Schlagwort-Archiv: es menschelt

Geriatrie

yvonnerichter_Schalter2

Wenn es sich nur noch schmerzhaft pieselt
und Kalk dir aus den Augen rieselt,
dagegen gibt es keinen Schalter,
das ist das fiese böse Alter.

Aus: „55 x Blödsinn“,  illustrierte Gedichte aus allen Lagen des nicht alltäglichen Lebens

Zeichnung und Text von
Yvonne Richter
www.yvonne-richter.de
www.fabulus-verlag.de/autoren/yvonne-richter
www.facebook.com/yvonnerichterbuecher/

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 18019

Meine Putzfrau heißt Ivan

Der Kübel stand mitten auf dem Gehsteig vor dem Restaurant. Fast wäre ich darüber gestolpert, weil ich gerade die Einkaufstasche auf der Schulter zurechtrückte und dabei in die Lindenallee schaute. Ein Mann balancierte hoch oben auf einer Leiter und putzte eine der Glasscheiben. Es sind sehr hohe Fenster vom zweiten Stock bis auf den Boden. Die Spitzenköchin wirtschaftet als „Die Herknerin“ seit einiger Zeit in dem ehemaligen Installationsgeschäft. Sie hielt die Beine der Leiter fest und gab dem Mann Anleitungen. Ob er die braucht, dachte ich, und machte einen schnellen Schritt zur Seite. Er soll auch die Großbuchstaben INSTALLATI-NEN an der Mauer über den Fenstern waschen, wenn er mit seiner Stange hinaufreicht. Das O war schon dem Installateur abhandengekommen. Günther Leutner war gar nicht mehr zu lesen. Den Namen wusste nur noch ich, weil er später einiges bei mir gerichtet hat. Der Kübel wackelte ein bisschen, und die rundliche Herknerin schüttelte den Kopf:

„Nanana, nicht so eilig.“
Sie hatte es nie eilig, stand immer unter ihren Gästen an den Tischen, drinnen oder draußen.
„Oh, Entschuldigung, hoppala, ist eh nix passiert.“
Da kletterte der Mann von der Leiter herunter und drückte den Schwamm aus. Im Kübel schäumte das Wasser dunkel.
„Muss weksel, ok, passt?“
„Gutgut, weißt eh, Ivan, im Gang hinter Budel, gell.“
Während der Mann sauberes Wasser holte, sprach ich die Meisterin der Wiener Küche an:
„Glauben Sie, ob ich ihn mir ausborgen kann?“
„Sicher, fragen Sie ihn, der Ivan sucht eh immer eine Arbeit.“
Da kam dieser Ivan aus dem Schankraum wieder auf die Straße.
„Würden Sie auch bei mir in der Wohnung die Fenster putzen?
Acht Stück hab ich, da vorne wohne ich, auf Nummer 39, gleich da drüben.“

Wir vereinbaren den nächsten Montag, 9. Jänner um neun Uhr Früh. Das kann man sich merken. Ich erkläre ihm noch die etwas eigenwillige Gegensprechanlage an unserem Haustor und wir verabschieden uns.

Mir fällt auf, dass er kein Handy bei sich hat. Da nehme ich eine alte Hofer-Rechnung aus meiner Geldbörse und schreibe ihm meine Adresse, Tag und Uhrzeit auf. Zur Sicherheit.

Es kommt der Montag, neun Uhr, und Ivan ist zehn Minuten zu spät. Da Pünktlichkeit, das heißt Verlässlichkeit, für mich eine Form von Respekt ist, gehört sie zu den von mir eingeforderten Kardinalstugenden. Ivan entschuldigt sich damit, dass das Tor nicht aufgegangen sei.
Sie hätten doch bei 34 läuten müssen oder bei meinem Namen, aber es hat hier nicht geläutet.

Okay, wenn er bei mir arbeiten will, werde ich ihn mir schon herrichten. Hab ich bei anderen auch schon gemacht. Zumindest versuchen werde ich es. Ich war nicht immer erfolgreich. Von dem Majstor Tschiko, einem Rom aus dem serbischen Poscharewatz, musste ich mich schnell trennen, weil der nicht nur Stunden vertauschte, sondern ganze Tage. Einmal kam er nicht zum verabredeten Termin, weil es angeblich geregnet hat. Und bei Regen kann man ja nicht Fenster putzen. Bei ihm hat‘s vielleicht geregnet, nicht bei mir. Ich weiß nicht, wo er wohnte. Außerdem hat er ziemlich bald zu betteln begonnen: Enkelin braucht Computer, Tochter Mantel, er selbst Handy, gut für Arbeit, Kundschaft.

Ivan will kein Frühstück, keine Jause, nur Tee und Zigaretten.
Er ist begeistert von meinem Orangentee und nimmt keinen Zucker. Etwa 35 Jahre alt, klein gewachsen, rotblond, leichter Buckel, frühe Glatze, nicht sehr gut genährt und ein Gebiss mit zahlreichen Lücken. Eine schnelle ethnologische Diagnose: Armut, Dauerarmut, Fundamentalarmut.
Ich setze mich mit meinem Kaffee zu ihm an den Esstisch, und das Frage-Antwort-Spiel beginnt.

Er ist Bulgare und lebt seit fünfzehn Jahren in Wien. Sein Deutsch ist ganz passabel, man kann sich fließend mit ihm unterhalten. Er hat es sich selbst beigebracht, und er schaut viel fern.
Gelernt hat er in Bulgarien Maler, sagt er, kriegt aber als solcher keine Arbeit, weil die keine Ungelernten nehmen oder nur fünf Euro in der Stunde zahlen. Länger hat er als Gärtner-Gehilfe in Himberg gearbeitet, aber sein Rücken ist kaputt, er konnte die schweren Scheibtruhen mit Erde und die Blumenkisten nicht mehr schleppen. Dann Autowäscher in einer türkischen Garage, ging auch nicht mehr.
Türken nix gutte Leute.
Wer sind denn gute Leute?
Die Österreicher.
Alle anderen sind schlecht?
Ja, Ausländer alle nix gutt.
Bulgaren auch nicht?
Das sind die Schlimmsten.
Er muss das wissen.

So, jetzt aber an die Fenster. Ivan hat seine eigene Ausrüstung mitgebracht, meine sei auch nix gutt. Er sei Profi mit einer Profi-Ausrüstung. Voll Stolz zeigt er mir die Teleskopstange mit drei verschiedenen, auswechselbaren Kopfstücken: für Bürsten, Schwämme und Trockentücher. Er arbeitet sehr genau, aber auch sehr langsam, trödelt, wie ich finde, dabei kriegt er pro Fenster bezahlt, nicht nach Stunden. Das habe ich mit ihm ausgemacht, und er war einverstanden. Vielleicht hat er das vergessen.
Wieder Tee- und Zigarettenpause, er will noch immer nichts essen. Er sagt, er habe zu viel Zucker und sei zu dick. Dabei klopft er sich auf den nicht vorhandenen Bauch. Ich habe ihm zwei dicke Schinken-Käse-Semmeln mit Ei und Salat, eine Banane, ein Fruchtjoghurt und eine Topfengolatsche vorbereitet und packe ihm alles ein.
Vielleicht später.
Da erzählt er, er werde das seiner Schwester mitbringen.
Ah, er hat eine Schwester.
Ja, die ist gerade aus Bulgarien angekommen und sucht Arbeit.
Leider, mehr hab ich nicht.

Er schaffte in fünf Stunden nur vier Fenster, da riss mir die Geduld, ich musste ihm ja beim Aus- und Einhängen der Oberlichten immer assistieren. Immer wieder rief er mich von meinem Schreibtisch weg:
Madame, bitte.
Wer hatte ihm das Madame beigebracht?
Also machte ich einen zweiten Termin mit ihm aus.
Wieder nächsten Montag um neun Uhr, aber pünktlich diesmal! Ich schreibe ihm noch einmal alles auf. Ich bemerke, dass er nicht auf den Zettel schaut, sondern meine Worte memoriert. Später sehe ich, dass er das Papier auf dem Tisch liegen gelassen hat.
Da schwant mir, dass Ivan Analphabet ist; deswegen hat er die Gegensprechanlage nicht bedienen können und musste warten, bis jemand anderer die Türe aufmachte.

Es war an diesem Jänner-Montag eisig kalt, und Ivan kam ohne Mütze, Schal und Handschuhe. Nur eine kurze Blouson-Jacke aus gestepptem Ostblock-Jeansstoff. Seine Putz-Utensilien trug er in einem großen Billa-Plastiksackerl. Also kramte ich sofort eine Ikea-Tasche hervor, dazu eine Wollhaube, die ich vor Kurzem auf der Straße gefunden hatte, gefütterte Lederhandschuhe, die mir immer schon zu groß waren, und einen warmen Schal, kariert. Toll, fand ich und führte ihn vor den Spiegel im Vorzimmer. Er lächelte schief hinein, ein Foto von ihm zu machen lehnte er ab.
Nicht nur ungesund zu frieren, sondern sonst finden Sie keine Arbeit. Die Leute schauen auf die Kleidung. Je armseliger man aussieht, desto armseliger bleibt man. Kleider machen Leute, das verstand er nicht.
Aber meine Belehrungen hat er sicher nicht gebraucht, wie es läuft, das wird er in den fünfzehn Jahren in Wien schon mitgekriegt haben.
Ich stattete ihn noch mit drei Gläsern Marmelade und einigen Packungen aus dem Tiefkühlfach aus – meine selbst gemachten Vorräte, die ich hauptsächlich aus Entspannungsgründen produziere.

Später habe ich bei der Volkshilfe nebenan einen dicken, langen Pullover gekauft, dazu ein Flanellhemd mit männlichem Karo und zwei Pullunder. Zusammen 13,50 Euro.
Dazu ist die Volkshilfe da.
Nach der Arbeit gehe ich mit Ivan zum kroatischen Reifenhändler an der Ecke Floragasse. Der jammert immer über zu viel Arbeit, und keiner will arbeiten. Alle wollen nur Geld, trinken und bembembemti, und er hält dabei den Kreuzschraubschlüssel hoch. Interessant, auf Kroatisch stottert er.
Mirko bedauert, gerade jetzt hat er zwei gute Helfer gefunden. Da schau an. Ich sehe keinen Arbeiter rund um sein Geschäft.
Die haben heute frei.

Ivan sieht sich bestätigt.
Sag ich doch, Ausländer nix gutte Menschen.
Mirko kommt aus Waraschdin (wie die Rosen), ist vierzig Jahre in Wien. Kein Flüchtling, ein echter Gastarbeiter, schon sechsunddreißig Jahre mit österreichischem Pass.
Ich gehe mit Ivan weiter zur Diskonttankstelle am Naschmarkt. Die drei Männer in der Halle winken schon von Weitem ab, keine Arbeit. Keine weitere Erklärung.

Es ist immer noch kalt, sehr kalt. Später habe ich bei der Volkshilfe nebenan einen dicken, langen Pullover gekauft, dazu ein großes Herrenhemd aus Flanell, großkariert in Blaugrün und zwei gestrickte Pullunder. Alles zusammen um 17,50 Euro. Genau dazu ist die Volkshilfe da.
Also, Ivan kommt am nächsten Montag tatsächlich pünktlich, hat aber wieder nicht unten angeläutet. Wieder ohne Mütze, Schal und Handschuhe. Auch zu dem Billa-Sackerl für seine Gerätschaft ist er zurückgekehrt.
Ivan, wo sind die Sachen?
Ach, brauch ich nicht, mir ist immer so warm, der Schwester gegeben. Frauensachen.
Ok, geht mich nichts an, ob er’s verkauft oder in ein Kanalloch steckt. Geschenkt ist geschenkt.
Aber es ist verdammt kalt heute, minus sieben.
Macht nix, fahr U-Bahn.
Wohin?
Bis Ottakring, dann noch ein Stück zu Fuß. Nix weit.
Diesmal schaffte er die vier Fenster in vier Stunden. Passt, genau wie der Stundenlohn. Dann wieder ein Gespräch bei Tee und Zigaretten. Stolz erzählt er mir, er hat sich jetzt auch so einen Orangentee gekauft. Wärmt.

Wie heizt er denn seine Wohnung?
Nix Wohnung, ein Zimmer.
Früher hat er einmal mit einem elektrischen Heizstrahler geheizt, bis die erste Rechnung kam, die konnte er sich nicht leisten.
Ich entscheiden, essen oder heizen.
Aber diese Woche kamen er und seine Schwester mit meinem Essen durch, und sie konnten ein bisschen einheizen.
Was macht er, wenn es kalt ist?
Er liegt im Bett und schaut TV.
Jetzt fällt der Groschen: Er brodelt mit der Arbeit herum, weil es bei mir warm ist. Arbeit als Broterwerb und Wärmestube. Er hat jede Menge Zeit.
Diesmal bekommt er ein paar Decken mit nach Haus, warme Socken und einen Bettvorleger. Natürlich auch wieder reichlich von meinen Essensvorräten und eine Tee-Packung mit Winterzauber. Oder waren es die Kaminträume?

Eigentlich habe ich keine Fensterputz-Arbeit mehr für ihn, aber ich lade ihn doch zu einem weiteren Termin ein. Es gibt in meiner Wohnung noch eine Glastüre, ein Innenfenster zwischen Küche und Badezimmer und zwei Türen mit Glasziegeln. Die putze ich in der Regel selbst. Aber ich nehme mir vor, Ivan über die kältesten Wochen zu bringen.

Er kommt wieder halb angezogen, aber um Punkt neun.
Gleich an der Tür strahlt er mich an: Er hat sich ein Handy gekauft, gebraucht, dreißig Euro. Sein erstes. Er hat erstmals dreißig Euro übrig gehabt. Profit. Sieht er sich auf dem Weg zum Millionär?
Wie geht das?
Eine zweite Putzstelle.
Alte Frau wie Sie, ehm, wirklich alte, nicht weit von hier, hat große Wohnung mit dreizeh Fensta.
Ich frage, ob die etwa in Schloss Schönbrunn wohnt.
Wie? Wo? Schönbrunn?
Er versteht meinen Witz nicht.
Fünfzehn Jahre in Wien, aber in Schönbrunn war er noch nicht.
Er kennt praktisch nichts, was nicht an der U3 liegt.
Wien zwischen Ottakring und Simmering. Eigentlich nicht wenig.

Diesmal frage ich ihn, ob er das nächste Mal die Böden feucht wischen und die Teppiche saugen könnte. Ich denke an seinen kaputten Rücken, aber immerhin muss er nicht schwer tragen oder heben.
Klar ist er einverstanden. Aber seine Schwester könnte auch putzen. Nein, nein, ich kenne sie nicht, das will ich nicht, sie spricht null Deutsch, und an den Ivan hab ich mich schon zu gewöhnen begonnen.
Schon beim ersten Zimmer wird mir klar, dass Ivan nicht das geringste Gefühl für eine Wohnung und ihr Mobiliar hat. Wenn er etwa einen Sessel, den Schirmständer oder einen Blumenstock wegrückt, kommt er nicht auf den Gedanken, ihn nach dem Wischen wieder auf seinen alten Platz zu schieben. Er hat wahrscheinlich noch nie in einer richtigen Wohnung gelebt. Er hat absolut kein Raumgefühl. Die Gemälde an den Wänden nennt er „Fottos, viele scheene Fottos haben Sie!“ Die Bücherwände dagegen beeindrucken ihn nicht. Was er sonst noch sieht und was ihm gefällt, weiß ich nicht.

Meine Freunde, denen ich von Ivan erzähle, sind entsetzt. Und so jemanden lässt du in deine Wohnung? Hast du keine Angst? Nein, hab ich nicht. Er wird mich doch nicht abkrageln, er will Geld verdienen, und dazu braucht er mich. Er hat noch nicht aufgegeben, er sitzt nicht auf der Straße und bettelt. Ich finde Ivan ganz toll.

Bevor er den ersten Teppich angeht, bitte ich ihn, die große Jukka-Palme zu verschieben und den Stab, mit dem sie gestützt wird, geradezustellen; ganz oben an der Spitze soll er sie mit einem Band anbinden. Ich sichere die große Leiter, Ivan steigt hinauf, und ich halte ihm einen dicken Spagat hoch. Ich sehe, wie Ivan die Schnur um die Spitze wirft, zwischen den Blättern herumnestelt, aber die Schnur gleitet immer wieder zu Boden oder bleibt irgendwo in den Blättern hängen.
So geht das mehrmals, bis ich frage:
Ivan, was ist los? Schlinge rum um den Stamm und den Stab und Masche machen.
Es geht nicht.
Kommen Sie runter!
Mir reißt der Geduldsfaden, und ich steige selbst hinauf.
Er soll die Leiter sichern.

Da sehe ich, dass er an seinen Sportschuhen keine Schnürsenkel hat, sondern Klettbänder wie kleine Kinder an ihren ersten Schuhen.
Ivan kann keine Maschen binden.
Er gibt es genant lachend zu.
Kommt man so durchs Leben? Ja, es geht.
Ich fange mit ihm zu üben an.
Hat er das nicht von seinen Eltern gelernt?
Eltern tot.
Im Kindergarten?
Nein, er war nicht im Kindergarten, sondern im Kinderheim. Waisenhaus?
Ja, aber nicht in Sofia, sondern in einer Stadt am Schwarzen Meer. Schöner Strand, ich war einmal in Varna, am Goldstrand.
Blöder geht‘s nimmer. Ich beiße mir auf die Zunge.
Ivan wird unruhig, er will die Maschen zu Hause üben, ich gebe ihm die ganze Spagatrolle mit.

Wahrscheinlich habe ich mit Ivan eines von diesen Waisenkindern in Ostblock-Heimen kennengelernt, für die wir nach den Schreckensbildern im Fernsehen eifrig gespendet haben. An Pater Sporschill, zum Beispiel.

Ich habe ihn nie wieder gesehen. Er kam einfach nicht mehr, spurlos verschwunden, vom Erdboden verschluckt oder von sonstwas. Ich kann ihn nicht einmal suchen, bemerke ich, seine Handy-Nummer habe ich nie aufgeschrieben. Ich mache mir Sorgen, wegen der anhaltenden Kälte. Eine Freundin, eine ehemalige Sozialarbeiterin, will mich beruhigen: Solche Leute wissen, wo sie sich wärmen können. Westbahnhof, Gruft, Praterstern. Hoffentlich hat er noch die alte Frau mit den dreizehn Fenstern. Aber wie oft kann man die Fenster putzen? Bei minus neun Grad? Vielleicht ist er an seine Goldküste zurückgekehrt? Dieser Winter war besonders lang und kalt, ein richtiger Winter wie früher.

9.7.17

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 17148

Die geduldigen Seelen

Es gibt sie, die geduldigen Seelen
Die bei einem Gläschen Wein
Selten von sich selbst erzählen
Sondern schlicht ihr Ohr herleih‘n

Und sie nicken dann und wann
Und sie hör’n sich alles an
Leidenvolles Liebesleben:
Mal fehlt die Frau, mal fehlt der Mann

Tatsächlich fehlt es meist am Geld
Was man den geduldigen Seelen
Unweigerlich in Rechnung stellt.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 17091

Zwei weitere Trug- und Wutgedichte

wutstaub
die wut aus dem körper hinaus tanzen, singen, stampfen,
bis sie zu diamantenem erinnerungsstaub zerbröselt unter meinen noch glühenden sohlen.

 – – –

weichspüler
wie im rausch wasche ich meine wut aus.
nicht mit der hand, sondern im schleudergang.
total eclipse of the heart.
dann drück ich neuerlich auf „start“.

Anna Maltschnig

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 17053

Drei weitere Kurzgedichte

supergau
gau ist nicht „wow“.
und „super“ schon gar nicht.

 – – –

 kopfüber
die nacht dreht alles um – auch mich.
das erklärt meine leeren hosentaschen am nächsten morgen.

 – – –

 ein ziel im leben
ein ziel im leben wirft dir den anker im meer der veränderungen zu.

 

Anna Maltschnig

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 17050

Landluft

Brise 1
Die Zeitungsgeschichte

Der Steirer sitzt am Morgen bei Häferlkaffee und Grammelschmalzbrot am Tisch und arbeitet sich durch die aktuelle Ausgabe der größten kleinformatigen Tageszeitung der Steiermark.
Die Schlagzeile ‘Wütende Kuh tötet Bauer auf der Suche nach Frau’ versetzt ihn in Schrecken.
„Nicht einmal die Kühe …“, sagt er sich.
Als er zu den Todesanzeigen kommt, liest er: ‘Herwig Pachern, aus Edelschrott, 35 Jahre.’ und ‘Edeltraud Puchern, aus Vasoldsberg, 36 Jahre.’ und sagt sich: „Guter Durchschnitt, 37 Jahre.“

Regieanweisung: während er sich der Ermittlung des Durchschnittsalters der beiden vor der Zeit verblichenen Menschen widmet, vernimmt er das Summen einer Fliege. Er sieht das Insekt und erkennt hirschfängerklingenscharf, dass es sich bei diesem um jenes Tier handelt, das seinem Haus seit bereits drei Tagen das Stigma der Unhygiene verleiht. Er zieht also seinen rechten Holzpantoffel aus, klopft zweimal darauf – denn Glück kann der Mensch stets brauchen -, zielt und wirft.
Die Fensterscheibe bricht, und der über einhundert Jahre alte Spruch ‘Deus Semper Maior’ liegt in Scherben auf dem Boden verstreut. Der Steirer ist nun einigermaßen traurig und grunzt entsprechend, hat doch seine Ururgroßmutter, die einst Kleinmagd war und dann durch eine geschickte voreheliche koitale Spätfolge Großbäuerin wurde, das Fenster einsetzen lassen. Der selige Altpfarrer des Dorfes, der von allen immer der ‘Geistreiche’ genannt wurde, und von wenigen zu vorgerückter Stunde der ‘Geistvolle’, hat das Fenster mit den Worten: „Oh Gott! Rette dieses Haus und seine Bewohner!“ geweiht. Bevor sich der Steirer an die Beseitigung der Scherben macht, befestigt er einen hübschen Plastiksack von Kastner und Öhler im nun scheibenlosen Fensterrahmen und brummt: „Der Löwe lacht immer.“

 

Brise 2
Die Vaterschaftsgeschichte

Der über sechzig Jahre alte Steirer denkt sich: ‘Ein Baby wäre schon eine feine Geschichte. So könnte ich ein Leben sich entwickeln sehn. Und einen kleinen Menschen nach meinem Vorbild formen. Mein Mäderl ist eh noch jung, also haben wir beide was davon. Und so gute Gene, wie ich sie habe, müssen weitergereicht werden.’

Regieanweisung: Der Steirer steht vor dem Hormonexperten und denkt sich: ‘Was wird der Herr Doktor mir wohl sagen?’
Der Hormonexperte steht vor dem Steirer und denkt sich: ‘Wieder so ein alter Mann, der kurz vor seinem offensichtlich in Bälde zu erwartenden Ableben selbst aufgegebenes Fruchtbarkeitsterrain zurückgewinnen möchte.’
Der Steirer fragt: „Was wird mich das kosten?“
Der Spezialist antwortet: „Anzunehmenderweise werden die Kosten der Hormonbehandlung höher sein als der Betrag, den Sie für Ihr Kind noch werden ausgeben müssen.“
Der Steirer denkt sich: ‘So ein billiges Kind!’ und sagt: „Passt! Dann mal los!“
Der Spezialist sagt: „Aber natürlich!“ und denkt sich: ‘Ein Prachtexemplar von einem Kunden. Wenn ich Glück habe, benötigt er drei Behandlungen.’

 

Brise 3
Die Zeltfestgeschichte

Der Steirer besucht das Zeltfest in Stiwoll und freut sich auf die Musik der volkstümlichen Gruppe ‘Die Lustigen Buam’.
Er steht an der Bar, trinkt aus einem irdenen Maßkrug der Raiffeisenkasse Stiwoll und betrachtet die anwesenden Frauen. Eine gefällt ihm besonders gut, und er nähert sich ihr mit offensichtlichen Absichten.
Der Gefährte der jungen Frau beginnt zu bellen: „Was willst Du von meiner Vroni? Ein Bier willst du ihr bezahlen, ha? Wart nur, den Kelch dazu kannst du gleich haben!“, und erhebt sich.

Regieanweisung: Vroni bittet ihren Begleiter, den werbenden Steirer nicht körperlich zu schädigen, doch vergebens.
In Stiwoll hat gekelcht zu werden, vor allem, wenn Zeltfest ist.
Vor dem Zelt stellt der Begleiter den Steirer vor die Wahl: „Nase oder Eier?“
Der Angesprochene überlegt, doch zu lange für den Geschmack des Pächters von Fräulein Vroni.
Es setzt zwei Hiebe, und das lange Überlegen hat sich gerächt.
Zur Sicherheit wird ein drittes Mal zugeschlagen, und auch der Magen fährt für eine gewisse Zeit in die Grube ein.

 

Brise 4
Die Studiengeschichte

Der Steirer steht vor der Grazer Universität und will Angewandtes Brauchtum studieren, doch in der Steiermark ist das korrekte Tragen von Lederhose und Dirndlkleid noch keine Studienrichtung.
Er steht in seiner Tracht vor der Alma Mater und lamentiert: „Meine Tracht – Vom Opa gemacht – Sie ist nix wert – Drum bleib ich gschert!“

Regieanweisung: Der Dekan der Fakultät für Kulturanthropologie hört das steirische Lamento und wählt instinktiv die Nummer des Dekans der Fakultät für Soziologie und flüstert in sein Telefon: „Herr Kollege, bitte kommen Sie schnell zum Universitätseingang. Ich denke, wir haben ein Exemplar gefunden, das bestens geeignet ist für unseren Versuch, eigene Studienrichtungen für Randgruppen einzuführen. Ein Prachtexemplar, möchte ich sagen!“

 

Brise 5
Die Jagdgeschichte

Der Steirer hält die Bestie in der Hand, betrachtet ihren Kopf und denkt sich: ‘Du Biest, du kommst auf den Rost! Du ärgerst meine Mutter nicht mehr, dafür werde ich schon sorgen!’

Regieanweisung: Die dem Skimmer des Teiches entnommene Ringelnatter zappelt und züngelt und zischt in der Steirerhand, während deren Besitzer dem Reptil streng in die Augen blickt.
„Bestie“, sagt er dann, „du wirst meiner werten Frau Mama nie wieder die Freude am Baden in ihrem schönen Teich verderben! Um dies sicherzustellen, werde ich dich noch heute grillen!“
Die Schlange sieht ihn an, und auf einmal weiß er, was sie ihm mitteilen möchte: „Großer Steirer, bitte verschone mich! Ich bin noch jung, keine zwanzig Zentimeter lang, also fast noch ein Kind!“
Es entspinnt sich ein Dialog.
„Du bereitest meiner Frau Mama Kummer!“
„Ich bin unschuldig, großer Jäger! Ich wurde von meiner Mutter an diesen Teich geführt.“
„Und meine ekelt sich vor dir!“
„Töte mich nicht! Wenn du mich verschonst, hast du drei Wünsche frei!“
„Gut. Erstens: Mach mir diesen Teich mit Obstler voll!“
„Realistische Wünsche.“
„Dann mit Bier. Aber Gösser!“
„Noch realistischer.“
„Das führt zu nichts! Du wirst sterben!“
„Aber ich könnte eine schöne Schlange werden, die viel Ungeziefer vertilgt.“
Das leuchtet dem Steirer ein, als er vom Vertilgen des Ungeziefers hört.
„Du wirst nie wieder im Teich meiner werten Frau Mama schwimmen! Wenn du Ungeziefer vertilgen willst – nur zu! Merze es aus! Aber bedenke: Ich möchte nicht sehen, wo und wie du das machst!“
„Versprochen. Bin ich nun frei?“
„Ja, bis zu dem Tag, an dem du stirbst. An diesem Tag wirst du nämlich hierher zurückkommen, und deine Haut wird mir ein geziemender Leibriemen werden!“, ruft der Steirer und entlässt die Bestie in die Freiheit.

 

Brise 6
Die Rauschgiftgeschichte

‘Ich rauch ein Gras und bring’s zu was’, denkt sich der Steirer und versucht zum dritten Mal an diesem Abend, sich eine Haschischzigarette zu drehen.
Letzten Endes inhaliert er sein im Grazer Stadtpark gekauftes Haschisch und übergibt sich.

Regieanweisung: Nachdem der steirische Drogenaspirant drei fehlgeschlagene Versuche, einen Joint zu drehen, mit der Zufuhr von insgesamt zehn Doppelstamperln Obstler kompensiert hat und auf diese ursteirische Art und Weise zu einem, wenn auch gut bekannten, Hochgefühl gelangt ist, will er es dennoch wissen.
Er leert schnell eine Dose Gösser und raucht das Rauschgift aus der Dose.
Da das Haschisch sich mit dem ihm bestens bekannten Bier vermischt, geht es ihm erst gut.
Als das Bier jedoch verdampft und das Rauschgift seine Wirkung entfaltet, und weil Steirerblut eben kein Wiesensaft ist, vomiert er in hohem Bogen und ziemlich zielgenau erst auf, dann in seine Haferlschuhe.

 

Brise 7
Die Elektrizitätsgeschichte

Der Steirer trällert bei dem Lied ‘Ja lustig ist’s im Steirer-’, doch -’land’ muss er ohne die Unterstützung seines Kassettenradios singen, da ihm offenbar der Strom abgedreht wurde.
‘So ein Unglück!’, denkt er sich.

Regieanweisung: Er weiß, dass sein Radio ein Batteriefach hat, aber da Batterien mit Strom zu tun haben und ihm der ja abgedreht wurde, geht er zu seinem nunmehr lichtlosen Kühlschrank und holt aus diesem seine Spezialbatterie, nämlich die, die ihn selbst wieder auflädt, und das immer.
Nachdem er allen zehn Zellen dieses Kraftspeichers den Saft, nämlich Gösser Märzen, entnommen hat, schläft er ein.
Als er aufwacht, funktioniert sein Radio wieder und sein Nachbar hat ihm auf dem Jogltisch einen Zettel hinterlassen, auf dem steht: ‘Strom gibt’s wieder – bis sie uns das nächste Mal draufkommen. Also: Angezapft ist wieder – Prost!’

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt |Inventarnummer: 17060

Mutterskind

Wer hat wohl das letzte Stück Kuchen gegessen?
Wer ist auf deiner Bluse gesessen?
Wer hat vergessen,
dass Klodeckel zu schließen,
Blumen zu gießen sind,
wer war das, mein Kind?

Wer hat die Dinge beim Namen genannt
mit Worten, die nicht mal der Duden gekannt?
Wer hat nicht von allem gekostet,
was andere liebevoll vorgetoastet?
Wer war unaufmerksam und gedankenlos,
ja, mein Kind, wer war das bloß?

Wer hat schlecht zugehört,
kreative Prozesse durch Reden gestört?
Wer mag wohl dieses Wesen sein,
das lästig scheint und menschlich klein?
Wer, liebes Kind, was meinst du,
ließ Tag und Nacht dir keine Ruh?

Deine Mama war’s, das Muttertier.
Doch gibt es eine Erklärung dafür.
Sie liebt dich sehr, mein Kind, und das ist wahr.
Wenn auch etwas sonderbar.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 17043

Besinnliche Weihnachtszeit

Die Weihnachtszeit beginnt schon früh,
schon im November schmückt man wieder.
Dann hört man fast den ganzen Tag,
wohin man kommt nur Weihnachtslieder.

Und schon beginnt die lange Suche,
kaum dass das erste Lied verstummt,
nach Nudelholz und all den Sachen,
die Küche wird mit Mehl vermummt.

Mamsch bäckt Kekse wie der Teufel,
als müsst sie ohne Ofen sterben.
Den Brauch brachten die Hirten auf,
sie standen auch bei ihren Herden.

Geschenkekauf sieht man noch locker,
da denkt man: „Pah, hab eh noch Zeit“.
Doch dann zwei Wochen vor Bescherung,
vermisst man seine Lässigkeit.

Man irrt herum, hat keine Ahnung,
was man denn heuer so verschenkt,
ist der Verzweiflung schon ganz nahe,
wenn man an Opa, Oma denkt.

Dann auch noch diese Menschenmassen,
haben die alle kein Zuhaus?
Es scheint manchmal wie ein Komplott,
die dürfen wohl nur samstags raus.

Nun gut, am letzten Einkaufstag,
hat man´s geschafft, schon wieder mal,
und jedem ein Geschenk besorgt,
zu Ende scheint die Qual der Wahl.

Doch jetzt geht es erst richtig los,
der Weihnachtsabend steht noch an.
Da gibt´s noch einmal richtig Stimmung,
denn die Verwandtschaft trabt jetzt an.

Es riecht nach Duftkerzen und Tanne,
und aus der Ferne hört man Glocken.
Die Mutter bäckt noch immer Kekse,
und Onkel, Schwager, Opa zocken.

Der Vater liegt mit Schmerz im Bett,
in seiner Faust das Polsterzipferl.
Er hat seit letztem Jahr nix g´lernt,
aß viel zu viel Vanillekipferl.

Und um dem Christkind aufzulauern,
hat klein Susi sich versteckt,
doch was sie dann zu sehn bekommt,
nicht wirklich Freude in ihr weckt.

Das Christkind kommt in Form von Opa,
der steht mit einem Bier beim Baum,
nimmt noch mal einen kräftigen Schluck,
beginnt Geschenke hinzuhaun.

Sie hält´s nicht aus, beginnt zu weinen,
die Oma zetert gleich hysterisch,
doch Opa hat schon drei, vier Bier,
und wird dann doch etwas cholerisch.

Das war´s für Susis heile Welt,
alles zerplatzte Seifenblasen.
Doch eine Chance hat sie noch,
da gibt´s doch noch den Osterhasen.

Petra Hechenberger und Christian Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 16172

Beide Seiten

Thomas und Julia wohnten seit drei Jahren zusammen, seit etwas mehr als fünf Jahren waren sie ein Paar. Sie hatten sich auf dem Campus der Universität kennengelernt, bei einer dieser Feiern, die Studenten dort gerne zelebrieren, wenn es warm ist an den Abenden, wo getrunken und Gras geraucht wird und wo junge Menschen einander näherkommen. Thomas studierte Bildhauerei und Julia, die gleich alt war wie ihr Freund, Klavier.

Mit dem Zusammenziehen hatten sie sich Zeit gelassen, denn zum einen hatten sie Restzeiten in ihren Wohngemeinschaften absitzen müssen, nämlich bis zum Auslaufen ihrer Mietverträge, zum anderen waren sie sich nicht sicher, ob sie wirklich gut zusammenpassen würden. Diese Zweifel lagen keineswegs in fehlender Zuneigung begründet, es lief in allen Belangen gut zwischen ihnen, sondern in der Tatsache, dass sie verfeindeten Lagern angehörten.
Diese Lager bekriegten sich zwar nicht mit Waffengewalt, doch beharkten sie einander bei jeder sich bietenden Gelegenheit, und deren gab es viele.

Zu Beginn ihrer Beziehung hatten Thomas und Julia vereinbart, da jeder von ihnen Anhänger eines der beiden Lager war, diesen Zwist einfach totzuschweigen, um ihre Partnerschaft nicht mit Dingen zu belasten, auf die sie als Einzelpersonen ohnehin keinen Einfluss hatten. Dieser Konflikt wurde nämlich von oben herab geschürt und geführt, und die Menschen, die ihn auf den Straßen mit ihren jeweiligen Gegnern austrugen, waren streng genommen für ihre boshaften Äußerungen gegen die jeweils Anderen nicht verantwortlich zu machen, folgten sie doch bloß der Doktrin ihrer jeweiligen Meinungsgenerierer.

Obwohl sie diesen Konflikt aussparten und peinlich genau darauf achteten, der jeweils anderen Person nicht durch versehentliches Parteiergreifen auf die Zehen zu steigen, kam es gelegentlich vor, dass sie, wenn auch emotionslos und völlig sachlich, darauf zu sprechen kamen.
Es war nämlich so, dass die Medien sich des Themas angenommen hatten. Die Fernsehsender berichteten ausführlich, aber ausgewogen darüber. Sie ließen Vertreter beider Parteien zu Wort kommen, sogar Fachleute, die derartige Zwistigkeiten in anderen Städten erfolgreich beizulegen vermocht hatten, durften ihre Sichtweisen auf das Problem darlegen und gute, oder wenigstens gut gemeinte Tipps geben, wie die Sache für beide Seiten befriedigend geregelt werden könnte.
Thomas und Julia, die einen solchen Beitrag gemeinsam gesehen hatten, pflichteten dem Experten bei, und zwar aus ehrlicher innerer Überzeugung, und nicht bloß, um einer etwaigen Diskussion aus dem Weg zu gehen.

Gänzlich anders verhielten sich die Printmedien. Diese ergriffen Partei für eine der beiden verfeindeten Gruppierungen, für welche, das hing von der jeweiligen politischen Ausrichtung der Zeitung ab, und auch davon, wie konservativ oder gar reaktionär ein Blatt war. Es wurde geschimpft, Verständnis gezeigt, zur Versöhnung aufgerufen und zur Toleranz, und sogar karikiert. Letzteres gar in Gestalt eines Ebers, der stellvertretend für die Angehörigen einer der beiden Gruppen verstanden werden musste.
Thomas und Julia lasen sämtliche dieser Artikel, und es kam sogar zweimal dazu, dass sie über dieses Thema hitzige Debatten führten, hart an der Grenze zum Streit, in so hohem Maße waren sie von den Artikeln beeinflusst worden, oder hatten sich beeinflussen lassen.

Nach dem zweiten Beinahe-Streit beschlossen sie, die Sache nicht weiter zu diskutieren und auf Toleranz zu hoffen, also auf eine friedliche Koexistenz beider Gruppen.
Dies ging auch lange gut.
Eines Tages, Julia fühlte sich nicht wohl, bat sie Thomas, die Einkäufe für das Wochenende zu erledigen. Sie schrieb eine lange Liste von Sachen, die er im nahe gelegenen Supermarkt besorgen sollte. Er besorgte, wie ihm aufgetragen, die Lebensmittel, und als er diese in den Kühlschrank schlichtete, bemerkte er, dass er etwas zu kaufen vergessen hatte. Er berichtete Julia davon und fragte sie, ob sie dieses eine Wochenende darauf würde verzichten können.
Sie eröffnete ihm, dass ein Wochenende ohne Radieschen für sie nicht infrage käme, also zog Thomas seine Schuhe wieder an und machte sich ein zweites Mal auf den Weg zum Supermarkt.

Als er die Wohnung wieder betrat, empfing Julia ihn im Vorzimmer. Sie war erfreut, das Gemüse im durchsichtigen Plastiksack zu sehen, doch merkte sie, als sie die Miene ihres Freundes sah, dass etwas vorgefallen sein musste.
Auf Nachfrage teilte er ihr mit, dass ein Vertreter ihrer Gruppe ihn beinahe umgebracht hätte. Er erzählte in allen Einzelheiten, was sich zugetragen hatte, und garnierte seine Ausführungen mit nicht eben freundlichen Ausdrücken, bezogen auf die Angehörigen ebendieser Gruppe. Julia geriet ob der Unflätigkeiten ihres Partners in Harnisch, warf ihm Verallgemeinerung vor und lief ins Schlafzimmer, dessen Türe sie hinter sich zuknallte, versperrte und erst am nächsten Tag wieder öffnete.
Thomas war indigniert, weil er auf dem Sofa hatte schlafen müssen, doch schluckte er seinen Ärger hinunter und bat Julia um ein klärendes Gespräch, so bald sie aus dem Schlafzimmer gekommen war.
Sie sprachen über den Vorfall, Thomas entschuldigte sich für seine harten Worte, und sie kamen überein, dass bloß das Hineinschnuppern in die Gruppe des jeweils anderen eine Lösung des Problems würde herbeiführen können.

So kam es, dass Thomas am nächsten Tag mit Julias Fahrrad zur Universität fuhr, während Julia diesen Weg zu Fuß zurücklegte.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt |Inventarnummer: 16174