Am größten ist aber die Liebe

1. Korinther 13:13

(Über Wassilij Pawlowitsch Axjonow,* 20.8.1932 in Kazan, +2009 in Santa Monica, und seine Mutter Jewgenia Ginsburg
20.8.17 Geschichte zu schreiben begonnen, an seinem 85. Geburtstag (Zufall?) bis zum 22.8. 2017,
Kirill Serebrennikow, Regisseur, Jude, schwul, in St. Petersburg verhaftet.
Verhaftete Bücher - Vorgänger: Dr. Schiwago von Pasternak, Leben und Schicksal von Wassilij Grossmann, Archipel Gulag von Solschenizyn, Ermordung von Meyerhold und Michoils und vielen anderen)

Jewgenia Ginsburg und Pavel Axjonow feiern gerade den vierten Geburtstag ihres Sohnes Wassilij auf der Datscha bei Kasan. Der 20. August 1937 ist ein warmer Sommertag, aber der Wind schickt schon einen kalten Hauch aus der Steppe von jenseits der Wolga herüber. Jewgenia hat Ferien vom Pädagogischen Institut, Pavel, der Parteiarbeiter, bekommt eine Woche Urlaub. Wie alle Datschen in den Vororten besaß das Holzhäuschen am Steilufer einen kleinen Garten, in dem Jewgenias Schwiegereltern Paradeiser, Gurken, Bohnen, Karotten, Kraut Kartoffeln und Kräuter zogen. In einer Ecke hinter dem Schuppen wuchs ein zerzauster Vogelbeerbaum. Für mehr war nicht Platz in dem Zehn-Quadatmeter-Gärtchen. In der schönen Ecke der Stube hingen eine Ikone und das ewige Licht, die Mutter trug in ihrem Gebetbuch ein Stalin-Bild, das sie so küsste wie die Ikonen. Sie hielten eine Ziege, drei Hühner und einen zugelaufenen Straßenhund, den Pawlik. Pawlik war von Anfang an Wassilijs Beschützer und Gefährte gewesen. Wasjas großer Bruder, scherzten die Erwachsenen, oder seine njanja, die Kinderfrau. Er wird einmal ein Puschkin, weil der hatte ja auch seine „nounou“, die Ariana Rodionowna. Pawlik benahm sich so wie eine Hundemutter gegenüber ihren Jungen. Schon neben dem Säugling saß er stundenlang und bewachte seinen Schlaf. Als Wassilij laufen lernte, stupste der Hund ihn an, wenn er umfiel, leckte er ihm das Gesicht, wenn er weinte, begleitete ihn auf Schritt und Tritt durch das Gärtchen und war für jedes Spiel zu haben.
Wenn die Eltern das Kind durch die Wolga-Auen ausführten, lief der Hund in treuer Ergebenheit hinter ihnen her, Pawliks Familie. Er selbst war Waise, und Straßenjungen hatten ihm mit einem Stein das Auge eingeschossen.
Auch lahmte er ein bisschen auf dem linken Hinterbein, die Schwanzhaare waren abgebrannt und wuchsen nicht nach.

Genia und Pawel waren beide glühende Kommunisten und Aktivisten in der Partei, Pawel sogar im Stadtkomitee für Wasserwirtschaft angestellt.
Trotzdem konnten sie es nicht lassen, den Hund insgeheim Batjuschka - Väterchen zu nennen, kicherten dabei und meinten damit Stalin. Pawliks eines Auge war gelb, und unter seiner Schnauze stand ein buschiger Schnurrbart. Er war, gelinde gesagt, hässlich wie eine Sturmnacht. Aber treuer und liebevoller als Pawlik konnte niemand sein. Er ist wie unsere Partei, flüsterten die Eltern, wenn sie allein waren.
Wenige Tage nach Wassilijs Geburtstag werden beide Eltern von der Staatssicherheit verhaftet. Jewgenia wird wegen „trotzkistischer Umtriebe“ zu zehn Jahren Gulag verurteilt und zu anschließender ewiger Verbannung; vom Vater verliert sich sofort jede Spur, er ist im stalinistischen Räderwerk zermahlen worden. Der Vierjährige kommt zuerst nach Kostroma in ein Heim für Kinder von Volksverrätern, später können ihn die Großeltern zu sich nach Kasan holen. Nach fast zwölf Jahren, 1948, gelingt es Jewegnia, den Sohn in ihr Verbannungsgebiet von Magadan im äußersten Osten der Sowjetunion nachzuholen. Ihr erster Sohn war während der 900-tägigen Belagerung in Leningrad verhungert. Als die Mutter bei der Ankunft ihres überlebenden Sohnes zu weinen anfing, flüstert er ihr zu: „Weine nicht vor denen.“

So beschreibt sie später die Wiedersehensszene in ihrem Erinnerungsbuch „Gratwanderung“. Wassilij bleibt zwei Jahre bei ihr, beendet die Schule und geht dann zum Medizinstudium nach Kasan. 1949 setzt Stalin die Verhaftungswelle gegen jüdische Ärzte in Gang, Genia, die inzwischen im Lager einen deutschen Arzt geheiratet hat, gerät in den letzten Stalin‘schen Wahn, der erst durch dessen Tod im März 1953 beendet wird. Als die Staatssicherheit die Mutter verhaften will, stellt sich der Siebzehnjährige vor die Schergen und sagt:
„Ich habe schon mit vier Jahren weder Vater noch Mutter gehabt, und jetzt, wo es mir endlich gelungen ist, meine Mutter wiederzufinden, wollt ihr sie mir wegnehmen.“ Die Mutter wird abgeführt, aber der KGB-Oberst, dem die Worte mitgeteilt worden waren, lässt die Mutter frei.
Der Oberst zu Jewgenia Ginsburg:
„Ein erstaunlicher Junge, Ihr Sohn. Ich habe auch so einen, in diesem Alter. Aber ich weiß nicht, ob er für seinen Vater in der Situation dasselbe tun würde. Schauen Sie, so hat jedes Unglück auch seine gute Seite. Jetzt wissen Sie wenigstens, wie sehr Ihr Sohn Sie liebt.“

In ihrem ersten Erinnerungsband „Marschroute eines Lebens“ beschreibt sie diese Szene.
1955 wird sie von Chruschtschow rehabilitiert und darf nach achtzehn Jahren ihren Verbannungsort verlassen. Für Heinrich Böll, der sie in Moskau besucht, ist sie „ein weiblicher Hiob, ein Lazarus, ein Odysseus auf den Irrfahrten zwischen einigen Höllen und einigen hingetupften Himmeln“.  Er schreibt das Vorwort für die „Gratwanderungen“, das kurz nach ihrem Tod bei Mondadori erscheint. Über den Besuch ihres Sohnes in Magadan schreibt sie:
„Ich bekam Herzklopfen vor freudiger Erregung, als er in der ersten Nacht begann, mir Gedichte vorzutragen, die für mich in all den Lagerjahren Leben, Sterben und wieder Leben bedeutet hatten. Wie für mich war auch für ihn die Poesie der Schutz vor den Härten der Realität. Die Poesie war seine Art, Widerstand zu leisten. Bei diesem ersten nächtlichen Gespräch waren Blok, Pasternak, die Achmatowa dabei. Und ich freute mich, dass ich im Überfluss von dem besaß, was er von mir bekommen wollte.“
Und der Sohn zu seiner Mutter:
„Jetzt begreife ich, was das heißt: eine Mutter ... Ich begreife zum ersten Mal … eine Mutter … das ist vor allem Selbstlosigkeit. Und dann … und dann noch dieses: Ihr kannst du deine Lieblingsgedichte aufsagen, und wenn du steckenbleibst, setzt sie fort, wo du aufgehört hast.“

Seine Mutter und der deutsche Arzt Anton Walter überredeten ihn, Medizin zu studieren, weil sie beobachtet hatten, dass Ärzte im Gulag eher überlebten als andere Menschen. Sie dachten weit voraus in seine Zukunft, konnten sich aber für den Sohn eine Welt ohne Lager gar nicht vorstellen. Ganz knapp vor Stalins Tod im März 1953 wurde er als Sohn von „Volksschädlingen“ von der Uni Kasan relegiert. An der zweitältesten Universität Russlands hatten schon der Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoj und ein gewisser Uljanow studiert, der wegen revolutionärer Umtriebe rausgeworfen worden war.

Später darf Axjonow in Leningrad zu Ende studieren und wird für zwei Jahre Arzt. Aber die Literatur lässt ihn nicht los. Er nützt das kurze kulturelle Tauwetter unter Chruschtschow und holt die ganze westliche Literatur nach: Kafka, Faulkner, Hemingway, Robbe-Grillet. Dann beginnt er selbst Erzählungen zu schreiben, sie werden gedruckt, und er wird zum neuen Jugendidol. Er benutzt den Slang der Jugend, lässt seine Helden gammeln, durch die Welt ziehen und huldigt westlichen Moden. Er ist der sowjetische Beatnik der 60er-Jahre, repräsentierte wie kein anderer das Lebensgefühl der Jugend, er war beliebt und populär wie sonst nur noch Jewtuschenkos Lyrik. Dann bekommt er Schwierigkeiten wegen seiner „bourgeoisen Haltungen“ und wird aufgefordert, sich nicht dem „entarteten Typus der Jugend“ zu widmen. Er kommt aber glimpflicher davon als sein Chefredakteur bei „Junost“ (Die Jugend) Valentin Katajew, der abgesetzt und nach Nowosibirsk strafversetzt wird, damit er „das echte Sowjetleben kennenlernt“.

1968 erscheint sein erster ernstzunehmender Roman „Brandwunde“ (Oschog), was man übersetzen müsste, wie es sich anfühlt, in brennender Haut zu stecken.
Während der Okkupation der CSSR verirrt sich ein sowjetischer Panzer nach Italien und bleibt im Touristenverkehr stecken. „Bösartiges Gesudel“ schreibt die Korrespondentin der Literaturnaja Gazeta aus Prag.

Dann wird es ruhiger um Axjonow, bis er 1978 mit anderen Autoren wie Andrej Bitow, Fazil Iskander und Viktor Jerofejew den Literatur-Almanach Metropol im Samizdat herausbringt, der in der Sowjetunion verboten, im Westen nachgedruckt wird. Jetzt geht es Schlag auf Schlag: Ausschluss aus dem Schriftstellerverband und dem Verband der Filmschaffenden, zuerst Ausreiseverbot nach Cannes, um Andrej Tarkowskis „Stalker“ zu begleiten, dessen Drehbuch Axjonow geschrieben hatte, dann Ausweisung und Aberkennung der Staatsbürgerschaft. Am Flughafen entdecken die KGBler eine Bibel in seinem Reisegepäck, die sie ihm abnehmen wollen. Seine Frau kann die Staatsschützer überzeugen, dass von der Ausfuhr einer Bibel keine Gefahr für den Sowjetstaat ausgeht. So dürfen sie sie behalten und sie liegt seither im Regal in Santa Monica. „Der religiöse Mensch weiß, dass er glaubt. Der Marxist glaubt, dass er weiß. Das ist das Unglück der Marxisten.“

Im ersten Exil-Roman „Die Insel Krim“ rechnet er mit der Sowjetunion ab. Die Halbinsel trennt sich 1920 vom Festland ab und beschließt, weiterzuleben wie im alten Russland, ohne die bolschewistische Zäsur. Die Insulaner leben lange gut, reich, glücklich und gottgläubig, bis sie alles verspielen. Sie wollen alles haben, auch eine Ideologie wie das große Nachbarland. Eine kleine Gruppe von Intellektuellen putscht und führt den Bolschewismus ein. So kommt der Terror auf die Krim und vernichtet alle. Eine erschreckend weitsichtige Zukunftsvision. Die Annexion der Krim durch Putin im März 2014 hat der 2009 verstorbene Axjonow nicht mehr erlebt.

Aber wie mussten die Worte seiner Mutter in ihm gebrannt haben, mit denen sie das Aufzeichnen ihrer Lebenserinnerungen begründet:
„Ich habe mich bemüht, alles im Gedächtnis zu bewahren, in der Hoffnung, es eines Tages jenen guten Menschen erzählen zu können, jenen echten Kommunisten, die mich irgendwann gewiss, ganz gewiss anhören werden.“

Diese guten Kommunisten haben ihn gerade aus dem Land geworfen.
So hat sie den Sohn „in brennender Haut“ zurückgelassen und mit seinem eigenen Ratschlag: Weine nicht vor denen.

20.8. 2017, an Axjonows 85. Geburtstag

Veronika Seyr
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