wer den größeren SUV hat und so. Weißt du, Papa, als ich damals zum ersten Mal hier an Land gegangen bin, wollte niemand eine Dienstbeschreibung von mir haben. Keiner wollte meine Zeugnisse sehen. Ist vielleicht auch besser so.
Auf ein Glas Wein haben sie mich eingeladen und wir haben gelacht, als ich erzählt habe, wo ich herkomme, wenn auch erst hinterher, denn: „Kommunista! Kommunista!“, hat der Priester gebrüllt, als ich Österreich sagte und ist von seinem Stuhl aufgesprungen und der wilde lange, graue Bart hob und senkte sich rhythmisch mit dem schweren Atem seines Besitzers. Aber der Lehrer hat ihn beruhigt. „No no, Avustria, Kreisky, Kreisky!“, hat er gesagt und ihn mit einer Hand an der Schulter genommen und wieder in den Sessel gedrückt.

Der Lehrer und der Priester, die beiden sitzen immer zusammen vor der Kneipe, sind mittlerweile meine Freunde. Einer der Fischer, Jannis, mit weißen Bartstoppeln im Gesicht und einigen Zahnlücken, hat mich früher immer zum Korallenriff mitgenommen, wo sie meistens fischen. Er ist im vorigen Sommer verstorben.
Dort liegt das Wrack eines alten Frachters. Es hatte Westwind gegeben, damals, sagte er. Die Wellen sollen fünf Meter hoch gewesen sein. Dann sind sie auf dem Riff hier hängengeblieben und schließlich gekentert. Einige aus der Mannschaft hatten sich retten können. Der Steuermann ist nicht mehr in seine Heimat zurückgekehrt, sondern hiergeblieben. Vor zwei Jahren ist auch er verstorben. Wir haben ihn alle sehr gemocht, fügte er hinzu. Portugiese. Er liegt jetzt auf dem winzigen Friedhof hinter der Kapelle, unweit von Jannis´ Grab.
Wenn ich mich so umsehe, denke ich, dass ich auch einmal dort liegen möchte. Es ist ein so friedlicher Ort. Keine aufgeblasenen Grabsteine, mit für sich vereinnahmten Riesenengeln, um die Wichtigkeit der darunter Liegenden pompös zu untermauern, wer sie nicht alle waren, und was sie zu Lebzeiten nicht alles besessen haben. Dort, Papa, spätestens dort sind wir alle gleich.

Im Norden der Insel liegen noch zwei kleinere Dörfer, mit ebenso malerisch weiß leuchtenden Häusern und einem idyllischen Fischerhafen. Dahinter das karge Felsplateau mit seiner schroffen Steilküste gegen Westen hin. Auf der anderen Seite aber habe ich eine versteckte, traumhaft weißsandige Bucht vorgefunden, mit türkisfarbenem, beinahe cremigem Wasser. Anfangs seicht, so drei vier Meter weit hinein, dann leicht abfallend. Und erst weiter draußen so um die zwanzig Meter tief.
Weißt du, Papa, du hast mir nie das Schwimmen beigebracht. Ich musste es erst viel später mühsam lernen. Das hat dich alles nicht interessiert, ich weiß. Du warst immer nur mit dir beschäftigt, mit deinen Bildern. Wolltest auch hinaus, auf deine Insel. Aber du hast uns dabei vergessen. Deine Frau, deine Kinder, beinahe. Trotzdem. Ich hätte deine Zuneigung so dringend gebraucht. Das Zehngang-Fahrrad! Alle hatten eins, bloß ich nicht. Von meinen Söhnen hat jeder eines von mir bekommen. Ich wollte nicht denselben Fehler machen.

Gestern war ich unten am Hafen. Mit Freunden. Es ist spät geworden. „Wirf diesen ganzen Ballast über Bord, den du da mit dir immer herumschleppst“, hat mir der Hafengjörgi, der Kneipenwirt, geraten. „Deine Notizbücher, die Dose mit den Schlaftabletten und das ganze andere Zeug. Alles Unsinn, Mann! Du nimmst dir für nichts richtig Zeit und dich selbst viel zu wichtig, du Österreicher du“, hat er gelacht! Dann hat er Ouzo für alle gebracht und hat sich eine Zigarette gedreht.
Könnte es sein, dass ich etwas falsch mache? Aber das habe ich alles schon irgendwann einmal gehört, denke ich – in einem anderen Zusammenhang etwa? Der romantische Individualismus wäre tot und so! Wirf diesen Ballast über Bord, Mensch! Einer wie du, der sich schon viel zu lange im Mittelpunkt seines eigenen Interesses aufhält, sollte in die Welt hinaus! Bin ich ja auch, Papa. Aber wie soll ich mich verwirklichen?
Soeben steckt das Finanzamt mein Urlaubsgeld ein. Ich hätte im vergangenen Jahr zu viel verdient! Dass ich nicht lache. Nein, es ist eher zum Weinen. Diese Leute, die wir da immer wählen, und die angeblich so viel Verantwortung für uns übernehmen, stecken sich die Taschen voll und verschwinden einfach, nachdem sie uns per Gesetz das Geld abgenommen haben. Das war schon immer so, höre ich dich sagen. Du musst es ja wissen. Warst ja lange genug hier.

Ach ja, und dieses Haus auf meiner Insel, in dem ich dann immer wohne, wenn ich hier bin, Papa, steht auf der höchsten Stelle, einer Art Landzunge. Es ist stark gebaut, beinah wie – wie eine Festung. Und es hat zwei Hurricans standgehalten. Ringsherum stehen eine Menge Palmen, ein wenig schief gewachsen, wegen des dauernden Westwindes. Wenn ich auf der Terrasse stehe, überblicke ich die Südseite der Insel, den weiten, weißen Strand. Nichts trübt meinen Blick. Nichts ist architektonisch künstlich hineingekleckert, so wie bei uns hier. Alles ist natürlich gewachsen.
Niemand wagt es hier, der Natur ins Handwerk zu pfuschen. Die Häuser, die Wege, die steinernen Terrassen, auf denen der Wein wächst, alles macht optisch irgendwie Sinn. Wirkt nicht so polarisierend wie bei uns. Fünf Bauten nebeneinander. Fünf verschiedene Architekten. Fünf grauenhafte Konstruktionen. Und jeder darf seinen Mist in die Landschaft hineinknallen, wohin, und wie er will, und die Gesetzeslage ermöglicht es auch noch. Alles gefördert, versteht sich! Scheißegal, wie das aussieht. Hauptsache, es ist lukrativ. Und wenn nicht, wird der ganze Plunder an jemanden verkauft, der angeblich noch Geld hat, und die Sache läuft munter weiter. Die Kunst, in der sich diejenigen üben, denen wir unser Vertrauen geschenkt haben, hat immer schon darin bestanden, dem dummen Volk einen stinkenden Misthaufen als Rosenbeet zu verkaufen. Und wir haben ihnen auch noch vertraut. Sie haben uns bitter enttäuscht.

Ich kann mich heute nicht entspannen, Papa. Andauernd denke ich an dich, was du zu all dem sagen würdest. Ja, ich weiß, du hast Schlimmeres erlebt, damals, an der Maginot-Linie.

Übrigens, wenn ich so von meinem Hügel hinunter aufs Meer schaue und den weißen Sand sehe, da fällt mir ein, wie ich eines Morgens alleine schwimmen war. Ich bin nicht weit hinausgeschwommen, weil ich ziemlichen Respekt vor Haien habe. Die Sonne war schon etwa dreißig Grad hochgeklettert, als ich einen Blick nach unten werfe. Ein langer, dunkler Schatten. Ich hebe den Kopf, angespannt wie ein Drahtseil. Schaue wieder ins Wasser. Der Schatten folgt mir. Wohin ich auch schwimme. Durch die kabbelige See ist die Sicht etwas behindert. Ich schwimme wie verrückt, um ans Ufer zu gelangen. Atemlos und völlig erschöpft laufe ich die letzten Meter im seichten Wasser auf den sicheren Strand zu, falle hin, schaue zurück und suche das Wasser ab nach dem Furcht einflößenden Schatten. Nichts zu sehen, denn es war mein eigener gewesen! Was bin ich nur für ein Trottel, dachte ich.
Was sagst du, Papa? Du warst nur selten mit mir im Strandbad. Und das mit dem Schwimmen, du weißt ja. Später, beim Frühstück, habe ich alles der alten Alina und dem Hafengjörgi erzählt. Was haben die gelacht! Und ich habe mitgelacht. Ach, was waren das für herrliche Tage! Ich wollte, du wärest hier. Manchmal versuche ich mir vorzustellen, wie´s damals war, zu Hause, mit dir und Mama, den Schwestern. Ich habe noch den Schaum von Badedas in den Ohren, wenn ich daran denke, und meine nackten Füße laufen über grünes Linoleum. Mutter hat gerne immer das „e“ in Linoléum betont.
In Nachbars Garage stand ein DS 19, mit hydropneumatischer Federung und unsere Haushaltsgeräte waren allesamt von BBC. Nur das Radio war von Philips. Im halb verdunkelten Wohnzimmer hast du Dietrich Fischer-Dieskau gelauscht, begleitet von Jörg Demus am Klavier. Die kennt kein Mensch heute mehr. Und ich habe noch deine Stimme im Ohr, wenn du uns vorm Schlafengehen aus dem Märchenbuch vorgelesen hast. Man sagt, Kindern, denen man Märchen vorenthält, wird die Hilfe zur Aufarbeitung unbewusster Spannungen in der Fantasie versagt. Dadurch könnten sie angeblich emotional gestört bleiben.
Stimmt das? Was meinst du? Wenn ich so über uns als Familie nachdenke, haben wir eigentlich kaum Probleme gehabt. Ich habe dir bereits erzählt, wie´s anderswo derzeit so aussieht, mit den Jungen und so. Ich denke, wir haben uns natürlich auch alle am Materialismus orientiert. Vielleicht noch eine Nuance bescheidener. Aber bei uns hat es noch Geschichten gegeben, nicht war, Papa? Ich danke dir dafür. Ich fühle deine warmen Hände an den meinen, und wie du mich zugedeckt hast.

Normalerweise lese ich beim Frühstück gerne Zeitung. Gottlob gibt es auf der Insel nur einmal pro Woche eine, und die ist von der vorigen. Ich höre erst darin zu lesen auf, wenn ich gesättigt bin von den Negativschlagzeilen und den Sommerlochirritationen. Dann wird mir die Kluft zwischen dem, was uns vorgegaukelt wird und der Wirklichkeit wieder bewusst. Wenn einem ständig vorgekaut wird, was man haben muss, kann man sich gut vorstellen, dass manche an der Tatsache, nicht dabei zu sein, ganz einfach scheitern.
Plötzlich begreifen, dass man nicht hat, was andere längst haben. Zähneknirschend zur Kenntnis nehmen müssen, womit Eliten sich die Zeit vertreiben, wenn es im eigenen Bereich zum Nötigsten nicht reicht! Wo bloß falsche Versprechungen gemacht und keine Lösungen angeboten werden und die Raffgier und der Geiz zum Antrieb der Ökonomien verkommen sind, die sich im Spinnennetz der Korruption verfangen haben, tagaus tagein auf neue Beute wartend. Wo flotte Sprüche anstatt Sensibilität regieren. Dort ist der ideale Nährboden für das Entstehen einer maßlosen Wut. Kannst du das verstehen, Papa?

Ach, Papa, immer, wenn ich auf meine Insel komme, mache ich eine Zeitreise. Es sind nicht nur die Häuser, die Pflastersteine, die engen Gassen, die kleine Kirche am Hügel, die mich alles vergessen lassen, was die andere Welt so grausam macht. Alles hier atmet eine Zeit des Friedens aus. Gerne gehe ich an der Ölmühle, den Weinkellern und Stallungen, die inmitten der Olivenhaine liegen und gesäumt sind von Orangen- und Zitronenbäumen, vorüber. Lasse sie vorbeiziehen, wie einen Film, in dem ich keine Rolle spiele, nur Beobachter bin. Die alten Gemäuer – alles liebevoll restauriert.
Man hat den alten Stil ganz selbstverständlich beibehalten. Nichts gibt es, was das Auge stört. Alles grün, im Sommer vielleicht etwas brauner, von der Sonne ausgedörrt, aber sonst? Dahinter das blaue Meer, der azurblaue Himmel, ein paar Federwölkchen, ganz hoch, gerade noch zu sehen. Ein Ort der Ruhe und Entspannung, geprägt von der Freundlichkeit der wenigen Einwohner, die nie um ein Lachen verlegen sind, wenn ich irgendwo auftauche. Ach, Papa, ich weiß, ich habe dir bereits davon berichtet. Der Wein ist leicht und hell, beinahe ein Rosé und, wie du ja schon weißt, man kann ihn zu jeder Tageszeit trinken, ohne gleich betrunken zu sein.

Erinnerst du dich, wie du mir immer erzählt hast, als du mit dem Dr. Scheuhammer in Klöch warst? Du hast vom Rotwein dort geschwärmt. Und dass ihr zusammen einmal ein Glas zu viel getrunken hattet. Der Doktor, mit seinem alten VW Kübelwagen, es hat geregnet und das Verdeck klemmte. Ich habe dich noch nie so triefnass heimkommen sehen wie damals. Mama war in Sorge. Sie war ja stets in Sorge um uns, um dich. Du hättest dir in den nassen Sachen den Tod holen können, hat sie gesagt. Aber du hast bloß gelacht. Ich kann dich gut verstehen. Dieses Brot hier, Papa! Irgendwie olivig, mit wenig Oregano, wie himmlisches Manna, wirklich! Auf meiner Insel ist eben alles anders.

Zuhause besuche ich gerne den jüdischen Friedhof. Warst du jemals dort, Papa? Die Wege dort sind nicht asphaltiert, sondern mit Gras bewachsen. Ich gehe ganz vorsichtig. Meine Schritte sind nicht zu hören. Gelbe Blümchen wachsen auf den Wegen. Zwischen den Grabsteinen rankt sich Efeu, erklimmt die Grabsteine wie zum Schutz vor neugierigen Blicken und den Erinnerungen an die Vergangenheit. Der Zauber der Erinnerung – verblasst. Unten, am Sockel eines Steines ist zu lesen: Hier ruht mein liebster Gatte, von den Nazis im Konzentrationslager ermordet. Ich muss dann immer tief Luft holen. Bleibe stehen. Der Zauber der Erinnerung, denke ich dann, heiliger Wehmut süßer Schauer, haben innig uns durchklungen, kühlen unsre Glut. Ist nicht von mir, Papa, Novalis! Langsam gehe ich dann weiter. Über mir im Minutentakt Flugzeuge. Komisch ist das, mit den Namen hier.

Weg von den Josefs, den Karls und Franzen, den Pichlers, Schwarz und Krenns. Hier ruhen Jenni Goldschmidt, Sigmund Blau, Moses Grünbaum. Irgendwie – ich spüre eine Art Bruch. Es ist nicht wegen des Vorwissens. Die Gräber atmen etwas anderes aus, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es sind so viele Grabsteine, unglaublich. Ich denke, Sterben ist etwas Selbstverständliches, obwohl ich es nicht glauben kann, dass ich eines Tages … aber Leben, Leben ist etwas ganz Besonderes. Ich muss es für mich nützen, denke ich, nach den Erschöpftheiten mancher Hoffnungslosigkeit.

Die meisten Grabsteine sind aus schwarzem Marmor, ragen hoch empor, spitz, wie Obelisken. Nur wenige sind aus Sandstein, Biedermeier, mit Blumenranken. Manche sind umgefallen. Haben das schmiedeeiserne Gitter um sich herum erdrückt. Brennnesseln, wohin das Auge reicht. Noch nicht hoch. Jeden Schritt setze ich behutsam.

Mein Rücken schmerzt vom vielen Gehen. Ich lasse mich auf einem umgefallenen Grabstein nieder und raste eine Weile. Dieses Licht, das durch die hohen Thujen scheint, die zahlreich, gleich einem stillen Hain das ganze Areal mit ihrem Immergrün und den weit ausladenden Ästen bestimmen, taucht das Schwarz und Grau der Steine in wärmenden Frieden. Eine süße Sehnsucht ergreift mich, beinahe neidvoll denen gegenüber, die hier ungestört Teile des unendlichen Universums sind.
Vor mir das Grab eines Dr. med. Carl Robitsek. Ich muss unweigerlich an die Pension Schöller denken und schmunzle, (Max Böhm als Onkel Robitschek). Der Ehrgeiz plagt mich und ich versuche, die verwitterte Schrift auf dem Stein zu entziffern: „Wehklagt – die ihr – Talent und Tugend – und Kunst und Wissen ehret – immer redlich lobt. Der liebe Vater starb mir (Dativus ethicus) seinen Kindern – der liebevolle Gatte seinem Weib. Ein wacker Forscher in dem Dienst des Wissens – ein Menschentraum in diesem Grabe …“

Ach, Papa, nächste Woche, wenn ich auf der Insel bin, kann ich eine Zeit lang nicht mehr herkommen. Du verstehst? Wahrscheinlich bleibe ich drei Wochen hier. Und heute bitte, verzeih mir, ich werde auch schon so vergesslich, ich habe das Windlicht zu Hause vergessen. Die Streichhölzer auch. Aber ich habe noch rasch einen kleinen Strauß Magnolien mitgebracht. Hier! Gefallen sie dir? Die hast du doch stets am liebsten gemalt. Es sind auch ganz dunkelviolette dabei. Die Vase sollte man wirklich austauschen, die macht es nicht mehr lange.

Bitte, ich stelle sie ganz nahe an deinen Grabstein, damit sie nicht umfällt, sollte ein Sturm kommen. Ich küsse und denke an dich. Also dann, bis bald, wenn ich wieder zurück bin! Mach´s gut!

Norbert Johannes Prenner

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