IDEAL II

„Project >Gläserner Mensch< ist schon lange kein Skandal mehr“, antwortete P3 (Participant, Number 3).

„Ich stimme Ihnen vollkommen zu“, pflichtete P5, der für die Statistics zuständig war, bei: „Die Criminalrate sank auf beinahe 0%.“

„Es handelte sich lediglich in den Jahren der Entwicklung um einen Fast-Skandal, nur solange wir es nicht unter den Schutz eines Projects zusammenfassten, und das wissen Sie“, fügte P3 noch hinzu und wechselte mit P5 selbstgefällige Blicke: „Everybody has the right to know everything“, zitierte er den Slogan.

„Wir sind den Menschen absolute Transparenz in einer Welt der Zukunft schuldig“, meinte P20.

„Oh yes! Und die Menschen wollen das so“, meldete sich auch P2 zu Wort: „Mit den Social Networks hat alles seinen Anfang gehabt – Sie erinnern sich? Die SI war nur eine Frage der Zeit gewesen, die Draufgabe unseres Jahrhunderts auf das letzte. Wie viele Menschen haben dadurch bereits zusammengefunden? Und wie viele nicht?“, sagte er, dabei er auf P5 mit seinen Statistics hinwies: „Aber nicht nur das!“, setzte er wohlgestikulierend fort: „Mehr und mehr Companies schließen sich dem Project an. Bald sind wir global.“

Die übrigen 18 Köpfe in der Runde nickten fleißig über ihren Black-Suits.

„Und ich könnte nicht stolzer auf unsere Corporations sein“, erwiderte P1 und stützte sich Bürden-gebuckelt auf den Seminartisch: „Dennoch – als Supervisor dieses …-“, er hielt kurz inne: „-globalen Projects muss ich jede Begebenheit durchleuchten. Je mehr wir uns um die absolute Transparenz bemühen, desto gefährlicher werden Geheimnisse und seien sie noch so klein …“, stellte er in den Raum wie einen großen philosophischen Ansatz.

Die schönen Gesichter sahen einander - natürlich zustimmend - an.

„Andere Frage“, wechselte P1 das Topic, da er keinerlei hilfreiche Reaktionen seiner MitarbeiterInnen mehr erwartete: „Wieviel Freiraum sollten wir den Companies in ihrer SI lassen? Immerhin sind sie es, die die Welt regieren, etwa nicht? #Advertisement zum einen, zum anderen - wie sieht es mit den Androids der first and second class  aus, die sich ausschließlich über die SI verständigen? And on … and o-… “ Seine Stimme verzerrte sich.

„Sorry? Können Sie das evt. wiederholen?“, erkundigte sich P13: „Ich … ic-“ - auch er stockte.

Dann begann etwas zu rumoren.

Zuletzt meinte jemand: „I-… glaub-…, die Conn … -ection bric-… …-b.“

BANG! Es verzogen sich auf einmal die schönen Gesichter. Faceless! Die stylischen Suits spreizten sich ins Unermessliche – limitless!

Plötzlich zuckte ein Flackern in dem Raum für wenige Sekunden …

… bis es starb und sich alles mit einem Mal in 1 und 0 auflöste.

-

Blackout, ärgerte sich P1 und nahm das Oculus ab, womit er den gecrashten Cyberspace endgültig verließ und seine SI ablegte.

#home-sweet-home

Von seinem VB (Virtual Body) entkleidet, schob sich P1, der nunmehr Jeff hieß, eine Blue und eine Green (Pill) in den Mund, um seinen realen Körper bis zur nächsten realen Nahrungsaufnahme zu befriedigen. Fuck the system, hing, auf sein T-Shirt geprintet, als Statement über seinem dicken Bauch und den geschwollenen Männerbrüsten.

Dies war sein Ideal.

Darum nahm er auch keine Pink zu sich, die ihn zusätzlich von seinem Gram befreit hätte.

Stattdessen trank er eine Tasse Kaffee.

Danach setzte er sich seine GG (Google Glass), die sich mit seinem Chip connectete, auf, gab die Address des nächsten Hypermarkets ein und begab sich trübsinnig auf den Weg.

Eigentlich hatte er vorgehabt, mit seinem E-Bike zu fahren, doch als er kaum den Fuß aus seinem Wohnhaus gesetzt hatte, war ihm seine Freundin entgegengekommen, die wohl auf die Form ihres Bodys achtete und ihn zu Fuß begleiten wollte.

Er nannte sie seine >Beauty<.

„Wie lief das Meeting?“, fragte sie ihn, während sie durch die bemenschelten Straßen gingen.

„Bescheiden“, erwiderte er: „Der Cyberspace brach zusammen, wir verloren die Connection und das Meeting wurde unterbrochen.  Ich hoffe, die fixen das bis zum Nachmittag und dass keiner an die Daten des Projects kommt.“

Auch wenn in der >heutigen Welt der Zukunft< sicherlich niemand danach suchen würde, raunte er sich in Gedanken selbst zu. Dabei beäugte er die an ihm vorbeiziehenden Menschenschlieren. Und obwohl die Facedetection-App seiner GG die SI eines jeden, dessen Gesicht er erblicken konnte, wie ein E-Book entfaltete, misstraute er ihnen wie nie zuvor.

Denn Glas war zerbrechlich.

„Fängt es jetzt auch noch an zu regnen?“, merkte Jeff genervt an, als er aus seiner Konzentration gerissen einen Tropfen auf seinem fast kahlen Kopf gespürt hatte, und sah nach oben.

„Oh – das stört mich nicht“, meinte Beauty.

 

Danach ging alles sehr schnell.

 

Jeff stolperte, stürzte und fiel, verlor seine GG, die nun im hohen Bogen gen Randstein flog und bei ihrer Landung in tausend Einzelteile zersprang.

BANG!  Durch den Verlust der Facedetection-App verwandelten sich all die bekannten Gesichter auf der Straße in fremde. Faceless! Die Navigation zum Hypermarkt verschwand! Limitless! Und auch Beauty verschwand abrupt, erlöst durch eine in die Luft steigende Schwade aus 1er und 0ern …

 

Blackout, blitzte es dem am Boden liegenden Jeff im Kopf, den er früher auch gern seinen >Cyberspace< genannt hatte. Nun sah er sich um. Aber der Schleier der Vertrautheit hatte sich mit dem Verlust seiner GG aufgelöst.

Auf einmal …

… war er verloren.

 

Doch damit nicht genug! Er stammelte, fuhr herum, riss an den Passanten, die mit ihren GG wie Geister an ihm vorbeizogen. „Fat ass“, verwünschte ihn jemand, ein anderer stieß ihn beiseite.

Wo war er? Wo war Beauty! Wer war er?

Schlussendlich wandte sich ein Android FC (first class) nach ihm um und sprach: „Nehmen Sie ihre Pillen – Sie stören die Ordnung.“ Danach zog auch er weiter.

 

Der Regen prasselte unaufhörlich. Aber nur – so schien es – für Jeff.

#Disconnect

Dabei befand sich der Hypermarkt einen Blog weiter.

Und seine Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at |Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 15099

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