Die Neue

Als der Chef ankündigte, wir würden eine neue Kollegin bekommen, erwachte ich aus meinem Dämmerschlaf. Er brabbelte von ihrem ausgezeichneten Medien-Studium an der FH und ihrer bisherigen Tätigkeit im Marketing eines Skigebiets und ich wartete ungeduldig darauf, dass er aufhörte zu sprechen, damit ich sie in aller Ruhe googeln konnte. Endlich bekamen wir jemand Neuen. Meine Kolleginnen langweilten mich.

Sie hieß Sophia, postete Fotos von sich in Santorin und vor dem Isländer Gullfoss und teilte vegetarische Rezepte mit Kichererbsen. Ich rümpfte die Nase. Vielleicht hatte ich die falsche Sophia.

Ich hatte nicht die falsche Sophia. Am Tag ihres Arbeitsbeginns kam sie mit übergroßer Brille, roségoldenen Ketten und einem Spalt zwischen den Vorderzähnen ins Büro und stellte sich strahlend bei uns vor, machte mir ein Kompliment zu meinem Tattoo am Handgelenk und lachte über die ausgelutschte Warnung einer Kollegin vor der Kaffeemaschine. Sie war nett bis zum Wegdösen. Ich verkrümelte mich schmollend auf meinen Platz.

In den nächsten Tagen beobachtete ich sie. Durch die Glaswände ihres Büros sah ich, wie sie beim Telefonieren brav lächelte, wie sie ihre Einstandsblumen fotografierte, wie sie auf dem iPhone mit zersprungenem Display herumtippte und wie sie ihre platten Wangenknochen vor Kundenterminen mit Rouge bestäubte. So selbstbewusst, wie sie herumlief, könnte man meinen, sie wäre länger hier als ich.

Ich suchte das Gespräch mit ihr. Bereitwillig erzählte sie, dass sie am Land aufgewachsen und lange Zeit bei der Landjugend und der Musikkapelle aktiv gewesen war. Ich verkniff mir das Augenrollen. Gleich würde sie ihren Freund erwähnen, der bei der Feuerwehr war und im IT-Bereich arbeitete. Stattdessen sagte sie, dass sie am Wings-for-Life-Run im Mai teilnehmen wollte. Ich sah schon die Instagram-Story von ihrem verschwitzten Grinsen und ihren neuen Adidas-Laufschuhen neben all den anderen Instagram-Storys von verschwitztem Grinsen und neuen Adidas-Laufschuhen. Ich beendete das Gespräch.

Irgendwann, als wir gleichzeitig Feierabend machten, unterhielten wir uns für ein paar Minuten draußen vor der Tür. Sie erzählte mir, dass ihre Schwester an Depressionen litt. Ich horchte auf. So etwas machte die Leute immer interessanter. Sie fragte mich, was ich so triebe in meiner Freizeit. Vorsichtig erwähnte ich die Comic Cons, auf die ich gern ging, meine Versuche im Fluid Painting und das Geigenspielen. Sie hörte mir zu und stellte Fragen. Ich schöpfte Hoffnung.

„Es glauben alle, sie sind lesbisch“, brummte eine Kollegin. „Nur, weil das jetzt cool ist. Woher wollen die überhaupt wissen, dass sie nichts von Männern wollen, wenn sie es nie probieren?“ Sophia nickte. Ich spielte mit dem Regenbogenanhänger an meinem Schlüsselbund und ignorierte sie nachher in der Küche.

An einem Montag fragte sie mich, ob ich mit ihr und zwei anderen Kolleginnen mittagessen wollte. Skeptisch stimmte ich zu. Als wir zu viert durchs Büro gingen, spürte ich diverse hochgezogene Augenbrauen in meinem Rücken.

Wir saßen in einem dieser protzigen Restaurants mit Schauküche, spiegelnden Tischplatten und violetten Samtbänken, das auf allen Foodblogs gehypt wurde. Sophia aß vegan. Die anderen beiden aßen vegetarisch. Grantig bestellte ich einen Burger. Es ging um die nächsten Urlaubsdestinationen; die eine wollte nach Sardinien, die andere nach Kroatien, Sophia nach San Francisco, weil sie in Europa „schon überall gewesen war“. Ich murmelte etwas von zwei Wochen am Bauernhof meiner Oma, wo ich malen wollte, alle taten beeindruckt und fragten mich dann nichts mehr.

Dann ging es um ihre Freunde: Gleich zwei waren im IT-Bereich, der letzte bei einer Spedition. Drei Paar Augen verdrehten sich nach oben, wenn ihre Besitzerinnen jammerten, dass die Männer nicht so ordentlich im Haushalt waren, wie sie es gern hätten. Ich schaute von einer zur anderen und wartete auf einen Hauch Individualität. Darauf, dass eine von ihnen sagte, sie wäre in einer offenen Beziehung, sie würde koreanische Gedichte lesen, sie hätte ein Jahr in Tansania gelebt. Stattdessen sagte eine nach der anderen, dass sie gern ein Haus in ihrem Heimatdorf haben wollte. Ich fragte mich, ob sie sich auseinanderhalten konnten, wenn sie sich im Spiegel ansahen. Als sie nächste Woche wieder zum Mittagessen aufbrachen, luden sie mich nicht ein.

Wenn wir miteinander redeten, redeten Sophia und ich über das Präsentationstraining, das der Chef für unser Team geplant hatte. Wir reden über Geburtstagsgeschenke für Mütter. Wir redeten über Tee mit oder ohne Zucker. Wir redeten über unsere Wochenendpläne. Sie wollte eine neue 90-Days-Fitness-Challenge beginnen. Ich behauptete, ich hätte nichts vor.

Dann kam die Weihnachtsfeier. Sophia war betrunken. Ich half ihr zu einem abseits gelegenen Tisch, brachte ihr ein Glas Wasser und ein Aspirin, das irgendjemand vorsorglich mitgenommen hatte. Sie bedankte sich. Dann begann sie zu weinen. Sie würde sich in ihrem Leben gefangen fühlen, hätte Angst, dass ihr alles zu schnell ginge, wäre gestresst von ihren Verpflichtungen und den Erwartungen ihrer Familie. Ich nickte und tätschelte ihren Arm und überlegte, wann ich wohl davonschleichen könnte. Sogar ihre Probleme waren langweilig.

Am nächsten Montag tat sie so, als wäre das Gespräch nie passiert. Ich tat es ihr gleich.

Ein paar Wochen später, in meinem Frühlingsurlaub, las ich beim Frühstück in den Online-Nachrichten von einer Siebenundzwanzigjährigen, die mit aufgeschnittenen Pulsadern ins Krankenhaus gebracht worden war. Ich aß meine Cornflakes auf und überlegte, welche Acrylfarben ich mir kaufen sollte. Als ich wieder zurück in die Arbeit kam, fehlte Sophia.

Christina König

FM4 Wortlaut 2022
Mosaik Literaturzeitschrift

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 23073

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