Die Stadt der Anderen

Es sind zwei Hügel. Und auf diesen Hügeln liegen zwei Städte, die sich gegenseitig trotzig belauern, wer wohl die schönere, die höhere von beiden sei. Und Tag für Tag spielt die Sonne mit deren Eitelkeiten und der gegenseitigen Eifersucht, wenn sie morgens die eine Stadt im blendenden Glanz erstrahlen lässt und diese ihren breiten Schatten auf die andere wirft, deren Häuser ins Dunkel taucht. Aber zur Mittagszeit beginnt das Blatt sich zu wenden, beginnen sich die Schatten zu wenden und nun nimmt die andere ihrerseits Rache, auf gleiche Art und Weise.

Die Stadt jenseits ist immer die der Träume. Es ist immer die Stadt, in der man sich nicht befindet, nach der man sich sehnt, der Blick auf die Stadt gegenüber, der einem die Erfüllung dieser Sehnsucht verspricht, der einem vorgaukelt, in der Stadt hier am Verpassen von etwas zu sein.

Und trotzig blicke ich hinüber auf die andere Stadt, erstrahlt im Abendlicht der Sonne, in der ich dich verloren zu haben glaube. Natürlich, nochmals könnte ich die tausend Stufen die Senke hinab nehmen, die die beiden Städte trennt, und die tausend Stufen hinauf in die andere Stadt, wie ich es bereits zwei, drei Mal an diesem Tag hinter mich gebracht habe auf der Suche nach dir. Aber weniger das Stechen in der Lunge noch das Rasen meines Herzens hält mich davon ab, sondern vielmehr die Gewissheit, dass du jeweils in der anderen Stadt anzufinden bist, in der Stadt, in der ich gerade nicht bin.

Noch hallt er mir im Ohr, der intime Klang unseres Lachens, als wir frühmorgens die ersten Stufen in Angriff genommen haben, den festen Griff deiner eingehakten Hand an meinem Oberarm vermeine ich noch zu spüren, im Ab- und Aufstieg zu einem neuen gemeinsamen Abenteuer. Aber irgendwo da oben in einer der Städte bist du mir abhandengekommen, vielleicht in einer der schmalen, mäandernden Gassen, in deren Dunkel du selbst zu einem gestaltlosen Schatten geworden bist. Oder ist es im wuchtigen Dom geschehen, dass du in dem blendenden Lichtwechsel der aus der Kuppel einfallenden Sonnenstrahlen und der Finsternis unter den barocken Bogengängen meinem Blickfeld entschwunden bist? Oder doch in der spielerischen Anlage des Parks mit seinen von Palmen gesäumten bis zum Horizont reichenden Wegen, mit den rauschenden, die Sicht verschleiernden Fontänen seiner Brunnen, in dessen Weitläufigkeit du dich verloren hast? Zu spät, viel zu spät habe ich ihn erst wahrgenommen, den Griff meiner Hand ins Leere, die die deine noch zu umfassen glaubte, sie doch gerade noch so fest gespürte hatte.

Aber so sehr mir auch die Glieder schmerzen, ich mir schmerzhaft den Augenblick in Erinnerung zu rufen versuche, als sich unsere Wege getrennt haben, wo ich dich verloren haben könnte inmitten dieser zwei Städte, während ich an dieser Balustrade eines Parkplatzes lehne, der mir den Blick auf beide Hügel, auf beide Städte erlaubt, auf der Suche nach dem verlorenen Ausgangspunkt führen doch alle meine Gedanken auf ein einziges Ereignis viel weiter zurück: an den Sonntagnachmittag vor einigen Wochen in einem verwaisten Museum unserer fernen, verregneten Heimatstadt, als unsere vermeintlich so sorgfältig aufgebauten Gemeinsamkeiten beim Anblick eines einzigen Bildes mit einem Schlag wort- und sprachlos zersplittert sind.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 15112

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