Kategorie-Archiv: Giorgi Ghambashidze

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Lebe wohl, Lakritz - Teil II

Bevor ich nach Hause ging, brachte ich Greta anonym eine Rose. Das Bild vom Sonnenuntergang faszinierte mich wieder. Es erinnerte mich an etwas, aber am Anfang konnte ich nicht verstehen, an was genau. Erst als ich schon zu Hause war, erinnerte ich mich an einen konkreten Sommer, als mein Vater noch lebte. Ich war damals ziemlich klein, und wir waren alle zusammen im Urlaub am Meer, wo es sehr frisch war. Danach verließ mein Vater meine Mutter und wanderte in die USA aus, wo er als Säufer an Leberzirrhose starb.
Ich stellte mir oft vor, wie er sich zu Tode soff, wie Nicholas Cage in „Leaving Las Vegas“.
Jetzt stand ich vor dem Spiegel in meinem öden Zimmer, wo ich Lakritz nachzumachen versuchte, aber ich schaffte weder seine Gesichtsausdrücke noch seine Stimme. Er war wirklich unnachahmlich. Genau so, wie wir alle es sein sollten.

Am nächsten Tag gingen ich, meine Mutter, ihr Freund und unsere Nachbarn – eine ukrainische Mutter und ihre Tochter – in den Wald zum Picknick. Das Mädel war ein Jahr älter als ich, aber unsere Beziehung war absolut platonisch, sie war meiner Meinung nach frigide. Ihre Mutter hatte die Marschroute schon festgelegt, und als ich den Waldplan rausholte und einen besseren Pfad zeigte, brachte sie das sehr auf.
Wir liefen circa einen halben Kilometer gemeinsam, und sie jammerte die ganze Zeit über das Wetter, Politik, die steigenden Preise von Lebensmitteln und die Steine auf dem Weg, dem wir folgten.

„Beruhige dich, lass uns doch den Spaziergang genießen“, sagte meine Mutter zu ihr.
Das machte die ukrainische Mutter noch wütender. Sie drehte sich rasch um und ging zurück. Wir hielten an und schauten ihr nach, dann fragte meine Mutter:
„Hab ich was Falsches gesagt? Ich wollte sie bloß beruhigen.“
„Wenn mit einem etwas falsch ist, kannst du dafür nichts tun“, sagte ihre Tochter und lief einfach weiter. „Kommt und denkt nicht daran!“

Ich und der Freund meiner Mutter liefen ein wenig voraus, und die Frauen folgten uns. Das Mädel erzählte meiner Mutter etwas. Ich beschleunigte meine Schritte, aber meine Mutter rief sofort.
„Renn nicht so!“
Ich verlangsamte mein Tempo und hörte die Geschichte zwangsläufig mit. Das Mädel erzählte Folgendes.
„Mein Vater starb furchtbar. Er joggte gern im Morgengrauen. Eines Tages ist er nicht zurück gekommen. Wir haben eine Woche lang nach ihm gesucht, die Polizei hat ihn bewusstlos im Wald gefunden. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Als er zu sich kam, hat er erzählt, dass er von einem Auto angefahren worden war, und als der Fahrer gesehen hatte, wie schrecklich seine Beine verletzt waren, hatte er ihn ins Auto gesetzt, an einen abgelegenen Ort gefahren und ihn dort ausgesetzt. Der Vater behauptete, sich weder an den Fahrer noch an den Wagen erinnern zu können. Er starb innerhalb weniger Tage an Sepsis.

Ich stellte mir vor, wie grausam es sein musste, so zu sterben. Bestimmt fühlt sich eine Minute wie eine Stunde an. Niemand darf sagen, dass er sowas verdient hat. Das Leben kann manchmal, was Bestrafung oder Belohnung angeht, sehr ungerecht sein.
Unterwegs fiel mir eine Jägerhütte auf.
Wir picknickten zwischen großen Bäumen, deren Flachwurzeln sich sichtbar ausgebreitet hatten und mich an den „Kopflosen Reiter“ erinnerten. Ein in die feuchte Erde gesteckter Kopf zwinkerte mir zu.

Lakritz würde zu diesem Ort gut passen.

Gesättigt legte ich mich hin, schaute mir die höheren Baumspitzen an. Dann flog ich ganz langsam und dynamisch dahin. Als ich oben angelangt war, drehte ich mich um und fing an, zu mir zu schweben. Es war merkwürdig, sich so zu betrachten. Plötzlich verstand ich, dass ich jemand anderer sein könnte, weil mich nichts Unentbehrliches mit mir, meinem Leben oder den Menschen, die um mich herum saßen und über sinnlose Themen sprachen, verband. Deswegen suchte ich einen Grund, um zurückzukehren. Genauso könnte ich woandershin fliehen, etwas Interessanteres finden und es beobachten, versteckt wie ein Gott. Es würde mir unendliche Freiheit verleihen. Ich würde keinen Schmerz oder kein Verlangen spüren, sondern das Leiden und die Freude anderer Menschen sehen, Freude die ich von ihren Gesichtern ablesen und stehlen könnte.

Meine Mutter weckte mich auf und bat mich ein Foto zu machen. Sie und ihr Freund stellten eine Szene nach, in der er ein Maniac war, der mit offenen Armen meine Mutter verfolgte, die schreiend vergeblich zu entkommen versuchte.

Fast hätte ich es vergessen. Im Wald hatte ich eine Kastanie gefunden, die ich die ganze Zeit mit mir herumtrug. Bevor wir den Wald verließen, hatte ich sie auf einen Felsbrocken gelegt und mir gewünscht, dass wenn sie bei meinem nächsten Besuch immer noch hier liegen würde, alle meine Träume wahr werden würden.

Am Abend hatten ich und Lakritz vor, uns den neuen, verrückten Film von Leos Carax anzusehen.
„Alles was man tut, wird als Information im Weltall gespeichert und wenn es notwendig wird, gefunden.“ Sagte Lakritz unerwartet nach langem Schweigen und ich erinnerte mich an den gestrigen Abend, als ich er zu sein versuchte. Wie peinlich vor dem Schöpfer.
Der Hauptdarsteller schlüpft während des Tages in verschiedene Rollen, deswegen musste ich an die Menschen denken, die ein vielfältiges Leben zu führen versuchen, weil sie wissen, dass sie eines Tages sterben. Sie wollen ihr einziges Leben irgendwie fröhlicher machen. Alles was wir machen, machen wir aus Angst vor dem Tod; nur dann fühlen wir uns lebendig.
„Da steckt eine gewisse Panik drin,“ sagte Lakritz nachdenklich. „Immer mehr haben, wobei man nichts wirklich besitzt, immer überall sein, wobei man nirgendwo richtig ist.“

Als ich nach Hause kam, rief ich Greta an. Bei den ersten zwei Versuchen sagte mir eine künstliche Frauenstimme, dass diese Nummer nicht vergeben sei, aber ich versuchte es nochmal, tatsächlich hörte ich den Ton. Ich war sehr nervös. Ich fühlte mich wie ein verliebter Teenager. Ihre Mutter nahm den Hörer ab und sagte, dass Greta im Badezimmer sei, aber ich könne in fünf Minuten wieder anrufen. Ich tat es so. Mir antwortete wieder die Mutter, aber diesmal rief sie Greta zum Telefon.
„Hallo“, hörte ich eine tiefe Stimme.
Meine Stimme blieb weg, ziemlich verspätet sprach ich, wie ein schlechter Schauspieler, unplausibel und anspruchsvoll.
„Endlich reden wir“, sagte ich, mit mir unzufrieden eine Grimasse schneidend.
„Was?“, fragte sie und fing an hysterisch zu lachen.
Ihre Mutter mischte sich ins Gespräch ein und fragte mich, wer ich sei. Ich erklärte es ihr.
„Bringst du die Rosen?“
„Ja“,antwortete ich eingeschüchtert.
„Es wäre besser gewesen, sich von Anfang an vorzustellen. Sie hatte all diese Tage Angst, dass sie von einem Stalker verfolgt wird.“
„Nein, nein, ich bin auf keinen Fall ein Stalker“,  rechtfertigte ich mich so, als ob ich tatsächlich einer wäre.

„Wie alt bist du?“,  im Hintergrund hörte ich immer noch Gretas Lachen und ihre Mutter tat es eine Sekunde lang auch, aber sie riss sich sofort zusammen.
„Ich bin dreiundzwanzig.“
„Und sie ist erst vierzehn!“
„Ihr Alter wusste ich nicht, ich wusste nicht wie alt sie ist“, stammelte ich.
„Warte, bis sie erwachsen ist, mehr kann ich dir nicht sagen.“ Sie empfand offenbar Mitleid mit mir.
Ich entschuldigte mich bei ihr für die Störung und legte auf.

Ich hatte gedacht, dass ich Greta Freude machen würde, und sie hatte dabei um ihr Leben gefürchtet. Wenn sie nach Hause kam, bedankte sie sich wahrscheinlich jedes Mal bei Gott, dass sie immer noch lebte. So kann ein und dieselbe Handlung bei Menschen verschiedene Gefühle auslösen. Ich vermutete, dass sie zu jung war, aber ich belog mich selbst.
Ich hatte ihr Lachen noch immer im Ohr, als ob das Universum über meine Naivität lachte.

Im Fernseher lief „Verschollen“ und als Tom Hanks Wilson verlor, weinte ich mit ihm.

In der Nacht hatte ich einen Alptraum. Greta stand vor mir, und sagte etwas, aber als ich aufwachte, vergaß ich alle ihre Worte. Das Einzige, was ich aus dem Traum mitbrachte, war ihr Gesicht. Sie hatte in ihrem linken Auge zwei Pupillen. Mit einer schaute sie mich an und mit der zweiten jemanden anderen, den ich nicht sah.

Ich stand ohne jegliche Lust auf und wischte den Staub in der Wohnung. Meine Mutter machte Fitness im Wohnzimmer und bat mich, ihr ein Glas Wasser zu bringen, aber ich machte mein Ding ohne Eile weiter, und war in meinen Gedanken, so tief, dass ich ihre Bitte vergaß.
„Worum muss man dich bitten, damit du es machst? Du Hurensohn!“, schrie meine Mutter. „Damit meine ich deinen Vater“, fügte sie wesentlich leiser hinzu.
Seit dem Vortag frustriert, erwiderte ich grob:
„Ich bin nicht dein Hund!“ Sie drehte durch und schmiss die Hantel mit aller Wucht auf den Boden. Ich ging in mein Zimmer, wo ich mich mehrere Male ins Gesicht schlug.

Auf einmal fiel mir auf, dass das Fenster, das zum Hintergarten von Gretas Haus schaute, offen sein könnte, und sie alles mitgekriegt haben könnte! Aber ich blieb in meiner Hölle, weil es schon zu spät war.
„Was ist mit deinem Auge passiert? “, las ich die Frage im Lakritzes Blick.
„Ich habe mich mit meiner Mutter gestritten.“
„Wie traurig.“
Wir schwiegen, dann fing er an zu erzählen.
„Ein Fischer hat einen Hai vom Netz befreit, seitdem ist der Hai seinem Boot die ganze Zeit gefolgt, weil er dachte, dass er den Fischer damit beschützte, aber der Fischer konnte keine Fische mehr fangen.“
Ich war ahnungslos, wieso er mir das erzählt hatte.

Da ich nichts über Lakritz wusste, fing ich an zu fantasieren. Die folgenden Geschichten fielen mir ein:

Lakritz ist gerade fünf und verbringt seinen Sommer mit seiner Familie in den Bergen. Abends wird es kühler, und weil in der Nähe ein See liegt, gibt es viele Mücken, die seine Tante überall stechen, weil sie Diabetes und dementsprechend „süßes“ Blut hat. Sie sitzt auf dem Bett mit nackten, zerstochenen Brüsten und ruft den kleinen Lakritz zu sich. Er ist verwirrt, er hat Angst das Zimmer zu betreten, aber sie lockt ihn. Er geht mit kleinen, schwachen Schritten zu ihr. Er ist vor Angst erschöpft. Sie nimmt eine Watte, durchtränkt sie mit dem Spiritus und überreicht sie ihm. Im Zimmer riecht es sehr stark nach Spiritus und er kann an diesem, ohnehin stickigen Abend kaum noch atmen. Irgendwo bellt ein bissiger Hund. Bissig, weil er schon öfter mal an den Zauntüren gelesen hat, dass drinnen ein solcher Hund ist, und er glaubt, dass alle Hunde so sind. Die Motten kreisen um die erhitzte Glühlampe und fallen verbrannt auf den Fußboden. Dort liegen bereits einige. Er denkt, dass es nie enden wird.
„Nimm es“, sagt seine Tante.
Lakritz nimmt die Watte und bekommt ein unangenehmes Gefühl an den Fingerspitzen. Er weiß, wie schrecklich es ist, die Watte im Mund zu haben. Er ist schon beim Zahnarzt gewesen. Seine zarte Haut fängt an, vom Spiritus zu brennen. Anscheinend hat er sich seine Finger beim Spielen im Gras zerschnitten.
Tantes Brüste scheinen ihm riesig zu sein, besonders jetzt, da er so nah steht, und er versteht immer noch nicht, was sie von ihm will.
„Reib es ein“, sagt die Tante von oben herab, und er reibt mit der feuchten Watte eine und dann die andere Brust ein. Diese Prozedur dauert eine Ewigkeit für ihn, und als die Tante sagt, dass die Watte trocken geworden ist, und er sie wieder nassmachen soll, lässt er sie fallen und rennt mit seiner letzten Kraft aus dem Zimmer.
Seitdem hat er Angst vor dem anderen Geschlecht, und immer wenn erotische Momente entstehen, rennt er mit Übelkeit davon.

Lakritz besucht bereits die Schule und sein Großvater ist sehr stolz auf ihn. Er hilft ihm bei den Hausaufgaben und jubelt über all seine kleinen Erfolge, und wenn Lakritz im Hof Fußball spielt, guckt er manchmal nach oben zum Fenster, in dem er die Silhouette seines Großvaters hinter dem Vorhang sieht, eine Silhouette, die ihn beobachtet und liebt. In solchen Augenblicken versucht er, besser zu spielen, um ihn noch stolzer zu machen, und wenn Lakritz mit jemandem Zank hat, dann verleiht der unsichtbare Blick seines Großvaters ihm mehr Mut.
Er geht immer nach dem Spiel angenehm ermüdet nach Hause und spielt mit ihm auch, aber der Mann ist schon ziemlich alt, und er schafft es nicht mehr so lange zu spielen wie früher.
Eines Abends sitzt der Großvater im Sessel und sieht fern. Es geht ihm nicht besonders gut. Lakritz rennt um ihn herum und versucht ihn aufzumuntern, dabei zieht er Flüssigkeit in seine Nase zurück, weil er das Rennen nicht abbrechen möchte.

Plötzlich spürt er im Rachen einen metallischen Geschmack. Er hält an und berührt seine Nase. Seine Finger färben sich rot. Er rennt weinend ins Badezimmer und dreht den Wasserhahn auf. Das fließende Wasser verdünnt das Blut und es bekommt seltsame Formen, bevor es in die Abflusstiefe verschwindet. Er hat keine Angst mehr.
Wenige Tage später stirbt der Großvater an einem Aneurysma. Der traurige Lakritz kann zu Hause zwischen den flüsternden Menschen keinen Platz finden. Seine Mutter lässt ihn in den Hof, damit er sich ein wenig ablenkt. Er geht zum Laden, kauft Saft und Süßigkeiten und geht zu einem verlassenen Gebäude, wo er alleine sitzt und an den Tod denkt. Er kehrt erst nach Hause zurück als es schon dunkel ist.
Die verärgerte Mutter schreit ihn an. Er behauptet, er hätte die ganze Zeit irgendwo gesessen und geweint. Er tut ihr damit leid und sie umarmt ihn. Lakritz versteht, dass es nicht richtig ist zu lügen, aber es macht Leben einfacher.

Lakritz ist ein junger Mann, und er hat schon Vor- und Nachteile der Masturbation herausgefunden. Manchmal tut er es oft nacheinander und kann am nächsten Tag kaum laufen, weil ihm sein Hodensack wehtut. Manchmal holt er sich in der Gemeinschaft mit seinen Freunden einen runter, und sie machen blöde Wettbewerbe. Zum Beispiel, wer kommt schneller oder wer spritzt sein Sperma am weitesten.
Eines Tages ist er mit zwei Freunden hinter der Garage des Nachbarn und die zwei inspizieren sehr sorgfältig ihre Penisse. Das erscheint Lakritz seltsam, aber es interessiert ihn, was noch passieren wird. Plötzlich dreht einer der Jungs den anderen zu der Wand und führt seinen Pimmel in ihn ein. Lakritz ist erstaunt, aber er guckt weiter.
Unerwartet schreit eine Frau, die das Treiben aus ihrem Fenster bemerkt hat und jetzt entsetzt ist.
„Was macht ihr da?“ Im Fenster nebenan taucht ein Mann auf und schreit auch etwas, was er ruft, bleibt undeutlich.
Die zwei Jungs ziehen ihre Hosen schnell hoch und laufen in verschiedene Richtungen, aber Lakritz kann sich nicht bewegen. Er steht wie eingepflanzt am Tatort.
Obwohl er nichts gemacht hat, die Leute verurteilen ihn trotzdem. Selbst seine Familie glaubt ihm nicht ganz. Deswegen verlässt er eines Nachts sein Haus für immer.

Ich könnte unendlich über Lakritz fantasieren, aber ich hörte damit auf.

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um | Inventarnummer: 18149

Lebe wohl, Lakritz - Teil I

Zum ersten Mal sah ich Lakritz in meinem Lieblingskino namens „Der Strahl“. Draußen war es ein stickiger Sommerabend und ich war in den kühlen Kinosaal eingetaucht, wo „Gefühl und Verführung“ von Bertolucci lief, den ich bereits zweimal gesehen hatte und mit großem Vergnügen noch einmal sehen würde.
In diesem Kino wurden immer Filmklassiker oder neue Meisterwerke vorgeführt, deswegen war der ziemlich kleine Saal stets kaum zur Hälfte voll. Manchmal waren außer mir nur ein paar Leute hier, und da verstreut.

Ins Kino zu gehen war eines meiner intimsten Rituale, wofür ich mich emotional schon zu Hause vorbereitete. Der Tag fing immer sinnvoll an, wenn ich wusste, dass ich ins Kino gehen würde.
Manchmal fliehe ich dahin nach dem Stress, oder der Ermüdung, um mich wieder mit Lebensenergie aufzuladen.

Wie ich schon sagte, sah ich Lakritz an jenem Abend zum ersten Mal. Er saß einige Reihen vor mir, und ich sah seine schulterlangen Haare. Zwischen uns waren drei Jungs, die offensichtlich kein Interesse an dem Film hatten, sondern blöde Späße machten. Als Liv Tyler dem Künstler ihre Brüste zeigte, fingen die Jungs an, dreckige Kommentare abzulassen.
Ich ärgerte mich langsam. Ab und zu traf ich hier sinnlose Menschen, die kein Vergnügen am echten Kino fanden, und die anderen Zuschauer einfach störten. Ich tötete sie immer in meinem Kopf. Vermutlich hatte ich bereits über zehn davon in diesem dunklen Saal geschlachtet.

Ich könnte jemanden ermorden, aber nur wegen des Kinos!

Lakritz hatte sich schon einige Male mit unzufriedenem Gesichtsausdruck zu den bellenden Welpen umgedreht, und diesmal bat er sie, leiser zu sein, woraufhin die Jungs sich aufregten. Lakritz sagte ihnen noch etwas, was ich leider nicht verstand. Die Jungs forderten Lakritz auf, ihnen zu folgen. Er stand ganz ruhig auf, er war ziemlich groß. Er folgte dem Trio aus dem Saal. Ich wartete nicht lange und ging in einer Distanz auch hinaus. Draußen war es kühler geworden, und ich sah „Vanilla Sky“. Wenn ich einen solchen Himmel sah, wollte ich immer weinen, aber jetzt hatte ich keine Zeit dazu.

Ich sah deutlich Lakritzes Gesicht. Er war sehr hübsch, ein bisschen androgyn. Die schmale Nase und die sehr kantigen Wangenknochen wurden von warmen, braunen Augen gekrönt, in denen man sehr viel Leid ablesen konnte.
Er hinterließ nicht den Eindruck eines unglücklichen Menschen, aber man konnte merken, dass etwas ihm Sorgen bereitete, und ich erkannte mich in ihm. Ich hatte in mir auch diese süße Traurigkeit von unerfüllten Träumen, in denen die Hoffnung auf zukünftige Erfolge lebte, die half, diese Wehmut zu ertragen.

Plötzlich fiel mir etwas Rotes und Dünnes in seinem Mund auf. Ich schaute genauer hin und sah, dass es eine Lakritzstange war, wie ich sie in der Kindheit probiert und seitdem völlig vergessen hatte, obwohl sie mir sehr gut geschmeckt hatte.
Im chaotischen Alltag vergisst man sehr oft, was einem Freude gibt, dabei sind es genau solche Dinge, die uns von einem Tag zum nächsten helfen.
Während ich dies dachte, schlug einer der Jungs Lakritz mit der Faust an den Kiefer. Lakritz fiel auf den Boden, erhob aber sofort den Kopf und lächelte. Seine Lippe blutete, und er wischte das Blut sehr filmreif mit der Hand weg. Ich war einfach begeistert. Er suchte nach der Süßigkeit, die wie ihr Besitzer auf dem Boden lag, holte aus der Hosentasche eine neue Stange heraus, steckte sie in den Mund, schaute sich das Trio und dann mich zum ersten Mal an. Ich nickte ihm leicht zu und ging auf das Trio mit schwingenden Fäusten los. Lakritz stand sofort auf, und wir schlugen wie zwei tollwütige Löwen um uns. Die Jungs schrien und rannten weg, wie Hyänen.

Lakritz wischte den Dreck von seiner Kleidung schnell ab und bedankte sich bei mir.
„Wie heißt du?“, fragte ich ihn.
„Lakritze“, antwortete er, und wir gingen zurück ins Kino, wo ich mich zu ihm setzte.

Ab und zu sah ich ihn an. Er guckte begeistert zur Leinwand. Ich Unbedarfter hätte nie gedacht, dass es auf dieser Welt noch so einen ratlosen Kinomaniac wie mich gibt. Wie grenzenlos begrenzt sind wir!
„Zum ersten Mal?“, fragte ich ihn leise.
Er drehte sich zu mir und lächelte.
„Zum sechsten“, dann guckte er weiter.
Wäre das Leben ein Kinofilm, er wäre ein perfekter Charakter. Ein absoluter Lieblingsheld.

Als wir das Kino verließen, fragte ich ihn, ob er ab jetzt vorhätte, öfter hierher zu kommen. Er nickte mir zu und verabschiedete sich mit Handschlag, wie in einem Film der aus der Haft entlassene Alain Delon von einem Polizisten, und ich rief aus:
„Vier im roten Kreis.“
Er hielt an, drehte sich um und lächelte wieder „Bis morgen, mein Freund.“

Aus einem unbekannten Grund folgte ich ihm. Er lief ziemlich angespannt, als ob er spürte, dass ihn jemand verfolgte, aber er drehte sich nicht um. Unterwegs stolperte ich mehrere Male. Die Passanten schauten mich komisch an. Ich schätze, dass meine Aufregung mir auffallend wie eine kaukasische Nase im Gesicht stand. Bald bog er um die Ecke, und ich auch. Er stand da mit verschränkten Armen auf mich wartend.
„Du bist genau so ein lächerlicher Detektiv wie Jean-Pierre Léaud“, sagte er, und ich schämte mich wie ein kleines Mädchen, das aus Neugier etwas verbrochen hatte.
„Bis morgen“, wiederholte er und ging.
Ich stand da, bis er verschwand, und machte mich mit langsamen Schritten auf den Rückweg.

Ich folgte den nächtlichen Straßen, wobei ich verschiedene Geräusche und Düfte einfing. Die Nachtbeleuchtung fand ich sehr interessant. All die kleinen, farbigen Lichter gaben mir das Gefühl, in einer anderen Dimension,  jemand anderer zu sein, der keine Vergangeheit oder Zukunft, sondern nur diesen traumähnlichen Augenblick hat, in dem er für immer gefangen ist, und das Schönste oder das Schlimmste ist, dass er gar keinen Ausweg sucht, weil es ihm in dieser mystischen Geborgenheit, wie in den Armen eines schmerzlosen Todes gefällt. Das Wissen, dass man für nichts mehr verantwortlich ist, wirkt so befreiend und gleichzeitig zerstörend, denn es heißt nur, dass es dich nicht mehr richtig gibt, und alles was du tun musst, ist rumschweifen, bis ein Fremder deine Rolle endlich übernimmt.
Diese Atmosphäre wurde am besten in den amerikanischen und französischen Filmen der 70er-, 80er-Jahre dargestellt.
Die leuchtenden Fenster bargen, wie Galaxien, einzigartige Geheimnisse.

Gutes Kino ist wie Magie. Es hilft einem, in eine vergessene Vergangenheit zu gelangen. Meine Gedanken zwangen mich, an meine einzige Freundin zu denken. Jedes Mal wenn auf der Leinwand ein Mann und eine Frau sich streichelten, erinnerte ich mich an ihre Berührung. Während sie neben mir lag, hatte sie mich oft angesehen und mit ihrem Finger zart meine Lippen und meine Nase gestreichelt, als ob sie meine Gesichtslinien genießen würde. Ich konnte bis heute nicht verstehen, was sie an mir so geliebt hatte. Ich war ein ganz unauffälliger Bursche. Also wie es mir schien, sah sie jemanden anderen in mir, den sie selbst erschaffen hatte. Sie liebte ein Phantom.

Ein Mädchen, das mit ihrer Mutter und Schwester im Nebenhaus wohnte, erinnerte mich sehr an sie. Wir begegneten uns ziemlich oft, und ich mochte sie. Ich und Greta begrüßten uns beim Treffen nie, aber wir wollten uns offensichtlich kennenlernen.
Ich dachte ziemlich oft an sie, aber ich versuchte die sexuellen Fantasien loszuwerden, weil ich sie in meiner Vorstellung nicht entwürdigen wollte.
Ich spürte einen unerklärlichen Drang, etwas zu tun, und bevor ich zurück nach Hause ging, spazierte ich in einen Blumenladen, den die Verkäuferin schon zu machen wollte, um eine rote Rose zu kaufen.

Mit der Rose in der Hand schlich ich zu Gretas Briefkasten, wie ein Dieb, und sah mich um, um sicher zu gehen, dass mich keiner sah. Mein Herz klopfte wie verrückt. Ich entfernte alle Stacheln von der Rose und legte die Blume in den Briefkasten, an dem ich ein angeklebtes Bild eines Sonnenuntergangs bemerkte. Die Sonne berührte fast den Horizont, und ihr Strahl streckte sich über die Wasseroberfläche zum Kameraobjektiv. Ich wollte wissen, wer dieses Bild gemacht hatte. Es blitzte plötzlich am Himmel, und das freute mich sehr, weil ich sommerliches Unwetter liebte.
Bevor ich den Flur betrat, traf mich ein Regentropfen auf dem Kopf. Währenddessen stellte ich mir vor, wie die zur Schule gehende Greta sich morgen freuen würde, nachdem sie die Rose entdeckt hätte. Wen würde sie wohl als Rosen-Kavalier vermuten?

Am nächsten Tag waren ich und Lakritz im Café des Kinos. Am Nebentisch saß ein Junge. Er trug eine Sonnenbrille, der das linke Glas fehlte, genau so wie in der vorletzten Szene von „Bonnie und Clyde“, in der es Clydes Brille fehlte. Ich lächelte. Der Junge verstand wieso und war froh, weil jemand seine Absicht verstanden hatte.

Lakritz sah in die Ferne und erzählte mir.
„Ein junger Mann liebte Kino über alles. Er ging jeden Tag dahin und vergaß die Realität. Nur dort fühlte er sich glücklich. Eines Tages sah er auf der Leinwand die folgende Szene:
Ein junger Mann läuft eine von Laternen beleuchtete Straße entlang. Plötzlich bemerkt er rechts von ihm einen Mann, der an einer Ziegelwand lehnt, und langsam, mit tiefen Zügen raucht.
Der Mann hält vor dem Raucher ihn frech anstarrend an. Dem Raucher gefällt das nicht und er fragt grob:
„Was willst du?“
Der Mann geht zu ihm, ohne zu antworten, und schlägt ihn so stark an den Kiefer, dass er ohnmächtig umfällt. Die einsame Zigarette liegt auf dem Bürgersteig und qualmt weiter in der Hoffnung, aufgeraucht zu werden. Der Mann beobachtet den Ex-Raucher, dann schleppt er ihn wie einen Kartoffelsack in die Dunkelheit und kehrt zur Zigarette zurück, hebt sie auf, lehnt sich an die Wand und raucht.
Das warme Laternenlicht beleuchtet die Wand so gut, dass man seine Struktur, ohne sie anzufassen, spüren kann. Der Film ist zu Ende.

Der Mann dehnt sich, steht auf und verlässt den Raum. Draußen ist es dunkel geworden. Er läuft über die Straße. Plötzlich bemerkt er einen Mann, der sich rauchend an eine Ziegelwand gelehnt hat.
Der Mann hält vor dem Raucher an und starrt ihn an. Dem Raucher gefällt das nicht und er fragt: „Was ist los?“
Der Mann geht zu ihm ohne etwas zu sagen. Der Rest ist schon klar.“ Damit beendete Lakritz seine Geschichte und schwieg, aber nach kurzer Zeit sprach er weiter.
„Kinematographie ist eine große Waffe, um die Menschen zu beeinflussen. Das wusste Lenin auch, vom Dritten Reich ganz zu schweigen.“ Und er schaute wieder in die Ferne.

Ich beobachtete ihn. Ich wollte schon immer so groß, dünn, sinnlich und ein bisschen neurotisch sein, mit langen Fingern, wie ein Klavierspieler. Die Mädels schwärmen für solche Typen.
„Wohnst du hier?“, fragte ich ihn nach einiger Zeit.
„Nein“, antwortete er aus seinen tiefsten Gedanken heraus, ohne mich anzusehen, und ich dachte, dass Freunde nicht die jenigen sind, die von einander alles wissen, sondern die, die einander nicht dazu zwingen, etwas von sich zu erzählen. Ich vermutete, dass Lakritz wegen jemandem in der Stadt war, und dieser jemand ihn quälte.
„Ich hab irgendwo gelesen“, sagte ich, „dass wenn James Dean nicht gestorben wäre, er statt Marlon Brando in „Der Wilde“ den Anführer der Bikerbande gespielt hätte.“ Meine Worte brachten Lakritz zurück. Er sah mich an und zuckte mit den Schultern.

Ein paar Meter von uns entfernt standen zwei Mädels und glotzten Lakritz an. Eine davon war eine ziemlich schöne Brünette. Sie tratschten und lachten ohne Grund, wie es bei den jungen Mädchen üblich ist, wenn sie die Aufmerksamkeit eines Jungen gewinnen wollen, aber Lakritz beachtete sie nicht. Dabei wusste ich ganz sicher, dass er sie bemerkt hatte. Er war einfach nicht interessiert und holte eine neue Lakritzstange aus seiner Hemdtasche heraus.

„Willst du?“, bot er mir an, aber ich nahm sie nicht, weil es sein Requisit war.
Die Brünette kam auf uns zu, ihre weniger attraktive Freundin folgte ihr verlegen.
„Wie heißt du?“, fragte die Brünette Lakritz.
Er sah sie mit schläfrigen Augen an und antwortete, aber es war ihr nicht genug. Sie wollte herausfinden, ob es sein echter Name war.
„Manches ist echt, aber manches auch nicht“, antwortete er und lutschte die Stange.

Sie wurde unsicher und versuchte das Gespräch wieder aufzunehmen. Ihre Freundin bemerkte jetzt mich. Hatte ich Glück... Die Brünette stellte sich dicht zu Lakritz und erhob sich auf die Zehenspitzen.
„Darf ich abbeißen?“
Lakritz schüttelte den Kopf.
Die enttäuschte Brünette machte einen Schritt rückwärts und schwieg, aber die Stille dauerte nicht lange.
„Welches Parfum trägst du?“
„Unisex“, antwortete er ohne jegliches Interesse.

Der Film fing gleich an. Es wurde „Meine Nacht bei Maud“ von Rohmer vorgeführt. Die Mädels hatten sich zwischen uns gesetzt, das nervte. Die Brünette saß natürlich neben Lakritz, und ihre Freundin stellte mir dauernd Fragen über den Film.
„Und gefällt es dir jetzt?“ Sie war richtig empört.
Ich drehte mich kurz zu ihr, um ein kaltes Ja zu sagen.
In diesem Moment nannte Maud den Charakter von Trintignant einen Idioten, weil er nicht zu ihr kam.
„Du bist auch ein Idiot“,  hörte ich sie zu mir sagen. Sie schaute total aufgebracht nach vorne.

Endlich hatte sie aufgehört, mit mir zu reden. Ich freute mich, dass ich den Rest des Films ruhig sehen konnte, aber langsam bekam ich schlechtes Gewissen. Eine Frau erweckt dieses Gefühl in einem Mann sehr leicht.
Ich sah sie an und versuchte mit ihr zu kommunizieren.
„Für einen Mann ist es sehr schwer, auf eine solch schöne Frau zu verzichten. Es ist eine heldenhafte Tat.“
Sie schoss ein „Psst!“ nach mir, ohne mich anzusehen.

Plötzlich bemerkte ich, dass die Brünette ihren Kopf in Lakritzes Schoß rhythmisch rauf und runter bewegte, aber er guckte den Film ganz entspannt, als ob nichts passierte.
Für eine Sekunde sah ich meine „Begleiterin“ an, die aus den Augenwinkeln heraus ihre Freundin beobachtete und den Speichel laut runterschluckte.
Ich schaute wieder zu Lakritz rüber. Er bemerkte meinen Blick und lächelte mich an.
Die Brünette erhob ihren Kopf und fragte ihn.
„Was ist los mit dir?“
„Nichts.“ Ganz locker antwortete er.
„Ich möchte auch etwas Steifes in meinem Mund haben“, sagte sie genervt.
Ich konnte mir das Lachen kaum verkneifen und sagte.
„Er ist ein Held.“

Die Brünette sah mich mit Ekel an, stand auf und schleppte ihre Freundin weg, die mir mit aller Kraft auf den Fuß trat.
Lakritz machte seinen Hosenladen zu und setzte sich zu mir.
„Fellatio in Filmen, du fängst an.“
Ich massierte meinen verletzten Fuß und überlegte mir, mit welchem Film ich anfangen sollte.
„Dead Man“, sagte ich endlich.
„Ken Park.“
„Intimacy.“
„The Brown Bunny.“
„Submarino.“
„Im Reich der Sinne.“
Den hatte ich auch nennen wollen, aber jetzt kam mir nichts mehr in den Sinn. Ich verlor.
„Porträt in der Dämmerung“, verpasste mir Lakritz den Gnadenschuss.

„Ist ja gut!“
Lakritz streichelte mir über den Kopf und sagte herablassend:
„Es gibt noch viele ...“

Als wir rauskamen, verabredeten wir uns für morgen, und unsere Wege trennten sich.

Giorgi Ghambashidze

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