Mein kleines serbisches Tagebuch: Teil 3 – Vom Fluss der Zeit

Und ich habe dich wieder, geliebter Balkon! Nachmittags bin ich wieder eingezogen. Der Park ist wunderbar, aber hier ist es besser. Auch das Bett in der Schiffskoje, in der ich für zwei Nächte untergebracht war, war nicht bequem. Als ich heute Morgen aufwachte, tat mir der ganze Rücken weh, denn die Matratze war viel zu weich. Aus den Federn bei Tagesanbruch, irgendwann zwischen vier und fünf, beschloss ich, die Gunst der Stunde zu nutzen und machte mich auf einen Spaziergang. Das war gut so!
Die Frische des unberührten Morgens, sie hielt nicht lange, aber die Zeit reichte aus für einen Besuch von Petrovaradin am anderen Donauufer. Ich inspizierte den Kai, den ich mir bislang immer nur von der gegenüberliegenden Seite aus angesehen hatte. Er war menschenleer, mit Ausnahme der Angler natürlich.

Ich wanderte über eine gepflasterte Promenade und gelangte auf die Höhe der dritten Donaubrücke, die ein kühnes Ingenieurswerk ist in zwei Bögen. Nur ein kleines Stück weiter mündet der Donau-Theiß-Donau-Kanal in den großen Strom. Gegenüber am rechten Ufer wäre flussabwärts noch ein stiller Donau-Arm gelegen.
Was soll ich sagen zur Varadin-Seite? Es wird trist, je weiter man aus dem Zentrum sich hinausbewegt, und die Tristesse liegt daran, dass es wunderschön sein könnte in den Auen, würden sich die Menschen nur etwas mehr um ihre Landschaft kümmern. Dazu muss man wissen: Serbien ist ein Land mit zwei Gesichtern, wo Glanz und Elend, Licht und Schatten, allzeit nah aneinanderliegen.

Am Ende der Kaimauer lag eine kleine Bucht mit einem sandigen Streifen von Badestrand. Dahinter türmten sich eine Menge abenteuerlicher Verschläge und provisorisch gezimmerter Buden. Von irgendwoher spielte laute Musik, das waren wohl Nachtschwärmer, für die der neue Tag noch gar nicht begonnen hatte. Jenseits der Buden erstreckte sich ein Stück Wald, wo sich große uralte Baumstämme aus dem Sandboden recken. Idyllisch, aber mutmaßlich mit derselben Gleichgültigkeit vermüllt und malträtiert wie der vor mir liegende Strandabschnitt.

Ich zog es vor, die mutmaßliche Spätzecher-Lokalität nicht zu passieren. Der weitere Weg um das Unterstadt-Bollwerk erwies sich ebenfalls als Sackgasse. Zuerst querte ich noch einen modernen, sehr schick angelegten Kreisverkehr am Fuße der Brücke. Die nagelneue Schnellstraße war flankiert von Radwegen und einer gepflasterten Fußgängerbahn, eine Tafel am Straßenrand verkündete die Unterstützung des Verkehrsprojekts durch Fördergelder der EU. Das Ganze endete schließlich nach einigen hunderten Metern auf verblüffende Weise im Nichts, ein abrupter Abbruch der Wege wie mit dem Lineal gezogen. Nur mehr die alte holprige Straße blieb übrig und schlängelte sich in die Pampa.

Zurück in der Unterstadt von Petrovaradin hat sich eine Weile ein Hündchen an meine Fersen geheftet, das vermutlich nach ein wenig Unterhaltung begehrte. Schließlich hat es jedoch beschlossen, wieder eigene Wege zu gehen, und von sich aus auf die weitere Begleitung verzichtet.

***

Es tropft von den Hauswänden, das kommt von den Klimaanlagen. Das Kondenswasser bildet Pfützen auf dem Straßenpflaster. Anfangs konnte ich mir die Nässe nicht erklären und dachte an Blumenfreunde, die es mit der Sorgfalt für ihre grünen Schützlinge etwas zu gut gemeint, beim Gießen ein wenig über die Stränge geschlagen hätten. Doch da waren gar keine Blumenkisten an den Hausfassaden! Nach einer Weile habe ich begriffen, es liegt an den Kästen mit den eingebauten Ventilatoren, die den ganzen Tag monoton vor sich hin dröhnen. Aus ihren Schlünden trieft das Wasser heraus. Ich kann mir nicht helfen, mir graust ein wenig davor, mache immer einen Bogen herum und bilde mir ein, dass es müffelt.

Vielleicht liegt es daran, dass auch mein Hostel-Balkon von Zeit zu Zeit von Wassergüssen betroffen ist. Vor einigen Tagen tropfte es aus dem darüber gelegenen Stockwerk herab auf das eiserne Balkon-Geländer, ein Geräusch, das mich schon irrtümlich auf Regen hoffen ließ, als ich es erstmalig aus der dunklen Höhle meines Zimmers heraus vernahm. War aber nur der Tropf. Dann aber wurde das Problem auf eine unerwartete Weise gelöst. Ich beobachtete, wie in der Etage über mir eine Handauftauchte mit einer Plastikflasche, die augenscheinlich gut gefüllt war. Sie schüttete mit einem lauten Platsch das Wasser über die Brüstung, zum Glück jedoch so gekonnt, dass weder die darunterliegende Terrasse von diesem unerwarteten Guss getroffen wurde noch die Wäschestücke auf der Leine. Zwei Mal wurde ich mittlerweile Zeugin solcher Schwälle, die mutmaßlich vom Leeren eines Auffanggefäßes für Kondenswasser herrühren. Immerhin, die Prozedur scheint zu nutzen. Das stete Tropfen hat seitdem aufgehört.

***

Von der Gegenwart lässt sich sagen, sie ist gewärtig.

Die Hingabe der Menschen, sich für ihre Fotos auf den Handys zu inszenieren. Hier in Novi Sad sind sie wahre Meister darin, jeder Schnappschuss besitzt eine vollendete Dramaturgie. Ob ein Grüppchen, das vor den Kulissen der Festungsmauern die perfekte Familie darstellt. Oder die jungen Frauen, die wie professionelle Mannequins vor Brunnen und Denkmälern posieren, als ginge es um die neueste Ausgabe der Vogue. Mit sichtlichem Vergnügen am Knipsen entstehen hier Serien von privaten Fotoshootings. Das Selfie, das Bild. Geschnappt und gepackt ist der Moment, und so wird er stehen für den Rest deiner Zeit! Oder wenigstens so lange du dir die Fotos ansiehst. Du selbst wirst dich freilich von deinem Bild entfremden, Tag für Tag ein kleines Stück. Irgendwann wirst du dich verwundert fragen, ob du das gewesen bist auf diesem Foto, und wer du eigentlich damals warst.

Vielleicht ist es das, was mich gelegentlich schaudern lässt: der Fluss der Zeit. Eben noch da wie selbstverständlich, lässt sich nichts auf Dauer festhalten, wird schon im nächsten Augenblick von dir fortgerissen, driftet ab, und kein Weg führt mehr zurück außer den Bildern aus der Erinnerung, die vage sind und trügerisch. Eine Bootsfahrt, die kein stromauf mehr kennt. Genau so geht es mit unserer Epoche, die bald eine vergangene sein wird. Die Menschen spüren es, sie sagen, die Zeit vergeht so schnell. Sie sagen, das sei der Lauf der Dinge, und so ist es auch. Sie sagen, die Welt ändere sich so rasant.

Wir leben am Sprung einer Zeitenwende und wissen nicht, wohin die Reise geht. – Doch im Moment ist es einfach schön. Das Wasser fließt die Donau hinab, ich kann mich nicht losreißen vom Schauspiel der Fluten. Über mir die Postkartenidylle der Festung im Sonnenuntergang, unter mir die Angler am Kai. Draußen am Strom ziehen die Boote vorbei. Auf den warmen Hafenmauern machen es sich die Leute bequem, sie rauchen und schwatzen. Rundum die heitere Gelassenheit eines lauen Sommerabends.

Ulla Puntschart
https://ulla-puntschart.jimdo.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 21099

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