Von Göttinnen und Hausfrauen

Unruhig glitt ihr Blick zur Uhr an der Wand. Nicht mehr lange. Jeden Abend beendete dieses eine Geräusch den Tag und die Hölle brach los. Der Schlüssel drehte sich im Schloss und die Meute ließ alles fallen und rannte, wie eine Herde tollwütiger Wildschweine, zur Eingangstür, um ihren Vater zu empfangen. Er widmete sich freundlich, wenn auch leicht überfordert, seinem überdrehten Nachwuchs, ehe er sich seiner Frau zuwandte und sich nach ihrem Tag erkundigte.
Sie versuchte fieberhaft den Eindruck loszuwerden, dass er sie nur routinemäßig fragte und gar nicht an ihrer Antwort interessiert war. Anfangs hatte sie ihm noch ausschweifend die Wahrheit erzählt, zum Beispiel, dass sie es an diesem Tag schon am Vormittag geschafft hatte, sich die Zähne zu putzen, anstatt erst am Nachmittag oder überhaupt nicht. Sie hatte ihm verraten, dass sie vor Erschöpfung und Verzweiflung eine halbe Stunde auf dem Küchenboden geweint hatte und die Kleinen sie dabei nur verwundert angeglotzt hatten. Er hatte sie nur bestürzt betrachtet und später seiner Mutter berichtet, dass seine Frau wohl etwas überfordert mit der Gesamtsituation sei.
Also zog sie es vor, ihm freudestrahlend von ihrem tollen Tag zu erzählen und die kleinen Erfolge zu feiern. „Heute ist die Windel des Kleinen mal nicht mit Kacke übergegangen, heute hatte die Große nur zwei kleine Wutanfälle, als ich den schwerwiegenden Fehler gemacht habe, die Milch nicht richtig einzuschenken und die Straße an der falschen Stelle zu überqueren!“

Er wirkte zufrieden und begann von seinem Tag zu erzählen und sie lauschte ihm höflich, auch wenn ihre Gedanken immer wieder abdrifteten.
Hatte sie genug Milch eingekauft? Wenn er und die Kinder heute noch übermäßiges Verlangen danach bekämen, würde sich das bis morgen nicht ausgehen. Was könnte sie morgen kochen, irgendwas, was alle gern aßen und darüber hinaus noch gesund war? Nein, so etwas existierte nur in einem weit entfernten Paralleluniversum. Die Wahrscheinlichkeit für eine Pizza mit Nuggets und Pommes-Belag lag höher. Außer natürlich ihr Mann hätte wieder das Bedürfnis, auf seine Figur zu achten, dann durfte es nur Salat mit Putenstreifen sein, was die Kinder nicht mal mit der Kneifzange anfassten. Der Kleine war zwei, die Große viereinhalb und beide so unberechenbar wie Nonnen bei einem Auftritt der Chippendales.

Als sie hörte, dass die Stimme ihres Gatten lauter und seine Gesichtsfarbe dunkler wurde, fühlte sie sich genötigt ein „Boa, du Armer!“, dazwischenzuwerfen, was immer passte, weil er war auch immer so arm und unverstanden in der Arbeit, denn keiner erkannte sein Potenzial und niemand wollte auf seine Verbesserungsvorschläge hören. Sichtlich zufrieden mit ihrer Reaktion setzte er seinen Monolog fort und sie erhaschte aus dem Augenwinkel eine verdächtige Bewegung. Offenbar versuchte die Große, den Kleinen unter einer Mehllawine zu begraben, vermutlich in der Hoffnung, dass nicht einmal der gewiefteste Bernhardiner ihn jemals wieder finden würde. Natürlich hätte sie jetzt aufschreien und versuchen können, dem Ganzen ein Ende zu bereiten, aber das Malheur war längst geschehen und sie waren so angenehm ruhig und beschäftigt. So lange der Junge noch atmete, wollte sie sich nicht einmischen.
Wie war das Mädchen überhaupt an das Mehl gekommen, das war doch im oberen Schrank - ah, sie hatte eine Spielzeugkiste herangeschoben und war hochgeklettert, verdammt cleveres, kleines Biest. In Sachen kriminelle Energie konnte sie wirklich stolz auf ihre Tochter sein, sie würde vermutlich eine steile Karriere in der örtlichen Mafiaorganisation hinlegen. Der Schrecken der Unterwelt, Paula, die Berserkerin. Nein, da müsste es etwas Besseres geben, Paula, die Piratin? Paula, die Prämenstruelle? Oh, Gott, wenn dieses Kind in die Pubertät kam und seinen Hormonen vollkommen ausgeliefert war, würde sie das Land verlassen müssen. Eventuell würde sie ihren Sohn mitnehmen, kam ganz auf seine weitere Entwicklung an, aber letztendlich ... Nein. Im Krieg war jeder sich selbst der Nächste und der kleine Kacker würde sie nur aufhalten. Eine Frage ihres Gatten warf sie aus ihrer Gedankenbahn.
„Äh, Menstruation, Tampons?“, erwiderte sie gekonnt, doch der betretene Gesichtsausdruck ihres Mannes brachte sie wieder zurück auf den Boden der Tatsachen.
„Ich meine, Mozzarella mit Tomaten.“
Er nickte wohlmeinend und sie fühlte sich metaphorisch auf die Schulter geklopft.

Das eine Kind aß nur Mozzarella, das andere nur Tomaten und ihr Mann schlug sich den Magen mit den beiliegenden Butterbroten voll. Also ein Familienessensvolltreffer, den sie unglücklicherweise nicht jeden Tag bringen konnte. In diesem eher unpassenden Moment wandte sich ihr Mann den Kindern zu.
„Monika!“, entfuhr es ihm und das war ihr Name und nicht der ihrer Tochter. Die Anklage richtete sich also gezielt gegen die Mutter und die Verantwortung wurde somit erfolgreich auf sie abgeschoben. Sie seufzte und versuchte nicht ertappt, sondern bestürzt auszusehen, und grub den kleinen Zögling aus dem Mehlberg aus. Was natürlich Schreikonzerte von beiden Seiten zur Folge hatte. Während die Große erschüttert war, ihr Vorhaben nicht zu Ende bringen zu können, war der Kleine untröstlich, dass er die Aufmerksamkeit seiner Schwester nicht mehr genießen durfte.
Nebenbei erkundigte sich ihr Mann, wieso denn das Mehl nicht sicher weggeschlossen worden war. Aus seinem Unterton konnte sie heraushören, dass er Gluten mit Pflanzengift und Handfeuerwaffen gleichsetzte und dass alles in einem Safe mit meterdicken Stahlwänden verwahrt gehörte. In der Mitte dieses Tribunals sitzend, mittlerweile selber mit einer Mehlschicht bedeckt, fragte sie sich, wann sie denn zum Arschloch der Nation ausgerufen worden war. Sie hatte immer die Vorstellung gehabt, dass Arschlöcher ein recht angenehmes Leben führten, da sie sich um nichts und niemanden, außer sich selbst kümmerten und so frei von Verantwortung und Schuldgefühlen waren, aber sie, sie fühlte sich weder frei noch schuldlos. Eher als steckbrieflich gesuchte Berufsverbrecherin.

Nachdem sie die Kinder in die Dusche gepackt und den Boden staubgesaugt hatte, röhrten alle vor Hunger und als sie ihren Mann fragte, warum er denn den Käse und das Gemüse nicht schon vorbereitet hatte, antwortete der, er hatte dabei nichts falsch machen wollen. Mit dem tiefen Wissen, dass ein Kissen aufs Gesicht noch zu gut für ihn wäre, brachte sie das Essen auf den Tisch. Noch bevor sie richtig mit ihrem Teller begonnen hatte, hatten die anderen schon alles hinuntergeschlungen und das Esszimmer in den glitschigen Bodensatz einer öffentlichen Mülltonne verwandelt. Sie stopfte sich noch schnell ein paar Bissen in den Mund, bevor sie das ausgespuckte Essen vom Parkett aufwischte. Der Kleine beschäftigte sich mit seinem Lego, die Große durfte fernsehen und ihr Mann lag auf der Couch und starrte reglos in sein Smartphone, während sein Daumen unablässig von unten nach oben wischte. Für einen Moment beobachtete sie ihn wie hypnotisiert von ihrer Position unter dem Tisch.

Machte er nicht auch immer dieselbe Bewegung, wenn er versuchte, sie in Stimmung zu bringen? Und hatte sie sich nicht schon unzählige Male gefragt, was das eigentlich sollte und schnell selbst die Führung übernommen, bevor sie noch die Lust an der Sache verlor? Sie betrachtete ihn eingehend und wog ab, ob sie ihn wohl heute noch dazu bringen könnte, oben zu liegen. Denn da sie beide von ihrem jeweiligen Tag und der Quälerei, die Kinder ins Bett zu bugsieren, schon vollkommen gerädert waren, stellte sich öfters die Frage, wer den Großteil der Arbeit beim Liebesspiel übernehmen musste. Letztendlich wurde es zu einem Tauziehen, wer gerade größere Lust hatte und wer dabei besser bluffen konnte. Ein Pokerspiel mit hohen Einsatz, sozusagen, denn wenn beide sich blöd genug anstellten, blieben alle unbefriedigt zurück. Nein, er wirkte erschöpft, die Falten um seine Augen waren tiefer und die Ringe dunkler. Das hieß, entweder aus der Puste kommen oder enthaltsam bleiben. Schwere Entscheidung  ...

Glücklicherweise musste sie sich dieser schwierigen Frage nicht mehr stellen, denn als sie den Kleinen ins Bett brachte, ließ der sich nur beruhigen, indem sie sich zu ihm legte. Seine Finger hatten sich in ihren Oberarm gekrallt und bei jedem Versuch sich freizumachen, quakte er lautstark und hielt sie noch fester. Sie hätte ein Exempel statuieren, sich von ihm losreißen und hinausgehen oder wenigstens nur neben dem Bett stehen bleiben können. Aber sie war so erleichtert, dass er endlich still war. Und kaum hatte er aufgehört, sich wie eine Kobra im Sack zu winden, war auch sie eingeschlafen. Als sie aufwachte, dachte sie für einen Moment, sie sei querschnittsgelähmt, doch dann stellten sich nach und nach die nadelstichartigen Schmerzen in ihren Extremitäten ein und sie wusste, sie befand sich im Gitterbett, zusammengefaltet wie ein Akkordeon. Sie glitt mit angehaltenem Atem aus dem Griff ihres Sohnes heraus und schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.

Das Wohnzimmer war dunkel und leer. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr auch warum. Es war 2:30 morgens und sie war hellwach. Verdammt. Morgen früh würde sie fix und fertig sein, was den Tag nicht davon abhalten würde, über sie herzufallen. Resigniert holte sie sich einen Schokoriegel und schaltete den Fernseher an. Wenigstens konnte sie selber über das Programm entscheiden und keiner versuchte, ihr die Süßigkeit zu klauen. Da war es nebensächlich, dass es um diese Uhrzeit nur Dauerwerbesendungen und Wiederholungen von erbärmlichen Scripted Reality Soaps gab. Es war ruhig und niemand wollte etwas von ihr und sie konnte entspannen, sie fühlte sich beinahe als Single in ihrer eigenen Wohnung. Der Gedanke brachte sie zum Lächeln und sie beschloss sich, ein kleines Gläschen Whiskey zu gönnen. Vielleicht auch ein Größeres zur Feier ihrer ungeplanten, plötzlichen Freiheit.

Auf dem Bildschirm pries eine stark geschminkte Amerikanerin mit wallender dunkler Mähne ein Wundergetränk an, mit dem man in kürzester Zeit zehn Kilo abnehmen konnte. Monika prostete ihr zu und murmelte ein „Wer's glaubt, wird selig!“, als ein heller Blitz, gefolgt von einen „Plopp“ sie aufschrecken ließ. Im ersten Moment hatte sie gedacht, dass es einen Kurzschluss, wie schon vor ein paar Wochen, gab. Allerdings hatte sie da ein Messer in den Toaster gesteckt, um ein hängengebliebenes Stück Waffel herauszuholen, und damit sämtliche Sicherungen der Wohnung herausfliegen lassen. Sie war dabei einen halben Meter zurückgeschleudert worden und hatte neben einem gehörigen Schock und leichten Schmerzen eine gute Portion Schamgefühl mitbekommen. Dass sie sich aus reiner Gier beinahe umgebracht hätte, wollte sie ihrem Mann lieber nicht auf die Nase binden.

Aber diesmal war es kein Kurzschluss, der Fernseher lief noch und obwohl das Wohnzimmerlicht kurz geflackert hatte, war es immer noch an. Dafür stand neben der Couch plötzlich eine hochgewachsene, rothaarige Frau in einem grünen Kleid, und hätte sie nicht so verwirrt und verkniffen dreingesehen, hätte man sie auch sicherlich als schön bezeichnen können. Monika warf einen Blick auf die Erscheinung und dann auf ihr Glas. Sie hatte erst einen Schluck gemacht und so gut war der Whiskey nun auch wieder nicht. Die Rothaarige schien sich gefangen zu haben und wandte sich anmutig Monika zu. Ihre grünen Augen ruhten gnädig auf der Hausfrau, als sie sprach: „Ich bin Brigid, Göttin der -“, ein ohrenbetäubender Hustenanfall beendete ihre Ansprache und Monika ließ ihren Blick unruhig Richtung Tür gleiten. Sie räusperte sich zurückhaltend: „Ähm, Entschuldigung, geht das auch leiser? Nicht dass die Kinder aufwachen  ...“
Die Göttin hielt sich mit einer Hand an ihrem Oberschenkel fest, während sie den Zeigefinger der anderen hochhielt, um noch ein paar Sekunden zu bekommen. Schließlich richtete sie sich auf, und während sie sich Tränen aus den Augen wischte, krächzte sie: „Keine Sorge! Du bist die Einzige, die mich sehen oder hören kann!“
„Oh!“, war im Moment alles, was Monika dazu einfiel.
Die Erscheinung räusperte sich ein paar Mal und spuckte dann auf den Boden. Monika hoffte inständig, dass auch die Spucke für alle anderen unsichtbar war.
„Ach, Entschuldigung, ich komme gerade aus einem starken Raucherhaushalt. Ich hab kaum was sehen können, durch die ganzen Nebelschwaden!“ Sie lachte, und das war ein derart helles, fröhliches Geräusch, dass auch Monika nicht anders konnte, als zu lächeln.
„Also“, sie warf ihre rote Mähne zurück und nahm wieder Haltung an.
„Ich bin Brigid, die Muttergöttin, Göttin des Herdfeuers, der Frauen, der Schmiedekunst und der Poeten. Der Familien, der Wahrheit und der Heiler.“
„Wow, du bist aber vielseitig!“, stieß Monika bewundernd hervor und nahm noch einen Schluck von dem Whiskey. Sie war sich noch nicht sicher, ob sie träumte oder halluzinierte, aber im Moment genoss sie einfach das Gespräch mit einer Erwachsenen, ohne dass die Kinder ständig „Mama! MAMA!“, dazwischenkreischten.
Brigid nickte erhaben und lächelte milde.
„Ich komme heute zu dir, Monika, weil deine verzweifelten Hilferufe zu mir gedrungen sind. Ich habe dich erhört und bin hier, um -“
„Da hast du aber auch verdammt viel zu tun, oder? Ich mein, all die Leute, denen du erscheinen musst und die was von dir wollen, mit so unterschiedlichen Bedürfnissen ...“
Monika wusste, was es für ein Kampf war mit ihren drei Kindern, den beiden Kleinen und dem Großen, und empfand tiefstes Mitgefühl mit Brigid.
„Äh, nun ja ...“

Die Göttin war sichtlich aus dem Konzept gebracht und auf ihrer Stirn bildeten sich tiefe Falten.
„Ich mein, das müssen ja Hunderttausende sein, oder? Und jeder braucht was, will was, ist unzufrieden, heult herum und zerrt an deinem Rockzipfel, bis er kurz davor ist zu reißen.“ Das war nicht einmal eine Metapher, letzte Woche hatte die Große tatsächlich so unnachgiebig an ihrem Kleid gezogen, bis der Saum gerissen war. Monika nahm noch einen tiefen Schluck.
„Naja, es geht“, murmelte die Göttin. „Wirklich anstrengend sind eigentlich nur die Mütter und Poeten.“
„Möchtest du auch einen Whiskey, Brigid?“, fragte Monika, während sie sich auf den Weg in die Küche machte.
„Ja, warum nicht?“, sagte die Muttergöttin und blickte sich unschlüssig um.
„Setz dich doch, du musst ja hundemüde sein! Ich bin ja sicher nicht die Erste heute Nacht, oder?“, stellte Monika fest, als sie zurückkehrte und ihrem Gast ein volles Glas in die Hand drückte.
„Naja, nein, aber ...“, stammelte Brigid. „Aber, normalerweise läuft das etwas anders ab, weißt du? Ich ... also ich hab da so eine Rede und dann stell ich dir Fragen und dann musst du Entscheidungen treffen und ... so. Weißt du?“

Monika, ungefähr eineinhalb Köpfe kleiner als ihr Gegenüber, starrte für einige Momente hinauf in diese schönen, leicht geröteten Augen und legte dann den Kopf schief. „Also ... Sitzen?“, fragte sie mit einem Lächeln.
„Ja, bitte, ja!“, hauchte die Hünin und ließ sich etwas undamenhaft in die Polster plumpsen. Die beiden Frauen prosteten sich zu und genossen schweigend den irischen Whiskey, den Monika zu ihrem letzten Geburtstag bekommen hatte. Ihre Tante hatte ihn ihr feierlich überreicht, mit den Worten: „Jetzt kannst du ja wieder sämtliche Freiheiten genießen, nachdem du nicht mehr stillst!“ Und Monika hatte sich nur gedacht: „Sowas kann auch wirklich nur ein kinderloser Mensch sagen“, sich aber dennoch über das Geschenk gefreut.

Im Fernsehen hatte sich zu der Amerikanerin eine blonde Deutsche gesellt und während beide einen potthässlichen Ring in die Kamera hielten, lachten sie wie Seehunde und zeigten der Nation ihre gebleichten Zähne. Monika griff nach der Fernbedienung und bereitete dem Treiben ein Ende. Die Göttin hatte ihren Kopf auf ein Kissen, das schon dreimal angekotzt und zweimal angepinkelt worden war, gebettet und lächelte sanft. Sie hatte ihre Augen geschlossen und war in diesem Moment der friedlichen Ruhe so unbeschreiblich schön, dass Monika vor Glück weinen wollte. Brigid öffnete ein Auge und als sie ihr Gegenüber sah, richtete sie sich gemächlich auf und legte eine Hand auf Monikas Arm.
„Ich denke, die Förmlichkeiten können wir uns jetzt sparen.“
Sie dehnte ihre Nackenmuskeln, indem sie ihren Kopf von rechts nach links rollte und grunzte entspannt, als sie ihre Arme in die Höhe streckte.
„Also, normalerweise würde ich jetzt eine beeindruckende Ansprache halten, hauptsächlich über mich und das Mutter- und Frausein an sich und dann -“
„Willst du sie halten? Deine Ansprache?“, unterbrach sie Monika.
Brigid hob eine perfekte, rote Augenbraue. „Willst du sie denn unbedingt hören?“
Nach kurzem Überlegen schüttelte die Hausfrau den Kopf.
„Dann, nein danke, ich muss sie nicht unbedingt halten. Letztendlich läuft es dann darauf hinaus, dir aufzuzeigen, wie wichtig und sinnvoll das ist, was du tust und dass all die Anstrengungen und Entbehrungen sich eines Tages lohnen werden. Und dann werde ich dich vor die Wahl stellen: weiterzumachen und bei deiner Familie zu bleiben oder alles aufzugeben und ein neues Leben woanders anzufangen, ohne deine Lieben.“

Die Göttin nahm einen großen Schluck Whiskey und ließ sich wieder auf die Polster zurücksinken.
„Okay. Lass uns gehen!“, verkündete Monika und stand auf.
Brigid riss die Augen auf und schüttelte leicht den Kopf, als ob sie nicht richtig gehört hatte.
„Was ... Was meinst du?“, fragte sie verdutzt.
„Naja, was du gesagt hast. Fortgehen, ein neues Leben anfangen. Klingt gut!“
„Warte, warte! So läuft das normalerweise nicht!“
„Gibt‘s ein Drehbuch für solche Dinge?“
„Nein, aber ...“, mit einem frustrierten Stöhnen setzte sie sich aufrecht hin und stellte das Glas auf den Couchtisch. „Jetzt nimm bitte wieder Platz, Monika!“
Die Angesprochene folgte widerwillig und legte trotzig die Stirn in Falten.
Brigid räusperte sich und legte erneut ihre Hand auf Monikas Arm.
„Das ist alles falsch gelaufen. Ich hätte das nicht abkürzen dürfen! Wenn du meine leidenschaftlichen Worte zu deiner Familie und deinem Leben gehört hättest, dann würdest du heulend auf die Knie sinken und dankbar sein für alles, das du hast!“
„Mag sein, mag sein ...“, überlegte Monika, „Und glaub mir, ich liebe sie, ich finde sie alle großartig, auch wenn sie mir auf die Nerven gehen. Und ich würde sie jeden Tag schrecklich vermissen, wenn ich fortgehen würde. Aber wenn das jetzt der Moment ist, wo ich mir was wünschen kann ... Also, wenn ich jetzt die Wahl habe zwischen es bleibt alles so wie es ist oder was anderes, dann nehm ich das andere.“
„Oj!“, rief die Göttin aus. „Das ist mir ja noch nie passiert!“
„Tut mir leid!“ Nun legte Monika ihre Hand auf Brigids Arm und drückte sanft zu. „Ich wollte dir keinen Ärger bereiten!“

Brigid schüttelte den Kopf und lächelte müde.
„Mach dir keine Gedanken um mich! Also ist es das, was du wirklich willst? Fortgehen und sie zurücklassen?“
„Um Himmels Willen, nein! Aber ich will, ich kann so auch nicht weitermachen. Über kurz oder lang werd ich durchdrehen und Gott weiß was machen!“
„In Ordnung. Aber was willst du?“
Monika blickte auf den Boden und dachte angestrengt nach. Diese Frage schien einfach und sie hatte sie sich schon selber oft genug gestellt. Aber eine Antwort darauf zu finden, war alles andere als selbstverständlich. Sie wurde ungeduldig und zornig auf sich selbst. Einerseits konnte sie nicht schnell genug diesem Leben entkommen, einfach um wieder durchatmen und so Kleinigkeiten, wie allein aufs Klo gehen, zu können. Andererseits wusste sie, dass sie die Sehnsucht nach ihrer Familie umbringen würde. Entmutigt warf sie die Hände in die Höhe und zischte: „Ich weiß es nicht! Verdammt!“, und trank mit einem großen Schluck den Rest ihres Whiskeys aus. Brigid setzte gerade an etwas zu sagen, als Monika erregt fortfuhr.
„Weißt du, wie anstrengend das ist? Ständig DA zu sein, geistig wie auch körperlich? Nie eine Auszeit zu haben, weil du ständig mit einem Ohr hören musst, was die kleinen Scheißer so treiben?“

Die Muttergöttin betrachtete sie mit einem zarten Lächeln und antwortete: „Ja. Ja, ich denke, ich weiß, wie das ist.“
„Und dass ich hier mit dir sitze und Whiskey trinke ... Ich ... ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal mit einer normalen Erwachsenen einfach nur einen getrunken und mich einfach nur unterhalten habe?!“
Brigids Lächeln wurde breiter. „Einer normalen Erwachsenen?“
„Weißt du was? Im Grunde will ich einfach nur in den Arm genommen werden. Nicht weil jemand was von mir braucht oder will, sondern einfach nur, um mich zu halten. Und mir zuzuhören, ohne über mich zu urteilen. Das hatte ich, ich glaube, das hatte ich das letzte Mal als ich ein Kind war und im Schoß meiner Mutter gelegen bin. Das Gefühl hätt ich gern wieder!“

Monika schnaufte und starrte auf das leere Glas. Eine zarte, blasse Hand umfasste ihr Kinn und hob es vorsichtig an. Als sie das Grinsen ihres Gegenübers sah, musste sie lachen.
„Bei allen Göttern, ich weiß, wie du dich fühlst!“, versicherte ihr Brigid. „Manchmal könnte ich nur schreien und diesen ganzen undankbaren Haufen mit einem Fingerzeig in Asche verwandeln! Natürlich mach ich das nicht. Aber der Gedanke ist schön ...“, sie kicherte und breitete die Arme aus.
„Wenn ich sonst auch nichts für dich tun kann, ich kann dich halten. Und dir zuhören. Und mit dir trinken!“, fügte sie noch schnell hinzu und beide Frauen lachten.
Nach kurzem Zögern kuschelte sich Monika an ihre Göttin und stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Ob sie so mehrere Stunden oder nur Minuten verbrachten, war ihr bald nicht mehr klar, sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und die Uhr an der Wand hatte aufgehört zu ticken. Sie war nur noch einmal aufgestanden, um die Whiskey Flasche herzuholen. Und so hatten sie geredet, getrunken und geschwiegen.
„Das könnte ich gut und gerne öfter haben!“, murmelte Monika verträumt.
„Weißt du was, Monika?“, bemerkte Brigid entspannt, „Ich auch!“
„Gut!“, entgegnete die Hausfrau und Mutter. „Aber nächstes Mal bringst du den Alkohol mit!“

Constanze Scheib

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 17203

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