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Die Reisen des Regenschirms

Es gab einmal Zeiten, in denen es so heftig und beständig regnete, dass die Straßen auch noch Stunden danach nass waren, die Passanten durch Pfützen waten oder mit einem weiten Schritt darüber springen mussten. An diesem Morgen hatte es endlich geregnet, eine lang ersehnte Abkühlung nach der erdrückenden Hitze der letzten Wochen. Als ich am Vormittag zu meinem Garten aufbrach, waren die Straßen noch nass, und die Leute liefen mit Regenschirmen herum.

Ich fuhr mit der U4 nach Heiligenstadt und von dort mit dem 256er Bus nach Klosterneuburg-Kierling auf den Ölberg, wo ich zu dieser Zeit einen Garten hatte. Ich war ebenfalls mit einem Schirm unterwegs, den ich gleich nach dem Niedersetzen im Bus unter meinen Sitz legen wollte. Damit ich ihn nicht vergäße, würde ich einen Fuß darauf stellen. Als ich hinunterlangte, stieß ich mit der Hand auf einen anderen Schirm, den dort offenbar jemand vergessen hatte. Ich zog ihn heraus, öffnete ihn leicht und sah, dass er eine Reklamegabe der skandalösen Kärntner Hypo-Alpe-Adria-Bank war, wie ein weißer Schriftzug am unteren Rand verriet.

Dieser Regenschutz war aus nachtblauer Fallschirmseide, der Mittelmast und das Gestänge waren aus Metall, der handliche Verschluss rastete leicht aus, und der ideal geschwungene, geriffelte Silbergriff schien aus einer eleganteren Zeit zu stammen. Er wirkte neu und unbenutzt, außer dass bei einem Schriftzug der Hypo das H fehlte. Viel schöner als mein eigener, der einmal aus einem Obi-Baumarkt bei mir gelandet war. Knallgrün und orange, OBI für ALLES quer drüber, mit plumpen, Holz imitierenden Plastikperlen an den Enden des Gestänges, genauso wie der viel zu lange und breite Griff. Ich gebe es offen zu, dass ich kurz versucht war, meinen Bastard einfach gegen dieses Edelexemplar auszutauschen – vielleicht war es ja der so lang gesuchte Hypo-Alpe-Adria-Rettungsschirm? Ein kurzer, heftiger Kampf in meinem Gewissen: Ein Reklameartikel, niemand hatte ihn gekauft, sondern geschenkt bekommen, also bereitete ich niemandem einen Schaden. Und bei der allgemein bekannten Großzügigkeit dieser good bank wird sie hunderte, wenn nicht gar tausende von solchen Reklamegeschenken im Land verteilt haben. Aber was, wenn sich jemand genauso schnell und intensiv wie ich in dieses Utensil verliebt hatte und jetzt unglücklich auf dem Ölberg herumlief oder in Klosterneuburg und seinen Schirm suchte?

Wir waren jetzt schon zwischen den Stationen Langstögergasse und Kreuzstadl auf der Bus-Linie. Die Häuser und Gärten wurden immer reicher und üppiger. Reicher und immer reicher, aber das dachte ich nicht wirklich. Bald musste ich eine weitreichende, moralische Entscheidung treffen. Oh Gott, wie schwer, fast so wie bei dem Bauern in Roseggers Erzählung von seinem Schirm und seiner Frau mit ihrer schwierigen Fragen: „Nimm ihn mit oder loss ihn do?“ Mein praktischer Geist siegte über das schlechte Gewissen, ich nahm beide mit, als ich an meiner Station Ulrikendorf ausstieg.
Denn wenn ich mein OBI-Unding im Bus 256 gelassen hätte, wäre der Chauffeur sicher ungehalten gewesen, vielleicht sogar ärgerlich, zornig oder böse: „Immer die Ausländer, zoehn nix, oba lossn ollan Dreck do.“
(Weil dort jetzt immer häufiger Mitbürger aus den Nachbarländern Busfahren, muss man das entsprechend ins Serbokroatische oder Tschechische übersetzen.)

Das OBI-Gebilde blieb fortan im Garten, fürs Grobe, und das Hypo-Findelkind durfte zu mir in die Stadt, wo es im Ständer meiner beachtlichen Schirmsammlung als ein Glanzlicht herausstach. Der geriffelte Silbergriff war natürlich nicht aus Silber, sondern auch nur oberflächlich mit einem silbrigen Kunststoff überzogen, was ich beim Putzen mit Idol schmerzlich bemerkte, als so viel davon abging, dass auch nur hässliches Plastik darunter hervorkam und ich Fußboden und Finger besudelte.

Einige Zeit danach hatte ich beruflich in Bratislava zu tun, wieder regnete es, und meine neue Hypo-Errungenschaft wählte ich aus, sie durfte in die Hauptstadt unseres Nachbarlandes mitfahren. Allerdings vergaß ich ihn dort in der Garderobe meiner Geschäftspartnerinnen Jana und Anja, was mir nicht gleich auffiel, weil in Bratislava eitel Sonnenschein herrschte, als ich aus dem Geschäftsgebäude in den kleinen Park trat; und danach auch lange nicht, weil es bei uns wieder eine regenlose Zeit gab.

Irgendwann in den Wochen danach, beim Putzen meines Vorzimmers und Verschieben meines russischen Birkenrindenbehältnisses, fiel mir das Fehlen des mitternachtsblauen Stabes mit Silbergriff doch auf. Ich versuchte mich zu erinnern, und ich erinnerte mich richtig, wo er abgeblieben sein könnte; ich simste Jana sofort an, die das Regending aber längst aufbewahrt und es richtig, trotz ihrer zahlreichen Kunden, mir zugeordnet hatte.
Sie kennt ihre Kunden offenbar in- und auswendig, bis in die tiefsten mitternachtsblauen Falten eines geklauten Regenschirms.

Beim nächsten Termin in Bratislava, etwa ein Monat später, kam eine Freundin mit, die weder den neuen Zentralbahnhof noch Bratislava kannte. Gleich beim Eintreten ins Büro überreichte mir eine strahlende Jana die Hypo-Gabe und ich nahm sie glücklich an mich. Es regnete nicht in Bratislava an diesem Tag, in Wien auch nicht, und niemand brauchte einen Regenschirm.
Zurück am Wiener Hauptbahnhof wollten wir einen Kaffee trinken, aber meiner Freundin gefiel hier nichts, mir auch nicht, nirgends durfte man rauchen, alles sah steril und abstoßend aus. Wieder oben, über den Gürtel und die schrecklich verunglückte Kreuzung und den verlotterten Südtiroler Platz, konnten wir uns auf kein Lokal einigen. Ich sehnte mich nach den alten Lagerhallen der Baumärkte zurück – ich hatte sie so lange gesehen, dass sie mir schon vertraut waren, heimisch. Nun – Übergangsstadium, hoffe ich – ein absolutes Nichts an Stadt, eine Unstadt.

Die Freundin und ich zogen immer weiter auf der Suche nach einem gemeinsam gewünschten Kaffeehaus, alles lehnte sie ab, da und dort war‘s nicht gut, dann und damals, mit bösen Erinnerungen an schlechte Erfahrungen mit dummen, unhöflichen oder unaufmerksamen Kellnern marschierten wir die Favoriten- und die Wiedner Hauptstraße fast im Zickzack der Gassen und ihrer Lokale hinunter, so lange, bis wir uns endlich auf das Café Wortner auf der Wiedner Hauptstraße einigen konnten, mein seit 41 Jahren meiner Wohnung vorgelagertes Wohnzimmer.
Wie originell, stellten wir beide fest, und mussten kichern darüber, wie beharrlich und konservativ wir Menschen sind – immer wollen wir in den selben Stall zurück, genauso wie das Vieh oder Fiakerpferde. Irgendwann trennten wir uns, meine Freundin fuhr mit der U1 heim, ich ging ein paar Schritte weiter zu mir nach Hause.
Aber der so mühsam errungene Schirm war nicht da, stellte ich fast im Schock fest, als ich die Bratislavaer Einkäufe sichtete und verstaute. Aber kein Schirm. Wo war der Schirm?
Der Hypo-über-alles-Rettungsschirm?
Meine Freundin Helga vermutete ihn im Zug, in der S-Bahn, mit der wir um 9 Uhr früh nach Bratislava und um 16 Uhr nach Wien zurückgefahren waren. Ja, das war das Wahrscheinlichste.

Perdu, der Rettungsschirm von Hypo-Alpe-Adria, dachte ich, das ist die Strafe für das unrechtlich angeeignete Eigentum. Die Fundstelle der ÖBB traute ich mich nicht anzurufen, wegen der zweifelhaften Vorgeschichte. Und sicher hatte sich schon der ursprüngliche Besitzer aus dem 256er Bus gemeldet. Außerdem hatte ich die Erfahrung gemacht, in einem anderen, ganz anders gelegenen Fall, bei der Hotline ewig lange warten zu müssen, während das Tonband einem auf aggressive Weise die „Kleine Nachtmusik“ ins Ohr plärrte und dann, wenn man endlich durchgedrungen war, keine Auskunft oder eine falsche zu bekommen. Außerdem hatte die ÖBB jetzt sicher Wichtigeres zu tun, da sie sich daranmachte, die griechischen Staatsbahnen umsonst zu kaufen.

Die Cafés rund um den Hauptbahnhof abzuklappern, naja, das war mir das geklaute, verlorene, wiedergefundene und endgültig verlegte Hypo-Ding auch wieder nicht wert.
Kurz danach sitze ich, wie so oft, auf dem Platzerl vor dem Wortner mit dem plätschernden Teufelsbrunnen, genieße den Ort unter den Bäumen, wo die wunderbaren Wiener Gärtner aus Blumen bunte Rondeaux zaubern, ich lese Zeitungen und schreibe ein bisschen was auf, ärgere mich über die zu lauten Straßenbahnen auf der Wiedner Hauptstraße, den 1er, den 62er, die Badener Bahn, die Busse, ich denke, die Ampeln sind etwas zu kurz geschaltet, aber vor allem aber die Autos, die vor den Ampeln immer zu schnell, zu laut bremsen und starten.

Da kommt ein plötzlicher Regenguss mit Wind über die untere Wiedner Hauptstraße herein, zerrt an Bäumen und am rot-weißen Coca-Cola-Dach, die Kellner und Kellnerinnen laufen, kurbeln am Coca-Cola, was das Zeug hält, bringen aus dem Inneren des Cafés Stöße von Fleecedecken heran und umgeben die Gäste fürsorglichst damit.
Dabei müssen sie fliegende Menükarten, Blumenstöcke, Servietten und Besteckkörbchen einsammeln und die Gäste mit Regenschirmen beschützen, obwohl sie unter den flatternden Dächern einigermaßen grotesk aussehen, so wie die meisten Besucher des Café Wortner. Kinder, Frauen und Alte – immer zuerst, wie auf der Titanic.

Auf dem Weg zurück von der Toilette kam ich wie immer an der Garderobennische rechts vor der Eingangstür vorbei. Ich war entweder zu wenig alt, zu wenig Kind, zu wenig Mann oder gut konsumierender Kunde – ich sitze ja schon zwei Stunden mit einem einzigen Drink – genannt Hugo-Drink – da.
Noch einmal gebe ich etwas zu, weil ich doch ein bisschen verletzt war, durch alle Rettungskategorien des Café Wortner, oder überhaupt demnächst durch alle durchzufallen, schaute ich genauer in den Regenschirmständer hinein. Da lehnten fünf vergessene Exemplare, unter den ich einen wählen wollte. Aber was glänzte mir da entgegen?
So ist er, stolz und demütig, heimgekehrt, mit all seinem Stoff, der Aufschrift und dem silbrigen Griff, zusammengeklappt im Eimer. Ein Jammer, leider es hat seit damals nie mehr geregnet. Aber Hauptsache, er ist wieder da, der Hypo-Alpe-Adria-Regenschirm!

27.7. 15

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 19041

In den Schlaf gleiten

Nervös wälzte ich mich im Bett,
ich warte, bis die Passionsblume
mich mitnimmt

Zwei schöne Mädchen,
unverständlich deren Sprache,
Hand in Hand
gehen wir eine bekannte Straße entlang,
ein veränderter Ort

Dort reden wir über
Irgendetwas
im
Irgendwo,
welches kein
Irgendwann hat

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 19023

Sieben Leben hat die Katze – Teil II

I

In dem Bierzelt war es laut. Eine Musikgruppe spielte lieblos altbekannte Lieder, Männer grölten, wieder trinkende Männer, doch diesmal in anderer Umgebung, dazwischen Frauen, einige Pärchen tanzten.
Der kleine dicke Mann erzählte Anna von seiner Frau und den Kindern und dass er ein Haus gebaut hatte. Er sah traurig aus dabei. Anna hörte nicht mehr zu. Sie hörte die klagende Melodie seiner Sätze. An seinen Blicken und Gesten erkannte sie, wann er ein freundliches Lächeln, eine ermutigende Geste erwartete und sie spielte mit.
Ein großes dunkles Mädchen setzte sich neben Gert und sprach Anna an: „Ich bin die Beatrice. Ich habe in dem Gasthaus, wo du jetzt bist, gearbeitet. Der Wirt hat mich an dem Tag, bevor du gekommen bist, entlassen.“ Anna sah sie bestürzt an. Sie hatte sich bisher noch nicht überlegt, dass dieser Ort, dieses Gasthaus schon vor ihrer Ankunft dagewesen waren und dableiben würden, wenn sie ging. „Es tut mir leid“, sagte sie unentschlossen.
Beatrice lachte. „Mach dir keine Gedanken, der Wirt macht das immer so, wenn er weiß, dass er eine ausländische Studentin kriegt für den Sommer. Ihr seid einfach billiger. Er bezahlt keine Steuern für euch. Und ich, ich arbeite bis Herbst eben in Basel.“

Hans nahm Annas Hand und zog sie mit sich fort. Anna tanzte mit ihm. Schüchtern und stolz hielt er sie im Arm. „Lass uns weggehen von hier. Ich habe ein eigenes Zimmer im Haus meiner Eltern.“ Anna antwortete ihm nicht und Hans sah unglücklich zu Boden. Anna bemerkte es nicht.
Sie setzten sich wieder zu den anderen. „Sind sie nicht merkwürdig, die Leute hier, sie saufen und saufen und denken, sie feiern, aber sie tun ohnehin jeden Tag das Gleiche. Ich hatte sie schon satt, bevor ich zurückkam“, sprach Gert sie an. „Wo warst du?“, fragte Anna. „Überall und nirgendwo, ich habe gearbeitet auf einem Schiff, habe mir ein wenig die Welt angeschaut.“ Gert sah sie direkt an und grinste wieder.
Zaghaft meinte Hans zu Beatrice: „Ihr könntet mit zu mir kommen. Ich habe noch eine Flasche Gin zu Hause und bessere Musik.“ Beatrice war einverstanden. Anna wollte fort von diesem Fest, das keines war, weg von Gerts Blick.
Beatrice fuhr vorsichtig mit ihrem Auto hinter Hans her, der mit einem Mofa vorausfuhr und ihnen den Weg zeigte. Anna war betrunken. Wenn sie die Augen schloss, wirbelte sie herum. Sie klammerte sich an den Autositz.

Dann saßen sie in dem engen Zimmer von Hans. Große dunkelbraune Betten verdeckten eine Wand, ein riesiges dunkelbraunes Bett füllte den Raum, an einem niedrigen Tischchen in der Ecke nahmen sie Platz. Hans machte mit seinem Kassettenrekorder Musik und brachte Gin. Sie tranken aus der Flasche reihum. Anna verstand kaum, was die beiden erzählten, worüber sie sprachen. Gert stand in der Tür. Anna taumelte und sank auf das Bett.
Jemand zog und zerrte an ihr. Sie war nackt. Eine warme Hand griff von hinten zwischen ihre Beine, streichelte sie. Anna drückte die Hand fort. Ein Mann drang in sie ein, gesichtslos blieb er hinter ihr, Anna stieß nach ihm, doch sie tauchte nicht auf aus ihrem Dämmer.

Unter Wasser, alles gleichgültig, ein Stein, ein Tier, eine Pflanze, sie selbst ein gallertiges Wesen, azurblau, türkis, sie trieb fort zwischen Meergras und Tang, Koralle war sie und Blüte, sie lebte, an Land gespült, kein Zusammenhang, die Erde rutschte, sie lebte.
Jemand rüttelte an ihren Schultern. Eine dunkelhaarige Frau, stark geschminkt, hochtoupiertes Haar, hob Anna aus dem Bett und stellte sie unter die kalte Dusche. Immer wieder sackte sie zusammen.
Jemand half ihr auf, zog sie an. Beatrice war da. „Weshalb hast du bloß mit Gert geschlafen, mit diesem elenden Herumtreiber? Hans lag neben mir und weinte die ganze Nacht und du hast laut gestöhnt!“
Anna sah Beatrice fassungslos an.
„Es ist schon bald sieben!“, rief eine Frau ins Zimmer. „Das ist die Mutter von Hans“, stellte Beatrice vor.
Die Frau mit dem toupierten Haar, die Hans‘ Mutter war, brachte Anna mit dem Auto zum Gasthaus. Anna hatte noch Zeit, sich umzuziehen und begann wie immer mit der Arbeit.

Es war Sonntag, ein strahlender Tag. Der Wirt ließ Anna auch im Gastgarten servieren. Eine Gruppe von Radwanderern kam, Ehepaare aßen zu Mittag, eine Hochzeitsgesellschaft feierte.
Anna rannte und brachte Getränke und Essen, mechanisch rannte sie zwischen den Menschen, mehr und mehr aufgelöst, mit rotem Gesicht verlor sie die Übersicht.
Als Anna in dieser Nacht mit dem Wirt in der Küche das Geld zählte, fehlte etwas mehr als der Betrag, den sie an diesem Tag verdient hätte. In dieser Nacht erhielt Anna kein Geld, sie musste dem Wirt etwas bezahlen.
Anna ging hinaus aus der Küche in die Gaststube, der Schlüssel steckte noch in der Tür, sie sperrte auf, ging hinaus in den Gastgarten. Der Himmel war hoch und fern, die Sterne glitzerten eisig.

II

Der Mond versank blutrot im Meer. Die Nacht schlief. Der Ruf eines Käuzchens durchbrach die Stille.
Mit einem plötzlichen Ruck erhob sich Anna, nahm sorgsam Gläser, Weinflasche und Teller mit in die Küche und ging zu Bett. Noch lange starrte sie ins Dunkel, bis sie endlich einschlief.
Wieder erwachte sie spät.
Wolken hatten sich auf den Bergen niedergelassen, die Welt war grau. Sie schritt rasch den Hügel hinab. Entschlossen verließ sie ihren Pfad und nahm den Weg zu Sordos Haus.

Schon von ferne sah sie den hohen, dunklen Bretterzaun, der Hund bellte, Hühner gackerten, im Haus hörte sie ein Klopfen, ihr Herz pochte. Sie rief nach Sordo.
Nach einer Weile öffnete er das Tor. Er sah sie von der Seite an, als wollte er vermeiden, sie richtig anzusehen. Finster und verschlossen schien er. Aber er ließ sie eintreten, führte sie durch den Hof zum Haus, ließ sie dort stehen und verschwand in einem der niedrigen Ställe, die dem Haus gegenüber standen. Mitten im Hof gab es einen alten Ziehbrunnen. Anna setzte sich auf eine Holzbank mit dem Rücken zur Steinwand des Hauses. Ruhig und friedlich war es hier. Sie schloss die Augen, das Leben in ihr wurde still, kam endlich zur Ruhe. Aus dem Stall hörte sie Sordos leises Hämmern.

Sordo arbeitete ruhig, aber innerlich irritiert. Sie war gekommen, um ihm nahe zu sein, das wusste er. Er hatte sich nach ihr gesehnt. Sie war so sanft, so warm, so lebendig. Aber jetzt, wo sie von sich aus gekommen war, schreckte er zurück vor der Begegnung.
Anna kam zu ihm in den Stall. An den Wänden stapelten sich Hasenkäfige. Weiche, stille Tiere, die mit großen Augen schauten. Sordo baute einen Käfig. Unwillig blickte er auf, doch sie lächelte. Sie reichte ihm den Nagel, den erbrauchte, das nächste Brett. Er ließ es geschehen.
So arbeiteten sie schweigend, bis der Käfig fertig war. Er stellte ihn in eine Ecke, holte vorsichtig zwei junge Hasen aus einem Käfig und setzte sie in ihren neuen Stall. Anna freute sich an der Zärtlichkeit, mit der er die Tiere berührte. „Darf ich?“ Sie nahm einen Hasen und streichelte ihn. „Wie weich und schön er ist … Du verkaufst sie?“ „Ja, ich töte sie und dann verkaufe ich sie im Dorf“, sagte er grob. „Du tötest sie selbst?“ „Irgendjemand muss es ja tun.“ „Wenn du sie aufziehst, liebst du sie dann nicht?“ „Ja, ich liebe sie und dann töte ich sie, so ist das.“ Er lachte.

Dann nahm er sie wie schon einmal an der Hand und führte sie in sein Haus. Er zeigte ihr, was er alles verbessert und verändert hatte. Und sie sah, dass es klug war und gut.
Anna spürte, wie in Sordo langsam die Freude erwachte, weil irgendjemand, nein, weil sie da war und achtete, was er tat, diese seltene Kraft in ihm, mit der er sich dem Tun, der Auseinandersetzung mit den Tieren und den Dingen hingab.
Sie lächelte ihn strahlend an, als hätte er ihr ein großes Geschenk gemacht. „Danke“, sagte sie. “Wofür?“, fragte er erstaunt. „Für die schönen Momente dieses Tages.“
Etwas in ihm stockte, ihre Worte trennten ihn ab von der verschwiegenen Vertrautheit, die still und unbemerkt zwischen ihnen entstanden war. Anna spürte sein Unbehagen, doch sie verstand es nicht, sie drückte seine Hand und lächelte, dann ging sie hinaus in ihren Tag.

Sordo blieb wütend zurück. Er hasste die leichtfüßige Art, mit der sie kam und ging. Er hatte Zeit gebraucht zu ertragen, dass sie so selbstverständlich in seine Welt eingebrochen war, schließlich hatte er sich zurechtgefunden, dann war es schön gewesen. Er war wütend, dass sie so einfach fortgehen konnte.
Er schloss die Tür, sperrte Anna und die Welt aus und kehrte zu seiner Arbeit zurück. Mit einer Axt spaltete er Holz. Die Arbeit entspannte ihn. Sorgfältig sammelte er die Holzscheite ein und stapelte sie bedächtig an dem dafür vorgesehenen Platz im Verschlag neben dem Hasenstall.

Anna war leicht und glücklich, als sie Sordos Haus verließ. Die Welt war verwandelt. Der Himmel war tief und blau wie der Streifen des Meeres, den sie vom Hügel aus sehen konnte. Weiße Wolken wurden vom Himmel hin und hergeworfen. Die heißen flirrenden Felsen hoben sich dem Himmel entgegen, das flimmernde Gleißen der Hitze wie eine sichtbare Liebkosung, die sanften Hügel, dicht gepolstert mit Thymian und Salbei, ein zarter Duft hüllte sie ein. Das Sonnenlicht drang langsam in ihr Fleisch, das Haar um ihr Gesicht wurde warm und sie seufzte vor Vergnügen. Sie wollte diesen Nachmittag an sich vorübergleiten lassen, wollte keines der Bilder festhalten, wollte das Glücksgefühl speichern, das sie ganz ausfüllte. Langsam ging sie weiter.

Ein Mann hockte am Wegrand und rastete im Schatten eines Johannisbrotbaumes. Sein schwer beladener Esel stand ergeben im Schatten und döste. Unverwandt starrte der Mann Anna an. Anna nahm sein Bild in sich auf, er war dunkel gekleidet, neben ihm lag ein verkrüppelter Stock zwischen den Steinen. Unendlich alt musste er sein, dieser Mann, sein Gesicht zusammengeschrumpft, durchpflügt von Runzeln und Falten, seine hellen Augen klar, er hockte auf seinen untergeschlagenen Beinen, ein Bild der Ruhe, doch schien sein Körper gespannt, unverwandt schaute er Anna an, als betrachtete er einen Stein. Dann lächelte sein Mund. Seine Augen hafteten fest an ihr. Ein goldener Zahn blitzte in der Sonne. Sein Bild sank zugrunde in Anna. Sie grüßte ihn leise.

Nach der nächsten Biegung des Weges ließ sie sich auf einem der Steine nieder. Sie hatte das undeutliche Gefühl, keine Zeit zu haben, sie musste etwas entscheiden, etwas tun. Sie sehnte sich nach einem jener Momente, in denen alles klar war, nach einem Wendepunkt, die Vergangenheit sollte abgetan, abgeschlossen hinter ihr im Schatten, die Zukunft deutlich und sonnenklar vor ihr liegen. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Sie wollte nicht nachdenken, nichts entscheiden. Entschlossen stand sie auf und ging zu Sordo zurück.
Sordo starrte sie fassungslos an, als sie leuchtend und scheu vor ihm im Sonnenlicht stand. Sie lächelte. „Ich habe dir frische Feigen mitgebracht.“ Ihre Stimme war hell und fröhlich. Sordo war überrumpelt, er nahm die Früchte, unbefangen kam Anna in den Hof und in sein Haus. Doch sie war viel zu empfindsam, um seine Verwirrung nicht zu bemerken und so setzte sie sich still und fügsam auf einen der großen hölzernen Sessel. Sordo verließ das Haus, den Hof, sperrte das Hoftor von außen zu. Anna rührte sich nicht von ihrem Platz.
Nach längerer Zeit kehrte Sordo zurück. Sorglos warf er Gemüse auf den Tisch. „Ich habe in der Nähe einen kleinen Garten angelegt!“ Er lächelte stolz, er war verändert, sein Blick drang an die Oberfläche seiner Augen, sie glänzten wieder, offen und freundlich sah er sie an. Annas Beklemmung war fortgewischt. Ihr Leuchten kehrte zu ihr zurück.

Anna holte Wasser und ein Messer. Selbstvergessen wusch und putzte sie das Gemüse. Sordo schnitt Zwiebeln und briet diese in heißem Fett. Anna gab das Gemüse dazu. Sie sprachen nicht. Wieder arbeiteten sie schweigend, einer die Absicht des anderen erratend. Sordo deckte den Tisch, brachte Brot und Wein, dann saßen sie einander gegenüber.
Den würzigen Geschmack des gebratenen Gemüses auf der Zunge, Sordos feine Hand lag entspannt auf dem Tisch, sie griff nach dem Glas, Sordo lächelte ihr zu, Thymian und Knoblauch, Sordos Lippen, der Wein schmeckte nach sauren Trauben, sein Haar wild gekraust, das Brot, Sordos Blick, eine sanfte Berührung. Sie hob den Blick und fiel in seine Augen, tiefe Augen, vor denen sie zurückwich, sie senkte den Kopf, sein Blick brannte Löcher in ihre Haut, er stand auf, berührte sorgsam ihre Schultern, wie eine Katze dehnte sie sich unter seiner Hand, ihr Körper drängte sich an seinen, sie stand auf, er küsste sie, ließ ihr Zeit, nahm Abstand, schaute sie lange an, mit seinen Augen erspürte sie ihre Schönheit, sie erwiderte seinen Blick, sie hob ihre Arme, langsam und bedächtig zog sie sich aus, etwas in ihm erschrak vor ihrer Freiheit, ihrer Freiheit von Scham.

Er schaute weg, zog sich selbst aus, nüchtern und sachlich. Sie schaute ihm so genau zu, dass er unsicher wurde. Er überwand rasch die Entfernung zwischen ihnen, nahm sie an der Hand und führte sie zu seinem Bett.
Sie schmiegte sich an seinen glatten dunklen Körper. Sie schloss die Augen und überließ sich seinen Händen. Jeder feinen Linie ihres Körpers spürte er nach, andächtig zeichnete er ihre Schönheit auf ihren Körper mit derselben zärtlichen Sorgfalt, mit der er Dinge und Tiere berührte, er fand sie in jedem geheimen Winkel, sie atmete mit seinen Händen, sie folgte einem Sog, den sie nicht verstand. Die Welt zerbarst in einem Moment der sättigenden Erleuchtung. Anna kuschelte sich in Sordos Arme, sie schliefen ein.

Als Sordo erwachte, hörte er Anna draußen im Zimmer hantieren. Sie hatte sich angezogen und briet Speck und Eier. Sie strahlte. Er schaute in die Pfanne, lächelte mit dem Körper und ging, um sich zu waschen und umzuziehen.
Sie aßen miteinander. Die Freude schwang zwischen ihnen wie das Pendel einer Uhr.
„Es ist gut, dass du da bist“, sagte Sordo, ohne sie anzusehen. Sie lächelte. Er stapelte das schmutzige Geschirr in einer Ecke des Raumes und holte mit einem Eimer Wasser vom Brunnen, er stellte den Eimer ab, kam zu ihr, berührte zärtlich ihr Gesicht mit den Fingern. „Ich werde jetzt gehen“, sagte sie leise. Sie spürte nicht, wie er erstarrte, sie schmiegte sich an ihn. „Ich bin glücklich“, sagte sie und wünschte, dass er sie küsste. Dass sie das sagte, schien sie noch stärker von ihm zu trennen. Ihm fiel ein, dass sie eine Fremde war, die nicht zu ihm gehörte. Er drehte sich weg, holte den Eimer, goss das Wasser in eine Schüssel und begann das Geschirr zu waschen. Wortlos ging Anna hinaus. Offenbar wollte Sordo allein sein. Sie wischte ihre kleine Enttäuschung fort und nahm den Weg hinunter zum Meer, spürte sich eins mit der Erde, wehrlos und offen.

Ohne Carlo und Christine zu besuchen, ging Anna direkt zu ihrem Platz am Meer, zog sich aus, warf sich dem Wasser entgegen, es leckte an ihrer Haut, sie ließ sich treiben, glitt geschmeidig über die Wellen, ließ sich sinken, eins war das Leben in ihr und die Welt. Sie legte sich in den heißen Sand und fühlte in sich die bedächtige träge Bewegung der Erde, uralte Bewegung der Schildkröte.
Sie drehte sich auf den Bauch, stützte den Kopf auf einen Arm und schaute in den weißen Sand, zeichnete Linien.
Sie sah sich in Basel – nach den endlosen drei Monaten, die sie im Gasthaus eingesperrt gewesen war, verschüchtert – wieder in den zu weiten Kleidern, in denen sie dort angekommen war – die Reisetasche über die Schulter geworfen – das Geld, das sie verdient hatte, im linken Schuh versteckt, damit niemand es stahl. Anna mochte die Gestalt, die der weiße Sand ihr zeigte. Sie hatte ein Reisebüro betreten und einen Flug ans Meer gebucht, egal wo, irgendwo am Mittelmeer, sie hatte den nächsten Flug genommen, der frei war, noch am selben Abend hatte sie die Insel erreicht, den nächsten Bus genommen, war in dem kleinen Fischerdörfchen ausgestiegen, das ihr gefiel, hatte ihre Reisetasche in das Lokal am Meer gestellt und war hinausgelaufen, hatte sich ins Wasser gestürzt und herumgetobt, bis sie schrie vor Vergnügen. Sie war frei.

Anna lächelte und verwischte die Linien im Sand, rollte sich in den Schatten eines kleinen, verkrüppelten Olivenbaums. Ihr Körper war leicht, ihr Geist, auch er wie ein Körper, genoss mit Behagen die Ruhe. Sie schaute ins endlose Meer, eine Möwe schaukelte auf dem Wasser und tauchte mit Wollust ihren Körper ein.
Christine und Carlo, die kleine Anita waren sehr freundlich zu ihr gewesen, hatten sie bei sich im Haus behalten, obwohl sie eigentlich keine Zimmer vermieteten. Sie hatten wohl gespürt, dass Anna Wärme brauchte und Schutz. Anna hatte ihnen bei der Arbeit geholfen. Nach einer Woche hatten sie das kleine Häuschen auf dem Hügel für sie gefunden. Seit drei Wochen wohnte sie nun dort.
Anna rollte wieder in die Sonne und streckte sich. Die Freude dieses Tages flutete aus den Tiefen ihres Daseins zurück, verzweigte sich, tränkte und sättigte sie. Ausgestreckt, mit geschlossenen Augen empfand sie, wie ihr Wesen sich dehnte und weitete, die Erde trug sie, sie gestattete ihrem Geist nicht, ihr Empfinden in seine Formen zu pressen. Am ganzen Körper spürte sie tierhaftes Wohlsein.
Noch einmal warf sie sich ins Wasser, löste sich auf in den Wellen, zerfloss. Sie existierte und war doch nicht da. Sie war nichts. Dann fügte das gleiche Etwas, das sie in viele Teilchen aufgelöst hatte, sie wieder zusammen.

Anna trocknete sich ab und zog sich an. Sie wusste, dass sie nicht mehr lange so weitermachen konnte wie bisher. Sie wollte nicht all das Geld, das sie in der Schweiz verdient hatte, hier ausgeben. Wenn sie weiter hier bleiben wollte, dann musste sie arbeiten.

Sie ging zu Carlo und Christine, es war ohnehin schon spät, Giorgio saß bei den beiden in der Küche, er hatte sich offenbar mit ihnen angefreundet, was Anna ein wenig überraschte.
Nach dem Essen erzählte Anna, dass sie gerne so lange wie möglich hier auf der Insel bleiben würde, dass sie Arbeit finden müsse. Giorgio war begeistert, übereifrig erzählte er, er hätte Häuser, die er an Touristen vermietete, Oliven- und Weingärten, da gäbe es viel Arbeit. Er könne sie gut gebrauchen. Anna vereinbarte, mit ihm am nächsten Tag seinen Besitz zu besichtigen, um zu sehen, was sie erwartete. Christine sah Anna neugierig an. Sie war beinahe sicher, dass Anna nicht Giorgios wegen länger bleiben wollte. Doch sie hielt ihre Fragen zurück. Anna wurde unruhig. Sie nützte den nächsten geeigneten Moment, sich zu verabschieden, bat Giorgio, der sich ihr aufdrängte, sie alleine gehen zu lassen und ging so schnell sie konnte zu Sordo.

Es war schon spät. Der Mond stand hoch über der Sternenflut, als sie Sordos Haus erreichte. Der Hund bellte aufgeregt.
Sie hörte Sordo die Tür seines Hauses öffnen, sie rief nach ihm. Sordo blieb still.
Er fand es schön, wenn sie da war, es war gut, wenn sie fortblieb. Er konnte es nicht ertragen, wenn sie kam und ging nach ihrem Belieben. Er hasste sie dafür.
Anna rief wieder. Nach einer Weile kam er und öffnete das Tor einen Spalt. „Was willst du?“ Kalt und fremd sah er sie an. „Ich muss dir etwas erzählen, es ist wichtig!“ Sie verstand nicht, was mit ihm los war, in ihrer Verwirrung senkte sie den Kopf. Wehrlos sah sie aus und scheu und da nahm er sie wieder an der Hand und führte sie in sein Haus. Auf dem Gaskocher bereitete er Tee.

„Ich werde auf der Insel bleiben. Ich werde arbeiten“, sagte Anna in die Stille. „Ich habe heute Giorgio getroffen bei Carlo und Christine, er sagt, er hat Arbeit für mich. Ich werde arbeiten. Ich weiß noch nicht genau, wo, sooft ich kann, werde ich kommen, um dich zu besuchen. Wir werden Zeit haben.“
Mit einem Ruck drehte sich Sordo zu ihr um, feindselig und hasserfüllt sah er sie an. Er verstand nicht, weshalb sie Arbeit suchte. Er hatte doch Gemüse und Fleisch und ein Haus. Dass sie für Giorgio arbeiten wollte, brachte ihn völlig aus der Fassung. Er machte einen Schritt auf sie zu, er wollte sie schlagen, doch er beherrschte sich, drehte sich weg und stürmte aus dem Zimmer.

Mit einer Schnur fesselte er die Beine seiner Ziege, sorgsam legte er ihren Kopf auf einen Baumstrunk. Mit beiden Händen umklammerte er die Axt, er holte weit aus und schlug mit aller Kraft zu. Blut spritzte, mit einem Hieb hatte er seiner Ziege den Kopf abgeschlagen. Entsetzt starrte er einen Moment lang auf das tote Tier. Dann raste es wieder in ihm. Er nahm den blutigen Schädel, rannte in das Zimmer, warf ihn vor Anna auf den Tisch. „Morgen werde ich das Fleisch verkaufen im Dorf. Dann habe ich auch Geld. Das kannst du dann haben!“, schrie er und stürzte davon.

„In dieser Nacht starb Anna“, so schloss ich meine Geschichte. „Vielleicht bin ich in die Nacht hinausgerannt und habe mich an den Beinen verletzt. Am nächsten Tag, als die Sonne brannte und die Fliegen zu Tausenden an mir klebten, habe ich mich vielleicht unter einem Felsen verborgen. Ich schrie und als niemand kam, mich mit einem Stein zu erschlagen oder mich zu retten, starb ich. Vielleicht starb ich auch anderswo.“
„Es dauerte viele Jahre, bis neues Leben in mir erwachte“, sagte ich in den Spiegel. Erschöpft sank ich zurück auf mein Bett.
Hohläugig schaute die Alte mich an und hielt zärtlich meine Hand. „Du erinnerst Anna, doch so heißt du nicht. Du weißt gar nichts. Du bist doch nur verletzt wegen …“
Es lachte schrill.
Dann tanzte ich für meinen Tod.
Als der Tanz zu Ende war, rührte er mich an.

Unterdessen hatte die alte Frau die Stücke meiner Geschichte eingesammelt und neu  zusammengesetzt. Sie verkaufte sie an einen Filmproduzenten.
Die Geschichte begann mit den Worten:
„Sieben Leben hat die Katze.“

Marianne Peternell

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 18162

Sieben Leben hat die Katze – Teil I

„Sieben Leben hat die Katze.

Wenn es wahr ist, dann gibt es noch ein Leben für mich. Das ist gut zu wissen, denn gerade jetzt fühle ich mich sterben. Als hilflose Zeugin betrachte ich von außen meinen mühsamen Tod. Eine Kraft, die ich nicht mehr verstehe, ist mir verloren gegangen. Ich laufe nicht, ich springe nicht, ich lasse mich nicht treiben. Zäh, langsam und zuverlässig strebe ich wie ein Wurm Stück für Stück meinem Tod zu“, schrieb ich in mein Heft.

„Was für ein Unsinn!“ Die alte Frau, die ich im Spiegel sah, schüttelte den Kopf und lachte ärgerlich. „Du bist nur verletzt wegen …“ „Sei still!“, unterbrach ich sie. “Erinnerung ist Wissen, nur Wissen öffnet die Tür zum Vergessen. Ich werde mich erinnern, damit mein Geist zu mir zurückkehrt. Ich werde die Geschichte von Anna erzählen, die in einen unbegriffenen, jähen Tod stürzte. Es ist die Geschichte meines vergangenen Lebens. Ich war jung damals, etwa 24 Jahre alt und damals hieß ich Anna.“

I

Die dunklen Hosen und der dunkle Pullover schlotterten um Annas Körper. Das zottelige Haar verdeckte beinahe ihr Gesicht. Anna hatte sich unsichtbar gemacht, um nicht belästigt zu werden.
Die Fahrt sollte zwei Tage dauern.
Im Zug drängten sich die Menschen. In den schmalen Gängen saßen junge Leute auf Koffern und Rucksäcken, die Abteile waren überfüllt.

Kurz entschlossen kletterte Anna ins Gepäcksnetz und legte sich auf ihre Reisetasche. Ihr Körper entspannte sich in der Melodie der Worte, die an ihr vorüberglitten.
Von oben schaute sie in das Gesicht eines Mannes, braune Altersflecken auf der Haut, das Gesicht zu einem Lächeln verzerrt; das Fleisch war aus diesem Gesicht gewichen, Kanten von Knochen und Knorpeln zeichneten sich scharf auf der welken Haut ab. Ihre Blicke trafen sich und für einen Moment erschraken beide. Er wandte sich ab und lächelte weiter, Unruhe in den tief liegenden Augen, und Anna vergaß ihn.
Das Stampfen und Rattern des Zuges gab dem Stimmengewirr einen Rhythmus. Rasch fiel sie in Schlaf.
Worte waren für Anna schon immer ungenau und schwierig gewesen. Erleichtert und froh lag sie, nun wach, inmitten der vielen Menschen schweigend in ihrem Gepäcknetz und achtete nicht auf den Sinn der Sätze.

Als sie den kleinen Bahnhof eines Dorfes in der Nähe von Basel verließ und sich nach dem Weg erkundigen musste, fiel es ihr schwer zu sprechen. Die ersten Laute misslangen, dann kehrte sie in die Welt der Worte zurück.
Da stand sie vor einem gedrungenen Mann mit rundem Kopf und flinken gewitzten Augen, die sie enttäuscht von Kopf bis Fuß musterten. Anna wurde sich der Wirkung ihrer merkwürdigen Kleider wieder bewusst.
„Du bist also die neue Kellnerin?“, fragte er zweifelnd. Anna gab ihm die Hand. Dann seiner Frau, einer Italienerin, etwa 50, rothaarig, scharf geschnittenes Gesicht, schmaler Körper im engen Kleid.

In der Gaststube saßen etwa 40 Männer mit untersetzten Körpern, schwieligen Händen und breiten Gesichtern aus der Stahlfabrik des Dorfes und tranken Schnaps und Bier. Die Frau brachte ein Glas Wein. Der Wirt knetete unaufhörlich seine Hände, als er ihre Arbeit erklärte. Arbeitszeit von 7 Uhr morgens bis etwa 2 Uhr nachts, keine Mittagspause, kein freier Tag, aber Fixum plus Umsatzbeteiligung und Trinkgelder. Er nahm den lauernden Blick nicht von ihr, während er sprach. Anna blieb gleichmütig. Noch immer seine Hände knetend leckte er sich die Lippen, neigte seinen Kopf und sah sie schräg an:
„Die Männer bringen ihre Frauen nur an Sonn- und Feiertagen zum Mittagessen mit. Die übrige Zeit bist du allein im Wirtshaus, meine Frau zählt nicht. Lass dich einladen, aber trink nicht. Schütt die Getränke weg oder bring sie meiner Frau. Ist gut fürs Geschäft. Eine gute Kellnerin hält die Männer bei Laune. Mach dich hübsch und sei freundlich, die brauchen das.“

Anna sah sich um: hölzerne, große Tische und Sesseln, Plastiktischtücher, eine verspiegelte Bar, davor die Frau. Die Männer sprachen laut. Es gelang ihr nicht, sie zu verstehen.

II

Diese Zeit lag nun schon bald zehn Wochen zurück. Anna sah von ihrem Glas auf. Die Bilder waren so lebhaft, als wäre der Leim, der die Zeit zusammenhält, zerbröckelt. Verwundert sah sie, wie das Meer schäumte. Der Wind rüttelte an ihr und erzeugte fiebrige Unruhe. Der Mann am Nebentisch sah sie nicht an. Anna spürte seine Nähe, er tastete sie ab.
Carlo kam und brachte Seeteufel mit Tomaten und Kartoffeln. Anna kaute langsam, genießerisch. Sie liebte den Geschmack von Carlos‘ Essen. Sie nippte vorsichtig am „Wasser des Lebens“, einem hausgebrannten Traubenschnaps, von dem sie einmal schon zu viel getrunken hatte.

Der Mann am Nebentisch lachte und trank ihr zu. „Your drink is hard stuff. Has about eighty percent.” Er kam zu ihr an den Tisch und lächelte. „I am Giorgio.“ Nach kurzem Zögern erwiderte Anna sein Lächeln. „I am Anna.” Giorgio verneigte sich leicht und setzte sich. „Where do you come from?“ Anna hasste diese Fragen, die die Männer hier jeder einigermaßen hübschen Touristin stellten. „I come from Europe and you?” „I am born here.” Er deutete mit der Hand in die Landschaft. „So I come from good old Europe, too. You are on holidays?” Anna schüttelte ärgerlich den Kopf. Es reichte jetzt. „It is late. I must leave. See you.” Giorgio spannte sich einen kurzen Augenblick, dann nickte er ihr zu. Anna bezahlte bei Carlo in der Küche.

Langsam ging sie den Berg hinauf zu ihrem Häuschen. Die roten Felsen glühten in der Dämmerung, die Zikaden in den Olivenhainen gaben lauthals ein ohrenbetäubendes Konzert, wilder Thymian und Oleanderbüsche dufteten. Annas Blick haftete auf dem steinigen Boden. Geführt vom wiegenden Gleichmaß ihrer Schritte glitt sie wieder aus ihrer Gegenwart.

I

Um etwa zwölf Uhr nachts waren nur noch acht Männer im Lokal. Betäubt saß Anna auf einem Stuhl und achtete darauf, ob einer von ihnen ein weiteres Bier oder einen weiteren Schnaps haben wollte. Hin und wieder leerte sie unauffällig Aschenbecher, wusch und trocknete Gläser. Die Wirtin stand gelangweilt hinter der Theke und starrte ins Leere.
Ein Mann, der seine Rechnung schon bezahlt hatte, blieb an der Tür gegenüber der Theke stehen, wandte sich zur Seite, ließ sich gegen die Lehne der Holzbank fallen und stützte sich dort ab, um den Männern noch etwas zu erzählen. Anna sah von ihrem Platz aus seine Arme und seinen Kopf. Er war betrunken. Plötzlich stürzte die Wirtin schreiend mit einem Schirm bewaffnet hinter der Theke hervor und ging auf den Mann los. „Du Sau du, du Schwein!“

Anna, die sofort dort war, sah, dass der Hosenschlitz des Mannes offen stand, sein Schwanz hing heraus, breitbeinig lehnte er über dem Schirmständer. Er hatte offenbar gepinkelt, während er den anderen Männern seine Geschichte erzählt hatte. Die Wirtin hieb gezielt mit dem Schirm nach seinem Schwanz und schimpfte lauthals. Der Mann lachte und ergriff die Flucht.
Um ihr Schmunzeln zu verbergen, empörten sich die Männer lauthals über ihren Arbeitskollegen und beruhigten die Wirtin. Dann gingen auch sie.
Anna spülte die letzten Gläser und Aschenbecher, putzte den Schirmständer, wischte die Tische und den Boden, zählte mit dem Wirt in der Küche das Geld, erhielt ihren Tagesverdienst, stieg die steile Treppe hinauf in ihre kleine, schäbige Kammer mit dem Bett, dem Tisch, dem Kasten, dem kleinen Fenster und dem Waschbecken.

Achtlos verstreute sie ihre Kleider im Raum, stellte sich ans Waschbecken und wusch sich, während sie – wie jede Nacht – durch das Fenster den steilen dunklen Hang und den Fleck Himmel betrachtete, der voller Sterne war.
Ein Punkt glomm rot auf. Plötzlich wachsam geworden starrte Anna hin und erkannte in dem Schatten am Hang die Gestalt des Wirts, der offenbar durch das erleuchtete Fenster beobachtete, wie sie sich wusch.
Anna fühlte sich unbestimmt bedroht, nahm ein Kleid aus dem Schrank und hängte es vor das Fenster.

II

Die Farben der Landschaft verloschen, die Sonne war fort.
Am Wegrand stand ein hagerer alter Mann in tiefschwarzen Kleidern. Er starrte Anna an.
Anna ging schneller. Eine weiße Ziege kam auf sie zu, blickte sie aufmerksam an und leckte ihre Hand. Ein Pfiff rief die Ziege zurück. Anna folgte dem Tier bis zu einer kleinen, verfallenen Kirche.
Der Blick des Mannes dort streifte sie, dann beugte er sich hinunter zu seiner Ziege, scherzte mit ihr, wiegte sich lachend, hielt sein Ohr an ihr Maul und flüsterte ihr etwas zu. Anna war nicht sicher, ob er verrückt war.
Noch immer vorn übergebeugt sah er kurz zu Anna auf. „Sie hat mich nicht verstanden“, meinte er ernst. Dann lächelte er schalkhaft in ihr überraschtes Gesicht. „Komm mit. Ich zeige dir, wo ich wohne. Es ist nicht weit.“ Er erhob sich rasch. Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und ging. Die kleine Ziege trippelte hinter ihm her wie ein Hündchen. Und Anna folgte den beiden.

Nach einem beschwerlichen Fußmarsch erreichten sie ein Haus, das von einem hohen Bretterzaun umgeben war. Anna hatte auf der Insel noch nie ein versperrtes Haus gesehen und wunderte sich, als der Mann das Hoftor mit einem großen Schlüssel öffnete.
Ein hochbeiniger schwarzer Hund zeigte seine Zähne und knurrte feindselig. Der Mann nahm Annas Arm und tätschelte das Tier. Der Hund entspannte sich, ab nun beachtete er Anna nicht mehr.
„Ich heiße Sordo“, sagte der Mann ganz nahe an ihrem Gesicht. Er ließ sie los. „Die Menschen hier glauben, ich bin verrückt, ich rede nicht viel mit ihnen. Sie haben hier rundum Bäume gefällt, um Brennholz zu machen. Ich habe Stecklinge gekauft und sie angepflanzt, damit es bald wieder Bäume gibt.“ Sein Blick irrte ab, er wurde wieder still. Nach einigen Minuten kehrte seine Aufmerksamkeit zu ihr zurück. Sie schaute ihn unsicher an. Da nahm er sie an der Hand und führte sie in sein Haus.

Sorgfältig zündete er Kerzen und Petroleumlampen an. Ein großer Raum, alles aus Stein und Holz grob zusammengefügt. Sie setzte sich auf einen der riesigen Holzsessel, die rings um einen klobigen, hölzernen Tisch standen. Sie betastete den Tisch und war sicher, dass er ihn gebaut hatte.
Sordo bereitete in der Ecke des Raumes auf einem Gaskocher Tee zu. Anna mochte seine Bewegungen. Behutsam, fast zärtlich berührte er die Dinge. Er brachte den Tee in großen Schalen und setzte sich ihr gegenüber. Anna fühlte sich in seinem Schweigen geborgen und genoss die Bedächtigkeit, mit der er sie betrachtete. Die kleine Ziege zu seinen Füßen schien zu schlafen. Als Sordos Hand sanft den Kopf der Ziege berührte, zuckte Anna zusammen.

Sordo sah sie lauernd an. Sein Blick war hart und direkt. Die warme Bedächtigkeit war verschwunden. Sie stand auf, durchquerte den Raum, sah aus dem Fenster.
Die Nacht war schwarz. Der Wind fauchte. „Ich möchte gehen.“ Ihre Stimme war rau. Sie räusperte sich. Sordo verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. Wortlos führte er sie hinaus, den steilen Weg hinab bis zur verfallenen Kirche, deutete mit der Hand in die Nacht und verschwand.
Anna begann zu laufen, sie kam außer Atem, sie riss sich die Füße an Disteln wund, stolperte, fiel. Schweißüberströmt kam sie in ihrem Häuschen an. Die vertrauten Dinge beruhigten sie, sie wusch sich, trank etwas Wein, legte sich hin und schlief rasch ein.
Während dieser Nacht schrak sie mehrmals aus dem Schlaf. Das Brummen des Kühlschranks, der sich einschaltete, das Knarren des Holzbodens, ein Fensterladen, der vom Wind hin- und hergeschlagen wurde und dann ein unbekanntes Scharren, ein Schatten am Fenster, ein Lichtstreif beleuchtete kurz das blasse Gesicht Sordos, der ins Zimmer starrte, sie riss die Augen auf, aber niemand war da.

Als Anna am nächsten Tag erst mittags erwachte, war sie nicht sicher, ob sie von Sordo und seiner Ziege nur geträumt hatte. Es war heiß und friedlich, der Wind hatte sich gelegt, die Bienen summten, die Zikaden sangen. Beschwingt ging Anna ihren Pfad den Hügel hinunter ans Meer. Carlo und Christine würden sie schon erwarten. Sie wollte schwimmen und faul in der Sonne liegen.
Sie lag am Rücken im heißen Sand und schaute direkt in den Himmel. Sie überließ sich dem ruhevollen Rauschen des Meeres, das sie mit sich trug und wiegte, sie ließ sich von ihm wie eine Möwe heben und senken, sie dehnte sich vor Behagen, die sanfte Schaukel löschte ihr Denken. Sie schwebte und sah sich von weit oben, sie lag im Sand auf dem Rücken, sie schwebte, die Zeit stürzte ein.

I

Hans war sehr jung, vielleicht siebzehn oder achtzehn, hochaufgeschossen, zart, fast dünn mit kurzem blondem Haar und großen roten Händen. Er war fast jeden Tag in das Gasthaus gekommen, um Anna zuzuschauen. Sie trug Jeans und T-Shirts. Nichts Besonderes. Ihre blonden Locken ringelten sich um ihr Gesicht und sie bemühte sich zu lächeln und freundlich zu sein. Hans trank ein Coca Cola, hob ab und zu sein Glas und lächelte sie an. Der Wirt bemerkte, dass Hans noch Lehrling war in der Fabrik und wenig Geld hatte. Er kommt nur, weil er in dich verliebt ist.
Diese Erklärung machte Anna befangen. Verliebt! In ihren Träumen servierte sie Unmengen von Bier und Essen. Sie konnte keine Zeitung, kein Buch mehr lesen, dünn war sie geworden, nervös und fahrig.

Hans war da, als der Wirt ein dreitägiges Fest mit Musik veranstaltete und im Garten zusätzliche Holzbänke aufstellen ließ. Zwei weitere Kellnerinnen wurden angestellt. Anna begann wie immer um sieben Uhr morgens mit der Arbeit. Abends um sieben kamen die beiden anderen Frauen, sie waren über vierzig und stark geschminkt. „Wir bekommen nur selten Trinkgelder. Ein hartes Geschäft. Wenn man älter wird, muss man sich was anderes suchen.“

Das Fest dauerte täglich bis vier Uhr morgens. Um seine Gläser vor betrunkenen Gästen zu schützen, gab der Wirt nur Pappbecher aus. Die Stammgäste revoltierten. Da sah sie Gert zum ersten Mal. Er hatte sich seit Tagen nicht rasiert, sein blondes Haar war ungewaschen, sein Hemd stand offen. Er grinste, nahm den Pappbecher und schüttete sein Bier vor Annas Füße auf den Boden. „Sag dem Wirt, ich will ein Glas!“ Der Wirt schimpfte. „Nimm ein Tuch und wisch es auf!“, und Anna kroch am Boden zwischen den Männern und wischte, es stank. Den Männern, die schon betrunken waren, gefiel das, einer nach dem anderen leerte sein Bier auf den Boden, sie lachten: „Wisch das auf!“, und Anna wischte den Boden, kroch auf Knien, wischte. „Wir wollen Gläser!“, schrieen die Männer. Der Wirt meinte, sie könnten ihr Bier ruhig verschütten, sie müssten es Anna bezahlen oder er würde es Anna vom Lohn abziehen. Gert hatte an der Theke einen neuen Becher Bier besorgt. Er schüttete es vor Anna auf den Boden, grinste: „Wisch, ich bezahl das!“ Anna stand auf.

Hans war da. Von hinten griff er Gert an und schlug auf ihn ein. Gert drehte sich um, nach einer kurzen Rangelei packte er Hans und warf ihn über den Tisch. Er lachte, Hans blieb liegen, er schien verletzt. Die Wirtin kam, schreiend, packte Gert am Kragen, der Wirt verbot ihm das Haus. Einer der Männer half Hans auf die Beine und brachte ihn fort.

Während dieser Tage verlor Anna ihr Zeitgefühl. Sie kannte nur noch dieses Lokal, ihre Kammer, sie wusste nur noch, wie man bonierte und servierte, sie war noch niemals irgendwo anders gewesen als hier.
Der erste Abend nach dem Fest erschien Anna gemütlich und langsam. Einige gut gekleidete Männer betraten das Gasthaus. Der Wirt verließ seine Küche, wischte den Tisch im Extrazimmer persönlich sauber, rückte dort und da ein paar Sessel zurecht. Einer der Männer fasste Anna ins Auge. Er lachte sie an, fasste sie um die Hüfte. „Wein her, Weib her, ich will feiern!“ Anna machte sich unwillig los. Der Wirt nahm die Bestellung persönlich entgegen.
In der Küche schärfte er Anna ein, ja nicht zickig zu sein. „Das ist der Fabrikbesitzer! Ich habe das Wirtshaus von ihm gepachtet!“

Anna musste ein weißes Tischtuch auflegen, servierte die Speisen, Getränke, die Arbeiter am Stammtisch wurden ungehalten. Sie bekamen ihren Nachschub an Bier und Schnaps nicht rechtzeitig wie sonst. Sie brüllten Anna an, der Wirt befahl Anna, sich nicht darum zu kümmern. Alles der Reihe nach.
Anna brachte die zweite Flasche von dem teuersten Wein, entkorkte sorgfältig die Flasche, schenkte dem Fabrikbesitzer ein Schlückchen zum Verkosten ein.
Einer seiner Freunde fasste von hinten zwischen Annas Beine, Anna drehte sich spontan um und schlug den Mann hart ins Gesicht, der Mann sprang auf, Anna rannte zur Theke, der Wirt schrie „Bist du verrückt?“, die Stammgäste johlten und klatschten, der Fabrikbesitzer warf Geld auf den Tisch und verließ mit seinen Freunden wütend das Gasthaus.

Der Wirt war fassungslos. Er schimpfte nun auf Anna ein, warum sie nicht überhaupt anders, schneller, geschickter, vernünftiger, witziger sei, sie sei für nichts gut. Die Arbeiter mischten sich ein: „Setz dich hin, da hast du ein Glas Schnaps und eine Zigarette, jetzt wollen wir sehen, was der Wirt kann ohne dich!“
Anna setzte sich und rauchte, sie entspannte sich nicht, der Wirt schimpfte noch immer, „Lass ihn ruhig schreien“, sagten die Männer und bestellten zwölf Halbe und zwölf Korn bei dem Wirt und möglichst fix, sie wollten sehen, wie schnell er denn wäre.
Der Wirt lenkte ein, er rannte und machte, schimpfte mit seiner Frau, die ihm zu langsam einschenkte. Die Arbeiter bestellten weiter. Der Wirt schwitzte. Die Männer lachten. „Du bist aber auch nicht der Schnellste, na siehst du. Setz dich also und spiel nicht verrückt!“

Ein kleiner, dicker Mann redete freundlich mit Anna: „Morgen ist ein Zeltfest im Dorf. Es gibt dort Musik. Geh hin, es tut dir sicher gut, wenn du mal rauskommst.“ „Sie kann raus, ja, aber nicht rein!“, rief der Wirt grob. „Wenn sie in ihr Zimmer will, muss sie durch das Lokal. Sie bekommt aber keinen Schlüssel. Schließlich könnte sie was stehlen. Geh also ruhig aus, aber wiederkommen kannst du erst morgens um sieben!“ „Ich gehe, ja gut, ich gehe!“, rief Anna.
Mit dem kleinen Mann fuhr sie nach zwei Uhr, sie hatte sich gewaschen und umgezogen, zu dem Fest. Fast alle Stammgäste waren dort. Anna setzte sich zu ihnen. Hans kam und setzte sich neben sie. Gert saß ihr gegenüber und sah sie unverschämt an.

II

Das Meer wehrte sich klatschend gegen den Wind. Anna erwachte aus ihrem Halbschlaf, sie fror. Sie zog sich an und besuchte Carlo. Christine hatte gekocht. Sie aßen zusammen.
Anita, die kleine Tochter der beiden, zeigte Anna ein Steinchen, ihre Augen leuchteten. Sie drehte es hin und her, bis Anna dessen Schönheit mit den Augen des Kindes sah. Anna strahlte, das kleine Mädchen jubelte und zupfte Anna am Ohr.

Ganz still in der Ecke saß Carlos‘ Vater. Anna wusste, er hatte nur ein Auge, er trug dicke Gläser. Doch Anna war es, als hätte dieser Mann zehn Augen, er sah und befühlte alles. Er saß still da, Anna spürte ihn plötzlich tief in sich, als würde er sie von innen her erforschen. Da wusste Anna wieder, dass sie sich fürchtete. Sie verabschiedete sich rasch.
Draußen saß Giorgio an einem Tischchen unter der Platane. Er schien auf sie zu warten. „Darf ich dich begleiten?“ „Warum nicht?“, fragte Anna, sie war froh, dass jemand ihre Angst verscheuchen würde. Nebeneinander gingen sie den Hügel hinauf.

Graublaue Steine, rote Felsen, eine strahlende Nacktheit, die Berge herb und kahl. Zwischen den Linien dieser Landschaft sah Anna eine seltene Empfindsamkeit und Zartheit. In dem windgeschützten Tal blühte noch der Oleander. Vom Dorf herauf zogen ausgedehnte Weingärten über die Hügel, wuchsen silberblättrige Oliven- und grasgrüne Feigen- und Zitronenbäume, Falter gaukelten über dem Ginster, der nur noch vereinzelt Blüten trug. Aus dem harten Boden krochen vereinzelt feine Blüten hervor und funkelten in der Abendsonne.

Unweit der verfallenen Kirche hockte Sordo am Weg und sprach mit seiner Ziege. Er blickte nicht auf, als sie kamen. Nur die Ziege drehte den Kopf nach Anna. Anna bewunderte ihre schön geschwungenen Augenbögen, ihre bernsteinfarbenen Augen mit der dunklen Iris, ihr Blick war warm und berührend.
Anna ging mit Giorgio an Sordo vorbei, blieb dann stehen. Giorgio unterbrach seine Rede, er wusste, sie hörte ihm nicht zu. Anna drehte sich um und sah Sordo lange an.
Sein Körper war schmal und geschmeidig, seine Füße steckten in festen Schuhen, er trug Jeans und einen grünen, kurzen Pullover, sein Haar stand dunkel um seinen Kopf, eine gekrümmte große Nase beherrschte sein Gesicht. Seine Augen unter den dunklen Brauen waren fast schwarz, seine Lippen von einem dunklen Braun. Wie ein Relief hob er sich ab von den goldgelben Disteln zwischen den blaugrauen Felsen.
Und wieder sah er sie hart und direkt an. Anna ertrug diesen Blick nicht. Sie drehte sich weg, sah Giorgio an.

„Er ist verrückt!“, sagte Giorgio. „Er lebt hier ganz einsam. Niemand weiß, woher er kommt, wer er ist. Er spricht nicht viel, manchmal flüchtet er vor den Leuten.“ Sie gingen weiter. „Ich glaube, er spricht vor allem mit seiner Ziege.
Die hat er gefunden – unter einem Stein. Sie war verletzt und schrie. Den Kopf hatte sie weit nach hinten gebeugt, die Zunge hing aus ihrem Maul, Tausende Fliegen klebten an ihrem Körper. Sie starb. Er zerrte sie unter dem Felsen hervor, wollte sie mit einem Stein erschlagen. Da nahm er sie auf seine Arme, nahm sie mit sich und pflegte sie gesund. Das hat er jedenfalls im Dorf erzählt, als sich die Leute darüber stritten, wem er die Ziege gestohlen habe. Er erklärte, die Ziege gehöre seither ihm allein. Die Leute haben sich nicht beruhigt, sie wollten wissen, wem die Ziege rechtens gehöre und meinten, Sordo habe auf keinen Fall Anrecht auf sie.
Da kam Sordo nur mehr ins Dorf, um Essen zu besorgen. Er baute einen hohen Zaun um sein Haus und verschloss sich darin. Die Leute sagen, dass er verrückt ist. Auch weil die Frau, die lange bei ihm war, ihn verließ und niemand bei ihm ist.“
Giorgio spürte, dass Anna ihm zum ersten Mal gespannt zuhörte und freute sich darüber.

Sie erreichten Annas Haus.
Anna wollte, dass er ging, doch sie bat ihn zu bleiben. Er setzte sich triumphierend auf die Terrasse des Häuschens, von der aus man die karge Landschaft und die Buchten des Meeres überblickte. Die Abenddämmerung senkte sich herab, die Landschaft fing Feuer und erglühte.
Mit allen Sinnen sog Anna das Bild in sich ein. Minutenlang stand sie gespannt und schweigend. Ihr leuchtendes Haar bewegte sich in der Abendluft.
Dann holte sie Wein aus der Küche.
Schweigend saßen sie da, beide ein wenig befangen. Giorgio fühlte sich unbehaglich.
Anna sah den Mann, der aus der Ferne zu ihnen heraufstarrte. Sie musste zwinkern. Ihre Augen brannten, so lange hatte sie sie aufgerissen, um zu erkennen, wer da war. Da war der Mann fort. Sekunden später sah sie ihn einige Meter weiter, er starrte zu ihr herauf. Jemand rüttelte am Gatter, es waren Ziegen, deren Beine lose zusammengebunden waren. Anna ging hin, um sie aus der Nähe zu betrachten, es schien, als würden die Tiere ihr freundlich zunicken. Die Ziegen flohen, als Anna ihnen zu nahe kam.

„Wenn die Bauern in die Berge kommen, um den Ziegen Wasser zu bringen, pfeifen sie. Die Tiere unterscheiden die Pfiffe genau. Es kommen nur die zur Tränke, die dem Bauern gehören, der gepfiffen hat“, erklärte Giorgio.
Er kletterte über das kleine Mäuerchen, das die Terrasse umgab. Im leeren Stall nebenan fand er eine gelbe Schlange. „Diese Schlangen sind harmlos. Sie wohnen nur bei guten Häusern. Sie trinken die Milch aus dem Euter der Ziegen.“ „Das hast du gesehen?“ „Ja, ja, sie saugen sich an einer Zitze fest und trinken Milch, ich habe das gesehen. Es sind gute Tiere. Nur die, die dunkelbraun sind wie Kaffee und schwarz gezeichnet, schlag tot. Sie sind gefährlich.“ „Ich würde gerne wissen, was die Ziegen empfinden, wenn eine Schlange ihre Milch saugt“, meinte Anna versonnen.
Giorgio hatte seinen Stuhl näher zu dem ihren gerückt. Wenn er sprach, suchte sein Körper ihre Nähe. Als Anna seine Annäherung bemerkte, stand sie auf.

Wieder sah sie den Mann am Hügel, sein Körper zeichnete sich dunkel gegen die Farben des Himmels ab. Da sah sie neben ihm die Ziege. Sie spürte sich lächeln.
Rittlings setzte sie sich auf das Mäuerchen, Giorgio kam näher und berührte sie im Nacken. Sie warf den Kopf zurück. Sie bat ihn zu gehen. Sie würden sich morgen bei Carlo und Christine treffen. „Aber ja, ja“, meinte Giorgio ehrerbietig, er blieb noch ein bisschen, um seinen Stolz zu beruhigen. Er freute sich über ihre Sperrigkeit, denn er liebte es, widerspenstige Frauen zu erobern. Anna wusste das in diesem Moment.
Giorgio ging und Anna blieb sitzen auf ihrer Terrasse. Mit den Augen suchte sie die Landschaft ab, doch Sordo und die Ziege blieben verschwunden. Sie holte Käse und Wein, lehnte sich zurück in ihren Sessel, legte ihre Beine auf das Mäuerchen und sank in die Landschaft, die sie liebte.

Großzügig schwangen die welligen Hügel zum Meer hinab. Die Felsen schimmerten. Ein hellerleuchtetes Boot kreuzte durch die Bucht. In den Ginsterbüschen raschelte der Wind. Sonst war es still. Niemand kam.
Anna aß ein wenig Käse und trank Wein. Sie wartete nicht mehr. Sie trank dem Mond zu wie einem Freund, sie trank auf sich, auf das Leben, bis ihr Denken verstummte. Sie schwamm gegen die Zeit, die stillstand.

Marianne Peternell

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 18161

Ostsee

Meer
Wolken und Wasser
Wasser und Wolken
Meer

Herr Wind hat da und dort zu tun
Wasser schubst er
in Wellen ans Ufer
Emsig laufen sie
sich aufbäumend
schicksalsgetrieben

Im Sand werden sie zahm und lahm
und müd
Doch es gibt keine Rast
Kaum Atem geholt
eilen sie zurück ins Meer
Gezogen von unsichtbarer Hand

Wasser, wirst du nicht müd?
Wasser, wann ist dein Sonntag?
Die Wolken haben den besseren Part
Sie kennen kein Ufer

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 18142

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Was Pag mit uns macht

Obwohl die fünftgrößte der Adria-Inseln, ist Pag ähnlich unbekannt wie die Rückseite des Mondes. Und so schaut sie auch aus. Und wenn berühmt, dann nicht für ihren Reichtum, sondern für ihre Kargheit. Und diese karge Schönheit muss man auch noch suchen.
Oder man hat Glück, und sie überfällt einen. Der Mai dieses Jahres machte es mir nicht schwer.

Der Weltuntergang hat hier schon vor langer Zeit stattgefunden, die Abholzung der Bäume für die römischen Galeeren und in Folge das Verschwinden der gesamten Vegetation. Das lässt den Großteil der Insel Pag seit 2000 Jahren wie eine Marslandschaft aussehen. Apokalypse heißt ja auch „Enthüllung“ (hab ich gegoogelt), und enthüllter kann eine Erdoberfläche nicht sein. Aber doch nicht ganz. Ihr nordwestlicher Zipfel mit dichten Steineichenwäldern und den ältesten wilden Olivenbäumen der Welt überrascht und versetzt einen dann in einen Olivenbaum-Wahn. Die wilden Oliven – diesen Unterschied muss man machen, denn die ältesten kultivierten wachsen auf Kreta. Sorry, Pag.

Auf den Hügeln hinter dem kleinen Hafendörfchen Lun erstrecken sich in lichten Wäldern die alten Baumriesen, die die Bewohner seit Generationen veredeln. Knorrig, vielfach in sich selbst verdreht und gewunden, manchmal wie Drachen am Boden geduckt, in alle Richtungen gestreckt und gequält wie Christusse am Kreuz, nehmen sie die Steine in ihre Stämme auf und leben in Harmonie mit ihnen. Offenbar bekommen sie etwas von ihnen. Ihre Früchte trotzen sie dem steinigen Boden ab und kämpfen Jahr für Jahr mit den Stürmen der Bora und des Scirocco, hier Jugo genannt. Auch in der gnadenlosesten Sonne harren sie aus, nichts anderes gewöhnt, die heiteren, silbergrauen Wächter des Paradieses, selig in ihrer Wildnis, von nichts umgeben als von Licht, Luft, Feld und Meer. Schafe, unsichtbar irgendwo hinter Natursteinmauern. In Gigantenarbeit graben die Inselbewohner die Felsblöcke aus der Erde, türmen sie auf und schaffen Reihen von Unendlichkeiten, mäandernde Traumlinien in Weiß, Grau und Rosa durch die Landschaft, dazwischen knallt sich baumhoher, goldgelber Ginster hinein.

Natürlich gedeihen die Oliven auch wegen der Liebe und wegen dem Stolz ihrer Besitzer. So einer ist Edo, unser Gastgeber und jetzt unser Führer.
Mit Ante Gotovina will er nichts zu tun haben. Er schüttelt unwillig den Kopf und macht eine wegwerfende Handbewegung, als ich auf das Denkmal hinweise. Unter einem 1600 Jahre alten Ölbaum haben Kameraden dem verurteilten Kriegsverbrecher des „vaterländischen Krieges in ewiger Liebe und Dankbarkeit“ einen Stein gesetzt.
Weiter oben sitzen wir dann unter dem ältesten mit 2000 Jahren, lange schweigend. Es sind auch einige Baum-Umarmer-Leute dabei.

In keiner Mythologie, in keinem Epos ist von Pag die Rede. Keine Helden sind hier gestrandet, keine Göttinnen an Land gestiegen oder in den Hades gefahren, keine Schlachten wurden geschlagen, es gibt keine Höhlen mit Riesen, auch keine schönen Mädchen am Strand, die die müden Krieger verzaubern oder laben. Auch ist nichts bekannt von Tempeln und Klöstern, in denen weise Männer Visionen hatten und aufschrieben, über die die Menschheit jetzt noch rätselt. Pag ist einfach nie ein Thema in der Weltgeschichte gewesen. Und in der Geografie nur ein unscheinbarer Steinhaufen. Ein zorniger Gott hat seinen Schlatz über diesem Meer hinterlassen, und er wurde zur Insel Pag. In Griechenland habe ich einmal die Geschichte des Schöpfungsmythos gehört, der auch auf diese Adria-Insel zutreffen könnte: Sie sind bei der Länderverteilung zu spät gekommen, da sagte Gott, er hat nur noch ein paar Gebirge und Felseninseln zu vergeben. Aber er schenkt ihnen den Olivenbaum, wenn sie ihn gut behandelten, würden sie nie Mangel leiden.

Noch eine andere Pager Delikatesse verdankt sich der Kargheit, der Schafkäse. Außer im kurzen Frühjahr gibt es kaum grünes Gras, die Tiere ernähren sich hauptsächlich von Strohblumen und Disteln, von Minze, Salbei und Thymian, was den Paski sir so besonders würzig macht. Wenn sie können, knabbern sie auch an Feigenbäumen, Steineichen und Rosen. Wahrscheinlich ist es genauso bei den Schweinen, die den köstlichen Paski prsut, den Pager Schinken, hergeben. Was Schafe und Schweine vielleicht nicht so wahrnehmen wie wir (aber wer weiß das schon so genau?), sind die Gerüche, die von diesen bescheidenen Felsenhaufen ausgehen.

Pag ist eine Duftinsel. Ich gehe die Straße hinunter zum Hafen unter Palmen, Feigenbäumen und Oleander, neben mir eine Hecke aus Rosmarin, höher als ich und dick wie ein Autobus, wuchert sie aus dem Zaun heraus, weiter ein Wäldchen aus hochgewachsenen Ginster- und Lavendelbüschen, ausladend wie Palmenkronen. Das sind nur die sichtbar auffälligsten, aber die vielen ebenso stark duftenden Kräuter und Gräser kann ich nicht beim Namen nennen. Wenn wir am frühen Morgen und am Abend von unseren Übungen zurückkommen, umgibt einen die Luft wie eine Geruchssymphonie, die einhüllt wie ein weicher, wohliger Mantel. Sie schmeichelt und streichelt so zärtlich, dass man sie umarmen und esstrinken möchte. Die Möwen mit ihrem Kampfgeschrei sind immer da.

Auch der dritte Reichtum wird der Natur nur mit Mühe entzogen – das Meersalz in den Salinen von Pag. An manchen Stellen ist die Insel so schmal, dass man glaubt, mit der Hand einmal auf dieser, einmal auf der anderen Seite eintauchen zu können. Überall sieht man übers Meer hinweg. Jenseits des tiefblauen Wassers fallen die schroffen Felswände des Velebit-Gebirges in einer Fülle von wechselnden Farben und Formen in die Fluten. Und auf der anderen Seite, zur offenen Adria hin, reihen sich Inseln an Inselchen, Vorgebirge an Halbinseln und große an kleine Buchten. Manche Landnadeln ragen so schmal und spitz ins Meer hinaus, dass man sich wundert, warum dort keine Schiffe und Segelboote aufgespießt sind wie Schaschlik.

Auf das Festland hinter dem Velebit schaue ich anfangs nur mit Scheu hinüber und schnell wieder weg. Mit Schaudern kommt die Zeit vor 25 Jahren zurück, als dort der jugoslawische Bruderkrieg tobte und ich dabei war. Die Linie von Karlobag bis Karlovac erobern, hieß damals die großserbische Losung. Bei der Bezirkshauptstadt Gospic lag ich anstatt an Adria-Stränden in kroatischen Schützengräben. Die Naturwunder der Plitwitzer Seen waren heftig umkämpft und vier Jahre lang von serbischem Militär besetzt. Als die kroatische Propaganda verbreitete, die barbarischen Tschetniks hätten angeblich den Nationalpark geflutet, zerstört, kämpfte ich mich dorthin durch, um festzustellen, dass das eben nur, wie vermutet, politische Gräuelpropaganda war. Für die Natur ein Glücksfall: Nie konnte sie sich so gut erholen, als damals, als die Touristenpestilenz ausblieb. Nie hab ich eine köstlichere Forelle gegessen, die mir ein illegaler Fischer zugesteckt hatte.

Und um den Vergleich auf die Spitze zu treiben, lassen sich noch die Pager Spitzen anführen. Die Inselfrauen zaubern aus einem dünnen Zwirnsfaden und sonst nichts außer Luft in den langen Wintermonaten Kunstwerke hervor. Die Touristen kaufen die Spitzendeckerl im Sommer gerne und legen sie dann im nördlichen Eigenheim unter ihre mickrigen Gummibäume und Philodendren.

Edo erzählt, dass auf den Inseln kein einziger Schuss gefallen ist, und trotzdem brauchten sie 15 Jahre, um sich zu erholen.
Erinnern, gedenken, nicht vergessen. Noch früher – aber gar nicht so lange her – war Pag die Hölle auf Erden: Das faschistische Ustasha-Regime ließ hier das KZ Slana anlegen und ermordete zwischen Juni und August 1941 tausende Menschen – Serben, Juden, Bulgaren, Armenier, Roma, Sinti und regimekritische Kroaten, Kommunisten und Agrarier. Das Nebenlager Metanja wurde extra für Frauen und Kinder errichtet. Sie ließen sie in den Saline-Feldern verrotten, warfen sie in Bergwerksschächte oder schlachteten sie einfach ab. Die Strände der neuen Party-Destination Novalija sollen meterhoch mit Leichen übersät gewesen sein. Die italienischen Besatzer waren so entsetzt, dass sie die KZs schlossen. Die kroatischen Ustasha-Schergen ließen sie aber zusammen mit ihren Opfern abziehen, die fast alle im innerkroatischen KZ Jasenowac ermordet wurden.

Man sieht es sofort, wenn man ankommt: Diese Insel ist eine Bezwingerin, Überwinderin, Überlebenskünstlerin. Sie hat nichts. Nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag von berühmten Söhnen und Töchtern. Sie hat keine berühmte Zauberin aufzubieten, sie ist selbst eine. Sie macht aus dem Mangel eine Fülle, aus Wirrnis Ordnung, aus Eintönigkeit Abwechslung, aus Einfachheit Komplexität, als wäre sie die Inkarnation der dialektischen Philosophie.
Der Mangel schärft die Sinne und macht empfänglich für alles, was möglich ist. Weckt das Schlummernde auf und befördert es ins Leben.

Das müssen die Entdecker und Erfinder der Pager Woche unmittelbar gefühlt haben, als sie sich hier niederließen und ihnen Gleichgesinnte seither freudig folgen. Vom Gefühl zur Erkenntnis und zur Tat, dass Qigong, Taiji und Shaolin besonders gut hierher passen, in eine Abstraktion von Natur, wie das Bild einer chinesischen Steinabreibung. Die Umwandlung von Energien in etwas Neues, Besseres, Reicheres.

Diese Insel strickt wie im Märchen aus leer gedroschenem Stroh Gold. Das macht demütig und dankbar.

Wien, 8.6.2018

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

Erstveröffentlichung: Der Standard, 14.7.18, Album, S. A4/5
unter dem Titel: „Eine Insel als Überlebenskünstlerin“

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 18130

In den Schluchten der Altstadt von Genua

Ruhig Blut, Lucy, meine geliebte Kamera, du verbrennst ja mir beinah die Hand, so wie du vor Neugier glühst; auch ich kann es kaum erwarten, nach einem langen Jahr wieder in die Altstadt von Genua abzutauchen, meiner Gegenstadt zu Wien, aber lass mich meinen morgendlichen Cappuccino in Ruhe fertig trinken, schätzt du es doch, mit gelassener Hand geführt zu werden. Und lass mich noch etwas mit dem alternden Transvestiten mit feuerrotem Haar und seinem gewinnenden Lächeln schwatzen, der diese Bar führt, hat er doch meinen Kaffee so liebevoll mit Kakaopuder bestäubt. Besser soll das Wetter demnach werden, aufklaren soll es im Laufe des Vormittags, also gute Nachrichten für dich und dein klares Auge, Lucy.

Selten, nur selten gelingt er einem, der perfekte Schuss, vollendet in Farbe und Belichtung, und mit Senken der Kamera umspielt ein Lächeln der Gewissheit einem die Lippen, dass dieses Bild keiner Nachbearbeitung bedarf, im Gegenteil, seinen Zauber würde ihm all das virtuelle Pixelschieben rauben. Wie auch in diesem Fall, der Hausfassade mit den hervorstehenden Fratzen, ihr höhnisches Gelächter würde verschallen und der beißende Spott in ihren Augen würde erlöschen, den diese Teufelchen für die Passanten unter sich übrighaben, denn in der Gewissheit treiben sie ihren Schabernack, jeden einzelnen in der Hölle wiederzutreffen.

Schwärzer als letztes Jahr scheint mir mein Genua geworden zu sein, noch mehr Afrikaner beleben die alten Viertel, mein Gefühl, denn auch an ihren Rändern sind sie mittlerweile unverrückbares Bild der Straßen. Und bestätigt wird mir dieses Gefühl, als ich auf drei afrikanische Mädchen im Stiegenhaus des ansonsten herrschaftlichen Palazzos meiner Unterkunft treffe, von denen zwei der dritten mit aller Sorgsamkeit das Haar flechten, während der Ghettoblaster zu ihren Füßen Lieder aus ihrer fernen Heimat weint. Mein freundlich gesinntes buon giorno scheint sie noch mehr zu verschrecken als die üblichen Drohungen und Beleidigungen, die sie wahrscheinlich täglich über sich ergehen lassen, aber als im zweiten Blickkontakt misstrauische Neugier in ihren Augen aufblitzt, bin ich an meine tägliche Fahrt mit der Wiener U6 erinnert, in der Deutsch mittlerweile den Minderheitensprachen angehört, und wohlig stellt sich in mir das bekannt heimatliche Gefühl ein, Ausländer unter den Ausländern zu sein.

Und ihr Gesicht zeigt die Altstadt zur Abendstunde, wenn in einer Gassenecke übergewichtige Hafenhuren sich die Füße platt stehen und keine zwei Meter nebenan sorgsame Mütter ihren aufstrebenden Nachwuchs in die Buchhandlung zur Kinderbuchlesung führen. Bebrilltes intellektuelles Bürgertum kann ich durch die Schaufenster im Vortragsraum erkennen, und auch den schrulligen Vermieter meiner Unterkunft mache ich in dieser Gruppe aus, Ausgaben der lotta communista versucht er an den Mann zu bringen, einer Zeitschrift, die in mir die Nostalgie weckt, fünfzig Jahre zu spät erschienen zu sein. Und verstärkt wird diese Nostalgie mit jedem meiner Atemzüge, denn in der Luft liegt der allzu bekannte Geruch einer Kräuterzigarette, die zwei an der Hauswand lehnende Asiaten zwischen sich hin- und herwandern lassen, hier in aller Öffentlichkeit ohne Scheu vor allfälliger Obrigkeit.

Und allmählich lerne ich, dieses für eine andere Stadt undenkbare Kaleidoskop des absurd unterschiedlichen Nebeneinanders selbstverständlich zu finden, mich selbst als Teil dessen zu fühlen in dieser erzwungenen Dichtheit des Zusammenlebens in den tiefen Gassen der Altstadt von Genua, in der jeder unablässig ein Auge auf jeden wirft. Und ich glaube damit eine Erklärung gefunden zu haben, weshalb hier alle Rassen- und Klassenkämpfe im Ansatz erstickt sind und weshalb er nicht ausbricht, der eigentlich in den nächsten fünf Minuten zu erwartende Bürgerkrieg …

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 18128

Die Liebe der Seekuh (Italien 6)

1.
Letztlich bin ich doch noch nach Punto Maria del Leuca gekommen.
Enttäuschung pur. An der Kirche und dem Leuchtturm vorbei. Ist das die einzige hässliche Kirche in Italien? Und der Leutturm passt besser nach Gotland als nach Apulien. Dann die Palmen-Eukalyptus-Oleander-Promenade entlang. Sie stehen stehen still da, zernepft und habtacht wie preußische Feldwebel. Beim Holzkreuz für den Woityla-Papst-Besuch liegt ein verdorrtes Lorbeergebinde mit polnischer Inschrift. Polnische Papst-Touristen. Ansonsten glänzt die Riviera mit verrammelten Pizzarien und Eissalons, die Strandvillen blind und abweisend mit den zugeschlagenen Fensterläden, Boote umgedreht, kieloben am Bauch und in Zeltplanen gewickelt wie Polizeileichen.
Nur wenige Spaziergänger unterwegs, einige mit Hunden, diese scheinen mir alle dreibeinig, vielleicht ziehen sie ein Bein ein wegen der Kälte. Ein dunkler Männerhaufen vor einem Café, ein anderer vor einem Tabacchi an der heute nicht sonnenbeschienenen Häuserfront.

Auf einer Bank sitzt die alte Engländerin vom Vortag und liest in einem Buch – Apulien-Dumont auf Englisch mit bunten Sommerfotos. Sie hat also trotz meiner mangelhaften Auskunft das Meer gefunden. Ich grüße sie, aber sie erkennt mich offensichtlich nicht wieder. Das höfliche, den Briten angeborene Lächeln klebt in ihrem viktorianischen Porzellangesicht. Eine Teekanne mit Schnabeltasse. Wahrscheinlich muss man von den britischen Inseln kommen, um es am Punto lauschig zu finden. Sie kann nichts dafür, ich sehe wirklich sehr anders aus als gestern bei meinem ersten Spaziergang über die Piazza San Rocco. Ich bin fest in meinen violetten Daunenmantel eingemummelt, habe mich mit gleichfarbiger Wollmütze, großem Schal und festem Schuhwerk kälte- und windresistent zu machen versucht. Die komplette Winterausrüstung aus Wien! Nie hätte ich gedacht, dass ich meine Reisegarderobe hier im Süden brauchen würde. Die abgebrochene Sturmwanderung von gestern war mir eine Warnung.

Ich gehe aus dem Ort hinaus zum äußersten Absatz des Stiefels. Von wegen Stiefelabsatz – ich hab ihn eigentlich immer eher als Stöckelschuhspitzel angesehen oder einen Handschuhfinger, in den man hineinschlüpfen muss. So eng ist mit jetzt auch zumute. Gegenüber soll Korfu liegen, das traumhafte Kerkyra mit dem Achilleon. Nicht einmal hundert Kilometer entfernt. Noch viel früher, als ich noch Sisi-Fan war – nicht wegen Romy, sondern weil ich Axel Cäsar Conte-Corti verschlungen habe – bin ich ins Achilleon gepilgert und der Kaiserin bis heute dankbar, dass sie mich mit ihrer großen Liebe, mit Heinrich Heine, angesteckt hat. Genau hier soll sich die Adria mit dem Ionischen Meer vermählen. Wenn man das Tyrrhenische dazunimmt, könnte man von einer Ménage-à-trois reden.

Meine Vermieterin hat mir erzählt, dass die Meere im Sommer einen scharfen Kamm bilden und sich kilometerlang nicht mischen. Was für eine Ehe! Die Liebe der Stachelschweine und der Warane. So eine wie ein Stückchen weiter südlich zwischen Skylla und Charybdis? Nichts davon ist heute mit freiem Auge zu sehen. Das Meer ist einheitlich grau-grün-weißlich wie meine Waschmaschine im letzten Schleudergang, es tobt, brodelt, kocht, braust und zischt, obwohl kein Wind zu spüren ist. Der feuchte Hauch kommt vom Wasserdampf der aufsteigenden Gischt. Die späten Ausläufer des Sturmes der letzten Tage lecken unerbittlich an dem Sand, braun-gelbe Bläschen und Schaumkrönchen an den auslaufenden Enden wie flüssige Babyscheiße. So wie sie aussehen, könnten sie auch riechen. An den Dämmen der Wellenbrecher steigt das Wasser in hohen Fontänen auf, die Bojen drumherum tanzen wie verrückt auf und ab, tauchen unter, einmal rot, einmal blau oben.

Am Ortsrand ziehen sich links von mir flache Sandstände hin, zu denen im Sommer die Menschenmassen strömen. Rechts ins Landesinnere hineingestapelt, abgeschnürt von einer Schnellstraße, häufen sich die geballten Hässlichkeiten des Massentourismus: Die Küstenlinie ist zubetoniert mit Hotels, Pensionen und Appartmenthäusern, mit ihren kleinen, angeklebten Balkonen räudigen Reptilien ähnlich, dazwischen röcheln bröckelnde Ferienvillen aus dem 19. Jahrhundert ihrem Untergang entgegen, eingezwängt zwischen Asphaltwüsten mit Parkplätzen, Supermärkten, Sportparcours, Mac Donalds, FFC und Pizzahuts. Hütten, genau, Barackenlager. Wo habe ich zum letzten Mal so viel Grindigkeit an einem Ort gesehen? Budva in Montenegro mit seinen realsozialistischen Bettenburgen fällt mir ein, die die Schmetterlingsbucht verschandeln. Keine Spur von den sanften Hügeln mit den berühmten Weintrauben und Oliven, Feigen- und Mandelhainen, alles bis weit hinauf von Anti-Architektur verkrätzt.

Die Menschen bauen sich ihr eigenes Krebsgeschwür in die Landschaft.
Mag sein, dass es hier schön aussieht, wenn alles blüht, es warm, grün und bunt ist, wenn Menschen flanieren und sich vielfältig vergnügen. Am Strand brav und faul die brutzelnden Körper dicht an dicht unter färbigen Fransenschirmen und sich wälzen in der trüben Flut, in den Hotels übersichtlich in Pferche geschlichtet, in Appartmentsiedlungen wie in aufgestapelten Schuhkartons, die eigentlich schon längst entsorgt werden müssten. Alles zeigt den Charme eines zerplatzten Mars-Asteroiden. Ist das das nach außen gestülpte Abbild der Mafia und des Berlusconismus?
Wie können die Menschen sich selbst eine solche Hölle ins Paradies hineinbauen? Vielleicht sollte man überhaupt nur im Winter kommen, um sich von der dummen Krankheit Reisesehnsucht heilen zu lassen. Mit Wehmut denke ich an die Gemütlichkeit der Weltreise durch mein Zimmer. Gibt es ein Wort, das alle diese Eindrücke zusammenfasst? Suche und finde es: Lieblosigkeit und Geldgier. Warum – diese Frage kommt erst später, und ich fürchte, die Antwort wird mir versagt bleiben.

Weiter nach Süden, geht der flache Sandstrand allmählich über in steiniges Gelände, anfangs nur Steinbrocken ins Wasser gestreut, dann immer höhere Felsen und ein kleiner Fjord am Ende der Bucht. An der Kante setze ich mich auf einen Stein und schaue hinaus auf das Meer. Finis terrae. Ob man das sehen kann, wann und wie, darüber war nichts zu lesen, ob sie verschiedene Farben haben, verschiedene Wellen und Wirbel, Strömungen und Energien zwischen zwei Vulkanen, ob Ebbe und Flut andere Rhythmen haben? So viele Fragen, vielleicht sollte ich wieder einmal die Odyssee lesen. Keine Ahnung, und die bekomme ich an diesem Tag nicht mehr, denn alles vor mir zerfließt in einem ununterscheidbaren Gischtvorhang ohne Horizont, ein Gefühl wie auf einem sturmumtosten Schiffsbug.
Nicht verwunderlich, ganz natürlich, wie es der geografischen Form und Exponiertheit des Stiefelabsatzes entspricht. Aber warum ich davon etwas so stark spüre, ohne jemals esoterische Mond- oder Sonnenanbeterin gewesen zu sein. Irgendetwas versucht mich zu zerreissen, zerrt an mir. Das kommt nicht von innen, es ist eine äußere Macht, und ich boxe mit meinen Ellbogen um mich wie gegen eine Wattemauer.

Wie ich so da sitze, auf einem flachen Stein und gegen einen Felsen gelehnt, fällt mir auf, dass es nicht einmal nach Meer riecht. Keine der bekannten Würzemischungen aus Jod, Salz und Botanik, Algen und Erde, Fisch und Moder, als sei die Luft geruchsdicht eingeschweißt in Tiefkühlplastiksackerltütenzellophanfoliendosen im untersten Fach. Keine Geruchsspur von Zitronenmelisse, Passionsblume, Baldrian, Mohn, Hopfen, Thymian, Lorbeer, Oregano, Arnika, Wermuth, Klee, Anis, Strohblume oder Kaktus.
So wie das Rauschen des Meeres alle anderen Geräusche geschluckt hat. Sogar das hysterische Geschrei der unvermeidlichen Möwen. Löschtaste. Stummfilm.
Warum mir gerade jetzt Manchester by the Sea einfällt, weiß ich nicht. Zwei Gesichter wenden sich voneinander ab und bleiben eingefroren stehen. Kommen Onkel und Neffe zusammen? Großartiger Film, hat mir sehr gut gefallen, aber ratlos gelassen. Trostlosigkeit? Nein, eher Melancholie. Ein kleiner Lebensausschnitt von wenigen Personen mit wenig Handlung an der Oberfläche, aber großer Tiefe.

2.
Sitze nur und schaue. By the way, by the sea: Ich war hier schon einmal, dieser Sandstreifen, der Buchtabschluss mit der Wand, dieses kreisrunde Loch in dem einzeln stehenden Stockzahn, Emmentalerwand, weiß und rosa vom Tuff, dem typischen Apulien-Gestein. Darauf habe ich schon einmal geschaut, vor wie vielen Jahren? Oder war‘s in Sizilien, auf den Äußeren Hybriden, in Island, am Baikalsee oder bei Wladiwostok? Das hat man nun vom Vielreisen und Vielschauen. Ich kriege die Zeiten und Bilder nicht mehr zusammen. Oder doch? Wie funktioniert Erinnern? Es ist der Süden, definitiv. Es ist warm, wir sitzen nackt am Strand, hier muss es eine Süßwasserquelle geben, das Segelboot ankert weiter draußen vor der Bucht, die „Joy of Freedom“ schaukelt leicht, das kleine Schlauchboot lässt vor uns in der Dünung seine Ruder schleifen. Wir haben Frischwasser getankt und zwischen den Steinen ein Lagerfeuer gemacht. Die Rotweinflasche geht im Kreis – drei Männer und ich.

Da ist es wieder, ich rechne zurück, es kann nur der Sommer von 1984 gewesen sein, meine letzten Schulferien, mein letzter langer Sommer als Lehrerin und Obermaat auf der Joy. Aber es ist anfangs noch ein zerschnipselter Stummfilm, schwarz-weiß, in Fetzen, ein unterbrochene Diaschau mit Schwarzstellen dazwischen, als klemmte der Wagen. Jetzt kommt nichts mehr, der alte Diaapparat bettelt darum, sich im technischen Museum für immer ausrasten zu dürfen. Dafür beginnen Bilder aus der Schwärze aufzuflackern und zu laufen, erst stockend, verklemmt, überlagert, sie stolpern und überholen einander, dann werden sie länger, klarer und zusammenhängend. Einzelne Figuren tauchen auf. Der dicke Christof sitzt im mageren Schatten einer alten Tamariske – oder einer Pinie? – und zeichnet, nein, er aquarelliert, deutlich ist der Pinsel zu sehen, das Brettchen, der Farbkasten und das Wasserglas neben ihm. Die Felsen mit ihren Löchern, weiß-gelblich, an manchen Stellen rosa, pastellig, Tuff wie fast alles alte Gemäuer in Apulien.

Ich habe ein sehr schönes Bild von ihm, der Hafen von Otranto, Theo hat er eines mit dessen afrikanischer Stadtlandschaft geschenkt. Roberts Gestalt taucht auf, wie er robinsonartig auf seinen langen Beinen herumspringt und unter den Pinien/Tamarisken Holz sammelt. Theo ist der gute Freitag, stumm, immer lächelnd und in jeder Lage hilfsbereit. Es sind bewegliche, bewegte und bewegende Bilder, dazu kommen langsam die alten Geräusche und Gerüche herauf, Gespräche und Gefühle. Sägende Zikaden bringen die Luft zum Vibrieren, hysterisches Möwengeschrei. Von diesem Punto Maria del Leuca werden wir nach Korfu und Ithaka hinüberstechen.

3.
Wir sind in Dubrovnik aus verschiedenen Richtungen zusammengetroffen, die jugoslawische Küste hinuntergesegelt, dann steil hinaus auf die Adria hinausgekreuzt, um dem kommunistischen Musterland Albanien auszuweichen. Dessen Soldaten lieben es, vom Land aus auf kapitalistische, imperialistische, ausbeuterische, faschistische und kriegstreiberische Segler zu schießen. Ob als Freizeitvergnügen, Zielscheibenübungen oder auf Befehl, wer weiß das schon. Jedes Jahr gibt es Tote und Verletzte bei dieser besonderen Art von Völkerfreundschaft.

Ziemlich genau in der Mitte der Adria setzt eine vollständige Flaute ein, und als Theo den Motor anwerfen will, streikt dieser. Theo hat Übung im Basteln. Seine „Joy of Freedom“ ist eine britische Rennsportyacht Baujahr 1913, der Volvo jüngeren Datums. Der Halb-Amerikaner Theo spricht sie persönlich mit She an und nennt sie liebevoll My fair Lady oder respektvoll Her Majesty Joy. Der Volvo wird in Einzelteile zerlegt, geschmiert und wieder zusammengesetzt. Zweimal ohne Erfolg, währenddessen die Seglerneulinge an Bord fast verschmachten. Heiß, windstill, das Meer luluwarm und so voller Quallen, dass wir uns durch Schwimmen nicht abkühlen können. Robert und ich holen am Seil Eimer um Eimer herauf, die wir aber erst von den Quallen befreien müssen, bevor wir uns das Wasser übergießen können.

Der Maler Christof ist gegen alle Unbilden gefeit; in seinem Kugelkörper ruhend wie Buddha, hockt er unter einem Sonnensegel am Heck, zeichnet einen Block voll und malt Aquarelle, fifty shades of sea, blau, türkis, grün, grau, weiß untertags, vergoldet, burgunderrot, violett und schwarz bei Sonnenuntergang. Der Maler erklärt uns, dass Wasser und Himmel von allem am schwersten zu malen seien. Ich ergänze – und Kleinkinder. Theo, der Altphilologe, zitiert Homer und beruhigt damit den nervig-nervösen Robert.

Sie diskutieren über Homers Beobachtung, dass das Meer manchmal die Rotweinfarbe von reifem Weizen annimmt. Ja, es ist wahr, wir werden es später einmal erleben. Schlussfolgerung – Homer, oder wer immer der Autor war – muss viel vom Meer und von der Seefahrt verstanden haben, vielleicht selbst Matrose oder Kapitän gewesen sein und doch kein Blinder. Ich koche uns ein feines Essen und produziere zumindest viel zukünftiges Fischfutter. Das macht alle zufrieden und hoffnungsvoll. Zwanzig oder sowas Stunden schaukeln wir sacht inmitten der Adria, auf der Joy of Freedom, in einer Nussschale von einer Yacht. Ich intoniere, nur innerlich: Wir lagen vor Madagaskar/ und hatten die Pest an Bord … Nicht laut, weil ich schon weiß, dass das ein Nazi-Lied war. Als irgendwann der Volvo geruht anzuspringen, steuert Theo das gegenüberliegende Brindisi an.

Bevor er vor Erschöpfung fast vom Steuerruder fällt, springen Robert und Christof – beide das erste Mal auf einer Yacht – ein und steuern die Joy unter Theos Anleitungen in den Hafen von Brindisi. Er ist ein guter Lehrer. Sie kämpfen heldenhaft, angeseilt an die Reling, Theo bedient den Sextanten. Mitternacht ist weit vorbei, wir nehmen nur Wasser und Proviant auf und segeln weiter Richtung Otranto. Das ist die alleinige Entscheidung des Kapitäns, die Landratten wären lieber in einem Hotelbett von Brindisi gelegen. Ich habe schon zwei Jahre unter Theo Borderfahrung und weiß, dass man dem Skipper absolut vertrauen und sich seinem Urteil widerspruchslos unterzuordnen hat. Diesmal führt uns dieses Gesetz aber um ein Haar ins Verderben. Oder Gottes Vorsehung.

Knapp hinter Brindisi bricht ein Sturm los, wie es ihn in der Adria mitten im Sommer selten gibt. Selbst der erfahrene Kapitän gesteht ein, dass er das noch nie erlebt hat. Die Joy of Freedom tut das, was sie gelernt hat, im letzten Friedenssommer von Brighton, sie wirft sich mit sieben Knoten in die Fluten, schneidet in die Wellenberge und -täler, der Bug senkrecht über uns und in rasender Fahrt hinunter in den Schlund. Mahlstrom, oje, das ist nicht gut ausgegangen. Das Glück dabei ist, dass Robert und Christof in der letzten Nacht Erfahrung gesammelt haben und sich als gehorsam und gelehrig erweisen. In Lebensgefahr soll ja so mancher Faule rührig werden. Die Gefahr geht nicht so sehr vom Sturm und seinen Wellen aus, sondern von den zahlreichen Sandbänken, die vor der flachen Küste zwischen Brindisi und Otranto lauern. Auch auf größere Schiffe als unsere Nussschale. Untiefen nennt man das mit diesem schönen, euphemistischen Wort. Ich sehe mich in der Kajüte liegen und zu Poseidon, Neptun und allen Meeresgöttern beten, dass sie mich sterben lassen oder zumindest den Walfisch vorbeischicken.

Kurz nach Sonnenaufgang laufen wir in den Hafen Otranto ein und werden reichlich belohnt für die nächtliche Höllenfahrt. Ein natürliches Rund einer senkrecht aufragenden Felsenbucht aus eierschalenfarbenem Tuff, ein Kratersee, mit einer schmalen Einfahrt wie ein Flaschenhals, auf dem tintenblauen Meer schaukeln weiße Segelboote, darüber flocken Scharen von Möwen, die kubischen Häuser in Weiß und Türkis sitzen auf dem Rand oben wie eine Krone. Der Maler Christof wird fast verrückt vor Freude, eine solche Schönheit haben seine verwöhnten Augen noch nie gesehen. Ob Otranto in das Oeuvre des Dichters eingegangen ist, ist mir nicht bekannt.

Der Kapitän legt vor der Hafenwerkstätte an und will den braven Volvo überprüfen lassen. Christof bleibt an Bord und malt, Robert und ich wandern durch die Stadt. Ich kann ihn damit verblüffen, dass er ausnahmsweise nicht weiß, wer hier seine vielfältigen, stürmischen Karrieren als „Herzog von Otranto“ beenden musste, geächtet und verbannt. Ätsch, ein Punkt für mich in unserem ewigen Literaturwettstreit. (Das politische Chamäleon Joseph Fouchet in Stefan Zweigs Biografie-Roman.) In einem Keramikatelier kaufe ich eine Schüssel, fast so groß wie das Hafenbecken von Otranto. Später motzt Theo über diese übermäßige Beladung der Joy. Er weiß ja nicht, dass ich sie ihm schenken will. Es soll das erste Erinnerungsstück für unseren gemeinsamen Haushalt werden. Ich habe sie noch immer, seither vielfach benützt für große Mengen von Nudeln, Salaten und Suppen, aber bis heute ohne jede Erinnerungsverknüpfung zu dem denkwürdigen Sommer 1984. Verdrängung kann man auch sagen.
Vielleicht musste ich gerade dazu im Februar 2018 dorthin fahren, zurückkehren. Die Erkenntnis – nichts ist ganz vergangen und alles kann zurückkommen. In der einen oder anderen Form.

Weiter, weiter, wieder über die Adria nach Südosten kreuzen, diesmal unter frischem Wind und ohne Pannen, auf Korfu zu, der glücklichen Insel der Nausikaa und Heimat der Phäaken. In Homers Zeiten war sie unter dem Namen Scheria – der Schild oder Drepanon, die Sichel, bekannt, der albanischen Küste zugekehrt mit dem 914 Meter hohen Pandokrator als Buckel des Schildes: „Dunkel erschien ihm das Land, wie ein Schild im Nebel des Meeres …“
So zitiert Theo die Beschreibung der Insel, wie sie Odysseus von seinem Floß aus zuerst erblickt.

Da ist Theo, der Latein- und Griechischlehrer, ganz in seinem Element. Odysseus befindet sich nach Überquerung des Ionischen Meeres etwas nördlich der Insel, als er zum ersten Mal nach dem letzten Schiffbruch wieder Land sichtet. Die Gewässer nördlich von Korfu, die wir gerade friedlich gequert haben, sind höchst tückisch; sie liegen in der Mündung der Adria, und wenn die Bora weht, wälzen sich eine hochgehende See und eine gewaltige Dünung und werfen sich gegen die Insel. Genau unter diesen Umständen wird das Floß des O. zertrümmert und er selber weggeschwemmt, um zuerst auf einer der vielen Klippen zu landen, die die Nordwestküste der Insel umsäumen. Er lässt sich in der starken Strömung nach Süden treiben und kommt nach neunzehn Kilometern zu einer seichten Bucht, in die ein Flüsschen mündet. Auch heute heißt es noch Ormos Eumones. Erschöpft kriecht O. in ein Oliven- und Feigengebüsch und schläft auf dem schönen Strand ein.

Am nächsten Tag wecken ihn Frauenstimmen und Gelächter. Nausikaa und ihre Freundinnen sind gekommen, um zu baden und Kleider zu waschen. Diese breiten sie dann zum Trocknen auf dem Kieselstrand aus und vergnügen sich nach getaner Arbeit mit Ballspiel. O. hat nach seinem letzten Kentern nicht einmal einen Lendenschutz mehr, so schmiert er sich mit dem Flussschlamm den Körper ein, vor das Geschlecht hält er sich ein Feigenblatt. Die Mädchen sind natürlich auch nackt und lachen sich krumm, wie er so vor ihnen steht. Sie haben keine Angst, sondern geleiten den Fremden zwölf Kilometer weiter ins Landesinnere zum Königspalast. Wir gleiten gerade an der Mündung des Flüsschens vorbei, und diese Szene könnte heute noch genauso stattfinden. Theo triumphiert, alles ist da, wie es beschrieben wird, …. und die Odyssee hat doch recht!

Der Fluss, die Bucht, der Strand, die Oliven, die Weinstöcke, die Wasserbecken, wo man Mühlen betreibt, Kanäle in die Pflanzungen leitet und Wäsche wäscht – heute genauso wie damals. Die bezaubernde Nausikaa bringt den Schiffbrüchigen in den Palast ihres Vaters Alkinoos, der ihn freundlich begrüßt, bewirtet, badet und einkleidet. Er hätte ihn gern seiner Tochter zum Mann gegeben, der Held will aber nur eines, nach Hause in sein geliebtes Ithaka!

Im Palast erzählt ihm O. von seinen zehn Jahre dauernden Irrfahrten. Alkinoos hat Einsehen. Nach einer Erholungsnacht gibt ihm der freundliche Alkinoos ein Schiff mit 52 Ruderern, das ihn nach Hause bringen soll.
Mit der Stadt der Phäaken verhält es sich genauso, wie Nasikaa sie dem Odysseus schildert: „An jeglicher Seite ist ein trefflicher Hafen, und die Einfahrt ist schmal.“ Sie liegt etwa zwölf Kilometer entfernt, an der Ostküste Korfus. Dort findet man die zwei natürlichen Häfen beiderseits von Garitsa, der modernen Vorstadt von Korfu. Der eine eignet sich für die Sommermonate, der andere ist das ganze Jahr durch seine günstige Lage geschützt. Korfu ist fruchtbar wie keine andere der Ionischen Inseln, und an der Beschreibung der üppigen Schönheit Scherias ist nichts, was sich nicht auch von dem heutigen Korfu sagen ließe.

Wir kommen an den Mini-Inseln Paxos und Anti-Paxos (heute Paxi) vorbei, zwei grauen Buckeln, auf denen sich die knorrigen Olivenbäume wie Ringkämpfer an den kargen Boden klammern. Wir nähern uns dem weißen Steilufer am äußersten Vorgebirge von Leukas, und dann tut sich die schmale Durchfahrt zwischen Ithaka und Kephallenia vor uns auf. Wir halten nach Backbord, um den Hafen am Ostufer zu erreichen. Von der zerklüfteten Insel her kommt der Duft von Tannen und feuchtem Gras.

„Als nun östlich der Stern mit funkelndem Schimmer emporstieg, welcher das kommende Licht der Morgenröte verkündet“, setzen die Phäaken ihr Schiff in der Bucht des Phorkys ans Ufer.

So wie wir. Maler und Schriftsteller laufen, unterschiedlich tölpelhaft, hinter Theo über die Odysseus-Insel und sind beeindruckt von seinem Homer-Wissen. Durch stachelige Maccia zuerst, unter uralten Olivenbäumen durch, auf einem schmalen Pfad, Fuß für Fuß vorsichtig voreinander. Achtung, Schlangen! Achtung, Ruinen! Hier ist das Haus des treuen Freundes, „des göttlichen Sauhirten Eumaios“, der als einziger Odysseus erkennt und den Homer als einzige Person mit Du anredet – oh du göttlicher Sauhirt! Sein Hund Argos soll ihn auch erkannt haben. Das ist am wenigsten wahrscheinlich, das gibt sogar Theo zu, dass der so alt geworden ist. Zehn Jahre Krieg, zehn Jahre Irrfahrten. Steil bergauf geht es in der Hitze, wir setzen über Mäuerchen, durch Weingärten und unter Obstbäumen durch. Die Asphaltpflanzen aus der Leopoldstadt schwitzen, stöhnen und fluchen, ich mit meinen Genen von Bergziegen und Gämsen nehme es sportlicher.

Auf der höchsten Kuppe stehen noch Mauern: Das ist die Kemenate der treuen Penelope, ein freistehender halber Steinbogen – die Festhalle der Freier, wo sie gefeiert und die Königin bedrängt haben, Grundmauern der Vorratskammern, hier der Stall, wo der Heimkehrer die besiegten Freier den Schweinen zum Fraß vorwirft. Viel Phantasie, Theos Begeisterung und sein Detailwissen machen die alten Geschichten lebendig und sichtbar. Manchmal weitet sich der Steig zu einem Eselspfad in breiten, niedrigen Stufen. Theo redet, zeigt und erklärt –alles in der Gegenwartsform. Die Odyssee ist für ihn keine Erfindung, keine Ausgeburt eines Dichter- oder Chronistenhirns, keine Sagen- oder Fabelsammlung und auch keine Fälschung. Für ihn sind es Fakten. Nicht nur die Ereignisse und Ortsangaben, sondern bis in die Details von Wetter, Seefahrt, Schiffbau, Waffen, Kleidung und Essen und Botanik. Theo ist die Strecken nachgesegelt, hat Zeitangaben nachgemessen und mit den Wetter- und Strömungsbedingungen überprüft.

Ich falle fast von einem Mäuerchen, als ich einer großen Smaragdeidechse nachklettere, sicher ist sie das Einzige, was sein Aussehen seither nicht geändert hat. Theo demonstriert immer mehr Beweise für seine Überzeugung, dass alles so war wie in der Odyssee beschrieben, man sie ernst und wörtlich nehmen müsse. Er habe ihre Orte über zwanzig Jahre lang abgesegelt mit dem Vorteil vor anderen Forschern, dass er des Altgriechischen mächtig ist und die Sprache Homers nicht nur liest, sondern auch versteht. Ich höre Theo wiederholen: Ich glaube an die Magie der Orte.

Den beiden Künstlern erschüttert er ihr bisheriges Weltbild. Gern gemacht! Theo ist in seinem Element, freundlich wie immer und froh, dass er neue Adepten gefunden hat, noch dazu so einfühlsame, produktive und prominente. Ich persönlich mag Theos Erzählungen über die Person Odysseus am liebsten. Er spricht von ihm wie von einem Zeitgenossen, einem Menschen aus Fleisch und Blut mit allen seinen Vorzügen und Mängeln, einem Freund, einem ganz normalen, modernen Menschen.
Er spricht von ihm als einem gerissenen Kerl, von einem griechischen Pantagruel gewissermaßen, schlauen Drückeberger, nicht als einem Helden. In einer romantischen Bucht erzählt er uns die Szene, wie König O., Herrscher über Ithaka, in der Maskerade eines schwachsinnigen Bauern den Sandstrand pflügt und mit Salz düngt, um sich der Einberufung in den Krieg zu entziehen. Die Häscher aber erkennen ihn an seinem Hinken, denn nichts anderes heißt Odysseus, der Humpler.

Dazu kam er, weil er in seiner Jugend auf dem Abhang des Parnass von einem wilden Eber angefallen wurde. Die Narbe am Oberschenkel, Eunaios wird ihn unter anderem daran erkennen. Außerdem war er kurz- und o-beinig, rothaarig, wahrscheinlich auch rotgesichtig und sommersprossig, mit einer lustigen Knollennase wie Clown Enrico oder die Clinis und einem krummen Spitzbart. Also das Gegenteil des klassischen blonden griechischen Helden mit edlen Gesichtszügen. Zu dem haben ihn erst die deutschen Griechensucher und Altphilologen gemacht.

Odysseus hat damals absolut keinen Bock auf Troja; den Kriegsgrund, eine jugendliche Idiotie des Paris, sieht er auch nicht ein. Ihm geht es gerade so prächtig, er hat ein kleines, aber feines Königreich geerbt, eine hübsche, junge Frau, Penelope, die er liebt, das Söhnchen und Thronfolger Telemach ist auch schon da. Mit seinen Kumpels geht er gern jagen, fischen und feiern. Aber Agamemnon und die kriegslüsternen Spartaner schicken Häscher, die ihn mehr oder weniger kidnappen und auf den Kriegszug gegen Troja entführen. Auch vom Herumreisen hat er die Schnauze voll, von all den Poliphems, Sirenen, Kirkes, Kalypsos und Nausikaas. Er wird ein Held wider Willen, genauso war es mit seiner Seefahrerkarriere.
Theo hat nicht nur uns mit seinem Odysseus-Bild angesteckt, ich kann mir vorstellen, auch seine Schüler.

Die Künstlerseelen wälzen sich in Entzücken, dass man die Geschichte auch so lesen kann und geraten in der Folge über ihre Lieblingshelden der Ilias in Streit. Hektor, nein Achill!
Als die Dichter- und Maler-Philosophen in Patras von Bord gehen, sind sie voll Dank und versichern Theo, dass sie von nun an anders schreiben, malen, lesen, denken, schauen und leben würden, müssen. Kein Stein soll auf dem anderen bleiben, wie auf Ithaka im einstigen Königspalast.

Anders leben müssen, das wird auch mein Schicksal, als ich am Ende des langen Lehrer-Sommers nach Wien zurückkehre. Theo war für mich nicht mehr erreichbar, dann ein Anruf von Robert. Theo hat entdeckt, dass er sich in Christof verliebt hat, gemerkt, also schwul ist. Christof ist bi, hast du das nicht gewusst? Nein, gar nichts, und auch nichts gemerkt, nichts gesehen oder gefühlt. Von Blitz und Donner zerschmettert liege ich da in Trümmern wie die Burg von Ithaka und alle anderen Ruinen des Mittelmeeres zusammen. Wo habe ich bisher gelebt? Wenn ich nichts weiß, das weiß ich mit absoluter Sicherheit: Ich habe damals zum ersten Mal das Wort schwul gehört.

Von Menschen, die schwul leben, nicht weil sie es sich ausgesucht haben, sondern es sind. Zuerst war ich sehr verletzt über die abrupte Abwendung, Ablehnung und Theos Rückzug, verwirrt über ein für mich neues Menschenbild. Gerade hatten wir uns noch darüber gestritten, ob wir ein Kind machen sollten. Ich war in Scheidung, er wollte stante pede heiraten und noch mindestens zwei Kinder, ein Haus bauen, ein zweites, größeres, kindersicheres Boot und einen Caravan kaufen. Ich hatte schon eine Tochter und wollte kein Kind mehr. Für mich war das Kapitel Kinderkriegen abgeschlossen. Dieser Segeltörn sollte die Versöhnungs- und Probefahrt werden. Und dann das? So ein Scherbenhaufen, Ithaka nix dagegen.

Eine schwierige Zeit für mich, welche Gefühle da miteinander kämpften. Aber dann auch von mir absolute Funkstille. Ob es etwas zwischen Theo und Christof gegeben hat, weiß ich nicht. Vorstellen mag ich mir das nicht … Nur eine kurze Konfusion? Nicht lange danach, kommt mir zu Ohren, dass Theo eine sehr viel jüngere Frau geheiratet und mit zwei Kindern ein Musterfamilienleben geführt hat, bis ihn ein früher Krebs von allem wegriss. Jaja, Joy of Freedom.

Der Videofilm ist zu Ende. Die Schwarzblende rattert und bleibt dann stehen. Punto. Mir ist kalt geworden, ich bin steif, klopfe mich ab und schüttle die klammen Glieder. Es dämmert, auf dem Meer liegt schon ein silbriger Streifen von einem Halbmond. Gerade als ich mich umwende, um zum Dorf zurückzukehren, sehe ich aus dem letzten Augenwinkel eine leichte Bewegung im Wasser. Ein kleiner Wirbel zwischen zwei Steinen in Ufernähe und aufsteigende Bläschen. Sie blubbern, das heißt Luft, also etwas, das atmet. Zuerst ist es nicht mehr als ein dunkler Schatten wie etwa von einem unter der Oberfläche liegenden Holz. Aber das war vorher nicht da, habe es vorher nicht gesehen, obwohl ich während des Flashback ständig ins Wasser gestarrt habe, wie auf eine Filmleinwand.

Als ich nähertrete, sehe ich zwei große, geradestehende Augen zwischen einer Knollennase, die jetzt aus dem Wasser ragt, schnüffelt. Nein, eher ein etwas breit geratener Rüssel mit Borsten darauf . Das Ding ist halslos, walzenförmig und hat gleich hinter dem Kopf zwei gabelförmige Flossen. Das Ende kann ich nicht erkennen, sehe aber, dass sich etwa drei Meter vom Ufer entfernt das Wasser in Wirbeln dreht. Eine Robbe? In der Adria? Nie gehört, nie gesehen. Das Tier schnaubt und wirbelt mit der Schnauze Sand auf.

Da fällt mir wieder ein, wie uns Theo zwischen Paxi und Antipaxi uns auf eine Höhle aufmerksam machte, von der die Sage geht, dass dort die letzten Seekühe des Mittelmeeres leben sollen. Von den Fischern werden die pflanzenfressenden Säugetiere Seejungfrauen oder Sirenia genannt; noch nie hat sie jemand gesehen, aber die Legende hält sich seit Odysseus hartnäckig in dieser Gegend. Bevor sie ganz ins Meer wandert, war sie im frühen Eozän vor sechzig Millionen Jahren die näheste Verwandte des Elefanten. In der griechischen Mythologie kommen sie in Form der Neiden und Tritonen vor. Die Babylonier kannten die Fischmenschen als Dugongs und bildeten sie ab als einen Gott Oannes und zwei Göttinnen Atagatis und Derketo. Auch Jules Verne ist ihnen auf seiner Reise 20 000 Meilen unter dem Meer begegnet. In der Karibik heißen sie Manati, und 1492 hat Christoph Kolumbus in seinem Logbuch vermerkt, dass die Sirenen im Golf von Mexico weniger schön sind als bei Horaz. Schön ist sie wirklich nicht, aber obwohl es schon dämmert, kann ich wahrnehmen, dass dieses Tier mit seinen frontal stehenden Augen, der Knautschnase, dem Stoppelbart und brustständigen Zitzen menschlich aussieht. Eine große, runde, Schwimmerin. Nicht besonders schön, aber freundlich und absolut friedlich. Als man sie noch nicht zoologisch einordnen konnte, wurde sie von der Wissenschaft so genannt, wie sie aussieht: Pflanzenfressende Borkenrüsslerin.

Ich bin sicher, dass meine Erinnerung an Theo sie hergelockt hat. 34 Jahre habe ich nicht mehr an ihn gedacht. Ich hoffe, dass er in den seligen Gefielden am schönsten Strand der Welt gelandet ist. Bei Rudyard Kipling trifft der Held Kotik auf eine Herde von Seekühen, die ihn an den schönsten Strand der Welt führen. Denn entgegen ihrem Aussehen sind sie Ästheten.
Jetzt macht sie mit ihrem massigen Körper eine elegante Rolle auf den Rücken und scheint, bevor sie abtaucht, mit der Schwanzflosse zu winken. Lächelt sie nicht dabei und zwinkert mir zu? Sie wirkt witzig und gutmütig, gentle giants nennt man sie in Florida, wo man mit ihnen tauchen kann.

Schade, zu einer anderen Jahreszeit wäre ich gern mit ihr mitgeschwommen. Wie soll ich den Besuch der Seekuh verstehen? Ich nehme es persönlich, sie selbst spricht ja nicht zu mir. Aber Bedeutung hat ihr Auftauchen sicher. Sie wollte mir sagen, dass Theo, der Homer-Kenner und Mittelmeer-Segler, mit seiner Überzeugung, dass alle Geschichten über Odysseus wahr sind, Recht hat. Er ist schließlich der einzige Mensch, der je eine Seekuh gesehen hat, zwischen Paxi und Anti-Paxi. Weil ich hier an ihn gedacht habe, ist sie herübergeschwommen. Ihre Art von in memoriam.

Genauso gut kann es viel banaler sein; die Seekuh ist nur auf eines aus, auf das Violett meiner Kleidung. Ihre Lieblingsspeise, die violetten Wasserhyazinthen, hat sie zum Fressen gern.
Ich habe sie Kalina genannt. Ihr Schatten riecht nach Zimt.

Wien, 9. – 12. 3.18

Veronika Seyr
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Die Taube vom Bologna Centrale (Italien 5)

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, das sagt sich leicht und oft. Aber wenn es einmal ein eindeutiges Beispiel gibt, wird aus dem banalen Satz eine tiefe Wahrheit. Man reagiert nie situationsgenau, sondern ferngesteuert von Erinnerungsfetzen.

Ich steige auf dem Bahnhof Bologna Centrale aus dem Schnellzug von Lecce und steuere ohne Nachdenken das Café Emma B. auf dem Bahnsteig 6 ovest an. Rolltreppe hinunter, ein langer, hell ausgeleuchteter Kachelgang, Rolltreppe hinauf, weiter durch den alten Teil des Bahnhofs, Rolltreppe wieder runter, Gang, Rolltreppe hinauf. Eigentlich liegen auf dem Weg dorthin drei Cafés, aber mein Koffer rollt ganz leicht auf vier Rollen wie von selbst zu Emma B. Das Gehirn-GPS ist auf Emma B. eingestellt, das hat sich eingeprägt.
Vor fünf Tagen habe ich dort schlaftrunken in den frühen Morgenstunden bei einem Zwischenaufenthalt einen köstlichen Cappuccino getrunken, 1,20 Euro, wahrscheinlich woanders auch nicht weniger gut und ebenso günstig. Das Lokal heißt anders, wie richtig, habe ich nicht wahrgenommen oder vergessen. Sicher, da war eine Reklame von Illy-Kaffee.

Aber auf dem Bildschirm im Lokal und draußen vor dem Bahnsteig läuft in Endlosschleife eine Wahlwerbung der Kandidatin Emma Bonino, liberal, für Frauen, für Europa, mehr Europa, das ist alles, was ich verstehe. Noch dazu ein sehr schlecht gemachter Clip. So kann man nicht gewinnen, nirgends. Hat die keine Medienexperten? Emma Bonino ist doch kein Neuling, ein Altgestein in der Politik. War sie nicht einmal eine feministische Führungsfigur? Es klingelt leicht, aber ich weiß nicht, wohin genau ich sie tun soll. Es flimmert alles schnell verzerrt und unscharf über den Bildschirm, durchkreuzt von Werbung für Pasta und Pampers.
Weil ich nach sieben Stunden nikotinfreien Sitzens im Rapido Bianco eine Zigarette rauchen will, stehe ich wie drei andere Gäste vor dem Lokal. Emma Bonino läuft noch immer über die Bildschirme zwischen Reklame für Pasta, Pampers und Kaugummi. Ich wende mich ab und sehe ein reales Bild.

Auf einem der Tische sitzt eine Taube. Was heißt Taube, sie ist der letzte Rest einer Taube, ein Wrack von einer Taube, eine Ruine wie Palmyra. Sie ist nur der Rest einer Form, ein Umfang, kopflos, einbeinig und breit gefiedert. Warum ich sofort annehme, dass es ein Täuberich ist, weiß ich nicht. Er ist Cristoforo Colombo für mich, der Colombo. Das schwarz-weiss-grau gesprenkelte Gefieder ist struppig wie das Fell eines Straßenhundes oder einer Hyäne, was bei Federvögeln eigentlich gar nicht möglich ist. Zausig, verklebt, mit vielen Spitzen nach außen, igelartig. Auf jeden Fall liegen die Federn nicht am Körper an, sondern sind dauernd nach allen Richtungen gesträubt und zucken, obwohl er allein und unbeweglich dasteht, leicht geduckt, an ein braunes Kästchen mit Illy-Servietten gelehnt.

Nach einer Bewegung mit meiner Zigarette hebt der Täuberich den Kopf aus dem Hals – also er hat einen Kopf und rote Augen darin – und trippelt auf einem Bein zwei Schritte aus dem Schatten des Serviettenhalters heraus in meine Richtung. Er flattert kurz auf, als ich aus meinem Rucksack ein Panino herausklaube, es in meiner hohlen Hand in Krümel zerlege und sie auf den Tisch streue. Colombo pickt und pickt und pickt, langsam, alles auf dem einen roten Beinchen, so schnell er kann, bis die Mitstreiter kommen. Einige Krumen fallen durch die Ritzen auf den Boden.
Das muss ein Signal sein, als gäbe es ein unsichtbares Alarmsystem. Aus allen Richtungen kommen im Hoch- und Tiefflug andere Tauben herangeflogen und übernehmen den Kampfplatz. Mein Täuberich versucht, sich hinter den Serviettenhalter zurückzuziehen, aber immer mehr Artgenossen fallen in Sturzflügen über ihn her. Kann man ihn noch mehr zerzausen? Ich leide und brauche eine Pause.

Gehe ins Lokal und hole mir einen becchiere di vino rosso – enorme 3 Euro im Gegensatz zu den 1,20 für den Cappuccino.
Italien, das Land der Weine? Nicht gut, auch nicht ganz schlecht, aber sauer wie ein Brünnerstraßler, immerhin auch auf dem Bahnhof in einem Stielglas und nicht in einem Plastikbecher. Da fallen die Bilder wie Kalenderblätter. Die jüngste Abgeordnete aller Zeiten von der radikalen Partei, Jugoslawien-Tribunal, für Abtreibung, für Drogenbetreuung, gegen Rassentrennung. Skandale überall, immer extrem mutig.

Als ich wieder rauskomme, ist mein Colombo allein, sitzt wieder an den Serviettenständer gelehnt, das Köpfchen mit den roten Augen auf mich gerichtet. Gibt‘s noch was? Ja klar, ich hab noch ein halbes Panino. Es schmeckt ihm, gestern noch aus dem Panificio von maestro Fortunato in Gagliano. Aber sehe ich richtig? Aus dem Bauch kommt langsam der Rest eines zweiten Beinchens hervor, etwas kürzer, unten breit und gelb wie ein Entenfuß. Ich bin so fasziniert, dass ich vergesse zu fotografieren. Tatsächlich, neben den drei roten Krallen hat er einen kleinen, gelben, breiten Entenfuß aus Plastik mit einer Schiene oder einer Stütze wie von einem Leukoplastwickel. Ist das denn möglich? Sehe ich richtig? Der becchiere kann nicht schuld sein, das ist weniger als ein Achtel. Wer hat ihm dieses Ersatzbein gebastelt? Er kann es nicht selbst gemacht haben, auch nicht seine Genossen, also kann es nur ein Mensch gewesen sein. Welcher Mensch? Ein Tierarzt, eine mildtätige Sanitäterin der Bahnhofstaubenmission?

Es erinnert mich an meine Orchidee zu Hause, deren Auswuchs ich kürzlich beim Gießen leicht geknickt und mit Zahnstocher und Bindfaden bandgiert habe – weiß genug, wie schwierig schon bei einer ruhig stehenden Pflanze – und mich daran erfreue, dass sie meine Therapie annimmt, weiter wächst und sogar Knospen ansetzt. Aber bitte, wer um Gottes Willen, hätte diesem grindigen Täuberich sein verletztes Bein schienen sollen? Verletzt in einer zugehenden Schwenktür, mit einem Kabel, durch einen Koffer, ein Kippfenster, einen bösen Menschenmutwillen? Ich paffe kurz und heftig und lasse mich ein in alle möglichen Schicksale des Colombo, während er seine Brösel verteidigt. Er wird immer besser, flinker und wendiger. Er kann den Entenfuß sogar ein bisschen aufstellen und ihn wie einen Schild benützen.

Wieder einige Panini-Krümel gestreut, sie fallen durch die Ritzen des Tisches, er flattert auf den Boden, andere Tauben sind schneller, scheuchen ihn und pecken auf ihn hin. Ist da nicht auch ein Spucken beim Pecken dabei? Warum ist das Gefieder sonst so verklebt? Naja, es gibt noch viel anderen Dreck. Ich versuche, ihn mit meinen Füßen zu schützen und streue ihm die Krumen in eine Ecke zwischen zwei Mistkübeln.
Je mehr er frisst, desto lebendiger wird er, er fängt sogar an, zurückzupecken auf die jungen Eindringlinge. Sie müssen immer alles im Auge haben. Das geschiente Bein mit dem gelben Entenfuß wird immer beweglicher, wie mir scheint, hat er ein Scharnier oder so etwas wie ein Knie an der Schiene? Fast kein Hinken mehr, dafür wird sein Schnabel länger, und er verteidigt seine Brösel immer besser. Den Entenfuß verwendet er als Schild und Waffe. Einmal holt er weit aus und klatscht einer frechen, jungen Taube eine in die Seite rein, dass alle auffliegen. Ha, der wird einmal mein Champion.

Ich bin mitten drin in seinen Revierkämpfen. Hier, du bekommst etwas Besseres aus meinem dick belegten Brot, etwas von der Salami, vom Käse, dem Paradeiser, der Gurke – Cristoforo nimmt alles und erwacht zum Leben. So, mein Lieber, hier noch eine Nachspeise für uns beide, und ich teile mit ihm die letzten zwei Stück Mannerschnitten – mag man eben.
Eigentlich ist er ein imposant großer Täuberich. Vielleicht war er einmal der Padre Padrone vom Bologna Centrale, der Große Gatsby, der Leopard, Gattopardo, der Garibaldi. Ohne ein Wissen zu haben, bin ich überzeugt, dass es unter den Tauben eine Hierarchie gibt.
Bravo, Colombo! Mein Colombo! Ich bin bei dir!

Obwohl ich immer und überall fotografiere, habe ich doch glatt angesichts des Colombo darauf vergessen, so eng fühlte ich mich mit seinem Schicksal verbunden und identifizierte mich mit seinem Überlebenskampf.
Mir ist inzwischen so kalt geworden, dass ich versuche, meine zwei, zweifelsfrei intakten Beine einzuziehen und mit den Füßen aufzustampfen. Natürlich vertreibe ich damit alle Tauben, so schnell, dass ich nicht einmal mitbekomme, wohin sich mein Colombo getrollt hat.

Kaum ist dieser Spuk vorbei, gerate ich in den nächsten.
Im abstoßend hässlichen, kaum geheizten Warteraum komme ich zu einem Sitzplatz gleich neben dem Denkmal für die Opfer des Bombenanschlags am 2. August 1980 – 85 Menschen waren durch den faschistischen Terror ums Leben gekommen. Eine weiße Marmortafel an der Wand, lange Kolonnen mit den Namen der Ermordeten in Goldbuchstaben, auf dem Boden ein Bombenkrater im alten Mosaikboden, in dessen Mitte ein weiße Rose liegt, frisch, von einer Mutter, am Rand ein immergrünes Kranzgebinde, offizell mit Tricolore-Schleife. Mit den Namen der Hunderten von Verletzten könnte man den ganzen Bahnhof austapezieren. Ich studiere die Daten hinter den Namen, sehr viele junge Leute, 18, 19, 24, 29, Schüler, Studenten, Pendler am frühen Morgen des 2. August vor 35 ½ Jahren. Einige Touristen machen vor der Absperrung Selfies. Wenn es nicht Italiener wären, könnte ich selbst zum Terroristen werden.

Die Temperatur liegt um die null Grad, es soll nur ja niemand auf die Idee kommen, das sei eine Wärmestube. Obdachlose, Sandler, einfache Aufwärmer oder Rastende werden nicht hereingelassen, an der Tür kontrollieren zwei bewaffnete Wächter die Tickets – angezogen und ausgerüstet wie Robocops, wenn jemand kein offensichtliches Reisegepäck hat. Trotzdem sitzt in der Reihe mir gegenüber ein alter Mann, der nur einen Krückstock und ein Nylonsackerl bei sich hat, keinen Koffer, keine Reisetasche. Und nach Reise sieht er auch sonst nicht aus.

Eine dünnes Sakko mit Hemd und Pullover darunter, worin man auch an einem Herbsttag frösteln könnte, ausgelatschte Nike-Turnschuhe, eine schlotternde Trainingshose, am Kopf ein buntbesticktes Käppchen, um den Hals geschlungen ein abgenudelter indischer Seidenschal, ehemals vielfärbig. Althippie, Künstler? Er ist offensichtlich kein Reisender, warum lassen ihn die Securities hier in Ruhe sitzen? Aber ein Gesicht, ja Antlitz muss man sagen, edel, ebenmäßig, wie ein altrömischer Senator in weißem Marmor, wie viele Generationen aus dem alten Geschlecht der Auguster oder Julianer.

So kann Marc Aurel ausgesehen haben, als er in Carnuntum in seinem Lager saß und seine Lebensbeichte schrieb. Vielleicht ist der Mann der letzte Stoiker, ein später Verwandter des Seneca oder Epiktet, der als Einziger die Lösung des Welträtsels weiß. Die ganze Zeit sitzt er unbeweglich da in leicht vornübergebeugter Haltung, nicht einmal die Augen bewegt er, eine Skulptur, hager bis zur Magerkeit, aber unter dem fein getrimmten Bart eine gesunde Sonnenbräune. Vom Leben auf der Straße, in den Parks, den Arkaden und an den Uferpromenaden des Reno?

Um Punkt 22 Uhr holen die Robocops dicke Ketten aus einem Schrank hervor, breiten sie aus, zeremoniell und genüsslich schlingen sie sich diese rasselnd um die Schultern. Die Wachablöse schließt zuerst die äußeren, dann die inneren Türen zu. Ich blinzle erst nur schlaftrunken und ungläubig durch die öde Halle. In welcher Hölle bin ich gelandet. Unter dem Klirren der Ketten springen die Menschen im Warteraum auf und lassen sich hinaus in die Kälte scheuchen. Freiwillig, keine großen Gesten, kein Protest, ein eingespieltes Ritual. Danach gibt es auf dem gesamten Bahnhofsareal keine Sitzgelegenheit mehr, nicht oben im alten Teil, nicht unten in den modernen, hell ausgeleuchteten Korridoren, durch die noch einige Passagiere hasten.

Vielleicht ist es dort unten noch grausamer, weil septisch sauber und kachelglatt, grell ausgeleuchtet von Neonlampen an den Decken wie eine ewig lange, nicht enden wollende Verhörzelle oder ein Operationssaal von zynischen Schlächtern, keine einzige Sitzgelegenheit, nicht einmal an den Wänden darf man sich anlehnen, geschweige denn in einen Winkel legen. Ständig wird patroulliert und verscheucht. Sogar das Gepäck hat es besser als die Menschen. In der deposito bagagli ist es bacherlwarm. Ich studiere alle Aufschriften so lange, bis der Diensthabende hinter einem Verschlag hervorkommt und sich nachhaltig räuspert. Es nützt mir zwar nichts, aber für so viel Eleganz liebe ich die Italiener.

Kaum auszudenken, was ich in Wien zu hören hätte bekommen: Schauns weida. Wauns ka Gepäck abzugem haum, schleichns Ihna. Do is ka Wärmestubm.
Da lob ich mir doch die Taubengesellschaft. Geschäfte und Lokale sperren eins nach dem anderen zu, nur noch Putztrupps und Carabinieri sind unterwegs. Die Passagiere verteilen sich auf die Bahnsteige oder verlaufen sich überraschend schnell. Wohin nur? Wie die Tauben finden sie ihre unsichtbaren Mauerritzen, Turmgiebel, Regenrinnen und Kanalschächte. Auch mein alter Römer. Nur wenige Schritte kann ich ihm folgen. Ich hätte ihn gern zu einem Kaffee eingeladen und mehr über ihn erfahren. Weg war er, wie vom Erdboden verschluckt, samt seiner Krücke und dem dünnen Sackerl.

Auf dem Vorplatz eine kurze, ungemütliche Zigarette, der Kaffee in der Thermoskanne ist nur noch lauwarm und bitter-schal, das Wasser fast aus – da gerate ich in Versuchung, ein Zimmer im Hotel „I-PERIALE“ gegenüber zu nehmen, das mit einer Leuchtschrift auf dem Dach lockt. Nein, nur nach Hause! Ich habe eine sauteure Fahrkarte gekauft. Sehnsüchtig sehe ich den niedrig fliegenden Flugzeugen nach. Noch nie habe ich mich so nach einer Nordrichtung gesehnt. Ein Polizeipanzer rollt langsam vorbei und dreht mehrere Runden über den Bahnhofsplatz, während Menschen auf die Autobusse zusteuern. Alles normal, gute Nacht, Europa!

Auf dem Bahnsteig 4 soll um 22 Uhr 57, carozza 410, sed. 95F, der Zug aus Rom nach München/Wien ankommen. Das habe ich seit meiner Ankunft memoriert und mehrmals die Auf- und Abgänge geprobt. Mehr Zigaretten kann ich auf dem Vorplatz nicht mehr rauchen. Die vollbesetzten Polizeipanzer werden auch schon langweilig, vor allem weil nicht zu erkennen ist, wem sie gelten, auch wenn die Außerirdischen manchmal über den leeren Platz stiefeln. Gegen jede Hoffnung schaue ich noch einmal bei Emma B. vorbei, an der Türe schwere Ketten, die Tische davor weggeräumt, kein Colombo mehr und auch keine anderen Tauben. Habe ich je einen unwirtlicheren, unmenschlicheren Bahnhof kennengelernt? Mir kommt keine Erinnerung, aber vielleicht ist auch mein Gehirn schon eingefroren. Ja doch, einmal im olympischen Dorf „Paradiestal“ oberhalb von Sarajewo im Winter 1994. Aber um Gottes Willen, ich bin doch in Bologna! Auch das ist eine Art von Krieg.

Also bleibt nur noch Binario 4, centrale, Zug 22 428 von Rom nach München und Wien Hbhf. Ich übe auswendig carrozza 410, Sitz 95F, gehe dabei auf und ab und starre hinauf auf den Bildschirm. Erst rit,. verspätet 5 Minuten, dann 10, 15, Rit. Kaum wage ich mehr hochzuschauen, da springt es auf 25min. Verzweiflung kommt hoch. Mir ist saukalt. Gegenüber ein Mann auf seiner mächtigen Putzmaschine hat Spaß am Taubenscheuchen. Und hier wieder ein Sandler, halbnackt bis zum Steiß, rührt sich nicht, ich sehe seinen nackten Rücken und frage mich nur kurz, warum ihm nicht kalt ist und ich so friere. Er erregt nur Ekel und Irritation. Zum Glück wird er mich nicht um Zigaretten angehen, er raucht eine nach der anderen. Würde ich mit ihm die Panini teilen, so wie mit Colombo?

Der Bahnsteig ist schlecht beleuchtet von einem einzigen grellen Scheinwerfer über der Rolltreppe. Dort suchen Passagiere ihren Zug nach Milano. Auch verspätet und mehrmals auf verschiedenen Bahnsteigen angezeigt. Sie rasen herum und diskutieren aufgeregt. Vielleicht wird ihnen davon warm? Der Rest des binario 4 centrale liegt im Dunkeln. Auf der Metallbank sitzt noch immer der Mann. Bei meinen Versuchen, mich aufzuwärmen, Koffer schieben und rollen, Knie beugen und Füße auf den Boden stampfen, Beine abwechselnd öffnen und schließen, Arme hochklappen, oben klatschen und runter an die Oberschenkel schlagen, es funktioniert noch, das Aufwärmen wie vor einem Völkerballspiel im Sportverein. Ich bin schon mehrmals an ihm vorbeigekommen.

Ein Sandler. Langes, dichtes, graues Haar, er raucht ohne Unterbrechung, vorne ein Sporthemd, unten wabbelnde Hosen, seine Füße stehen auf dem Asphalt, die Schuhe neben ihm so wie eine halbleere Reisetasche. Für den Täuberich hatte ich schnell einen Namen, das letzte Brötchen, viel Mitgefühl und Anteilnahme an seinem Leben. Für den da gar nichts, nur Momentaufnahmen, klickklickklick, Registrierungen.

Aber auch diese Erkenntnis stammt von später und die Erschütterung. Zu meiner Entschuldigung – drei Stunden davor mit Colombo war mir noch nicht so sterbenskalt.
Ich friere in meinen Daunenklamotten und festen Wildlife-Schuhen so entsetzlich wie nie zuvor, auch nicht in Sibirien oder am Eismeer. Beuge Knie, stampfe die Füße, schmeiße Beine und Arme in die Höhe, trotzdem kommt keine Wärme auf. Die Tafel springt auf Rit. aus Roma 30 Minuten. Nein, das halte ich nicht aus. Gehe ins Hotel. Aber verdammt, ich habe 99 Euro bezahlt, und das nur für einen Sitz. Kofferrollen den Bahnsteig rauf und runter, Achterschleifen um Säulen, Papierkörbe, Metallbänke herum samt Körperübungen an jedem Ende.

Meine in der kalten Mühlviertler Kindheit eingeübte Methode versagt zum ersten Mal: Atem anhalten, alle Körperteile anspannen, loslassen, anspannen, loslassen. Anspannen bis in die Zehen hinein und alle Gesichtsteile. In meiner Kindheit hatte ich die Überzeugung mit dieser Reibungsenergie das kleine Kraftwerk am Gießenbach am Laufen halten zu können. Am Bologna Centale keine Spur von Wärme. Eine junge Italienerin, unterwegs nach Milano, macht es mir nach, wir lächeln einander zu, sie hat kein Feuer, dann rauchen wir eine gemeinsam, obwohl es am Bahnsteig verboten ist.

Bei meinen Kofferwanderungen komme ich einmal zu nahe an dem Menschenwrack vorbei und nehme einen Geruch von Scheiße wahr, frisch, scharf, warm. Gerade den angeschissenen Hosen entströmt. Er aber sitzt völlig ruhig da, pafft eine Zigarette nach der anderen und gräbt mit der anderen Hand in seinem dichten, grauen Haar, die Füße in Socken neben den Schuhen auf dem Boden. Um den linken Knöchel ist lose eine Flasche gewickelt, sie endet irgendwo unter der Bank.

Ich überschlage kurz, was ich noch im Rucksack habe: ein gut belegtes Panino und ein leeres, eine Packung Reiswaffel, eine Orange, eine Schachtel Philadelphia-Streichkäse, ein Eckerl Parmesan, ein hart gekochtes Ei, als Jause für unterwegs; eine Schachtel mit glasiertem Mandelgebäck, je ein Glas Akazienhonig und schwarze Oliven, und eine Riesentafel Mandel-Trauben-Schokolade – Apulien-Mitbringsel für Agnes, meine Katzensitterin. Gar nicht so wenig, das könnte unter anderen Umständen ein kleines Picknick abgeben.
Vielleicht war er der Wunderornithologe, der dem Colombo sein Entenbein gebastelt hat? Es ist schon eher Wahn, richtig denken kann ich nicht mehr. Warum, verdammt nochmal, ist ihm nicht kalt oder zeigt er es nicht? Mich packen Ingrimm und Neid.

Ich trage an meinem Körper eine dicke Daunenjacke, zwei Unterhemden, eine Bluse, eine gesteppte Fleecejacke, einen Wollpullover bis in die Kniekehlen, an den Füßen festes Schuhwerk mit Filzeinlagen und zwei Paar Socken. Oben eine dicke Strickmütze, einen Schal, modisch ausladend wie eine Pferdedecke und natürlich Handschuhe.
Trotzdem friere ich bis zum Erbrechen – oder wird es ein Herzinfarkt oder Schlaganfall? Habe noch nichts davon erlebt. Wie kündigt sich so etwas an? Friert man mehr, wenn man Kälte an einem Ort nicht erwartet, sie einen überfällt wie Wegelagerer? Oder doch noch vor dem Sterben ein böser Anschlag auf die ÖBB und trenitalia. Dieser Gedanke hält bei allen rasenden Rachegelüsten nicht warm.

Als der Zug kurz vor Mitternacht endlich einfährt, wird der Sandler munter; er schlüpft in seine Schuhe, stopft die Fasche in einen Socken und bindet die losen Schnüre zu. Er zieht seine Jacke an, die ich vorher für einen roten Fetzen neben ihm gehalten habe. Er schultert seine Tasche, steht plötzlich aufrecht und hat ein Billett in der Hand, so wie ich auch. Als der Zug einrollt, stehen wir kurz nebeneinander, er genauso suchend wie ich. Oh Gott, denke ich noch, weniger als ein Gedanke, bitte, nicht in mein Abteil.

Ich laufe weiter, suche carrozza 410, noch einmal steht er neben mir, ich rieche Scheiße, komme mit meinem Koffer knapp rauf über die Stufen und finde den Sitz 95F, in einem Sechserabteil, so alt und hässlich, wie ich schon vor vierzig und mehr Jahren mit den ÖBB gereist bin, diese unseligen, in der Mitte zusammenschiebbaren Sitze, die immer auseinanderrutschen. So was gibt‘s noch in Betrieb? Da ist schon ein junger Japaner, der im Abteil residiert wie in einem High-Tech-Studio. Aber er ist höflich, entfernt blitzschnell alle seine ausgebreiteten Geräte und legt sich unter einer Kabeldecke schlafen. Er wird in Bruck an der Mur aussteigen. (Was macht ein Japaner in Bruck an der Mur?)

Wo der Sandler untergekommen ist, kriege ich nicht mehr mit. Von Bologna bis zum Brenner, drei Stunden ohne Halt und Kontrolle in der Wärme eines WC. Oder wo sonst?
Aber das ist eine Frage von sehr viel später, als Herz, Hirn und Gebeine schon wieder etwas aufgetaut waren.
Bis zum Brenner bin ich nicht mehr aufgewacht. Ich habe von Colombo und seinem geheimnisvollen Entenbein geträumt: Hoppauf, Colombo, gib‘s ihnen, das ist dein Brot! Vom Sandler nicht. Das Verschieben der Waggons nach Rosenheim/München/Wien scheint endlos. Als ich kurz aus dem Fenster luge, sehe ich, wie zwischen Schneebergen ein Mann von zwei vermummten Polizisten abgeführt wird. Es ist dunkel, er erscheint mir kleiner, aber das rote Blouson und die dünne Tasche glaube ich schon einmal gesehen zu haben.

Wien, 23./ 24.2.18

Veronika Seyr
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Loblied auf eine Zwergenbahn II (Italien 4)

Abreise 19.2., 10 Uhr 07 zurück nach Lecce,
statt 14 Tage 4 Tage, Flucht in den Norden

Seit ich um 3 Uhr 45 aufwachte, rauscht schwerer Regen nieder, senkrechte Ströme aus Scheffeln, ab und zu weht eine Sturmböe volle Gießkannen waagrecht gegen die Fenster. Unter Heulen, Klappern und Ächzen vom Balkon her bleibt wenig von der Italianita übrig. So geht das schon mit einer Ausnahme den vierten Tag. Der Entschluss ist gefasst, der Koffer gepackt, die Panini-Jause im Rucksack verstaut, die Thermoskanne voll mit Kaffee für die nächsten 24 Stunden auf diversen Bahnhöfen und in trenitalia.

Ich bin anfangs der einzige Passagier im Triebwagen, später steigen zwei junge Afrikaner zu, die Handys halten, laut mit Buon Giorno grüßen und nach einigem Herumspielen einschlafen. Die Wiesen und Ackerfurchen stehen voll Wasser, von der Terracotta rötlich-braun gefärbt. Wintergetreide wächst halbhoch und hellgrün, in langen Reihen Stängelkohl, Brokkoli, Salat, Artischocken und anderes Gemüse, das ich nicht kenne. Frühlingsblumen wie bei uns vielleicht in zwei Monaten, Klatschmohn, Löwenzahn, Hahnenfuß, alles so grün und bunt, wie es die nächsten sieben, acht Monate unter der gnadenlosen Sonne nicht mehr sein würde.

Uralte Olivengiganten so weit das Auge reicht, nicht wenige davon ihrer Kronen beraubt, um zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Das tödliche Bakterium Xylella wütet seit fünf Jahren in Apulien, eingeschleppt mit Kaffeepflanzen aus Mittelamerika. Die Wissenschaft hat bisher keine Rettung gefunden. Braune, dürre Zweige, kaum noch irgendwo ein durchgehendes silbriges Blätterdach, wie es die alten Götter schon kannten. Es sieht aus wie mitten im Krieg, eine Dauerschlacht. Ich habe in Artikeln von der Seuche gelesen, aber dies zu sehen, ist unendlich trauriger und grausiger. Apokalypse.

Ein kluger Freund hat mich vorgewarnt – die ökologische Katastrophe sei ein Abbild der ethischen. Ich habe ihm nicht geglaubt und ihn belächelt. Ach, du alter Schwarzseher! Welch ein böser Fehler. Ich sehe es mit eigenen Augen – keine Zeit, keine Epoche, kein Regime, kein Krieg hat es bisher zustande gebracht, das Land zugrundezurichten. Wer von den Baumriesen noch lebt, den höre ich gleichsam aus den Seen zu ihren Füßen schlürfen, röchelnd in den letzten Zügen. Schreckensgestalten, wie sie dastehen mit den wenigen nach oben gestreckten Ästen, Trauerbilder ihrer selbst, die altehrwürdigen Götter sind gestürzt und zu lächerlichen Schatten verkommen.
Der prophetische Mailänder meinte, das Ende sei nahe, aber der einzige Trost sei, dass wir zwei Alten das Ende nicht mehr erleben werden.

Die Apulier sind wahrlich keine ökologischen Musterschüler. Es liegen sicher noch mehr Abfälle herum als Feldsteine. Sind das die selben Menschen, die seit Jahrhunderten mühsam die Felsbrocken aus der Erde klauben und sie zu Trulli und Mauern aufstapeln, die dann genau hinter diesen Mauern ihren Dreck abladen? Es ist nicht der landwirtschaftliche Abfall, sondern der Industriemüll, der den Anblick so besonders grässlich macht. Alte Autoreifen, Kühlschränke, TV-Antennen, ein verbogener Wäscheständer, Kanister, Plastik in jeder Form und Farbe: Eimer, Stühle, Flaschen, Planen. Am schlimmsten aber sieht es aus, wenn man versucht hat, diese Berge zu verbrennen. Bunt und schwarz gefleckte Narben in der Landschaft.

Wenn man nichts weiß und keinen zum Fragen hat, kann man sich in die wüstesten Vermutungen versteigen. Warum versagt ihr ansonsten untrügliches Talent und Gefühl für Formen und Ästhetik hier so schändlich? Ist den Bauern die Industrieproduktion so fremd, dass sie ihre Überreste abspalten und nicht als solche wahrnehmen? Aber besser so als umgekehrt, sage ich mir zum Trost und lache grimmig über unser zum verinnerlichten moralischen Gesetz gewordenes Umweltbewusstsein. Man sagt der Natur ja eine fast unendliche Anpassungsfähigkeit nach. So entwickle ich die Fantasie, dass die Ohrwaschelkakteen imstande sind, die Industrieabfälle in ihre fleischigen Körper aufzunehmen und zu verarbeiten. Möglich allerdings, dass dann die Kaktusfeigen, die ficcetini, nach Schmieröl und Blech schmecken.

Ich registriere an mir immer noch das selbe alte Entzücken, wenn an Bäumen Orangen und Zitronen wachsen oder die Erde darunter mit Fallobst bedeckt ist. Frisch wie gestern die Erinnerung, als Zitrusfrüchte bei uns selten waren und nur einzeln auftauchten als etwas Aufregendes, Exotisches aus unbekannten, weit entfernten, aber unsagbar schönen Ländern. Sehnsuchtsorte – Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh‘n? Geheimnisvolle Boten, geballte Versprechungen, ihnen einmal in den Süden entgegenreisen zu können. Diese unsäglichen Freuden der Kindheit, wenn im Nikolaussackerl neben Kletzen, Affenbrot und Nüssen die erste Orange oder Mandarine auftauchte. Wir, die zur Bescheidenheit erzogenen Nordländler, die sich schon freuten über die sauren Frühäpfel, die Klaräpfel, die Gute Luise, Gravensteiner, Schafsnasen, Renette, Boskoop und vielleicht sogar einen honigsüßen Cox Orange.

In Lecce kaufe ich an einem Straßenstand drei Riesenorangen, fast eineinhalb Kilo schwer, die noch Stängel und Blätter dranhaben. Wortlos erkennt der Verkäufer meine kindliche Freude, steckt extra noch einige glänzende Ästchen ins Sackerl und strahlt mich im Besitzerstolz aus seinen Zahnstummeln an. Warum bekommen wir in unseren Breiten nie solche Köstlichkeiten zu kaufen? Süß, saftig, fleischig, sommerduftgetränkt. Allein vom Riechen könnte man satt und glücklich werden!
Die Italiener haben schon recht, dass sie diese Göttergeschenke für sich behalten und uns nur den Ausschuss schicken. Geschmackssymphonien zerplatzen im Mund, zerstäuben gegen den Gaumen und steigen in die Nase. Eine einzige Orange hält meinen Gaumen von Lecce über Brindisi, Bari, Tarni, Foggia und Termoli, am Gargano vorbei bis nach Pescara in Entzücken, während rechts vor den Fenstern die grau-grüne Adria unter einem Februarsturm kocht und schäumt, Gischtfontänen aufsteigen und gegen die Wellenbrecher toben, bis die Finsternis alles verschluckt. Ciao, bella Italia!

Wien, 22.2.18

Gewidmet Klara Obereder

Veronika Seyr
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