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verlegt. bewegt.

Ich bin die, die auf dem Land wohnt, aber zugezogen ist.
Ich bin die, die gesiezt wird.
Unter all den anderen Kunden, die sich mit dem Personal duzen.
Dennoch ist über die Jahre eine Vertrautheit entstanden, die mich die Kassiererin, eine Frau in mittlerem Alter, fragen lässt, ob sie sich freut auf die anstehende Veränderung, was mit einem Seufzer, Achselzucken und einer skeptischen Äußerung beantwortet wird.
Ich reagiere aufmunternd.

Das Schild hatte mich aufgeschreckt: Diese Filiale wird geschlossen und in einhundert Metern Entfernung neu eröffnet.

Die vielbefahrende Bundesstraße.
Linkerhand der flache Baukörper, 08/15 Industriedesign, ohne ästhetische Botschaft. Einerseits sparsam in seinem Verhältnis zum Umfeld, was die schlichte Formensprache betrifft, gleicher Art klotzig und dominant.
Eine Supermarktfiliale mit den fünf charakteristischen gelben Lettern drauf. (Genauso gut könnte es eine anderer Provenienz sein.)
Dahinter hält sich eine Reihe von Wohnhäusern auf. Wer hätte bei der Grundsteinlegung des Familiendomizils vor Jahren gedacht, dass das Einkaufserlebnis so derart nahe rücken würde?
Ein Landstrich, der überfüllt wirkt mit den neuen Geschäftszubauten, die der in Bundesstraßennähe gelegenen Wohnsiedlung ihre dürftige Würde nehmen.
Kommerz und Bedürfnisbefriedigung kennen kein Feingefühl.

Nur einhundert Meter von der neuen entfernt lag die alte Filiale. An einem im Koordinatensystem der Supermärkte nicht so überzeugenden Standort. Die neue liegt vielversprechend an einer belebten Kreuzung.
Natürlich war der frühere Bau ebenso stillos.
Seine Einrichtung und das karge Umfeld boten sich leicht patiniert den Ansprüchen der Kundinnen und Kunden.
Der schlichte schwarz-weiße Terrazzoboden, das angenehme Bisschen Schlendrian beim Ordnungmachen, der entspannt freundschaftliche Informationsaustausch der Verkäuferinnen zwischen den Regalen.
Es hieß, den Leitern mit den halb ausgeräumten Schachteln rundherum auszuweichen.
Das alte Gebäude machte kein Aufhebens und ebensowenig taten dies die dort beschäftigten Frauen aus der Umgebung.
Das Angebot erfüllte den Zweck.
In angenehmer Abgrenzung zum Städtischen.
Eine unaufgeregte Poesie des Überholten.

Der neue Bau hingegen macht laut von sich reden.

Ein neuer, junger Filialleiter mit dynamischem Gesichtsausdruck begrüßt die anwesenden Kunden, manche davon auf ihrem Weg durchs Warenangebot mehrmals.
Das alte Personal, allesamt Frauen, wurde übersiedelt und aufgestockt. Ein neues Team, dazwischen die alten Gesichter unter neuen roten Schirmkappen, manche blass, manche müde, manche munter, so wie in der alten Filiale eben auch.
Was hatte ich erwartet? Die bisherigen Gesichter mit neuerwachtem inspiriertem Funkeln in den Augen, motiviert geschminkt und ambitioniert im Verkaufen. Ein kollektives Tuning?

Die Grundstückspreise im Gewerbegebiet sind leistbar, Bauwerk und Parkplätze entsprechend groß. Das von außen hauptsächlich seiner räumlichen Ausdehnung geschuldete optische Pathos des Baus macht neugierig, aber was bitte soll schon groß anders sein als im alten? Die Erwartungshaltung wird schon beim Eintreten gebrochen, der Glanz des Neuen wirkt im hellen Gebäude angenehm gedimmt. Noch weiß ich nicht warum und suche die Ursache in der Beleuchtung. Erst beim zweiten Besuch entdecke ich die hohe Holzdecke, die das Licht so freundlich färbt und ein beinahe gemütliches Mikroklima erzeugt.
Die Macht der Gewohnheit wird mich das bald nicht mehr wahrnehmen lassen.

Im neuen lässt sich Konsumlust auf zeitgemäßem Niveau exekutieren. Nach neuesten marketingwissenschaftlichen Erkenntnissen angeordnete Regalblöcke in extra großzügigem Abstand zueinander, beim Abschreiten des Sortiments Einblicke erlaubend in noch nicht besuchte Gänge mit Waren, deren Bedarf einem so leichter ins Auge drängt.

An der strahlend neuen Feinkosttheke unter den dauerwerbenden Flatscreens wirken die Verkäuferinnen plötzlich nicht mehr souverän, sondern ein bisschen unbeholfen, so kommt es mir vor. Die neuen Maschinen, das größere Angebot, der kulinarische Overkill wird etwas zögerlich, aber vorbildlich in Handschuhen, an die Kunden gebracht.
Der Filialleiter wirft gerade ein aufmerksames Auge auf die Bedienung und so wird das Sich-Erkennen auf ein wohlwollendes Nicken reduziert. Ob sie sich dort wohlfühlt, werde ich ein anderes Mal in Erfahrung bringen.

Der alte Bau, um seine gelben Lettern erleichtert, wartet auf den Abriss oder eine neue Verwendung. Eine Renaturierung hat es selten gegeben, Asphalt und Beton kommen meist, um zu bleiben.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 18008

Vierzig Minuten oder Einmal Parallelwelt und wieder zurück bitte

Wie sehr du dich auf deinen eigenen Bahnen kopierst, wird dir klar, wenn du einmal eine durch Zufall verlässt. Beinahe verloren findest du dich in einem Universum wieder, das zwar dem deinigen ähnelt, aber durchdringend befremdlich wirkt. Ein nicht greifbares Unbehagen: Was ist denn da bloß los? Dabei fing wie meistens alles ganz harmlos (wenn auch ungustiös) an.

Zwei Kater, die sich mit Diarrhö abwechseln (ja, das ist das Grausliche, wofür man sehr gerne ein Fremdwort verwendet …), seit Tagen schon. Leichte Besserung, aber dann genau am Freitagmorgen, merde alors. Eigentlich sollte der Bus um 6 Uhr 40 fahren. Er tut es auch, unbeeinträchtigt vom merde alors irgendwelcher Katerbrüder. Es sind ja deine Katerbrüder, und du willst nicht, dass sich das merde alors im ganzen Haus verbreitet durch Katerpfoten, also ran an die Handschuhe und den Putzkübel, und das um kurz nach halb 7 in der Früh. Brrrrrrr.

Die Segnungen der Gleitzeit ermöglichen es dir, nach dem Brrrrrrr eine Dusche sowie einen späteren Bus zu nehmen. Du sitzt also vierzig Minuten später als sonst im Beförderungskübel Richtung Arbeit.

Entweder du bist anders als sonst. Oder das Drumherum. Das ist nämlich viel agiler als gewohnt. Während gegen sieben Uhr morgens die zu Befördernden in ihren Sitzen hängen wie angezählt und kaum ein Auge offenhalten können, was dir sehr entgegenkommt (du bist schließlich eine von ihnen), bietet sich nun ein gänzlich anderes Bild. Wo ist er hingekommen, der junge Mann, der so selig vornübergebeugt mit dem Kopf auf der Brust schläft, von der ersten Sekunde an, wo du seiner ansichtig wirst? Er ist um diese Zeit längst am Ziel seiner Träume.

Du hingegen sitzt nun inmitten einer Schar Halbwüchsiger, die es gar nicht erwarten können, sich via Snapchat auszutauschen. Wäre ja an sich die Stillbeschäftigung par excellence, sollte man meinen, doch weit gefehlt! Zur Benützung dieses Dienstes gehört anscheinend, einander über mehrere Sitzreihen zuzurufen, wenn ein Bild besonders sehenswert ist, und es in einfachen Worten aber lautstark zu beschreiben. Damit der andere das ja nicht verpasst. Du denkst an die zweite Bedeutung von „verpassen“, doch es reicht nicht einmal fürs Zuendeführen des Gedankens, geschweige denn zur Ausführung.

Nach ungefähr zwanzig Minuten merkst du, wie du gezwungenermaßen munterer wirst. Es mag auch an dem Volksmusiksender liegen, den sich jeder Busfahrer, der halbwegs bei Trost ist, um diese Zeit verkneifen würde. Nein, nicht dieser. Der ist aus einem anderen Holz geschnitzt, outet sich gerne als Fan und versucht wacker, die muntere Meute zu übertönen. Schließlich gehört Lautstärke zu wahrer Hingabe einfach dazu. Dein Aggressionspegel, üblicherweise um diese Zeit nicht einmal in mikroskopisch nachweisbaren Ansätzen vorhanden, steigt in sehr wahrnehmbare Dimensionen.

Wo du ansonsten schlummernd und höchstens bei Sitznachbarwechsel kurz freundlichst und höflich aufmerkend (Ist da noch frei? Selbstverständlich …) den Einstieg in die morgendliche Umgebungswelt meisterst, bist du nun ein völlig anderer Mensch, ein genervter, unfreundlicher, der sich am liebsten wieder Richtung heimatliche Gefilde bewegen würde, anstatt weiter in feindliches Terrain vordringen zu müssen.

Du räsonierst. Warum diese vermaledeiten vierzig Minuten dich so aus der Bahn geworfen haben. Für die Erforschung dieser Innenwelten gibt es ein probates Mittel: Du zückst dein stets mitgeführtes Notizbüchlein und beginnst zu schreiben:

Vierzig Minuten oder Einmal Parallelwelt und wieder zurück bitte.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 17183

Reisen

Atme elektronische Spannungen,
Tabletten liegen am Tisch,
Aussterbender Plastiksack raschelt,
Im bunten Haus,
höre ich Podcasts,
Warten und schreiben,
Fische starren neben Meer und Küste herab,
Ein Affe hält sich die Ohren zu,
Die Katze hat mich noch nie angesehen,
In der Ecke, wo sonst der Herrgott hängt,
hängen Muscheln,
spiralförmig kriechen sie in die Höhe,
Am Schneeweißen hängen sie fest,
Die Wälder werden dichter,
gerodet

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 18006

Helga Wittners Rettung

Helga Wittner wurde Anfang Mai zwangseingewiesen, ‘Wahnvorstellungen’ lautete die erste, ungenaue Diagnose. Sie würde sich auf fremde Planeten flüchten, stand im Bericht des diensthabenden Arztes.
Die Patientin wurde Dr. Axel Egger zugeteilt, welcher einige Gespräche mit ihr führte und sie durch diese kennen und schätzen lernte.
Der Auslöser für Helgas Reise auf einen Planeten namens ‘Omega’ war ihr Sohn Michael, der sich öffentlich entblößt hatte. Da er sich als großen Künstler sah, musste er es auch als Nacktmaler versuchen. Ein landesweiter Skandal war die Folge, und Helga, die die ständigen Eklats ihres Sohnes nicht länger ertragen konnte, war nach Omega geflüchtet, wo alles schön und gut war.

„Zurück zu Michael, Frau Wittner. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist Ihr Sohn dafür verantwortlich, dass Omega nicht mehr existiert.“
„So ist es, Herr Doktor. Vor zwei Tagen bin ich von hier aus, also aus der Anstalt, nach Omega geflogen. Dort oben hat Michael in meiner Sauna auf mich gewartet. Er war nackt, hat hämisch gelacht und gesagt, dass er bei mir auf Omega bleiben würde. Dann hat er wieder um Geld gebettelt.“
„Ich verstehe. Und dieser Schreck, Michael auch auf Omega ertragen zu müssen, hat Sie dazu bewogen, Ihren Planeten in der Sonne verglühen zu lassen?“
„Ja. Was hätte ich sonst machen sollen?“
„Ich hatte befürchtet, dass Sie dort keine Ruhe von ihm haben würden. Aus diesem Grund habe ich Ihnen mehrmals angeboten, mit mir hinter Pavillon 10 zu gehen.“
„Herr Doktor!“ rief die Vierundsiebzigjährige entrüstet. „Ich weiß, dass Sie es hier mit lauter Verrückten zu tun haben. Das ist aber kein Grund, eine attraktive, normale Frau verführen zu wollen!“
„Denken Sie etwa, ich möchte Sie verführen?“
„Was denn sonst?“
„Frau Wittner, ich bin homosexuell.“
„Was wollen Sie dann mit mir hinter dem Pavillon machen?“
„Ich wollte und will Sie einladen, mit mir auf meinen Planeten zu fliegen, ‘Epsilon’ heißt er und ist Sperrgebiet für Ihren Sohn. Und hinter Pavillon 10 liegt mein Cape Canaveral.“
„Auch Sie haben einen eigenen Planeten?“
„Natürlich habe ich einen solchen!“
„Moment mal!“, sagte Helga Wittner sichtlich verwirrt. „Sie sind Psychiater und haben einen eigenen Planeten? Und sogar ein Cape Canaveral?“
„Aber Frau Wittner, jeder Psychiater hat seinen Planeten und ein Raketenstartgelände. Unsere Oberärztin Frau Dr. Borner fliegt nach ‘Gamma’, und mein Assistent Herr Dr. Forster erholt sich auf ‘Delta-Phi’.“
„Wenn das so ist: auf zu Pavillon 10!“

Michael Timoschek
Erstveröffentlichung in der Schweizer Zeitschrift „Bierglaslyrik“, Ausgabe 28, März 2015

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg |Inventarnummer: 17156

Karl Roßmann kam nicht bis Oklahoma

Was der Dichter schafft, das muss so hingenommen werden, wie er es geschaffen hat… So wie er die Welt gemacht hat, so ist sie.
J.W. Goethe

1.
Als der sechszehnjährige Karl Roßmann – ein andermal ist er siebzehn – am Morgen eines Apriltages im Jahre 1912 mit der „Sibylle“ der Hamburg-Amerika-Line in den Hafen von New York einfuhr, stand er mit seinem Koffer an der Reling. Wie alle anderen Auswanderer aus dem Zwischendeck erblickte er zum ersten Mal die Freiheitsstatue. Eine Göttin mit Schwert, schien sie ihm, so hoch, staunte er, um sie wehen die freien Lüfte, sagte er sich, so also riecht Freiheit. Seine Nase witterte eine Mischung aus Rauch, Diesel, Tang und Fischöl. Er wurde fast ohnmächtig und begann zu phantasieren. Die Menge schwoll immer mehr an und drückte ihn gegen das Bordgeländer. Die Männer lüpften Hüte und Mützen, die Frauen schwenkten Tücher und Regenschirme.
Wie ein einziger Schrei drang Jubel aus tausenden Kehlen, das Ausatmen eines lange ausgesetzten Einatmens, vereint in einer unartikulierten Sprache, der Sprache der Hoffnung. Jeder an Deck, auch Karl Roßmann, meinte richtig gesehen zu haben, dass die Liberty ein Schwert hielt, glühend wie flüssiges Metall. Aber diese Armen wussten es nicht besser, es war Aurora, die Morgenröte, die die Fackel in der ausgestreckten Hand färbte und zu einem Schwert umformte. Schwert oder Fackel – das macht den Unterschied in den Vorstellungen von der Freiheit aus. Kampf oder Licht? Die europäische Geschichte kann es durchdeklinieren. Seit einer gewissen Wahl am 8. November weint sie und lässt die rußende Fackel nach unten sinken.

Weil Karl sich im Augenblick stark fühlte, hob er im Übermut seinen Koffer auf die Achsel. Er hatte keinen Regenschirm verloren, weil er keinen bei sich hatte. Ein sechszehnjähriger Provinzler pflegt keinen Regenschirm mit sich zu tragen, wenn er nach Amerika verfrachtet wird. Vor der Abreise war ihm zumute gewesen wie einem, der ins Wasser geht Seine Familie hatte ihn verstoßen, wie eine räudige Katze vor die Tür geworfen, ihn dafür bestraft , die dreiunddreißigjährige Köchin Johanna Brummer verführt zu haben. Karl glaubt sich zu erinnern, dass es umgekehrt war. Ist die schwarze Köchin da? Ja, ja, ja! Er muss nicht unbedingt von der Reling in den Schiffsbauch zurückgekehrt sein, nicht seinen Regenschirm vergessen und daher auch weder den Heizer, noch Franz Butterbaum noch den ungerechten Kassierer Schubal, keine Köchinnen, Matrosen und Offiziere und auch keinen Kapitän getroffen haben.

Mit Mühe das Gleichgewicht haltend und mit dem Koffer auf der Schulter ausbalancierend, wurde er in der festen Menschenmasse die steile, schwankende Fallreep hinuntergeschoben, vorne und dahinter von tausenden tappenden Menschenfüßen begleitet. Alle diese Körper drängten in einer umgekehrten Sisyphus-Bewegung in die Tiefe. Glück für die Ordnungshüter, in dieser Enge konnte niemand umfallen und Unordnung verursachen. Gepäck und Kleinkinder konnten schon verloren gehen, aber niemand wurde danach gefragt und niemand beschwerte sich.

Zum letzten Mal verschmolzen die Auswanderer, die die Hölle des Zwischendecks überlebt hatten, zu einem einzigen Körper wie die Sandkörnchen in der brodelnden Glasblase. Das schiffbrüchige Europa meinte, endlich im Paradies angekommen zu sein.
Bevor sie von der „Sibylle“ den Fuß auf den Boden Amerikas setzten, baumelten die Passagiere am Fallreep über dem Nichts, eine Ameisenstraße auf einem Grashalm, auf Trittseilen die Bordwand entlang steil hinunter. Karl träumte vor sich hin, dass die Menschen Gummibänder an den Füßen hätten, die sie, wenn sie von der Fallreep herunterpurzelten, wieder hochschnellen ließen. Das könnte man unzählige Male wiederholen. So ginge niemand verloren, und manche hätten sogar noch Spaß dabei. Der erste Weg in die Freiheit führte zuerst einmal in den Abgrund. Seit dem Untergang der Titanic waren erst acht Wochen vergangen, und die Leichen der Ertrunkenen kamen gerade bei Neufundland angeschwemmt . Die von der Lusitania sollten erste drei Jahre später an den atlantischen Küsten anlanden. Klein wie ein Froschteich ist das Mittelmeer dagegen. Was hat Amerika zu Amerika und groß gemacht?

Amerikanische und jüdische Fundamentalisten glauben, dass die Arche Noah nicht am Berg Ararat gestrandet ist, sondern 7000 Meilen weiter westlich, und das wäre genau in New York, auf der Insel Mana-hata der Algonquin-Indianer, ihrem „hügeligen Land“, oder im Nieuw Amsterdam der Niederländer. Da aber bisher keinerlei prähistorische Überreste gefunden wurden, steht uns die große Flut vielleicht noch bevor.

2.
Die „Sibylle“ hatte Glück, sie musste keine gelbe Flagge aufziehen, wie zuvor die Schwesternschiffe „Normannia“, „Moravia“ und „Riga“. Diese wurden weit draußen, sieben Meilen vor der Südspitze Manhattens in der Lower Bay vor Anker gesetzt. Gelbe Flagge hieß Seuchengefahr, Cholera. Eindeutig lautete die Warnung des Polizeichefs: Wer von Bord geht, wird erschossen. Kriegsschiffe bewachten die Auswanderer. Je länger sie dort lagen, desto mehr Passagiere stürzten sich von Bord der arretierten Schiffe. Kaum einer der Emigranten aus Süd- und Osteuropa konnte schwimmen. In der Stadt wollten die Bewohner keinen Fisch mehr essen. Trotzdem starben in New York jeden Tag neun Menschen an der Cholera. Die Furcht vor Seuchen weitete sich zu einer allgemeinen Hysterie aus. Wie der Erreger in die Stadt gelangt war, blieb ein Rätsel.

Die „New York Times“ forderten, die „schmutzigen Italiener, besoffenen Iren und verlausten Juden“ nicht mehr ins Land zu lassen.
Doch wer daran die Schuld trug, glaubten die Amerikaner zu wissen: die Ausländer.
Sie waren arm, krank, lebten in Slums, hatten keine Arbeit und verpesteten die Stadt. Die alten Amerikaner hassten die Immigranten aus vollem Herzen, die Presse hetzte offen. Sie sahen in ihnen minderwertige, halb menschliche Wesen und hielten sie sich möglichst vom Leib. Schlimmer als räudige Hunde und Ratten, druckten die NYT und gaben damit die Anregung, wie mit ihnen umzugehen sei. Vielleicht bringen sie nicht nur Seuchen und Ungeziefer, sondern auch Unfrieden? Soziale und kulturelle Konflikte waren vorgeplant.
In den frühen Jahren der europäischen Migration brachten viele Männer auch noch ihre Pferde mit, was vor allem in den Städten zu Chaos führte, wenn sie nicht schnell genug nach Westen weiterziehen konnten. Es gehört zu den Kuriositäten der Geschichtsvergessenheit, dass der angeblich uramerikanische Mythos vom Cowboy auf die Pferde der Einwanderer zurückgeht.
Vor allem den Immigranten aus Süd-Osteuropa wurde attestiert, nicht assimilierungswillig zu sein und aus Mangel an Kultur grundsätzlich unfähig, die amerikanische Welt zu verstehen. Wertekurse wurden damals nicht angeboten. Von allen Immigranten wurden nur die Deutschen einigermaßen willkommen geheißen, wegen des ihnen nachgesagten höheren Bildungsniveaus, ihres Arbeitseifers und strengen Familienzusammenhalts.

In der NYT wird ihre ausgeprägte „Achtung vor dem Staat und dem Gesetz“ hervorgehoben. Vor allem im Mittelwesten und in den New Yorker Stadtteilen Bronx und Queens bildeten sie kompakte Ansiedlungen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Hälfte der New Yorker Bürger nicht in dieser Stadt geboren. Donald Trumps Großvater Friedrich, ein Friseur aus der Pfalz, kam 1892 mit solch einem Transport an. Eine Schwester und ihr Mann lebten schon in New York, später noch eine Schwester mit Mann, Friedrich selbst brachte seine Frau aus Deutschland und eine dort geborene Tochter ins Land. Die Trumps hatten weitere familiäre Beziehungen zu den Heinzs und Krafts, die in der Lebensmittelindustrie Markennamen und Vermögen machen sollten. Seinem Sohn Fred konnte Friedrich schon ein Millionenvermögen hinterlassen, das er in der Immobilienbranche gemacht hatte. Am 8. November 2016 ist Trump, der III., Donald, zum 45. Präsidenten der USA gewählt worden. Der tuberkulöse Karl Roßmann hat von seinem Schicksal weniger Chancen zugemessen bekommen.

3.
Um die Massen nicht unkontrolliert ins Land strömen zu lassen, richtete man ab 1892 auf Ellis Island rund zwei Kilometer vor der Spitze von Manhattan auf einem elf Hektar großen Areal eine gigantische Selektions- und Kontrollfabrik ein. Der „Immigration Act“ verfügte, dass Verbrechern, Kranken und Schwachen die Einreise verweigert wird. Im Schnitt werden zwanzig Prozent dieser Prozedur unterworfen. Sie werden abgesondert, es folgt tagelanges Warten und die Verfrachtung auf ein Schiff zurück nach Europa. Die Kosten müssen die Reedereien tragen, die sie nach Amerika gebracht haben. Manche Familien werden zerrissen, wenn die Mutter wegen eines kranken Kindes zurückfahren muss und der Vater in den USA bleiben darf. Wegen dieser ständigen Tragödien wird Ellis Island auch die Träneninsel genannt. Galgen-Insel hieß dieser Flecken Land unter den Holländern, weil hier Piraten aufgehängt wurden. Wie schön noch der Name, den ihr die indianischen Ureinwohner gegeben hatten: Kiosqu – Möweninsel.

Die Neue Welt zeigt sich zunächst abweisend. Wer durch die erste Sortierung kommt, gerät in eine gigantische Maschinerie, in ein militarisiertes System von Schleusen, Käfigen und Fließbändern. Er muss in der 1800 m² großen und acht Meter hohen Registrierhalle auf langen Bänken Platz nehmen und auf den Aufruf seines Namens warten. Stundenlang, tagelang, immer in Angst, ihren Namen zu verpassen oder eine Anweisung nicht zu verstehen. Sie wissen nicht, wie lange sie in dieser Zwischenhölle bleiben müssen und was mit ihnen geschehen wird. Die Halle ist in Schlangenlinien durch Eisengitter getrennt und hat einen Galeriengang, von dem aus die Medizinstudenten das Geschehen beobachten können.

Das System ist brutal und effizient: Als Erstes werden die Geschlechter getrennt, dann Fragen nach Name, Herkunft, Beruf, Zielort, Unterschrift. Analphabeten werden sofort beiseite geschafft. Als Intelligenztest – ein neuer Zugriff der damals noch jungen Disziplin der Psychiatrie – muss der Immigrant ein einfaches Puzzle aus Klötzen legen können und allerhand obskure Fragen beantworten: „Wenn ein Junge seine Eltern aufisst, was ist er dann?“ Nicht Kannibale, sondern Waise, ist die richtige Antwort. Oder: „Wenn Sie zwei Pferde, drei Kühe und vier Schafe hätten, wie viele Tiere hätten Sie?“, wird ein osteuropäischer Bauer gefragt. Er kann zwar nicht zusammenzählen, gibt aber eine logische Antwort: Wenn ich so reich wäre, hätte ich nicht auswandern müssen. Der Bericht eines Psychologen bestätigt den Russen, Italienern und Ungarn zu achtzig Prozent „Schwachsinn“.

Wird eine ansteckende Krankheit festgestellt, kommt er in eine Spezialklinik.
Tuberkulose, Diphtherie, Keuchhusten und Masern sind am häufigsten. Manch einem Ankömmling hat die Quarantäne aber auch das Leben gerettet, vor allem Kindern und Jugendlichen.

Durch die Hände der uniformierten Ärzte und Sanitäter gehen täglich bis zu 12 000 Menschen. Brutal und effizient. In der Kinderstation hängen Schilder an den Wänden „Don‘t kiss the patients!“, eine Warnung, sollten die Krankenschwestern von Mitleid überwältigt werden. Zur Zeit, als Karl Roßmann von Bord gehen wollte, kamen jährlich ungefähr 500 000 Immigranten in New York an. In den dreißig Jahren der Nutzung von Ellis Island trafen zwölf Millionen Menschen ein. Bis zur großen Krise Ende der 20-er Jahre konnte die amerikanische Wirtschaft die fremden Arbeitskräfte leicht aufnehmen. Im 2. Weltkrieg diente Ellis Island als Internierungslager für enemy aliens, die Staatsbürger der Kriegsgegner.

1954 wurde Ellis Island geschlossen und ist seit 1965 ein Museum. Die Auslese der Einwanderer erfolgt seither an den US-Botschaften oder wird ihnen durch ein Präsidenten-Dekret untersagt. Es gibt wahrscheinlich keine andere Stadt der Welt, die so sehr von den Einwanderern geprägt ist wie New York. Der Besuch von Ellis Island mit Hafenrundfahrt zur Freiheitsstatue gehört zu den beliebtesten Touristenattraktionen am Big Apple.

4.
Von all dem ahnten die Passagiere der „Sibylle“ im April 1912 nichts. Karl Roßmann glaubte bei seiner Ankunft noch, dass er direkt vom Pier von seinem steinreichen Onkel Jakob abgeholt wird. Seine Eltern, die ihn als Strafe für eine verwerfliche Tat allein weggeschickt hatten, wussten nichts von dem unerbittlichen System auf Ellis Island. Vom Nadelöhr der Quarantänestation hat keiner der Emigranten etwas gehört und nichts von den undurchdringlichen Gesetzen ihres Sehnsuchtslandes. Die damaligen Schlepper – die Schifffahrtsgesellschaften – gaben aus Gründen der Gewinnmaximierung keine Informationen weiter. Sie füllten ihre Zwischendecks mit so vielen Passagieren, dass die Schiffe gerade nicht untergingen.

Karl Roßmann ist jung und übersteht die Todespassage ohne Schaden, wie er selbst dem Kapitän versichert. Aber er trifft keinen Heizer, keine Köchinnen, keine Kehrer, keinen verbrecherischen Kassier Schubal, keinen Franz Butterbaum, keine Kassierer, keine Schiffsoffiziere, keinen Kapitän und auch erst recht nicht seinen steinreichen Onkel Jakob, den selbsternannten Senator Edward Jakob, der vom Jakob Bendelmayer zum stolzen Amerikaner geworden war. Karl betritt keine von Kafkas Treppen, keine Gänge, Küchen, Heizräume und Kapitänskajüten. Er besteigt keinen Kahn mit Matrosen, die ihn im Auftrag des Kapitäns zusammen mit dem Onkel ans Ufer rudern sollen. Er wird nie in Jakobs Firma aufgenommen, nie im gigantischen Hotel Occidental als Liftboy dienen, auch nie die perverse Sängerin Brunelda kennenlernen und in ihre Dienste treten, nie das „Große Naturtheater von Oklahama“ sehen, nie ein berühmter Hundetrainer werden und auch kein Engel mit Posaune. „Die Idylle von Oklahama“, die Arthur Holitscher in seinem Buch von der Neuen Welt anführt und von der Kafka die falsche Schreibung von Oklahama übernimmt, ist in Wirklichkeit eine Fotografie einer Lynchjustizszene an einem Schwarzen, umringt von vergnügungssüchtigen Weißen.

Weil die Fahrt der „Sibylle“ am Pier von Ellis Island endet, wird er nie seinen Fuß auf Manhattan setzen. Im Labyrinth der Träneninsel verliert sich die Spur des Karl Roßmann. Den Verschollenen können die Verwandten nach einer bestimmten Frist für tot erklären lassen. Er hat von zu Hause ein Mitbringsel im Gepäck, die Tuberkulose. Sein unaufhaltsamer Abstieg von der Fallreep nach Ellis Island wird sein einziger bleiben, und von Amerika hat er nicht mehr gesehen als das falsche Schwert der Liberty.

1.6.17

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 17151

Mein Oster-Erweckungserlebnis

April 1971

Meine Freunde Pashka und Wjeta wussten davon über Mundpropaganda.
In der Christi-Himmelfahrts-Kirche von Kolomenskoje soll es einen geheimen Oster- Gottesdienst geben, eine Auferstehungsfeier die ganze Nacht hindurch.
Wir fuhren mit der Metro hinaus zur Endstation Kolomenskaja und gingen über die fast schon grünen Wiesen der Parkanlage zur Kirche. Vor allen Seiten strömten Menschen herbei.
Mir fiel auf, dass sie alle gebückt gingen, als würden sie sich vor etwas verstecken wollen, als wollten sie so tun, als ob sie gar da seien. Ich erklärte mir das mit dem frommen Insichgekehrtsein, der Verzücktheit nach dem strengen vierzigtägigen Fasten. Völlig daneben, wie sich später herausstellte.

Südlich vom Stadtzentrum liegt in einer Moskwa-Schleife inmitten einer Parklandschaft mit sechshundertjährigen Eichen die einstige Sommerresidenz der frühen Zaren. Nach dem Sieg über die Tataren auf dem Schnepfenfeld im Jahr 1380 ließ sich der triumphale Dmitrij Donskoj hier, hoch über dem Steilufer der Moskwa, eine Sommerresidenz erbauen. Wegen ihrer Pracht nannten sie Zeitgenossen das achte Weltwunder. Zuletzt gestaltete Zar Aleksej 1667 den Palast um, sein Sohn Peter, später der Große, verbrachte hier seine Kindheit, später benützten ihn die Zarinnen Katharina I., Anna und Elisabeth.
Katharina die Große mochte ihn nicht, sie bevorzugte das von ihr erbaute Schloss Zarskoje Selo bei St. Petersburg. Sie ließ den Moskauer Palast abreißen, trotz vieler Pläne kam aber nie ein Neubau zustande. Von der alten Pracht bleiben nur das Erlösertor als Eingang, der Glocken- und der Wasserturm und die Kirche der Gottesmutter von Kazan stehen. Das war die Hauskirche des Zaren Aleksej mit einem unterirdischen Geheimgang zur Christus-Erlöser-Kirche. Dies ist der schönste und größte Zeltdachbau der Rus mit einem 63 Meter hohen Turm. Hier versuchten die unbekannten Baumeister zum ersten Mal, den traditionellen Holzbaustil in Stein zu übertragen, mit den frühesten Einflüssen der italienischen Renaissance in Russland. Typisch für die russische Gotik sind die schlanken Säulen, darüber die dreifach gestaffelten Kokoschki, die die aufragende Gestalt optisch noch verstärkten. Sinnbild für das Streben zu Gott, die Himmelfahrt Christi, aber auch den Ruhm des Russischen Reiches.

Natürlich wusste ich an diesem Karsamstag im April 1971 das alles noch nicht, geschweige denn hätte ich das sehen oder benennen können. Aber in den nächsten dreißig Jahren bin ich immer wieder an diesen Ort gekommen, er wurde einer meiner Moskauer Herzensplätze, und allmählich verleibte ich mir Kolomenskoje immer mehr ein. Es war der Ort, an dem ich eine Ahnung vom Inneren Russlands bekam, die ganze russische Geschichte wie durch eine Osmose zu spüren vermeinte. Und den besten Blick auf Moskau hatte. Nah genug, um das Schöne zu sehen, weit genug weg, um das Hässliche zu vergessen.
Ich versuchte oft, mich in Napoleon auf den Hügeln von Borodino zu versetzen, als er im September 1812 die ersten Blicke auf das viertausendfach golden gekrönte Moskau warf. Ich bin überzeugt, dass er genau hier den Verstand verloren hat, so verrückt wurde, dass er meinte, es einnehmen und beherrschen zu können. Er war wie geblendet von dieser Pracht und vergaß, dass hier nicht Zar Alexander I. herrschte, sondern König Winter. Heutzutage hat Moskau immerhin noch 400 Kuppeln und Türme.

Wjeta, Pashka und ich waren früh gekommen, noch bei Tageslicht. Die Feierlichkeiten begannen erst mit der Dämmerung. Die Kirche war schon halb gefüllt, die Gläubigen verrichteten ihre rituellen Handlungen: das Waschen, Kerzenanzünden, Ikonen-Umkreisen und -Küssen, Kopeken-Einwerfen, das Schreiben der Fürbitte-Zettel und Abholen der kleinen Sauerbrote in der Sakristei. Die Besucher waren fast nur alte Frauen mit Kopftüchern, kaum Männer und Jugendliche.
Auf der Galerie an der Hinterwand sang ein Frauenchor in endlosem Auf und Ab Gebete und Choräle, die Gläubigen antworteten mit gleichem Singsang: Gospodi pomilui. Herr, erbarme dich unser. Tausende Male. Oh Gott, wie viel hatte er ihnen zu verzeihen! Bekreuzigen, in die Knie gehen und niederwerfen, den Boden küssen, aufstehen und wieder bekreuzigen. Es war mein erster orthodoxer Gottesdienst, alles war neu und fremd. Ich erkannte noch nicht den Rhythmus, in dem sich das alles vollzog. Nicht einmal, dass es einen Rhythmus hatte. Inzwischen hatte sich die Ikonostas geöffnet und Geistliche erschienen in der Apsis. Reiches Ornat, viele Kerzen, geschwenkte Weihrauchfässer und aus Wasserbecken reich versprühtes Wasser.

Die Menge war dicht zusammengerückt und drängte immer stärker nach vorne. Bald standen wir in einer kompakten Masse von Leibern. Pashka, Wjeta und ich bemühten uns, aufrecht stehend beieinander zu bleiben. Auch sie Atheisten, machten sie nicht mit bei Bekreuzigung, Niederwerfung und Bodenküssen. Da hörte ich von draußen Lärm, Pferdewiehern, Hundgebell, Schläge an das Tor. Lautsprecheransagen von außen an die towarischtschi verujuschtschije, die Genossen Gläubigen, dass nun die Kirche geschlossen würde, und wer nach draußen wollte, sollte das jetzt tun. Für den Rest der Nacht würde die Kirche von außen versperrt. Das war die berittene Miliz, die den Gottesdienst vor den möglichen erzürnten kommunistischen Volksmassen schützen sollte. Ich weiß nicht mehr, ob meine russischen Begleiter so unerfahren waren oder ich so naiv, dass ich darauf bestand zu bleiben: In jedem Fall, wir gingen nicht nach draußen.

Das Tor fiel krachend in seine Angeln, und die Milizionäre schlugen noch einmal fest auf das alte Holz. Gesänge, Kerzen, Weihrauch, Niederwerfen, Aufstehen. Der Sauerstoff war aufgebraucht. Allmählich verschmolz bei mir alles zu Schlieren, ich konnte mit den Augen nichts mehr unterscheiden, es blieb der Singsang als letzte Erinnerung in den Ohren. Gospodi pomilui. Nein, die allerletzte war das Gefühl der dicht gepressten Körper rund um mich, die mich aufrechterhalten hatten. Als sich die Masse wieder einmal beugte, niederkniete und sich auf den Boden warf, kippte ich heraus und fiel und fiel. Mein Körper auf den runden Rücken der betenden Weiblein, das war die letzte Empfindung, bevor ich das Bewusstsein verlor. Ein langsames Gleiten ins Nirgendwo.

Das Weitere erinnere ich nicht, sondern ist Erzählung. Mein Glück, meine Begleiter, meine Lebensretter. Sie erkannten die Situation und kämpften sich durch die Körpermassen robbend nach hinten in Richtung des Eingangs, eine Schneise, mich im Schlepptau. Ich kam so zu liegen, dass ich unter dem undichten Torschlitz etwas Luft zu atmen bekam. Pashka und Vjeta schrien und trommelten mit allen Kräften von innen an das Tor. Ein Notfall, eine Frau ist bewusstlos, bitte, aufmachen, um Gottes Willen, gospodi pomilui!
Es öffnete sich ein Spalt, und meine Freunde zogen mich hinaus, zwischen Pferde- und Hundebeinen hindurch. Sie brachten mich auf eine Wiese, atzten mich mit Wasser und fächelten meine Stirn, tätschelten meine Wangen und ermunterten mich mit guten Zusprüchen.

Das Erste, was ich wieder bewusst aufnahm, war eine Kohorte von Polizisten hoch zu Ross mit freilaufenden Schäferhunden. Sie umkreisten uns unruhig, sie wogten dahin und dorthin, immer wieder auch um die Kirche. Das Geräusch von Pferdehufen gegen die Kirchenmauern. Schläge mit Holzstöcken gegen die Kirchentür und Fenstergitter. Ganze Einheiten belegten die offenen Galerien, Arkaden und Treppenaufgänge an der Vorderseite. Sie taten uns nichts an, verlangten nicht einmal unsere Dokumente.
Mein elender Zustand war ihnen offenbar Beweis genug. Feind liquidiert. Ausgeschaltet. Keine Gefahr. Ein unscharf gestellter Film, untermalt von Chorgesängen, Kommandos, Pferdewiehern und Hundegebell.

Es schien ein Krieg zu toben rund um die Christus-Erlöser-Kirche. Historische Schlachtenbilder, Borodino, Napoleon gegen Kutusowski 1812, langsam kam ich wieder zu mir, etwas zeitverschoben allerdings, denn ich meinte, tausende Kirchenglocken zu hören. Da erst bemerkte ich, dass viele Menschen keinen Platz in der Kirche gefunden hatten. Sie lagerten im Park, immer bedrängt von der Miliz und deren Tieren. Die Kirche gehörte zu einem Museumsreservat, war nicht geweiht und eigentlich nicht geeignet für einen Gottesdienst. Das war auch der zynische Grund für das Verbot der Auferstehungsfeier. Da sich die Gläubigen nicht aufhalten ließen, wurden sie maximal gestört und eingeschüchtert.
Am stärksten aber der Geruch einer russischen Frühlingswiese, von den Eichen, vom Fluss unten und die Sterne darüber. Mein Erweckungserlebnis fand nicht innerhalb einer Kirche statt, so viel war sicher.

Ob es in Kolomenskoje noch andere Zwischenfälle gegeben hat? Wir wussten es nicht, hätten es auch nie erfahren. Die sowjetische Presse veröffentlichte nie lokale Vorfälle, die nicht ins Bild passten.
Das erlösende Jubeln bei Sonnenaufgang, das Ausbrechen aus der Kirche: Christos voskres`- voisstenno voskres` – Christus ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden – die Umarmungsküsse am Morgen nach der Auferstehungsfeier, die Weidenzweige, die Ostereier und Osterkuchen – das alles habe ich später noch oft erlebt und genossen, aber nie wieder nach einer Nacht in einer verschlossenen Kirche.

23.6.17

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 17136

Der neue Koloss vs. Die Mutter der Verbannten

Der dreiste Gigant von griechischem Ruhm
kreischt mit lauter Stimme von seinem Thron:

Behaltet sie dort, eure Müden, eure Armen,
eure Schicksale und menschlichen Dramen,
eure geknechteten Massen,
werden nicht mehr hereingelassen!

Wenn sie frei zu atmen begehren,
werden wir sie mit Mauern abwehren.
Aufgrund des elenden Unrats eurer gedrängten Küsten
werden wir nun unser Militär aufrüsten!

Doch dort, mit stummen Lippen brüllend,
den luftüberspannten Hafen füllend,
hallt ein „Willkommen“ in die Welt,
wo warmer Glanz auf dunkeln Boden fällt.

Denn da steht ein Spruch in Stein geschrieben:
Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturm Getriebenen
Hoch halt ich mein Licht am gold‘nen Tor!

Denn noch steht die Liebe allem anderen vor.

Nene Stark

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer:  17128

 

 

Mach es so, dass jeder auf dich stolz sein kann

Es ist gefährlich, in der Provinz Logar im östlichen Afghanistan zu leben. Seit Jahrzehnten kennen die Menschen dort keine Normalität. Die russischen und amerikanischen Besatzungstruppen sind gekommen und gegangen. Sie haben Hoffnungen geweckt, Enttäuschungen beschert und unaufhaltsam größere Not über die Bevölkerung gebracht. An Arbeit und Schule ist seit Langem nicht mehr zu denken. Alle sind mit der Sorge um den täglichen Lebensunterhalt beschäftigt. Jeder hat Angehörige zu betrauern, die einem Attentat, einem Bombenangriff oder einem willkürlichen Schusswechsel zum Opfer gefallen sind. Ein Menschenleben verliert in solchen Zeiten an Wert. Pläne für die Zukunft kann man nicht machen. Dennoch heiraten auch in Afghanistan junge Paare und bekommen Kinder. Dennoch wachsen auch in so einem Land junge Leute heran, die von einem Leben in Frieden und Freiheit träumen. Wie kann man es ihnen verdenken?

Im Jahr 2015 hören die Bewohner von der Möglichkeit wegzugehen. Aber wohin soll man gehen? Es ist ein großes Risiko, die letzte Sicherheit, die Familie oder den kläglichen Rest davon zu verlassen. Was soll mit den Zurückgelassenen in der Heimat geschehen? Welche Gefahren lauern im Ausland, in der unbekannten großen Welt? Die Not und Verzweiflung muss unerträglich groß sein, dass man diese Gefahren auf sich nimmt.

Keramat Akachel erzählt mir im Februar 2017 davon, wie seine Mutter für ihn, ihren jüngsten Sohn, die Entscheidung gefällt hat, dass es keine Alternative zur Flucht gibt. In regelmäßigen Abständen kommen die Taliban in die Stadt, um Kämpfer zu rekrutieren. Keramat steht auf ihrer Liste. Der ältere Bruder hat bereits die Familie verlassen und ist untergetaucht. Niemand weiß, ob er noch lebt oder wo er sich versteckt. Jedes Lebenszeichen ist lebensgefährlich für ihn und für seine Angehörigen. Der Vater ist schon vor Jahren ermordet worden, weil er seine Familie nicht im Stich lassen wollte und sich geweigert hatte, sich den Taliban anzuschließen.
Die allgegenwärtige Not hat Keramats Mutter gelehrt, diplomatisch zu verhandeln. Sie bat um Aufschub. Schließlich gibt man den jüngsten Sohn nicht einfach so weg. Sie war sich dessen bewusst, dass ein Menschenleben in ihrer Heimat schon lange nicht mehr viel wiegt. Und so bereitete sie unbemerkt nebenher die Flucht ihres jüngsten Sohnes vor. Die einzige Chance für einen jungen Menschen besteht darin, irgendwie ins sichere Ausland zu gelangen. Die Gefahren müssen gewagt werden. Es gibt keine Alternative. Sie besprach sich mit dem Schwiegersohn und kam zu dem Entschluss, ein Stück Land zu verkaufen, um das nötige Geld zu bekommen.

Alles geschah hinter dem Rücken Keramats. Vielleicht wollte ihn seine Mutter die letzten Tage zu Hause noch möglichst unbeschwert verbringen lassen. Vielleicht wollte sie ihm auch die Qual des Abschiednehmens erleichtern.
Schließlich drängte die Zeit. Die Taliban würden bald zurückkommen, und bis dahin musste der Junge weg sein, unauffindbar. Wenige Tage vor dem Aufbruch in die ungewisse Zukunft wurde Keramat in die Pläne der Mutter, die sie zusammen mit seinem Schwager gefasst hatte, eingeweiht. Alle waren der Meinung, dass Deutschland ein gutes Ziel sei, obgleich sie so gut wie nichts über dieses Land im Westen wussten. Die Kunde von Frieden und Freiheit war bis nach Logar gedrungen, und so machte sich Keramat auf, dorthin zu gehen.
Seine Mutter sagte beim Abschied: „Sei ein guter Sohn aus Logar! Geh weg und mach es so, dass jeder auf dich stolz sein kann!“

Er nahm die überlegte und weise Entscheidung seiner Mutter ohne Widerspruch an. Wusste er doch, dass das Weggehen die einzige Möglichkeit auf ein annähernd normales Leben war, das sich nicht nur er, sondern seine Mutter für ihn erträumte. Vielleicht würde er ja auch eines Tages vom Ausland aus seiner Familie hilfreich beistehen können. Alle Hoffnungen lagen nun auf ihm und er wollte sich dafür würdig und stark erweisen, auch wenn er Angst hatte.
So packte er seine Sporttasche mit dem Nötigsten. Einen Bildband über die Geschichte Afghanistans und einen schönen Spiegel legte er als kostbare Schätze, die ihn an zu Hause erinnern sollten, mit hinein. Dachte er doch, im fernen Deutschland bald studieren zu können. Gerne klammerte er sich an den Gedanken. Hatte er doch gehört, dass dort alle den Beruf erlernen konnten, den sie gern ausüben möchten. Er würde in Deutschland arbeiten und Geld verdienen. Er würde es schaffen.

So brachte ihn der Mann seiner Schwester, der als Taxifahrer arbeitete, mit dem Auto zum verabredeten Treffpunkt, wo er mit fünfzehn weiteren Flüchtlingen einen Bus bestieg, der ihn über die Grenze in den Iran brachte. Ihm war klar, dass es überaus gefährlich war, dieses Land unbehelligt zu durchqueren. Wenn die Polizei Flüchtlinge aufgreift, werden sie geschlagen und zurückgeschickt.
Die Polizeikontrollen mussten geschickt umgangen werden. Die Angst aller war groß, die Schlepper handelten rücksichtslos. Für sie ist es ein Geschäft, und noch dazu ein lukratives, die Flüchtlinge außer Landes zu schaffen. Gleichwohl laufen auch sie ständig Gefahr, geschnappt und womöglich inhaftiert zu werden. Auf Mitleid und Hilfe durfte man nicht hoffen. Dessen war sich Keramat gewiss. Es kann auch verhängnisvoll sein, Vertrauen zu schenken.
Jeder will es schaffen und jeder muss auf sich selber aufpassen. So spürte Keramat während dieser zwei Wochen, die er in der Obhut Fremder, denen er ausgeliefert und auf deren Hilfe er dennoch angewiesen war, wie alleingelassen er mit seinem jungen Leben war.

Er erzählte mir, dass er im Kofferraum eines Autos stundenlang von Checkpoint zu Checkpoint transportiert worden war, immer in Angst, doch kontrolliert, herausgezerrt, geschlagen und zurückgeschickt zu werden. Er erlebte die eigene Ohnmacht und wurde teilnahmslos. Kein Laut durfte nach außen dringen, und seine Gliedmaßen schmerzten in der bewegungslosen Enge. Ihm war in diesem Moment völlig gleichgültig, was mit ihm geschehen würde. Er fühlte sich dem Tod sehr nahe.

Schließlich nahm diese höllische Fahrt doch ein Ende, und er wurde mit seinen Leidensgenossen aus dem Kofferraum befreit. Es dauerte, bis er wieder so weit zu sich kam, dass er sich bewegen konnte und die Kraft aufbrachte, sich auf den weiteren Fluchtweg einzulassen. Da stellte er fest, dass aus seiner Tasche das Buch über seine Heimat und der Spiegel verschwunden waren. Man darf eben niemandem vertrauen. So war ihm wieder ein Stück Zuhause genommen worden. Ihm wurde klar, dass er sich an nichts klammern durfte. Er wird mit wenig zurechtkommen müssen. Die Erinnerungen bleiben, aber es muss viel Platz für all das Neue sein, das auf ihn zukommt. Wehmut und der Blick zurück können tödlich sein. Und Keramat spürte, dass er leben will und zwar in Frieden und Freiheit. So rüstete er sich für die nächsten Etappen seiner Flucht.

Die Türkei erreichte er in der Nacht. In den Bergen war es trotz des Sommers eiskalt. Er erfuhr, dass drei Leute aus seiner Gruppe inzwischen aufgegriffen und zurückgeschickt worden waren. Außerdem hörte er die Schüsse der Grenzposten. Sie mussten sich trennen, um möglichst unauffällig das unwegsame Gelände passieren zu können. Er hielt sich an den Größten, der vorgab, den Weg zu kennen, und hatte Glück. Jetzt sei das Schlimmste geschafft, dachten alle und schöpften neuen Mut. Irgendwo wartete ein Bus, der sie nach Istanbul brachte. Die großen Häuser und Schiffe ließen ihn staunen. Niemals zuvor hatte er Derartiges gesehen. Doch es war keine Zeit, um zu verweilen. Schließlich war das Ziel noch gut tausend Kilometer entfernt, die möglichst rasch zurückgelegt werden mussten.

Ein Auto brachte seine Gruppe an die bulgarische Grenze. Von dort aus ging es zu Fuß durch einen großen Wald weiter. Man konnte sich darin leicht verirren.
Sie gingen während der Nacht und kauerten untertags an Bäume gelehnt. Nach vierundzwanzig Stunden trafen sie todmüde auf einen LKW, der sie nach Serbien brachte. Die Aufregung unter den Flüchtlingen wurde ständig großer.
Jeder behauptete etwas anderes, und keiner wusste wirklich Bescheid. Sie hatten längst die Orientierung und den letzten Rest von Sicherheit verloren. Sie mussten sich selber Mut machen und darauf hoffen, dass nun diese beschwerliche Reise bald ein Ende nehmen möge, bevor sie noch alle die Kraftreserven verließen.

Zum Glück hatte einer ein Handy mit GPS, das sie mit verlässlicher Richtungsangabe zu Fuß durch drei oder vier Dörfer geleitete. Sie hatte Angst davor, nach Rumänien zu gelangen. Gerüchte von den feindseligen Polizisten dort machten die Runde. Schließlich blieb es Keramat und seinen Fluchtkollegen erspart, Erfahrungen mit diesem Land zu machen. Mit dem Bus gelangten sie nach Belgrad, mit dem Zug weiter Richtung Ungarn.
Zwischendurch gingen sie zu Fuß entlang der Gleise, bis sie wieder ein Kleinbus ein Stück mitnahm. Sie näherten sich Österreich. Es konnte nicht mehr weit sein. Gefährlich war es noch, die stark befahrene Autobahn zu überqueren.
Immer durfte nur einer gehen. Aber auch das schaffte jeder in Keramats Gruppe.

Am 15. Juli 2015 kam Keramat in Passau an. Dieses Datum hat sich ihm eingebrannt. Ähnlich seinem Geburtstag wird er diesen Tag sein Leben lang besonders feiern.

Wenn er sich heute daran erinnert, sagt er, dass er damals erleichtert dachte, dass nun alles okay sei. Als er aber die Autos in Passau sah und auf den Nummernschildern ein D las, war er sehr verwirrt. Hatte er doch immer nach Germany gewollt. Was hatte nun dieses D zu bedeuten. So lernte er erst an diesem Tag das Wort Deutschland kennen.

Ich lernte Keramat im September 2015 kennen. Mit zwei Freunden und seinen Betreuern kam er in die 10. Klasse des Burkhart Gymnasiums und erzählte bereits mit einigen deutschen Wörtern von seinen Eindrücken und Plänen. Der Kontakt ist geblieben, und inzwischen ist er einigermaßen heimisch geworden.
Er lernt fleißig Deutsch und will Elektriker werden. Ich freue mich, mich inzwischen mit ihm schon gut unterhalten zu können. Manchmal erzählt er mir auch von Afghanistan. Das werde ich dann auch für ihn aufschreiben. – Seine Mutter kann auf ihren Sohn stolz sein.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 17124

 

Bericht aus der Anstalt oder die Verstollenen

Der Empfang war freundlich und persönlich wie in einem Hotel. Die Rezeptionistin überreichte mir den elektronischen Zimmerschlüssel und den vorläufigen Therapieplan; dabei bemerkte sie, dass sie die gleichen Schuhe habe wie ich – bequem, gell!
Dann rief sie den Hausarbeiter, der sich als ein Zoran aus Banja Luka herausstellte. Während er mein Gepäck schleppte, versetzte ich ihn wahrscheinlich in Angst und Schrecken, indem ich mit ihm auf Serbokroatisch plauderte. Große Disziplin bei dieser Attacke, dass er nicht sofort einsackte, meine Koffer fallenließ und floh. Schon wieder der Geheimdienst, hört das denn nie auf? Als ich seine flackernden Augen bemerkte, ließ ich die vorbereitete 2-Euro-Münze in meiner Manteltasche und suchte schuldbewusst einen Fünfer heraus.
Er nahm ihn natürlich an und murmelte etwas Undeutliches zwischen Danke und Chvala, dass ich mich noch bemüßigt fühlte zu sagen: Banja Luka ist eine schöne Stadt, do rata, bis zum Krieg. Diese Anbiederung, als würden wir Urlaubserinnerungen austauschen: Ah, Sie waren auch auf Hawaii, schön, phantastisch! Welcher Teufel hat mich geritten, diesen armen Kerl so zu erschrecken? Und dabei so unbändig zu lügen? Ich habe Banja Luka bei meinen zahlreichen Besuchen nie als schön empfunden, es war Krieg, die Stadt von den Serben erobert, und ich befand mich als Österreicherin in „Feindesland“ in ständiger Gefahr.

Ich begegnete Zoran in den nächsten drei Wochen noch öfter, meist schwer beschäftigt, etwas im Haus reparierend oder Koffer schleppend, wobei er immer den Kopf tief nach unten und zur Seite wandte, um mich nicht wiedererkennen oder grüßen zu müssen, oder in den Parks rund um das Sanatorium, aber er verdrückte sich schnell oder machte einen weiten Bogen um mich.
Im Gegensatz zu Zoran war Gordana aus der ausschließlich ex-jugoslawischen Putzfrauenbrigade – sie kam fast täglich in mein Zimmer – erfreut über meine spärlichen Worte in ihrer Muttersprache, mit denen ich sie lobte, ihr das Trinkgeld übergab, ein schönes Wochenende wünschte und den fortschreitenden Frühling vor der Loggia bewunderte; ihre leichte, mit erhobenem Lappen unterstrichene Rüge dafür, dass ich selbst Aschenbecher und Papierkorb ausleerte, brachte sie in bestem Gastarbeiter-Deutsch vor: Sie kuren, ich putzen, nix selber machen!

Das große Einzelzimmer mit nüchterner und praktischer Eleganz schien mir nach dem ersten Überblick geeignet, es hier drei Wochen aushalten zu können. Vor allem die geräumige Loggia vor der Glaswand mit dem Blick von Osten nach Süden bis Halbwest machte mich sicher, dass ich die Anstalt einigermaßen gut überleben würde. Das Bad wurde geprüft. Die Gondeln der Stubenbergbahn kreuzten sich im Auf- und Abwärts genau alle zwanzig Sekunden hinter drei Tannen und zwei noch kahlen Birken. Die zu einem Hügel ansteigende Wiesenmulde füllte sich im Laufe dieser drei Wochen immer mehr mit grünendem Gras, Löwenzahn und Himmelschlüsseln. Am Zaun begannen an den Haselsträuchern die Palmkatzerl zu blühen, darunter entdeckte ich im Zoom der Kamera Buschwindröschen und Leberblümchen. Ab und zu tauchte vor meinem Loggia-Platz eine dicke Katze auf, stillsitzend wie eine in schwarz-weißen Marmor gemeißelte Statue, den Blick gebannt auf den Boden gerichtet, wahrscheinlich auf Mäusejagd. Ich vermisste jetzt schon meine Katze in Wien, die ich einer nicht vertrauten, aber im ersten Eindruck liebevollen und verlässlichen Katzensitterin überlassen hatte.

Schnell war ich in den Strudel der Kur eingetaucht, der Hausordnung, dem Therapie- und Essplan und den Möglichkeiten der Freizeitgestaltung.
Ich überließ mich ab sieben Uhr früh den heißen Radon-Wannenbädern, der Massage, den Fango-Behandlungen, den Radon-Inhalationen und dem Wechselstrom, später der Gymnastik am Boden und im Wasser, den Unterwassermassagen, den Radlerpartien am Standgerät und dem Nordic Walking. Zu insgesamt acht verschiedenen Therapien war man eingeteilt, meistens fünf bis sechs davon über den Tag verteilt – fünfundsechzig sollten es werden in diesen drei Wochen. Dazu konnte man noch rund dreißig verschiedene Behandlungen privat buchen.

Im Speisesaal hatte ich den Tisch Nummer vier zugewiesen bekommen, zusammen mit mir noch die Fließbandarbeiterin Petra, ihr Lebenspartner Kurt, ein Gabelstaplerfahrer aus Bad Hall, und der ewig lächelnde, mit schief gehaltenem Kopf, Buschauffeur Mirko, ein Ex-Jugoslawe, der aber so wenig sprach, dass ich bis zuletzt nichts über seine Herkunft herausfinden konnte. Aber nach meinen gemischten Erfahrungen mit Zoran und Gordana versuchte ich auch keine weitere Stümmelkonversation auf Serbokroatisch mehr.

Unter den elf Tischen im Speisesaal fiel mir einer auf, besetzt mit fünf Personen, drei Frauen und zwei Männern. Nicht nur, weil er der nächste Tisch zu meinem war, so nahe, dass ich einiges von den Gesprächen mitbekommen konnte. Anfangs die Namen, mit denen sie sich von der Früh an laut begrüßten: Sabine, Silvia, Walter, Hermann und die Deutsche Maren.
Sabine war eine Altenpflegerin in den Vierzigern aus Graz-Umgebung, die schon zum Frühstück um dreiviertel sieben gepflegt, gestylt, mit Schmuck behangen, herausgeputzt wie für einen Clubabend immer als Erste erschien. Sie war knusprig braun, und als ich einmal eine bewundernde Frage stellte, bekam ich die Auskunft, dass sie über Weihnachten in Sri Lanka gewesen sei. Sie wechselte nicht nur wie wir alle, je nach vorgeschriebener Therapie, die Kleidung, sondern auch zum Mittag- und Abendessen ihre Outfits, wobei sie es noch geheimnisvollerweise schaffte, sich zum Abendtrunk an der Bar des hauseigenen „Kaffee Ofenrohr“ in Partyschale zu werfen. Was ich wirklich bewunderte, waren ihre Fingernägel aus dem Nagelstudio, lang, bunt bemalt mit Tupfen, Flecken oder Bildchen mit einem weißen Rand an den Enden, Krallen, mit denen sie ihre Pfleglinge sicher so beeindruckte, dass sie schnell das Zeitliche segneten. Sie hatte ein Handy, das mit einer rosaroten Hülle umgeben ist und ein baumelndes Silberkettchen wie es Zehnjährige schon als No-Go ablehnen.

Silvia war eine pummelige Hausfrau mit zwei studierenden Kindern und einer dementen Schwiegermutter zu Hause. Sie hatte offenbar keine ähnlichen Ambitionen wie Sabine, sie trug Tag für Tag den gleichen Pullover und eine fettzeichnende Hose, in verschiedenen Farben, sehr praktisch: verheiratet, ein Mann, zwei Kinder, seine Mutter, ein Haus, eine sichere Position. Dreißig Kilo weniger und sie wäre die Hübscheste von allen gewesen. Sicher war sie aber die lauteste Lacherin, eine richtige Kuderin, Kaskaden perlten geradezu aus ihrer zurückgeworfenen Kehle und wieder herunter über Doppelkinn über die einheitlichen Rundungen von Busen und Bauch. Ich fand nie heraus, was an diesem Tisch immer so lustig war. Vielleicht war es allein die dreiwöchige Befreiung von dem beruflichen und heimischen Pflegealltag. Sabine hatte am langen Osterwochenende frei und flog nach Mallorca, Silvia musste bei der Mutter bleiben, freute sich aber auf den Besuch ihrer Kinder. Ihr Mann Hermann war ein durchtrainierter Nebenerwerbsbauer, der jeden Nachmittag mit seinem Mountainbike oder den Nordic-Walking-Stöcken in die Landschaft ausrückte. Von Walter bekam ich außer seinem Dauerreden und -Lachen nicht mehr mit, als dass er wie Günter an meinem Tisch am selben Tag den 58. Geburtstag feierte, am Samstag vor Palmsonntag. Er bekam eine Flasche Zirbenschnaps und ein gesungenes Ständchen mit dem unsterblichen Unsinnlied „Walter, ach Walter“.

Dieser Tisch war auch der einzige, der manchmal nach dem Abendessen eine Flasche Wein bestellte, was mir auffiel, weil in der Anstalt eigentlich Alkoholverbot bestand. Walter war der größte Witzemacher und Unterhalter, der sicher an jedem Stammtisch der Star war. Wegen seines kärntnerischen Dialekts konnte ich mir vorstellen, dass er im Nebenberuf vielleicht ein Karnevalsprofi aus dem nicht weit entfernten Villach sein könnte. Aber er war ein Naturtalent, erfuhr ich aus einem zufällig mitgehörten Gespräch in der Nachbarkabine des Wannenbades. Ob das seinem Beruf – als Gemeindeangestellter von Mallnitz-Obervellach war er für Begräbnisse und den Friedhof zuständig – geschuldet war oder umgekehrt, konnte ich nicht herausbringen. Es gab auch an anderen Tischen laute Lacherinnen, auf Tisch Nummer sieben zum Beispiel eine pensionierte Lehrerin aus Tirol, die an jeden ihrer Sätze eine Lachtirade von oben nach unten und wieder hinauf hängte.

Wer einmal einen Almabtrieb erlebt hat, wird an eine solche urige Glockensymphonie erinnert. Oder an die aneinander schlagende Milchkannen, wenn sie leer wieder ausgeladen werden. Wahrscheinlich hatte sie in ihrer Berufszeit zu wenig gelacht. Ich war mir sicher, dass es Sabine, Silvia und Gitti waren, die gar nicht mehr zu lachen, kichern, sich zerkugeln aufhören konnten, als ich der bulgarischen Gymnastiktrainerin Bogumila verbot, mich zu berühren. Anfangs entzog ich mich ihr unwillig, als sie mich zum Vorzeigen einer Übung benützen wollte. Als sie es noch einmal versuchte und meine Knie mit beiden Händen umfing und demonstrierte, wie die Übung auszuführen sei, zu deren korrekter Beschreibung ihr Deutsch nicht ausreichte, stieß ich sie von mir und ließ laut vernehmlich für alle fünfzehn Leute im Trainingssaal hören:
– Bitte, lassen Sie das, ich will das nicht!
Einem hilflos am Boden, am Rücken ausgestreckten Menschen so etwas anzutun, war für mein Gefühl ein Überfall, zumindest ein Übergriff. In der hinteren Ecke begannen drei Frauen hellauf zu lachen, von denen sich zwei bald einkriegten, die dritte aber fast bis zum Ende der halben Stunde Gymnastik immer wieder von Neuem zu gigeln und zu kichern anfing, als würde sie gekitzelt. Ganze Tonleitern auf und ab perlten aus ihr heraus. Ich setzte mich kurz auf und überzeugte mich, dass es Gitti war, neben ihr lagen, schon verstummt, Sabine und Silvia. Tagelang quälte ich mein Hirn auf der Suche nach einer passenden Antwort, die sie bloßstellen und zugleich als ein Gegenangriff empfunden werden sollte. Ich unterließ es aber letztlich und beruhigte mich, als ich den Vergleich mit einem unpassend lachenden Kinopublikum fand, das manchmal aus Angst und Verlegenheit scheinbar grundlos lachte. Angstabwehr nennt man das in der Psychologie. Aber in dieser Schicht hatte ich natürlich meinen Ruf weg. Dass ich die einzige Wienerin war, einen Doppelnamen und akademischen Grad hatte, half auch nicht gerade, mich bei den Alpenländlern beliebt zu machen. Von der Rezeptionistin über die Ärzte bis zum letzten Therapeuten weideten sie sich an meinen Abnormitäten, wenn die meinen Namen mit Titel und in voller Länge von vier Teilen aufriefen.

Aber den tieferen Grund für das allgemeine Dauerlachen vieler Kurgäste sah ich doch in der fortschreitenden Regression und Infantilisierung durch den Kuralltag: Diese erwachsenen und zum Großteil älteren Menschen werden von früh bis spät versorgt: in die Wanne mit heißem Radonwasser gelegt, in Tücher gewickelt, massiert, in heiße Fangoerde eingepackt, mit Schläuchen bespritzt und bei drei Mahlzeiten gefüttert. Die Vögelchen im Nest mussten nur die Schnäbel aufsperren.
In meinem Fall hat mir jemand sogar das Verdauen und Ausscheiden abgenommen, also war wahrscheinlich auch meine Verstopfung Resultat der allgemeinen Regression.
Keiner muss den ganzen Tag lang einen Finger rühren, das Leben wird einem abgenommen und auf ein perfekt organisiertes Fließband gelegt, von dem man nach drei Wochen wieder ausgespuckt wird. Einen Brief – das Therapieprofil – in den Händen, ich habe meinen bis heute nicht aufgemacht und gelesen.

Diesem vegetativen Zustand verfiel auch ich sehr schnell, wunderte mich anfangs über meinen Rückfall ins Frühkindliche und begann ihn allmählich in vollen Zügen zu genießen. Meine selbstverschuldeten, mehr als zwei Wochen anhaltenden Verdauungsprobleme warfen mich noch mehr auf das Baby-Dasein zurück. Um den toten Hund in den Gedärmen loszuwerden, stopfte ich Magerjoghurt, Dörrpflaumen und Sauerkraut in mich hinein. Hektoliter von Verdauungstees und schwarzem Kaffee flossen durch mich ohne die erhoffte Wirkung. Noch nie hatte ich ein solches Problem gehabt. Als diese althergebrachten Hausmittel nichts nützten, griff ich leicht verzweifelt zu den Nordic-Walking-Stöcken und marschierte jeden Tag eine Runde über die Elisabeth-Promenade und klammerte mich mit den Augen an die herabstürzenden Wasserfälle und die vom Schmelzwasser angeschwollene Gasteiner Ache, damit sie auf meinen Verdauungsapparat Eindruck machen sollten. Ich benutzte prinzipiell keinen Lift zwischen den Stockwerken und den Chalets auf den verschiedenen Niveaus und sprang über die Stufen, um den toten Hund loszuwerden. Ich hatte das Gefühl, dass er mir schon zum Hals herausstand – und bald sicht- und riechbar würde. Mir war dauerübel.

Die Einzigen, die von meinem Problem profitierten, waren meine essfreudigen Tischnachbarn, denen ich viel hinüberschob und die Kuranstalt, bei der ich immer mehr Mahlzeiten abbestellte. Letztlich entschloss ich zu einem Canossa-Gang zur Alten Hofapotheke und kaufte Spezialtees, Tropfen und Zäpfchen im Großhandelsmaßstab. Am Ende der zweiten Woche war ich nahe daran, von der Loggia auf die Wiese zu springen. Lange stand ich an der Brüstung und schaute hinunter auf die Löwenzahnwiese. Das würde ich überstehen, aber in der Kur war man im Krankenstand und durfte sich keiner außertourlichen Belastung aussetzen, wie etwa Schifahren, Mountainbiking, Extremklettern und wahrscheinlich auch Loggia-Stürzen nicht.
Viele meiner Mitkurer missdeuteten mein ständiges Laufen durch die Gänge und mein Springen über die Stufen rauf und runter. Na, hammas wieder eilig, spät dran, gell, so viele Stufen, kommentierten sie mitleidig und mitwissend, wenn ich vorbeihastete oder drei Stufen auf einmal nahm. 120 hatte ich gezählt innerhalb und zwischen den Häusern, Außentreppen nicht eingerechnet. Die vielen Menschen mit sichtbaren Leiden konnten nicht ahnen, wobei mir das Laufen und Springen helfen sollten. Mein nervöses Verhalten brachte mir den Spitznamen „das Reh“ ein; von den Frauen an Nebentisch hörte ich allerdings etwas von Goaß und ein meckerndes Lachen dazu.

Die deutsche Maren aus Reutte in Tirol blieb mir bis zum Schluss ein Rätsel. Mit zweiundsiebzig Jahren war sie die Älteste in dieser Runde, an den zweiundzwanzig Tagen der Kur jeden Tag zu jedem Auftritt war sie unterschiedlich angezogen, immer elegant im Stil einer Boutiquen-Verkäuferin mit den passenden Schuhen, Ledertaschen, Schals, Tüchern, Ponchos und viel Echtgold und Silberklunkern. Obwohl ein bisschen tattrig, vergesslich, leicht verwirrt und gesundheitlich angeschlagen – sie konnte bei vielen Therapien nicht mitmachen – war sie am Tisch laut und dauergesprächig, dabei kam ihre Stimme aber so schnattrig herüber, dass ich wie aus einer Horde mit Gänsen ihre einzelnen Geschichten und Witze nicht verstehen konnte. Sie sprach dabei so ausgeprägt norddeutsch, reichsdeutsch oder piefkinesisch hätte man früher in diesen Gegenden gesagt, ohne vom geringsten Einschlag ins Österreichische angekränkelt zu sein, wie sie es schaffte, in dieser Runde so angenommen zu werden. Geschweige denn wie sie zu einer österreichischen Krankenkassenkur kam. Vielleicht konnte sie mit ihrem Aussehen und Auftreten wie für einen Abend in Monte Carlo den Eindruck erwecken, dass sie immens reich und wichtig sei. Alle ihre Sätze begannen mit ich und im Weiteren hörte man noch meine Tochter, meine Enkel, die Firma heraus. Ich sah sie nie etwas anderes essen als Suppe, Magerjoghurt und Sauerkraut. Dafür rauchte sie wie ein verstopfter Kamin und hatte eine Stimme wie der Star vom Moulin Rouge, im Rauchersalettl vor dem Haupteingang war sie immer Mittelpunkt.

Sie hatte viele Krankheiten, Knochenschäden, zu hohe Schilddrüsenwerte, Atembeschwerden und war untergewichtig mit der Figur einer Zwölfjährigen. Ihr feines, zu jeder Tageszeit perfekt zurechtgemachtes Gesicht hatte die Farbe von vergilbtem Seidenpapier, zerknittert und durchsichtig, manchmal in Silbrige scheinend. Immer, wenn ich sie ansah, erschrak ich; nicht, weil sie unhübsch gewesen wäre, durchaus nicht, wenn sie größer gewesen wäre, könnte sie auch einmal gemodelt haben oder heute noch für Silberrückenmode posieren. Aber ich meinte immer, es müsste knistern oder leise rieseln wie Kalk im Gebälk oder kleine Wölkchen von Rauch oder Asche um sie aufsteigen. Konnte man das Rieseln des Sandes im Uhrglas hören? Es war nichts zu hören und zu sehen, so wie man es bei ihrem Anblick erwartete. Dass nicht eintraf, was man erwartete, das machte den Schrecken aus. Das erinnerte mich an die grauenvollen Tage mit einem Scirocco in Sizilien, der einen fast um den Verstand brachte, weil er trotz allen Tosens des Meeres, Rasens durch die Dorfstraßen, Klapperns aller Gartenmöbel, des Fensterlädenrüttelns und Heulens um die Häuser und die niedergedrückten Bäume keine Erfrischung und Abkühlung brachte, wie wir es sonst von Winden gewohnt sind, sondern im Gegenteil noch mehr Hitze und Schwüle aus der Sahara.

Wirklich zu bewundern war Marens Organisationstalent; mehrmals pro Woche schaffte sie es, einen Friseur aufzusuchen – im Hotel Excelsior, De Luxe, Grand? – und mehrmals Stil und Länge ändern zu lassen, so deutlich, dass beim Abendessen im Speisesaal anfangs von nichts anderem die Rede war, manchmal ausgesprochen und laut, manchmal wie ein Raunen. Diese oberösterreichischen, salzburgerischen und kärntnerischen Ko-Gebietskrankenkassenkurempfänger gingen mit Marens pronounciertem Piefketum humorvoll und locker um. Mehrmals habe ich sie Mariedl oder Mitzi, Madl, kum her do, rufen gehört. Maren war auch an anderen Tischen begehrt, sie wechselte oft kreuz und quer über die Gänge hinweg oder stand in der Mitte und machte Konversation nach jeder Seite.

An meinem Tisch dagegen ging es fast so ruhig zu wie in einem Trappistenkloster; Nikola lächelte ewig aus seinem schief geneigten Kopf und schwieg wie ein Fisch, Petra und Kurt waren damit beschäftigt, das Essen zu genießen, andächtig und langsam, sie schoben einander unauffällig die Leckerbissen zu, sie zelebrierten die gemeinsamen Mahlzeiten. Beide sind Zwei-Schichtarbeiter und haben einander höchstens an Wochenenden. Mir gefiel besonders, dass sie sich vor dem Zulangen immer an die Hände fassten, kurz in die Augen schauten, auf den Mund küssten und „an guatn“ wünschten. Das kenne ich von oberösterreichischen Katholiken. Petra hat auf ihrem Handy nicht nur ihre Kinder und Enkelkinder vorzuzeigen, sondern auch die kleine Hauskirche auf ihrem Grundstück, die seit 1856 im Besitz ihrer Familie ist. Erst vor Kurzem wurde der Glockenturm erneuert; ihr 78-jähriger Vater kletterte auf das Dach und hängte eigenhändig die von ihm renovierte Glocke auf. Fenster und Mauern brauchen noch etwas Arbeit – alles zu sehen auf den am Handy vorgezeigten Fotos. Die Freizeit verbrachten sie jeden Tag in der Felsentherme, abends gingen sie manchmal tanzen. In den Bergen oder auf meinen Ortsstreifzügen durch Hofgastein traf ich sie nie.

Maren, die Deutsche, war vom Aussehen und Auftreten her die auffälligste Person in unserer Kurschicht. Ich wunderte mich: Sie musste, um dorthin zu gelangen, eine österreichische Krankenkasse, also eine österreichische Arbeitsgeschichte haben. Bei der Ankunft habe ich mitbekommen, dass sie ihre Tochter aus Reutte in Tirol hierher gefahren hat, mit dem Auto, meine Tochter bleibt eine Nacht, ihre zwei Kinder sind in Betreuung, im Raucher-Pavillon sehe ich kurz die Tochter, die nie mit ihrer Mutter spricht, sondern nur an zwei Handys mit ihrer Firma, ja, ich bin morgen Mittag wieder da.
Ich kam mit der Bahn an und bekam ein Taxi-Shuttle zum Kurhotel. Ihre Tochter lud drei Riesenkoffer mit dicken, silber umfassten Zippverschlüssen und Schnallen, und zwei lederne Reisetaschen aus dem Auto, daneben noch zwei kompakte Schönheitskoffer, Marke Samsonite, kenne ich, hatte sie früher auch.

Den Raucher-Pavillon besuchte ich nie wieder, ich hatte ja mein Einzelzimmer mit der sonnigen Loggia, mit prächtigem Ausblick auf die tief verschneiten Tauern, den Graukogel, den Kreuzkogel und den Stubenberg, und ein kleines Stück nach links auch noch hinunter ins Tal von Hofgastein. Vor mir lag die Eisenbahn mit dem Bahnhof. Der Blick auf das Bahnhofsgebäude selbst war verdeckt von der gläsernen Brücke über die Gleise und die Straße, aber ich konnte die aus dem Tauerntunnel einfahrenden Züge sehen. Vor allem aber hören. Trotz der meterhohen Schallmauern war ihr Lärm enorm, oder sie verstärkten ihn noch mit ihrer Trichterform, vor allem die langen, schwer beladenen Lastzüge, die Tag und Nacht über den Tauernpass und durch die Schlucht von Bad Gastein donnerten. Donnern war das eine, das andere war ein langgezogenes und durchdringendes Quietschen, eben die Bremsen. Das Gefälle vom Böckstein-Tunnel her war groß, die Strecke gewunden, und die Züge mussten bremsen. Tonnenschwere Waggons mit Baumstämmen, Containern, Lastwagen – die rollende Landstraße. Immerzu musste ich an verzogene Containertürme, an verrutschte Baumstämme und schiefliegende Lkw denken.

Am ersten Abend fürchtete ich, ich würde kein Auge zudrücken können. In welche Lärmhölle hatte mich die Krankenkasse geschickt? Ich, die immer schon in einem ruhigen Wiener Hinterhof ohne lautere Geräusche als das Amselflöten wohne! Aber ein Wunder geschah. Ich schlief am ersten Abend schon um acht Uhr ein und mit nur einer Unterbrechung acht Stunden lang! Wundersam, ohne Albträume! Ohne jedes Hilfsmittel! Ich integrierte die Geräusche erstaunlich schnell in die Tage und Nächte und überließ mich fast wohlig dem Mahlstrom des Kuralltags.
Zug-, Flucht- und Tunnelträume, von Reisen in Kutschen mit wild gewordenen Pferden, von entgleisenden Hochschaubahnen und umstürzenden Einbäumen habe ich immer schon gehabt, so lange ich mich erinnere. In meinem vegetativen Baby-Zustand blieben die Nachtmahrfilme aber vollständig aus.

Die Anstaltsärztin Dr. Anna Maria Stampfl, eine kluge und praktische Frau, der ich von diesem Wunder erzählte, erklärte es mit der Höhenlage Bad Gasteins von 1066 Metern und damit, dass wir eben Menschen seien und nicht Automaten, da ist alles möglich. Vollends nahm sie mich für sich ein, als sie am Ende ihres Einführungsvortrages die Frage an das Publikum stellte, welche außermedizinischen Faktoren denn zur Gesundung beitragen würden? Die Kurgäste, die nicht an das Frage-Antwortspiel gewohnt waren, schwiegen, bis ich in die Stille hinein sagte: positiv denken. Frau Dr. Stampfl strahlte über den ganzen Körper und verdeutlichte es noch: jeden Tag dankbar sein und am Abend daran denken, was alles gut war. Da musste ich mich nicht umgewöhnen und war heftig an meine Großmutter erinnert, die auch nach diesem Wahlspruch gelebt hatte. Ich traf die Frau Doktor dann nur noch einmal, bei der Palmprozession vom Hauptplatz in die katholische Kirche St. Primus und Felizian, bewehrt mit einem großen, bunt geschmückten Palmbuschen.

Der ärztliche Leiter des Sanatoriums, das sich nicht so nannte, sondern nach dem Begründer Wetzlgut, war Dr. Simeon Marteanu, ein gebürtiger Rumäne. Anamnese und Erstuntersuchung führte er so, wie ich mir eine Armeeeinberufung vorstelle. Ausziehen bis auf die Unterhose, Arme zur Seite, nach vorne, nach hinten, Fingerspitzen, wenn möglich, bis auf den Boden, Rumpf beugen, drehen links, rechts, auf die Waage und Blutdruckmessen. Bei den Männern wäre noch der unverzichtbare Griff unter die Hoden dazugekommen, auf dem Pferdemarkt noch der Blick ins Gebiss. Mein Vertrauen verlor er aber trotzdem, weil er mir auf die Schilderung meiner Verdauungsprobleme riet, Bananen als Diät zu essen, von Käse zu lassen und Zigaretten zu meiden. Das widersprach so sehr allem Wissen und meinen Gewohnheiten wie wahrscheinlich die Null-Diät in rumänischen Waisenheimen zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft beigetragen hat.

Auch ohne den Herrn Doktor muss ich etwas länger beim Essen verweilen, weil es sehr schnell zum Hauptthema dieses Kuraufenthaltes wurde. Nicht nur, weil der Tag hauptsächlich nach den drei Mahlzeiten gegliedert war – Frühstück von dreiviertel sieben an bis neun Uhr, Mittagessen um Punkt zwölf Uhr, Abendessen um halb sechs. Gleich nach dem ersten Tag bestellte ich prinzipiell die Suppe vor dem Mittagessen ab, das Dessert bekamen Gabi und Günter, und stornierte das Abendessen. Ich legte mir im Zimmerkühlschrank ein kleines Vorratslager an: eine Packung Pumpernickel, einen Block Magerkäse, Nescafe-Briefchen, Kräutertees, Käsechips und hartgekochte Ostereier. Vom Frühstücksbuffet schmuggelte ich Schüsselchen mit Obstsalat und Gemüse ins Zimmer, damit ich versorgt war, sollte abends Hunger aufkommen. Obwohl ich praktisch für jeden Tag das vegetarische Menü angekreuzt hatte, dürfte ich doch anfangs zu viel Fleisch und Wurst zu mir genommen haben, was ich von zu Hause nicht gewohnt war. Wahrscheinlich lag das Problem aber bei den Fetten, mit denen in der Kurküche gekocht wurde, die meine Gedärme nicht vertrugen. Sie begannen zu streiken und gaben fast nichts mehr von sich. Als ich das erkannte und die Notbremse zog, war es zu spät. Links, im absteigenden Dickdarm lag der tote Hund und wollte mich nicht mehr verlassen.

Die Schmerzen, wegen der ich die Kur angetreten hatte, wurde ich ziemlich schnell los, zuerst die auf der linken Seite der Lendenwirbelsäule, in der zweiten Woche auch die bis ins Knie ausstrahlenden Beschwerden auf der rechten. Also war der Kurzweck erfüllt, und ich freute mich schon auf die vermehrten schmerzfreien Spaziergänge. Da machte mir aber der Dickdarm einen Strich durch die Rechnung. Seit sich die Schmerzen in der Lendenwirbelsäule verflüchtigt hatten, begann der tote Hund so zu schmerzen, dass ich manchmal nicht aufstehen und gehen konnte. Ich hatte den Teufel mit Beelzebub ausgetrieben. Ich hatte mir für die Ischias-Schmerzen einen Morbus Crohn eingehandelt.
Den Stabsarzt konsultierte ich nicht mehr, sondern traktierte mich weiter mit den Hausmitteln, den bitteren Kräutertees, dem Joghurt, Dörrpflaumen, Sauerkraut und Schwarzbrot. Das mit Radon versetzte Heilwasser trank ich schon eimerweise, obwohl es in der Empfehlung hieß, man solle, je nach Körperbau, nicht mehr als einen halben bis einen Liter pro Tag zu sich nehmen. Meine Mahlzeiten schob ich immer häufiger zur Gänze meinen Tischnachbarn zu, Petra war überschlank und vertrug die doppelte Menge, der ohnedies rundliche Kurt aß alles gerne und ohne schlechtes Gewissen, und Petra ließ ihm sein Vergnügen und wünschte ihm immer lachend „an guadn“ – eine tolerantere Ehefrau habe ich noch nie erlebt.

In der dritten Woche kam für mich von unerwarteter Seite die Erlösung. Ich hatte privat eine Lymphdrainage gebucht – eigentlich eine Schönheitsmaßnahme – und erzählte der Therapeutin von meinem Leidensweg. Sie verabreichte mir eine Darmmassage und ertastete tatsächlich den ausgebeulten Dickdarm, den sie dann nicht mehr in Ruhe ließ. Nach einer zweiten und dritten Behandlung in den folgenden Tagen begann sich etwas zu bewegen, zu glucksen und zu rutschen, und dann verbrachte ich den Rest des Tages und die Nacht in meinem Badezimmer mit befreienden Sitzungen.
Die Kur, ein doppelter Erfolg! Nicht nur hatte ich die mitgebrachten Schmerzen besiegt, sondern auch das in der Anstalt eingefangene Leiden.

In der Freude und dem Übermut über die Genesung machte ich mich am vorletzten Tag zu einer Wanderung nach Alt-Böckstein auf, um den Heilstollen zu besichtigen. Ich wollte mich dort nicht behandeln lassen, sondern hatte nur eine touristische Schnuppertour gebucht. Als sich die Besucher vor dem offenen Bähnlein sammelten, sah ich unter den Wartenden auch den gesamten Nachbartisch mit Sabine, Silvia, Walter, Hermann und Maren samt der Lach- Gitti. Kurzes Begrüßen, und wir verteilten uns in den Waggons.
Das Angebot sah auch ein Glas Sekt vor und ein Überraschungsgeschenk – es war in ein Fläschchen Zirbenschnaps und ein Gesteinsbrocken in einem hübschen Leinensäckchen mit aufgestickten Zirbenbockerln. Die Besucherbahn lief auf schmalen Schienen wie ein Ariadnefaden in den Berg hinein und drehte ihre Runden durch die verschiedenen Verzweigungen des Heilstollens, vorbei an den auf Liegen ruhenden Patienten, die sich und ihre Leiden den Radon-Strahlen aussetzten. Am Scheitelpunkt hieß es aussteigen, und es wurde eine kurze Informationsveranstaltung mit Film angeboten. Mir war gar nicht wohl, entweder war es die Schwüle und Feuchtigkeit im Stollen, die mir Herzrasen bereiteten, oder ich war schon zu sehr mit meinem eigenen Radon angereichert, oder es war meine lebenslange Abneigung gegen Tunnels, Höhlen und dergleichen unterirdische Räume. Immer war mir bewusst, dass dies nicht mein ureigenstes Element war, eher die Erdoberfläche, das Wasser und von mir aus auch noch die Luft. In einem anderen Leben würde ich sicher eher Vulkan- als Höhlenforscherin werden. Ich entfernte mich von der Gruppe und bestieg schnell den nächsten zur Rückfahrt wartenden Zug. Fast im Laufschritt stürzte ich den Wanderweg aus dem Anlauftal hinaus, rastete mehrmals am Ufer der jungen Gasteiner Ache, fühlte nach meinem rasenden Puls und nahm den Postbus bis zum Sanatorium. Ich kam erst zum Stillstand, als ich mich in Nummer 662 auf das Bett fallen ließ.

Ich musste eingeschlafen sein, weil ich noch mit dem Horrorgefühl aus dem Stollen aufwachte. Wie immer hatte ich mich vom Abendessen abgemeldet, aber es klopfte an der Tür, was noch nie geschehen war, außer am Morgen, wenn die Putzfrau wissen wollte, ob sie das Zimmer betreten dürfe. Es war mehr ein Pochen, Trommeln oder ans Tor Schlagen. Aber es war nicht meine sanfte Gordana, sondern die Rezeptionistin und hinter ihm der Anstaltsdirektor, Herr Kurt Primsacker persönlich, etwas aufgelöst, wie mir schien, er, der immer nur korrekt und in alpiner Edel-Haute Couture gestylt auftauchte, mit fliehender Stimme, zerwühlten Haaren und verrutschtem enzianverzierten Leinentüchlein im Hemdausschnitt.
– Frau Magister, sind Sie da? Wo sind die anderen?
– Warum nicht da? Ich bin da. Welche anderen? Ich war sicher noch zu traumverloren oder radonvergiftet und verstand nichts.
– Bitte, kommen Sie herein.
Die Rezeptionistin zog sich zurück, und der Direktor betrat mein Zimmer, das ich zum Glück aufgrund meiner notorischen Ordentlichkeit wie immer im Zustand der Unbewohntheit hinterlassen hatte.
Sie tuan kuren, ich putzen, Sie nix aufräumen tuan, fiel mir die stets mahnende Gordana ein.
– Sie sind nicht zurückgekommen, haben Sie sie gesehen?

Ich setzte mich auf und versuchte mich zu sammeln. Ein Großteil der zweiten Schicht, die nach uns die Mahlzeiten einnahm, waren Privatpatienten, die sich im Stollen einer Behandlung unterzogen. Ich sah sie jeden Morgen sich vor dem Haupteingang versammeln, wenn sie mit dem Bustaxi abgeholt wurden. Einige von ihnen hatte ich auf meiner Schnupperfahrt durch die Stollen erkannt, obwohl sie dort in Badebekleidung oder unter Handtüchern auf den Betten lagen. Manche hatten dem Besucherzug zugewinkt und dann wieder ihre wunden Körper hoffnungsvoll der heilsamen Strahlung aus dem Fels zugedreht.
– Haben sie das Taxi versäumt oder ist das Taxi nicht gekommen? Direktor Primsacker schüttelte den Kopf und fuhr sich mit beiden Händen durch die ohnedies schon zerwühlten Haare. Die gepflegte silberne Mähne, fast so lang und voll wie die seines hübschen, blond gelockten Sohnes, der manchmal an der Rezeption praktizierte, stand ihm vom Kopf, und er wischte sich mit einem aus dem Grobleinensakko gezogenen Taschentuch die schweiß- glänzende Stirn. Er war in größter Aufruhr, und ich musste mich erst sammeln und die Stollenbilder vertreiben.
– Frau Magister, bitte, was haben Sie gesehen?
Erst langsam wurde klar, dass die Gruppe vom Siebener-Tisch plus Tiroler-Gitti nicht in die Anstalt zurückgekommen war.

Der Direktor schlug vor, er bat mich überschwänglich darum und flehte geradezu, dass wir zur Rezeption gehen sollten, dort hätte er alle Telefone und vielleicht auch andere Augenzeugen zur Verfügung. Da erst bemerkte ich, dass ich die Bergschuhe zu meinem Schlummer nicht ausgezogen hatte. Der Empfangssaal neben der Rezeption glich einem Bienenstock, die erste Schicht des Abendessens war versammelt, dazu noch die Hausarbeiter und einige Taxifahrer. Alle sprachen durcheinander, der Lärmpegel war erheblich. Ich suchte mir einen Platz in der Ecke, wo ich meine Zeitungen zu lesen pflegte. Unwillig rutschten die Leute zur Seite und schauten auf den Boden. Ich spürte es körperlich, dass sie mich für irgendetwas schuldig hielten, eine Energie der Aggression. Der Direktor baute sich auf den Stufen auf, verschaffte sich mit Händeklatschen Gehör und stellte die momentane Situation klar:
– Sechs Kurgäste sind bis jetzt aus dem Stollen nicht zurückgekommen, wer etwas dazu weiß, soll es sagen, bitte. Das ist noch nie vorgekommen. Aber es wird sich alles erklären lassen und lösen, meine Damen und Herren! Bitte, Ruhe bewahren.
Der Direktor selbst zeigte aber ein gegenteiliges Bild, er zupfte abwechselnd an seinem Halstuch und an seiner Haarmähne herum, die Bartstoppeln an seinem Kinn schienen in doppelter Geschwindigkeit zu wachsen.

Es fing ein Taxifahrer an, der die Leute in einem Kleinbus um zwei Uhr hingefahren hatte und um vier Uhr dreißig wieder abholen sollte, so wie es bestellt war. Aber sie kamen nicht. Er wartete und rief die Rezeption an, ob sich etwas geändert hätte. Nein.
Der Mann erinnerte sich, dass sie etwas später vom Wetzlgut abgefahren seien, weil eine ältere Dame etwas vergessen habe und noch einmal auf ihr Zimmer zurückgelaufen sei, aber später als vierzehn Uhr zehn sei es nicht gewesen, als sie losfuhren, das hat er auf der Zeitanzeige gesehen neben dem Lenkrad. Zwanzig Minuten Autofahrt bis zum Stollen, mehr nicht. Sie sind am Parkplatz ausgestiegen, sie haben noch geraucht, dann sind alle gemeinsam rein. Mehr weiß er nicht, er hat umgedreht und ist zurück auf seinen Standplatz vor dem Bahnhof. Die Rückfahrt hat ein Kollege übernommen. Der ist gerade nicht da, weil er eine Tour hat, er kann keine auslassen, muss verdienen, er hat vier Kinder. Da polterte es in den Eingangstüren, Polizei- und Bergwachtpersonal, Feuerwehrleute und die üblichen Flugretter betraten die Stube, martialisch die einen wie die anderen, wenn auch unterschiedlich kostümiert.
Lange ging es hin und her mit den Befragungen, auch ich kam dran, aber ich konnte nicht mehr aussagen, als dass sie mit mir reingefahren waren, ich sie aus den Augen verloren hatte und dann wieder raus bin. Wir waren ja auch nicht gemeinsam als Gruppe hingekommen. Die Polizei nahm meine Aussage auf und ließ mich weiter in Ruhe. Ein alter Tiroler neben mir murmelte:
– Der Berkh hots gholt und gibt sie nimma her. So sans, die Berkg.
Er muss einmal Volkskundler gewesen sein.

Eine Asthmatikerin, die schon seit vielen Jahren in den Stollen fährt, wollte wissen, dass der Berg sich selbst versiegelt, er verschließt seinen Bauch.
Und die sichtbar an schrecklicher Psoriasis leidende Nachbarin unterstützte sie:
– Ja, er rutscht jedes Jahr in sich zusammen, um ein bis zwei Zentimeter, so viel wie Fingernägel wachsen. In vierzig Jahren hat sich der Stollen selbst verschlossen.
Andere unterhielten sich über die Möglichkeit, ob sie vielleicht von Grubenhunten verschleppt worden seien.
Der weit fortgeschrittene Morbus Bechterev machte es der Schweizerin mir gegenüber unmöglich, ihren Blick gegen Himmel zu richten, aber zumindest ihre verkrüppelten Arme konnte sie noch leicht in die Höhe strecken:
– Ein Wunder ist geschehen, sie haben die Grenze überwunden und sind im Paradies.
Sie schien eine überirdische Vision zu haben, vielleicht die Erlösung von ihrer Krankheit.
Mit Ekstase in der Stimme setzte sie noch eine apokalyptische Drohung hinzu:
– Verflucht sei, wer mir nicht glaubt.
Nüchterner dagegen ließ sich der alte Volkskundler noch einmal vernehmen:
– Dös sein sicha die totn Berkhleit vom Goldstollen gwen, hiazt tuan sa si rächan, denan entkommt niemand.
Das waren freilich Aussagen, mit denen die Polizei nicht viel anfangen konnte, gehörten sie doch in den Bereich des vergriffenen Buches „Sagen und Märchen aus dem Gasteinertal“.
Der Fall wurde nach Wochen als ungelöst abgeschlossen im Archiv abgelegt. Nach anfänglich regem Interesse vergaßen ihn auch die Medien bald.

Nur eines war auffällig, aber niemand verfolgte das weiter oder brachte es in Zusammenhang mit den sechs Verschollenen. Im Telefonhäuschen vor dem Polizeiposten von Mallnitz-Obervellach, wo der Tauerntunnel nach Kärnten mündet, klingelte es einige Male. Wenn der Kommandant abnahm, war nur ein Hauchen zu hören, ein Keuchen und Kratzen wie von Raucherhusten, verstümmelt, zerbrochen und abgerissen. Lausbuam, verflixte, murmelte er und schüttelte den Kopf.
Als im nächsten Frühjahr rund um das Telefonhütterl sechs junge Zirben aus dem Boden sprossen, dachte schon lange niemand mehr an das Geheimnis des Stollens.

Strange events permit themselves the luxury of occuring.
Charly Chan

31. 4./1.5.17

Veronika Seyr
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Frieden III

Die U-Bahn fährt weiter,
ich mit ihr,
Sie erscheinen nicht mehr in Schwarz,
Schwarzer Schleim und Tentakel
schlummern unter Gleisen,
Pflege des Unkrautes,
Der Gärtner hatte verschlafen
Lichtröhren beleuchten den Wagon,
Farben sehen,
Fühlen,
Beton und Stromleitungen,
danach immer eine Station,
Irgendwann kommt das warme Zuhause,
Voller Tag,
Bilder sind vorbeigezogen,
er singt ihnen Lieder,
statt sich an den kalten Schweiß
in den Händen zu klammern,
Denn Freunde, eure Liebe
ist schön

Florian Pfeffer

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