Kategorie-Archiv: Markus Peyerl

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Wie mit den Fisolen

„Knackiges Gemüse“, sagt der komische Mann vor dem Tiefkühlgerät, „Knackigstes Gemüse. Nicht nur knackig, nein, knackigst. Der Unterschied, fragen Sie? Ganz einfach. Knackig: Knackigst: Steigerungsform. Wie stark, stärker, am stärksten, einfach Grammatik nur. Das wär’, passen Sie auf: knackig, knackiger, am knackigsten, aber das verkauft sich halt nicht so gut. „Am knackigsten“? Nein. Zwei Wörter sind ja meistens um eins schon zu viel, und das „am“ um so viel kürzer als das „knackigsten“, also schlecht zum Zentrieren. Wie schaut denn das aus auf der Packung? „Die am knackigsten Fisolen“? Da graust’s mir fast richtig, Ihnen nicht auch?

„Knackigste Fisolen“, so kommt das doch fast wie natürlich, fast wie: „Ha. Die Fisolen, die kommen sicher direkt von der Alm, wo alles noch gut und schön ist“. Und auch viel handlicher das Ganze. Sagen wir, wir wollen das „Knackigste Fisolen“ in einem gezackten, roten Kreis drinhaben, so auf: „Hallo! Herschauen! Jetzt!“, wie groß müsste der gezackte, rote Kreis denn dann sein, wenn da „Die am knackigsten Fisolen“ reinpassen soll? Na wie groß? Schätzen Sie einmal. Oder wie klein die Schrift? Ja, das sind alles Sachen, da muss man sich Gedanken drüber machen. Es muss ja auch noch genug Platz bleiben für den Inhalt: die Fisolen, in dem hier unserem Fall.

Weil ich frag’ Sie: Vertraut denn da wirklich jemand drauf, dass da wirklich Fisolen drin sind, wenn auf der Schachtel im Tiefkühlregal einfach nur Fisolen draufsteht? Sonst nichts. Nur groß „Knackigste Fisolen“ in einem roten, gezackten Kreis auf, sagen wir einmal, braunem Hintergrund. Glaubt da dann wirklich wer dran, dass da wirklich Fisolen drin sind, und dass die knackigst auch noch sein sollen? Das frag’ ich Sie. Und die Antwort: Nein! Jeder wird sich denken, „Hä? Was? Knackigste Fisolen? Wo soll’n die denn sein, bitte?“, weil durch die Verpackung kann ja keiner durchschaun. Die ist ja aus Pappendeckel normal, blickdichter Pappendeckel, da kann ja dann alles Mögliche drin sein in der Packung eigentlich, oder? Exakt! Deshalb auch meine Bedenken wegen „Die am knackigsten Fisolen“ und dem gezackten, roten Kreis, der möglicherweise zu groß werden könnte wegen den extra Worten. „Knackigste Fisolen“, das reicht uns doch auch, stimmt’s? Genau!

Und dann bleibt uns auch mehr Platz für das nächste Glied in unserer Indizienkette, das Bild von Fisolen. Aber bei aller Liebe, das kann natürlich kein Bild von normalen Fisolen sein, so wie die herauskommen aus der Erde und nur kurz abgewaschen und „Her mit der Kamera!“. Nein, nein, nein. Ich mein’, da kann ja dann jede x-beliebige Fisole dabei sein, oder nicht? Auch eine zu dünne? Oder eine zu kurze? Oder eine sonstwie unförmige? Wo man sich denkt, „Also. Nein. Nein. Also. Na.“? Was soll das einem denn leicht vermitteln, so ein Bild von solchen Fisolen? Dass man da möglicherweise ein Risiko eingeht? Dass da zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit da wirklich Fisolen drin sind in der Packung, aber sonst? Was haben wir denn schon Großes bewiesen bis jetzt außer das? Eben!

Und da bleiben dann ja erst wieder Fragen offen. Sind die Fisolen jetzt alle nicht gleich, oder was? Oder zumindest ähnlich? Und wie schaut das dann aus am Teller, wenn die Fisolen sich in ihrer Dicke und in ihrer Länge zu stark voneinander unterscheiden? Und? Unsicher? Kein wirklicher Kaufanreiz, oder? Wer würde denn schon gern Fisolen kaufen, die ausschauen, als würden sie einen womöglich enttäuschen? Niemand! Nein! Sie würden doch auch selbst ganz genau darauf achten, wie die Fisolen bestenfalls ausschauen könnten, die da mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit drin sind in der Packung.

Und die Packung, die Ihnen das Meiste verspricht, die drückt sich Ihnen doch schon fast von selbst in die Hand, hab’ ich recht? Sehen Sie? Ganz einfach. Auf das Drinnen kommt’s da dann nämlich gar nicht mehr so drauf an, eher nur auf die Vorstellung. Also auf das, was Sie glauben, hoffen zu dürfen. Das sind Sie doch bei mir, oder? Ja? Gut. Und deshalb braucht man für das Bild auf der Packung ja auch die richtige Einstellung, das richtige Licht, und jemand, der sich auskennt. Jemand, der gelernt hat, Fisolen perfekt reinzulegen in, beispielsweise, eine weiße Schüssel, natürlich so, dass das so ausschaut wie als wäre das alles einfach passiert, so schön und so echt eben, Schicksal. Sie wissen schon. So wie die Leute die Dinge gern sehn, die sie mögen wollen. Das kennen Sie sicher auch von sich selber. Das kennt doch jeder. Nur gut für uns!

Aber das reicht uns ja noch nicht ganz, oder? Ein bisschen was fehlt da ja noch, wir sind ja noch nicht einmal beim Knackigsten angekommen bis jetzt. Ja, sicher, Fisolen sind da jetzt fast sicher schon drin in der Packung, aber die knackigsten? Wirklich die knackigsten? Auch wenn sie auch noch so gut ausschauen und ideal. Wirklich die knackigsten? Ist das so? Hm? Wirklich? Vielleicht. Kann sein. Sie sehen doch die Zweifel, die da gleich aufkommen? Da können wir uns doch sicher drauf einigen? Sehr gut. Und Zweifel, die kann ja doch niemand so wirklich brauchen. Also: Wie werden die Fisolen jetzt knackigst?

Und nicht vergessen: Reinbeißen kann man vor dem Auftauen ja nicht, stimmt’s? Und vor dem Kaufen schon gar nicht. Auch nicht in der Mitte auseinander brechen und das Knack-Geräusch auf seine Knackigkeit hin bewerten, das geht ja alles nicht, ohne vorher die Entscheidung schon getroffen zu haben. Schon? Richtig. Fisolen, okay. Schöne Fisolen auch. Aber ohne dem „knackigst“? Wer ist da denn bereit, so ein Wagnis einzugehen?

Hm? Wir erinnern uns? Noch glaubt uns ja keiner. Noch ist „knackigste“ allein aus Buchstaben gemacht, in einem gezackten, roten Kreis. Und was sind schon Buchstaben? Allein? Selbst gesprochen? Nicht wirklich viel, oder? So und so. Aber: Wie lösen wir das jetzt, unser kleines Problem? Eh klar. Wie schon alles vorher. Ganz einfach: so einfach wie möglich. Mit Wasser zum Beispiel. Sprühen Sie doch einfach einmal Fisolen damit an. Sie werden sehen, wie knackigst die nachher ausschauen. Wenn auf der Fisolenhaut sich frische, klare Tropfen bilden, die einen größer, die anderen kleiner. Wenn sich das Licht da drin spiegelt, wenn der Umstand, dass das in Wahrheit nichts an der Fisole ändert, sich in Luft auflöst, wie die Wassertropfen selbst mit der Zeit, nach dem Festhalten mit der Kamera. Auflöst, verstehen Sie? Knackigst. Die Wahrheit muss sich auflösen, sonst funktioniert das nicht. Die Wahrheit, dass das alles nicht reicht nämlich. Dass da ja trotzdem immer noch nur letscherte Erbsen drin sein könnten in der Packung, auf der „knackigste Fisolen“ draufsteht in einem gezackten, roten Kreis. Dass die Angst davor immer bleibt. Egal, wie sicher wir uns auch sind manchmal, wegen dem ganzem Tamtam drum herum und den wunderschönen Fisolen in ihrer weißen Schüssel. Trotzdem manchmal nur. Fast nie. Verstehen Sie?“

Der komische Mann schaut sie an.
Zu lange, um nicht auf etwas zu warten.
„Ja, ähm. Ähm, gut zu wissen“, antwortet die Frau im Zielpunkt-Leiberl, die schon die ganze Zeit nur vor Unbehagen grinst und dabei weiter Gemüse ins Tiefkühlregal einschlichtet.
„So ist das, gute Frau“, sagt der komische Mann, „Ja, so ist das.“
Und geht.

Markus Peyerl
www.markuspeyerl.at

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 14006

Die Flasche

Es war einmal, um die Ecke, in Frau Malazkas Auslage, hinter der Glasscheibe, hinter dem großen „frisches Obst und Gemüse“-Pickerl von damals, als das frische Obst und Gemüse noch in Steigen am Gehsteig zum Verkauf gestanden war. Vor ihrem Greißlerladen, dort stand er, und dort begab es sich, dass Herbert Kritzendorfer etwas dort in der Auslage stehen sah, das er bislang nur nie bemerkt haben musste. Dort, zwischen den ausgebleichten Reispackerln in ihrer strengen Zweierreihe und der schmalen Pyramide aus Dosensuppen, Dosen mit Grießnockerln drauf, mit Leberknödeln, und mit Altwiener Suppentöpfen, alle, alle von ein und derselben Firma, einer, die es schon seit ewig und drei Tagen nicht mehr gab. Und genau dort, dort dazwischen, zwischen den Reispackerln und den Dosensuppen, dort stand sie, die Flasche, ohne Etikett, ohne Gravur, ohne Relief, ohne Aufschrift, nur mit einem Korken aus Kork im Hals und einer grünlichen Flüssigkeit in ihrem Glasbauch, dem auf den Schultern der Staub lag.
Komisch, komisch.

Noch nie war Herbert Kritzendorfer diese Flasche dort aufgefallen, in all den Malen, die er hier einfach an ihr vorbeigegangen sein musste, unter der rot-weiß gestreiften Markise unten durch, unten vorbei an dem blauen Eskimo-Fahnderl, auch im Winter, zweimal täglich, hin zur Arbeit und zurück. Und, wenn ihm daheim die Wände wieder einmal zu nahe zusammen rückten, auch am Sonntag, oder am Samstag, beim Spazierengehn, wie heute, und gestern auch schon.
Diese Flasche.

Unerklärlich schien Herbert Kritzendorfer diese plötzliche Flasche da drin zu sein, in Frau Malazkas Auslage, und er schaute noch einmal kurz weg, um sich schnell in die Nase zu zwicken, aber beim noch einmal Neuschauen war sie immer noch da. Gespenstisch, und Herbert Kritzendorfer lehnte sich ein Stückerl nach vorn, näher zur Scheibe hin, dorthin, wo sie nicht mehr ganz so blöd spiegelte, stützte seine Hände an seinen Knien ab und er spitzte die Augen. Grün, vielleicht, nein, Kräutersirup konnte es keiner sein, zu flüssig, zu leicht tat sich das Licht dabei, rein und durch und hinten wieder raus zu kommen. Wie Wasser, wie grün gefärbtes, aber geh, bei der Frau Malazka gab es doch sowas doch nicht, nichts mit künstlichen Zusatzstoffen, nichts von der ganzen elendigen Industriepfuscherei, wie sie zu sowas zu sagen pflegte. Auch zu den Dosensuppen, die niemals zum Verkaufen gedacht gewesen waren, sondern nur zum Aufstellen, damit halt was drin steht in der Auslage, und das leicht zum Stapeln geht. Herbert Kritzendorfer wusste das, weil es vor diesem Wissen ja gar kein Entrinnen gab, keins mehr, sobald die Tür aufging und das silberne Glockenspiel Frau Malazka aus ihrem Klappsessel herausscheuchte mit ihrer schlechten Hüfte und sie eilig hindurchhumpelte durch den vergilbten Duschvorhang zwischen ihrem winzigen Hinterkammerl und dem kaum viel größeren Rest ihres kleinen Geschäfts. Dort, wo die Echtholzvitrine stand, und die Registrierkasse, und dort, wo sie drin war, die Frau Malazka, in ihrem Element: sieben Tage die Woche, von fünf bis zwanzig Uhr.

„Grüß Sie Gott! Wartn ’S kurz. Heast! Deppater Duschvorhang! Dauernd bleib ma hängen an dem G’frast! Wenn i no jung wär, i sag ’s Ihnan, der wär so schnell unten, so schnell könnt der gar net schaun. Aba ja: Was brauch ma denn, was hätt ma scho?
Ja, jetzt san ’S halt net wieder so schüchtan.
Sie wern do net imma no so a Angst ham vor mia wie als Kind no?
Vor so ana gebrechlichn, altn Oma, die i jetz ja scho bin?
Oda?“
Ja.

Bei der Frau Malazka fing das Bedientwerden seit je her so an. Das erste, was Herbert Kritzendofer über sie noch und nöcher eingetrichtert bekommen hatte von seiner Mutter damals, vorm ersten Einkaufenmitgehendürfen, war das: So, oder so ähnlich, das erste Wort war immer das von der Frau Malazka, meist mehr als nur das eine, und erst dann war die Kundschaft zum Grüßen und zum Bestellen dran. So war das der Brauch bei ihr, heute, morgen und gestern, und die Frau Malazka begann, nach der zu ihrer Zufriedenheit verlaufenen Anfangszeremonie, gewohnt gelassen damit, die Zeit zu verlängern, die sie brauchte, um die drei Sachen zusammenzusuchen, die Herbert Kritzendorfer diesmal selbst gar nicht brauchte.

Das Brot und die Nudeln und den Reis, die Frau Malazka ging da ganz typisch und taktisch vor.
Und immer, sollte eine der georderten Waren zu weit oben oder zu weit unten in einer der altbaudeckenhohen Regalwände stehen, dort, wo die üblichen Verdächtigen standen, dort, wohin sie sich am wahrscheinlichsten oft und öfter runterbücken oder raufstrecken würde müssen, dort meinte sie nach dem Runterbücken oder dem Raufstrecken, „Werdn ’S ja net alt, hörn ’S! Sie wissen ja no goa net, wos für grausliche Schmerzn Rücknschmerzn san!“, und sie machte zur Kür danach ein gemütliches Hohlkreuz und suderte von Herzen. Das war, wie die Frau Malazka wollte, dass ihr kleiner Feinkostladen funktionierte, sie war ja auch die Besitzerin, und bevor sie nicht hatte, was sie wollte, brauchte Herbert Kritzendorfer gar nicht deppat vorlaut anfangen nach der Flasche in der Auslage zu fragen, erst nach dem Brot und den Nudeln und dem Reis, nichts davon auch nur annähernd leicht zu erreichen für eine Frau ihres Alters. Herbert Kritzendorfer wusste das, und die Frau Malazka zwinkerte kaum merklich scharf mit nur einem Auge und sie beugte sich mit einem leidenschaftlichen „Au weh, au weh, au weh“ zum Brot hinunter, aufbewahrt im hintersten und untersten aller Winkel, richtete sich dramatisch knacksend wieder gradso auf, und dann:

„Ja, grauslich! Grauslich san diese ganzn Wehwehchen de da so komman mit da Zeit! Grad das i da das Brot noch dagleng, bevor i nimma mehr aufkomm! Und wissn ’S? Wissn ’S was der Herr Doktor g’meint hat dazu am Mittwoch? A neues Hüftgelenk bräucht i. A neues! Aus Plastik und mit irgendwelche Robota, die in mia umadumfräsen, damit’s sas reinbringen übahaupt. In meim Alter! I hab’ ma ’dort dacht, ich spinn’! Als würd’ ich ma da jetzt no sowas einsetzn lassn, so a neuartiges Klumpat, so weit kommt’s ma noch. Da werte Herr Doktor, da hat der aba schön g’schaut wie i dem das dort ins G’sicht g’sagt hab und seim Gehilfn da. Aba geh, sagn ’S ma nochamal. Was war das zweite? Was wolltn ’S da für an Reis habn? War das der Natur oder der Langkorn? Scho Natur oda? Geh, san ’S so liab, nehman ’S einfach den. Wei für den Langkorn müsst i nämlich extra die Leita holn.“
Ein lebensfroher Blick ganz kurz.
Von der Frau Malazka.

Ganz kurz nur und es ging los, denn:
Herbert Kritzendorfer hatte sich natürlich für Langkorn entschieden, den schwierigeren der beiden Reise, er wollte schließlich etwas von der Frau Malazka, und sie drehte sich herum, elegant wie jemand Guter beim Eiskunstlaufen, und sie rumpelte fast freudig nach hinten, dorthin, wo die Leiter stand, und sie stocherte sie mühsamst und umständlichst und wiederholt „Deppates G’frast“ keifend am Duschvorhang vorbei nach draußen, wo die Frau Malazka die Leiter dann auf ihre rechte Schulter fädelte und hinter sich herschleifte wie am Kreuzweg. Ein schwacher, kurzer, schmerzverzerrter Schritt nach dem anderen, ganz knapp heran an die Frage, ob man denn nicht vielleicht helfen könnte, so kurz war Herbert Kritzendorfer immer schon davor, aber die Frau Malazka kannte die Grenzen und sie kam wie üblich schon als Erste dort an, vorm Regal mit dem Langkornreis, und sie seufzte.

„Schaun ’S mich amal an jetz! Wie da Herrgott! Aba was bringt’s ma ohne Auferstehung? Ha? A eigane Kirchn wern’s wegen mir jetz net mehr gründn no, oda? Ich sag’s Ihnan: Wenn der Langkornreis nur net imma so weit obn stehn würd! Stelln Sa sich das amal vor, wie einfach des alles wär’. Aba wissn ’S eh: So spät no amal seine eigane Ordnung ändan, da hat ma am End ja bald goa nix mehr. Und, ui, ui, ui, und da Ischias. Jetzt issa wieda beleidigt de ganze Wochn, des Seicherl. Nua da Kunde is halt da König, so lern ma das alle, nur da Körpa net. Ma, nur an Lottosechser oder a g’scheite Pensionserhöhung amal. Dann wär zumindest endlich a bessare Leita drinnen wenigstns.“
So war das.
Ja.
Und die Frau Malazka kippte die noch nicht bessere Leiter dann mit einem abschließenden, heiseren Urschrei scheppernd ans Regal mit dem Langkornreis oben und sie kontrollierte die Festigkeit der ersten Sprosse mit ihrem linken Lederpatschen und einem Teil ihres geringen Gewichts. Misstrauisch, misstrauisch drückte sie ihre geballten Zehen von oben dagegen, gegen die erste Sprosse, immer nur gegen die unterste, gegen die, die sie dann gar nicht benutzen würde, und die Frau Malazka stieg auch schon eckig und ungestüm darüber hinweg und ebenso weiter hinauf. Die Leiter, sie wackelte, es sah aus wie Abstürzen, wie warum jetzt noch nicht, wie der letzte Langkornreis im Leben der Frau Malazka, mit Händen und Füßen wehrte sie sich, dagegen, gegen das Fallen und besonders das Aufkommen, gegen die wacklige Leiter, die sie niemals mit einer anderen tauschen würde, auch mit Doppeljackpot nicht. Ein Kraftakt, ein Kraftakt nach dem anderen, zitternd, vor Anstrengung, und das dritte Mal das Gleichgewicht fast verloren und Herbert Kritzendorfer biss sich von innen die Lippen auf, obwohl die Frau Malazka wie üblich dann schneller und sicherer oben war, als es den Anschein erweckt hatte.

„Da hamman ja endlich, ihrn Langkornreis, da samma ja bald fertig a scho. Ja, aba ob i da je wieda runterkomm zu Lebzeitn? Wissn ’S eh, die Rettung brauchn ’S da nimma rufn, wenn i da untn lieg auf einmal. Des zahlt si dann eh nimma aus. Zahlt si ja eh fast nix mehr aus heutzutage, net amal a Zecknimpfung. So lang, wie die haltet, hab i wahrscheinlich eh nimma. Da stell i mi da doch nimmer deppat an am Gang am Bezirksamt drübn. Der neue Arzt dortn hat eh letztes Mal was zamgstochen, schiach war des, des können ’S ma glaubn. Fast schlimma als damals bei meim Hausarzt no, Gott hab ihn selig.“
Die Frau Malazka nickte.
Zustimmend.
Nach ihr auch Herbert Kritzendorfer und dann die Frau Malazka noch einmal zum Abschluss, und sie schnappte sich dann das Reispackerl, das mit dem Langkornreis drinnen, und sie zwickte es sich unter der Achsel ein und sie kletterte so in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, schlimmer herumfuhrwerkend als rauf wieder die Leiter nach runter, wo es knapp über der Hälfte ungewohnt ernst wurde. Ernst. Der Ernst, aber, war ohne jahrelanger Erfahrung im normalen Leiterrunterklettern der Frau Malazka zuerst kaum auszumachen, da aber, da war die sie daneben gestiegen, an der nächst unteren Sprosse vorbei, in die Leere darunter, und Herbert Kritzendorfer wurde das Blut warm vom Brustkorb her, als der Langkornreis stumpf unten aufkam. Auch für die Frau Malazka sah es in Zukunft nach Ähnlichem aus, ihre Lederpatschen segelten abwärts, Hektik, sie suchte und suchte und suchte, die Frau Malazka, sie streckte ihre gelben Zehen nach dem verloren Halt aus, aber der, der war weg. Nur noch mit den Fingern, mit den mageren Ärmeln, hing die Frau Malazka an der Leiter fest, und alles weiter unten krachte mit Schwung dagegen, mit der schlechten Hüfte voran, und es war Holz auf Knochen. Holz auf Knochen, es klang wie Brechen, wie viele dünne Stricherl am Röntgenbild, wie Krücken ab jetzt oder Rollstuhl, wie viel zu viel Schmerzen zum Aushalten.

Die Frau Malazka war da altersbedingt aber schon längst anderer Ansicht.
Sie stöhnte, nur kurz, nur einmal, nur erstickt, unabsichtlich, und dann, dann war ihr einer Fuß wieder auf einer der Sprossen oben, auf einmal, beim ersten Versuch, dann gleich der andere, und die Frau Malazka kam unten an, deutlich sanfter als vorher der Langkornreis, den sie ganz ohne Jammern vom Boden aufhob und zum Brot auf die Echtholzvitrine dazustellte.
Sie wollte sich von ihrem Missgeschick vorher zwar nichts anmerken lassen, hatte es aber mit dem fehlenden Jammern nach den Langkornreisaufheben schon getan.
Sie meinte:
„Ja! Da schaun ’S, ha? Ham ’S schon g’laubt, jetz is vorbei mit uns beidn und Sie stehn da gleich allein da nebn ana totn Frau als Hauptvädächtiga. Des wär doch was g’wesn fürn Sonntag am Nachmittag, oda? Schon, gö? Da wär wieda amal was los g’wesn, das ganze G’schäft volla Leute, wie früha. Da hab i ja no was zum tun g’habt andauernd, aba jetz? I glaub ja, es is das ganze Sitzn, warum alles hin wird innen drin bei mia. Und findn ’S amal an g’scheitn Sessl irgendwo! Bei den ganzn modernen, die ham ja alle irgndwelche Orthopädn mitentwicklt, alle san ’s orthopädisch, na was glaubn ’S? Wern si de da alle selbst a Haxl stelln? Ich sag ’s Ihnan, vorige Wochn war i bei da Seniorengymnastik, wie die da alle am Bodn umadumstrampln dortn, die lachn uns aus alle, da bin i ma sicha. Die lachn sich zum Krüppl bei denen ihren dauerndn Orthopädnkongressn da in da UNO-City, Tränen in die Augn ham ’s a Wochn lang! Aba, die Nudln! Die Nudln warn dann aba das letzte dann, oda?“
Ja.
Die Nudeln, die waren das Letzte.

Das Letzte, und Herbert Kritzendorfer wusste, er brauchte noch gar nicht anfangen damit, das Geldbörsl hinten raus aus der Gesäßtasche seiner zu engen Hose zu zwängen, die Frau Malazka hatte die Nudeln ja am besten für sich schlecht erreichbar im Regal liegen, weder unten, noch oben, dazwischen. Dazwischen, auf sinnvoller Höhe, dort, wo sie nur ungeschaut mit der Hand hätte hingreifen müssen, ohne irgendwelche Schwierigkeiten, wären da nicht die vielen uralten Marmeladegläser gewesen, die um die Nudeln herum, bis rauf zum nächsten Regalboden vierstöckig aufgeschlichtet, ihr selbstgemachtes Gefängnis aufzogen. Dort, dahinter, hinter dieser viereckigen, längst abgelaufenen Mauer aus Marmeladegläsern mit ihren hübsch polierten Ziegeln voll geronnenem Dunkelorange und Dunkelbraun und Schwarz, dort lagen sie, die Spaghetti, die Herbert Kritzendorfer bestellt hatte, dort drinnen eingeschlossen, mit den Fleckerln und den Spiralen, alle drei Sorten wie durchgemischt. Herbert Kritzendorfer wusste das, er hatte was jetzt dann folgen würde ja schon öfter mitangesehen, er wusste, dass die Frau Malazka das am Liebsten hatte, wie sie Marmeladeglas für Marmeladeglas vorsichtig würde abräumen müssen, eins nach dem anderen, bis sie irgendwie endlich mit der Hand zu den Nudeln dazukam, durch durch das vier bis sechs Marmeladenglas große Loch oben vorn im Nudelgefängnis und die Frau Malazka dann die richtigen Nudeln mit den Fingerspitzen an der Form ertasten musste, weil vorher hineinschauen tat sie nie.

„Typisch is des! Da stehn ’s herum seit ewige Zeitn, alle mit Liebe g’macht, alle mitananda! Aba keina braucht ’s! Ich sag’s Ihnan, z’Fleiß is des, das meine ganzn Marmeladn ma da bis ins Grab da im Weg umadumstehn. Als hätt i ’s extra nua dafür einkocht und dann abg’füllt und dann in Deckl draufgschraubt und noch a Maschal drumherum bundn. I mein, wer machtn scho sowas? Aba ja, Sie wissn eh, ma muss ja net alles vastehn auf dera Welt, oda? Gö? Scho. I mein, kost ja nix. Die fünfhundat Schilling, gehn ’S bitte, dasselbe Preis seit imma, seit i meine Marmeladn da aufstelln hab müssn um die Nudln herum, weil sonst ja ka Platz is nirgenst. Und fünfhundert Schilling, also ernsthaft jetz, das is ja ka Preis für was Hausg’machtes. Übaall schrein ’s da do danach heutzutage im Fernsehkastl drin, aba da, da schaun ’S: I bring ’s und bring ’s net an, meine Marmeladn. Als wärn ’s aus irgendam deppatn Grund unsinnign unvakäuflich!“
„Unvakäuflich.“
Die Frau Malazka wiederholte ihr letztes Wort konzentriert wie beim Fliegerbombenentschärfen, mit der Zunge im Mundwinkel, mit ihren Unterlippe über der oberen, und da hatte sie das Packerl Spaghetti auch schon routiniert von den Fleckerln und den Spiralen vom Gefühl her an seiner Länge unterschieden, aber dann: Dann wollte die Frau Malazka das halbe Kilo Spaghetti, von dem Herbert Kritzendorfer wieder jedes Mal viel zu viel machen würde aus Angst es könnte zu wenig werden, die Frau Malazka, sie wollte es gerade behutsam herausheben aus dem gerade großgenugen Loch in der Marmeladeglasmauer drumherum, in der ihre Hand fast bis zum Ellbogen drinsteckte, und im dümmsten, im letzten Moment stieß sie an. Ganz leicht nur, mit dem Knorpel außen am Handgelenk, der fast schon draußen war, es war mehr ein Streicheln, ein weiches Anstreifen, kaum dass sich das berührte Marmeladeglas auch nur bewegt hätte, wäre die Frau Malazka nicht davon schon so überrascht gewesen, wie es in ihrem Gesicht geschrieben stand.

Herbert Kritzendorfer hätte sich nie gedacht, dass er das einmal miterleben dürfte.
Wie die Frau Malazka beim Nudelholen die Marmeladen alle runterschmeißt.
Aber da: Ein erschrockenes Ganzkörperzucken, ein Augenaufreißen, und schon ging alles ganz schnell, und ganz abwärts.

Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, immer schneller, die Frau Malazka, sie stand da, ohne Dagegenhalten, ohne Dasschlimmsteverhindern, mit den Augen zu, wie als reichte ihr das Geräusch, mit dem um ihre Füße herum die Marillen und die Brombeeren und der Rhabarber von vor Jahrzehnten nacheinander aufschlugen, wie sie ihre Verglasung klatschend davonsprengten, wie sie viel fester waren als flüssig. Fester, zwischen und in und auf den Scherben, da lagen sie, die Marmeladen, wie dicke, bröcklige Gummiwürstl mit abgehackten Enden, wie jetzt offiziell zum Verzehr ungeeignet, wie Magenauspumpen schon vom Hinschauen, und es roch wie nach gar nichts. Es roch nach nichts, wie als wäre da kein Geruch mehr da, als wäre da nur noch das Ehklar in der Luft, dass das irgendwann passieren hatte müssen, und die Frau Malazka watete mit verkanteten Augenbrauen durch durch das ganze Malheur und legte die Spaghetti oben auf die Echtholzvitrine zum Brot und zum Langkornreis und sie fragte:
„Und? Ham ’S das g’sehn jetz? A Sauarei is des sondagleichn, oda? Da passt amal kurz net auf, und scho is alles weg, als wär net amal aufs Hirn a Verlass mehr. Typisch! Typisch is des, sag ich ihnan, is ja auf nix mehr a Verlass heutzutage. Aba ja, von mia aus, dann halt net, denk ich ma langsam, mach i ma halt a paar neue Marmeladn, is ja ka Hexerei und Zwetschkn san eh in Saison grad, schlepp i mi halt wieder ab damit, ka Problem. Ich mein, sonst liegn die Nudln am End da nur so nackert da herum, das schaut ja dann a nix gleich, oda? Ebn. Und wissn ’S, gestern, wissn ’S, was ich ma da hab anhörn müssn beim Damenkränzchen von da Frau Hofbauer wegn da Optik vor vierzehn Tag? I sollt ma do die Haare färbn, rot oda lila oda sonst was, wegn dem jugendlichn Flär. Gut für’s G’schäft wär das, weil grau is ja net mehr mit der Zeit gehen, hat ’s g’sagt, und i hab ma übalegt, ob i ’s net gleich gach umbring dortn. Warum net, hab i ma da dacht, warum net. Und ma, wie ma da Bauch wehtan hat vor lauter Lachn nur vom Vorstelln her wie i de Guakn dort in da Kloschüssl datrenk, da ham ’s wieda alle deppat g’schaut, die ganzn altn Weiba. Aba ja: Dafür brauch i halt ka Simpl mehr, erspar i ma in Eintritt, is ja a wos. So. Gut. Hätt ma das auch besprochn. Dreißig Schilling und vierzig Groschen wärn das dann.“
Ja, so funktionierte das bei der Frau Malazka.
Deshalb kamen die Leute.
Oder sie kamen nicht.

Und als Herbert Kritzendorfer sein Geldbörsl aufmachte und den genauen Betrag in Münzen zusammensuchte, war er gekommen, der erste und einzige Moment, die Frage zu stellen, für die zu stellen er gerade genug Geld mithatte.
„Flasche? Was meinen ’S für a Flasche? Nochamal? Aso! Aso die, die da draußn in da Auslage. Na, seavas, gehn ’S bitte, fragn ’S mi bitte was Leichtares. Die steht scho so lang dortn, ka Ahnung mea, was da drin is und wo de herkommen is. Vielleicht vom meim Mann no, irgendein Schnaps so wie i den kenn. Aba ja, kommen ’S ma da jetz ja net auf blöde Gedankn, gön ’S. Wegn Ihnan mach i da jetz keine Experimente mea mit da Auslage, also das können ’S gleich amal vagessn. Was liegt, des pickt bei mia, und da fahrt die Eisnbahn drüba. Also wirkli, Herr Kritzendorfer, Sie kennen mi do schon so lang, ham ’S wirklich nix g’lernt von mir? Glauben ’S wirklich i mach ma da das Lebn unnötig schwer, oda was? Also, bitte.“
Die Frau Malazka grinste.
Herbert Kritzendorfer auch.
„Und? Hamma dann alles? Alles? Passt! Na, dann wünsch i Ihnan an schönen Tag heut no. Morgn soll’s eh wieda schirch werdn, ham ’s gestan ang’sagt. Aba wissn ’S eh: Was die imma alles ansagn im Wettabericht! A Wahnsinn is des, was die da dauernd zamspinnen.“
Das silberne Glockenspiel klingelte.
„Auf Wiedaschaun, da Herr! Und passn ’S ma auf, hörn ’S, auf die Stufn!“
Kurze Zeit passierte dann nichts.
Nur die Frau Malazka, die ihre Hände mit den Handflächen aneinander rieb.
„Genau!
Haarefärbn?
Von wegn!
Pffft!
Genau!“, und die Frau Malazka zog dann den alten Teddybär von unter der Echtholzvitrine heraus, und setzte ihn oben hin.
„Stell da vor“, sagte sie, „Na stell da nua amal voa.“
Sie sagte, „Stell da nua amal voa, was die sicha alles für Fragn habn, wenn nächste Wochn du da plötzlich draußn in da Auslage sitzt, hm?“, und sie streichelte dem Teddybär über den Kopf mit der einen Hand, und hob die Faust mit der andren.

Markus Peyerl
www.markuspeyerl.at

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