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Wenn das Glück kommt, musst du ihm einen Stuhl hinstellen

Ich habe viele Stühle in meinem Haus, viel mehr, als meine Familie braucht. Immer schon habe ich herrenlose Stühle aufgelesen, die auf Dachböden, in Kellern oder Garagen ihr vorläufiges Ende gefunden hatten. In mir regt sich bis heute das Mitleid, wenn ich einen ausrangierten Stuhl sehe. Er tut mir unendlich leid und ich nehme ihn mit, repariere ihn oder lasse ihn reparieren und gebe ihm ein neues Zuhause. Auch ein Stuhl braucht ein Zuhause! Einen liebevoll geschreinerten Stuhl setzt man nicht aus, wenn seine Bauart aus der Mode gekommen ist, wenn die geflochtene Sitzfläche zerrissen ist, wenn die Lehne abfällt. – Nein, das tut man nicht. Ich habe also eine kleine Sammlung von verschiedenen Stühlen. Zu jedem einzelnen kann ich eine Geschichte erzählen und die Geschichte betrifft nur die kurze Zeit, die ich mit dem jeweiligen Stuhl verbringe. Jeder Stuhl könnte also selber auch noch eine viel längere Geschichte erzählen, wenn die Stummheit nicht zum Wesen der Stühle gehörte.
Ein guter Stuhl muss leicht sein, sodass er jederzeit hochgehoben und an einen anderen Platz gestellt werden kann. Die Qualität eines Stuhles erkennt man an seiner Leichtigkeit.

Wenn ein Gast kommt, gehört es zur guten Sitte, ihm einen Stuhl, einen Sitzplatz anzubieten, sodass er verweilen und sich erholen kann. Bei den Juden ist es am Sederabend Brauch, ein Gedeck zu viel aufzulegen und einen zusätzlichen Stuhl an den Tisch zu stellen, damit der Prophet Elija, sollte er vorbeikommen, einkehren kann. Jederzeit kann der Messias kommen, wir kennen weder Zeit noch Stunde, aber wir wollen doch gerüstet sein.
Auch ich will gerüstet sein, wenn ein Fremder kommt und um Einlass bittet. So ist die Geschichte mit den Stühlen für mich auf ganz besondere Weise lebendig geworden. – Wenn das Glück kommt, musst du ihm einen Stuhl hinstellen, so lautet ein Sprichwort. – Ich habe viele Stühle, auf denen sich das Glück niederlassen kann. Aber das ist wahrscheinlich zu aufdringlich für das Glück, und es geht lieber vorbei. Auch das Glück mag es, wenn es sich nicht entscheiden muss, wenn gleich der richtige Platz gefunden ist. Zu viele Stühle sind ein Gottversuchen.

Beim Sperrmüll habe ich einmal einen ausgesetzten Stuhl gefunden. Die Sitzfläche – aus Bast geflochten – war zerrissen. Offensichtlich ist ein Rüpel oder gar ein Brackel mit dem Fuß daraufgestiegen.  Als die filigrane Sitzfläche unter der Last stöhnte und ächzte, nachgab und riss, zeigte sich eine klaffende Wunde. Der Stuhl wurde ausrangiert, auf die Straße gestellt. –Herzlos! Gott sei Dank hat mich mein Weg daran vorbeigeführt, mein mitleidiges Herz hat sich sofort geregt und ich habe dem siechen Stuhl Obdach gegeben. – Monate später fand ich einen Korbmacher, der sich noch auf die Kunst des Flechtens versteht. Er hat meinen maladen Stuhl repariert. – Wohlgemerkt für teures Geld!
Ein andermal bin ich an einem Tag, an dem Sperrmüll gesammelt wurde, auf einen kleinen Sessel aufmerksam geworden, der mich gedauert hat, und ich habe ihn vor der Müllpresse bewahrt. Jetzt hat er in meinem Haushalt eine neue Heimat gefunden und jeder Gast nimmt gern auf ihm Platz.

Nun hat es sich ereignet, dass seit geraumer Zeit ein junger Mann, der im Jahr 2015 seine Heimat Afghanistan verlassen hat, in mein Haus kommt. Er möchte Deutsch besser lernen und wir sprechen und lesen miteinander. Ich mühe mich, Wörter wie Rückbank, Ersatzreifen, Aufgabe oder noch viel schwieriger Schicksal und Paradies zu erklären. Wir kommen auch auf Himmel und Hölle zu sprechen, auf Gott und Teufel. –  Mir wird wieder einmal klar, wie schwer es ist, eine fremde Sprache zu lernen. Es geht ja nicht nur um die Worte. Hinter jedem Begriff verbirgt sich eine Geschichte und jedes Volk erzählt sich andere Geschichten, weil es in anderen historischen Gegebenheiten lebt. Will oder muss man also in einem fremden Land heimisch werden, so muss man sich mit den Worten vertraut machen, deren Herkunft auch sehr kompliziert ist. Wer denkt zum Beispiel daran, dass der Ausdruck: „Ich halte mich bedeckt“ mit „der Decke“ und „zudecken“ zusammenhängt. Während ich mich mühe, derartige Zusammenhänge zu erklären und auch zu zeigen, was sich hinter manchen Worten verbirgt, lerne ich selber die Tiefe und Schönheit meiner Muttersprache erneut kennen. Gleichzeitig fange ich an zu erahnen, wie in einer mir völlig fremden Sprache wie Paschtu manches ausgedrückt wird und welch anderer Erfahrungshintergrund dem zugrunde liegt.

Der junge Mann, von dem ich hier erzähle, hat den auch für unsere Ohren schön klingenden Namen Khushal. Schon bei einem unserer ersten Treffen erzählte er mir, dass seine Mutter diesen Namen von einer anderen Frau, deren Sohn so hieß, gestohlen hat. Es ist ein besonderer Name.
„Meine Mutter hat wirklich Probleme mit dieser Frau bekommen, weil sie einfach den Namen von ihrem Sohn geklaut hat.“ – Manchmal kann man einfach keine Kompromisse eingehen!
Wenn man einen Namen bekommen hat, kann man ihn nicht mehr wegnehmen. Wenn er einmal gegeben ist, bleibt er. Die andere Frau mochte schimpfen und zetern, der schöne Name Khushal hat einen zweiter Träger bekommen. Ich weiß nicht, was aus dem ersten Khushal geworden ist, den zweiten habe ich kennengelernt. Er erzählt mir von seiner Heimat und ich bin von meiner Unwissenheit erschüttert.

Khushal sagt: Ich habe keine Angst, ich bin im Krieg gewachsen.
Als ich ihm erzähle, dass meine Söhne als Kinder Auseinandersetzungen gescheut haben, sich nicht mit anderen geprügelt haben, lieber nachgegeben haben, da entgegnet mir Khushal, dass ein afghanischer Mann nie sagt, dass er schwach ist. Ein Mann ist stark und muss kämpfen. – Als aber am Bahnsteig einmal ein großer Hund neben uns Platz nimmt, beobachtet Khushal ganz genau die Augen und Bewegungen dieses Tieres und geht auf die andere Seite, hinter mich.

Auf verschlungenen und abenteuerlichen Wegen ist Khushal tausende Kilometer im Alter von fünfzehn Jahren nach Europa gewandert und in einem Land angekommen, von dem er nur den französischen Namen Almani kannte. Er ist ohne Eltern, Geschwister und Verwandte hier und dieses unbekannte Land hält erneut viele Probleme für ihn bereit. Hätte er zu Hause davon gewusst, wie schwierig es ist, als Asylbewerber anerkannt zu werden und einen Pass zu bekommen, so hätte er vermutlich die Strapazen der Reise nicht auf sich genommen. Oft zweifelt er, ob die Entscheidung zu gehen, richtig war. – Ich sage: Jetzt bist du hier! Das ist dein Schicksal.
Khushal stimmt mir zu: Allah hat meinen Weg auf meine Stirn geschrieben. – Was auf meine Stirn geschrieben ist, das kommt. – Emah patandi jelikuli harasi, so habe ich die Worte verstanden.
Ja genau, so ist es. Wer kann sich seinen Lebensweg schon aussuchen?
Jetzt sitzen wir hier zusammen und ich lasse mir erzählen, was Khushal auf der Flucht alles erlebt hat.

Im Kofferraum eines Autos war er versteckt, so eng eingezwängt, dass er jegliches Gefühl für Raum und Zeit verlor. Im Bus ist er durch Intuition einer Verhaftung entgangen, indem er sich einfach wieder hingesetzt hat und nicht der Weisung des Polizisten gefolgt und ausgestiegen ist. – Glück gehabt! Hundertmal!
Ohne Pass hat er eine „boarder“ nach der anderen überschritten, im Dschungel, wie Khushal den Wald nennt, hat er tagsüber an Bäume gelehnt versucht zu schlafen oder zu dösen.
Angespannt hat er auf einen verabredeten Pfiff gehorcht und ist unter Tränen, wie er mir gesteht, aufs Geratewohl losgeschlichen, in der Hoffnung, den Treffpunkt zu finden. Er hat ihn gefunden. Sein Schutzengel, Malaike, wie er sagt, hat die schützenden Flügel über ihn gehalten. – Tausendmal!

Im Sommer 2015 ist Khushal in Passau gelandet oder gestrandet. Als unbegleiteter Jugendlicher ist er zuerst nach Geiselhöring, dann nach Mallersdorf ins Wohnheim gekommen. Er geht in die Schule, lernt Deutsch und Mathematik und Staatsbürgerkunde. Was ist eine Demokratie, welche Versicherungen gibt es, wie viele Bundesländer hat die Bundesrepublik, von wie vielen Ländern ist Deutschland umgeben oder eingeschlossen? Fragen über Fragen, auf die ich auch nicht immer gleich eine Antwort habe. Nichts ist einfach, auch nicht in Deutschland. Besonders die Bürokratie.
Khushal hat seine Freude am Kickboxen entdeckt. Er trainiert eifrig und möchte darin richtig gut werden. – Disziplin, Kraft und Geschicklichkeit sind wichtig, damit man im Wirrwarr nicht so leicht die Nerven verliert. Es bieten sich viele Gelegenheiten, zu straucheln, schwach zu werden, aufzugeben, davonlaufen zu wollen, aber wohin?

Wir sind uns in der Schule begegnet und einmal hat mich Khushal vorsichtig gefragt: „Haben Sie bisschen Zeit? Ich möchte Deutsch lernen mit Sie.“ Wer hätte gedacht, wie schwer das ist. Bin ich froh, dass ich mich in meiner Muttersprache verständigen kann.

Khushal kommt nun regelmäßig in mein Haus und setzt sich auf einen freien Stuhl. Inzwischen weiß ich auch, dass man in seiner Heimat auf Kissen am Boden sitzt, auf einem schönen weichen Teppich, aus dem Iran. Dort ist immer Platz für einen Gast.
Wir trinken Tee oder Cola, backen zusammen Bulani, wie in Paschtu das Brot genannt wird, lesen zusammen ein Buch und sprechen über dieses und jenes.
Ich erzähle ihm von meinen Kindern, von Sebastian, der ein Haus baut und dessen Freundin ein Reitpferd hat, von Jonas, der wieder aus Berlin zurückgekehrt ist, und davon, dass Jakob eine türkische Freundin hat, die – im Spaß, hoffe ich – von ihm 83 Kamele als Brautpreis fordert.

Khushal setzt sich auf einen freien Stuhl, isst mit meiner Familie am Tisch. Oh, vieles wird nicht nach seinem Geschmack sein, vieles wird ihm seltsam vorkommen. So ist das in der Fremde!
Er erzählt mir von der großen Enttäuschung, der Abschiebung. Ich möchte ihn trösten und erfahre die Schwäche und Machtlosigkeit meiner Worte. Was soll ich sagen? Ich bin hilflos. Es wird weitergehen, es wird gut werden. Ich helfe dir. Aber wie?

Khushal bedeutet in unserer Sprache Glück. Wie weise deine Mutter deinen Namen gewählt hat. Khushal bedeutet Glück!

November 2017

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei |Inventarnummer: 18033

 

Der Dichter

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„Zu viel Nebel“, sprach der Hebel.
„Viel zu dicht für Wortgeschlicht.
Denn beim Nebel“, sagt der Hebel,
„finde ich die Reime nicht.“

Aus: „55 x Blödsinn“,  illustrierte Gedichte aus allen Lagen des nicht alltäglichen Lebens

Zeichnung und Text von
Yvonne Richter
www.yvonne-richter.de
www.fabulus-verlag.de/autoren/yvonne-richter
www.facebook.com/yvonnerichterbuecher/

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 18017

Der Morgen

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Ein junger frischer Morgen
wollt es der Nacht besorgen.
Die schloss jedoch die Tür
und rief: “Mir graut vor dir!“
Der Morgen einsam floh
und graute anderswo.

Aus: „55 x Blödsinn“,  illustrierte Gedichte aus allen Lagen des nicht alltäglichen Lebens

Zeichnung und Text von
Yvonne Richter
www.yvonne-richter.de
www.fabulus-verlag.de/autoren/yvonne-richter
www.facebook.com/yvonnerichterbuecher/

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei| Inventarnummer: 18022

 

Ins Stocken kommen 2 (Minihörspiel)

Zwei Stimmen, die erste weiblich, die zweite männlich

„Schläfst du?“
„Nein.“
„Denkst du?“
„Nein.“
„Träumst du?“
„Mmm.“
„Was träumst du?“
„Ich schlafe doch noch nicht.“
„Warum sagst du dann Mmm? Das klingt nach ja.“
„Mmm.“
„Träumst du wenigstens von mir?“
„Wie soll ich das, meine Liebe, wenn mich deine Knie stören.“
„Magst lieber meinen Busen, Schatz?“
„Dann schlafe ich wohl erst recht nicht!“
„Wär’ das denn so schlimm?“
„Ich muss aber morgen arbeiten.“
„Dabei dauert es bis morgen noch soooo lang.“
„Das meinst du, weil du nur Hausfrauenarbeit machst.“
„Du bist gemein! Jetzt kann dafür ich nicht mehr schlafen.“
„Dann träum was Schönes.“
„Nein, jetzt muss ich denken!“

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 17161

Ins Stocken kommen 1 (Minihörspiel)

Zwei Stimmen, die erste weiblich, die zweite männlich

„Ich liebe dich!“
„Wie schön.“
„Wirklich!“
„Wie schöner.“
„Das ist doch kein richtiges Deutsch.“
„Aber es stimmt.“
„Stimmte das, wär’s ja noch schöner – so viel verstehe ich schon von unserer Sprache. Ach, man sollte Italienisch können, klingt gleich viel romantischer: Ti amo!“
„Verstehe ich nicht.“
„Du verstehst nicht, dass ich dich liebe? Du bist zum Verzweifeln.“
„Ich verstehe kein Italienisch.“
„Du bist halt eine Schweizer Krämerseele ohne Verständnis für Tiefe.“
„Das ist falsch! Wer rettete dich aus dem Wasser?“
„Das war nicht tief, ich konnte damals nur noch nicht schwimmen. Und romantisch war’s auch nicht, wie du mich am Hals hieltest.“

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 17160

 

 

Sieben an der Zahl

Vorgeschmack

Das Zitat zum Morgenkaffee – unbeirrbar prangt es uns entgegen, in der Zeitung, im sozialen Medium unserer Wahl oder auf dem Kalenderblatt; und plump meist sein Versuch, uns gute Laune abzuringen für einen Tag, den das Schicksal für uns bereits mit dem Erwachen als gescheitert abgekanzelt hat; oder uns moralisch zu besseren Menschen belehren will, uns, deren graue Seelen abzuholen selbst dem Teufel zuwider ist – meist geschrieben von Dichtern und Denkern, die uns schon zu Schulranzenzeiten verhasst waren, und von denen wir nicht einmal Traum daran denken, jemals wieder ein Buch zu öffnen, geschweige ein Wort darin zu lesen.

Und dennoch, es gibt sie, diese Sätze, die uns innehalten, uns im Lesefluss innestocken lassen, deren abgrundtief hintersinniger Schalk uns ein Lächeln auf die Lippen treibt, ein Lächeln, das uns in atemberaubender Geschwindigkeit aus der Tiefe der Seele entgegenspringt, schneller als unser Verstand begreift, dass er diesen Satz verstehen will, und ihn andererseits auch nicht verstehen kann, unfähig, ihn in sein Archiv der tausend Schubladen zu pressen, denn immer wieder wird dieser Satz schräg und frech zwischen all den Karteikarten der Rechteckigkeit hervorlugen.

Sieben an der Zahl, die Sätze, aus der sich diese Collage zusammenstellt – mit völliger Absicht aus jedem Zusammenhang gerissen, in Unformen und Unordnung gebracht, mit Vor- und Nachgeschichtchen umgarnt, mit Sicherheit abseits jeder ursprünglichen Intention des jeweiligen Dichters, will sagen: mit einer kräftigen Prise Dada im Nacken …

 

EINS – Sich die Zeit genommen, um die Zeit totzuschlagen

Und die Anzahl der Dosen billigen Bieres verrät es, dass die beiden Nachtschwärmer, die vor dem Würstelstand im Nirgendwo einer Wiener Vorstadt gestrandet sind, nichts unversucht lassen werden, auch zu Morgengrauenschwärmern zu werden – denn allen Grund besitzen sie dazu:

„Kum, gemma endlich.“
„Kimma net.“
„Wiesodn?“
„Wir woatn auf Godot.“
„Ah jo!“

– Samuel Beckett: „En attendant Godot“

[‚Komm, gehen wir.‘ – ‚Wir können nicht.‘ – ‚Warum nicht?‘ – ‚Wir warten auf Godot.‘ – ‚Ach ja.‘]

 

ZWEI – Vor dem eigenen Türhüter in Ungnade gefallen

Und hatte es sich also doch ausgezahlt, dass er in diesem Straßennuttenviertel Roms einige Zeit lang seine Runden gedreht hatte, denn die puttana, die jetzt an dem offenen Seitenfenster seines abgeschabten Fiat Punto lehnte und die er zuvor noch nie wahrgenommen hatte, hatte es ihm angetan, und es waren nicht ihre überbordenden Brüste, die ihr viel zu schmales Top zu sprengen drohten; ihre Stimme war es, die gesenkt zu einem sirenenhaften Flüstern ihn ganz liebestoll werden lassen sollte:

„Ma lei non sa cos’è un uomo medio? È un mostro, un pericoloso delinquente, conformista, colonialista, razzista, schiavista, qualunquista.“

– Pier Paolo Pasolini: „La ricotta“

[„Sie wissen wohl nicht, was ein mittelmäßiger Mensch ist? Ein Monster ist er, ein höchst gefährlicher Verbrecher: ein Konformist, Kolonialist, Rassist, Nazist, ein Was-auch-immer-er-ist.“]

Und am nächsten Tag, bei hellem Tageslicht, ist er der Ausgewechselte, adrett im von seiner Frau sorgfältig gebügelten himmelblauen Hemd, und auch seine Krawatte zeigt sich in aller Senkrechtigkeit, während er in der Mittagspause in seiner Stammtrattoria nach dem Menü verlangt, das Liebesspiel der gestrigen, hitzig verschwitzten Nacht längst verdrängt; aber der Satz spukt ihm noch im Geiste um, und so wiederholt er ihn angesichts seines Stammkellners, den er mittlerweile zum Freund wähnt – und der nach kurzem Nachdenken ein verständnisvolles Kopfnicken von sich gibt:

„Sì, sì, signore, allora che prende da bere?“

[„Aber natürlich, mein Herr, und was darf ich Ihnen zu trinken bringen?“]

 

DREI – Der Mut zum kurzgefassten Augenblick

Klein-Toni war es, der den begehrtesten Platz für sich hatte erhaschen können, der mit Ellbogen und Haareziehen sich gegenüber all den anderen Kindern auf dem Spielplatz hatte durchsetzen können und nun auf dem Schoß des Mannes sitzen durfte, den er zuvor noch nie gesehen hatte. Der vielleicht etwas streng roch und auch etwas zu viel schwitzte, in seinem abgeschabten Anzug und der schlecht gebunden Krawatte, aber eine Süßigkeit nach der anderen aus der Tasche zu ziehen wusste, und so manchen Luftballon. Und Geschichten zu erzählen wusste, spannender als all die Kindergartentanten, die wie üblich in einer langgezogenen Kaffee-, Zigaretten- und Tratschpause abhandengekommen waren – und in Bann gezogen hörte Klein-Toni dem fremden, märchenonkelhaften Mann weiter und weiter seiner Geschichte zu:

„Oder wie ein Blinder, der durchbohrende Blicke wirft. Oder wie ein Reiter im vollen Galopp ohne Pferd.“

– Alfred Polgar: „Exzentriks“

 

VIER – Die Hand gestreckt zum Sternengriff

Und schon leicht glasig die Augen des etwas aus der Zeit geworfenen kommunistischen Politfunktionärs, schmutzigglasig wie das Glas billigen Rotweins, das er als Salut an diesem Stammtisch einer speckigen Taverne in einem Arbeiterviertel Roms hebt, umringt von seinen letzten Getreuen, alle bereits in einem Alter, in dem sie Arbeitslosigkeit gegen eine schmale Rente getauscht haben, zu wenig zum Leben und erst recht zu wenig zum Sterben – aber sein glühendes Manifest hebt die Gemüter, lässt den alten Kampfgeist aufleuchten, wenigstens für ein Salute! lang:

„Se vogliamo che tutto rimanga com’è, bisogna che tutto cambi. Mi sono spiegato?“

– Tomasi di Lampedusa: „Il gattopardo“

[„Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, wird es notwendig sein, dass alles sich ändert. – habe ich mich klar ausgedrückt?“]

 

FÜNF – Das Elternhaus zur Autobahnauffahrt geglättet

Und viel Zeit gibt er sich für die Antwort, so viel Zeit, dass es fast schon skandalös wirkt, dieser unberechenbare Künstler, der immer für einen Skandal gut ist, wenn es ihn wieder einmal danach gelüstet, in einer dieser Talkshows aufzutreten, weil er das Geld gut gebrauchen kann. Und den Schweiß unter den Achseln vermeint man dem Talkmaster ansehen, abriechen zu können, den Ausdruck seiner Angst, dass seine wohlbedachte Frage in falsche Antwortbahnen gerät – aber heute hat der ansonsten unberechenbare Künstler einen seiner stillen Tage, wirkt in Nachdenklichkeit versunken, nahezu versöhnlich seine Worte, mit der er die ihm gestellte Frage nicht im Geringsten beantwortet:

„Es wäre ja auch undenkbar, dass aus dem kleinbürgerlichen Provinzloch Linz, das seit Keplers Zeiten ein tatsächlich zum Himmel schreiendes Provinzloch geblieben ist, das eine Oper hat, in der die Leute nicht singen können, ein Schauspiel, in dem die Leute nicht spielen können, Maler, die nicht malen, und Schriftsteller, die nicht schreiben können, auf einmal ein Genie hervorgegangen wäre, als welches doch Stifter allgemein bezeichnet wird.“

– Thomas Bernhard: „Alte Meister“

 

SECHS – Beipackzettel zur Schachtel Aspirin

Es war das letzte von Medeas Kindern, der Jüngste, der mit den besonders vollen Locken und den fein geschwungenen Lippen, dem sie den zuckersüß warmen Gifttrank verabreicht hatte, dessen Kopf sie nun an ihrer Brust wiegte und mit folgendem Nachtlied in seinen ewigen Schlaf sinken lassen sollte:

„La morte è la curva della strada, morire è solo non essere visti.“

– Antonio Tabucchi: „Isabel. Una mandala.“

[„Der Tod ist die Kurve in der Straße; zu sterben heißt nichts anderes, als nicht mehr gesehen zu werden.“]

Generalpause – zwei, drei Takte schweigt alles vor sich hin.

Der Flügelschlag einer auffliegenden Taubenhorde ist es, der wieder Töne in die Landschaft der Sinneswahrnehmungen bringt, auf dieser eintönigen Piazza, auf der ein paar abgeschabte Kaffeehaustische stehen – und an einem von diesen sitzen die beiden Idioten, zwischen denen sich folgender völlig sinnentleerte Gedankenaustausch zum obigen Satz entspinnt, während sie mit den Löffeln klirrend den Zucker in ihre Espressotassen einrühren:

„Non più?“
„Non più.“
„Davvero, no?“
„No.“
„Sei sicuro?“
„Stai zitto – deficiente!“

[‚Mehr nicht?‘ – ‚Nicht mehr.‘ – ‚Wirklich nicht?‘ – ‚Nein.‘ – ‚Bist du dir sicher?‘ – ‚Halt die Klappe, du Trottel!‘]

 

SIEBEN –  Als würde Paris mich interessieren

Und ich sah es ihr an, dass ich sie nicht mehr halten konnte, hier in meinem geliebten Wien, in dieser Stadt, die sie so zu hassen gelernt hatte, in der ihr so viel Abneigung widerfahren war. Ich sah es ihrem Augenglühen an, dass es sie in andere Breiten trieb, zurück nach Barcelona, zurück nach Marseille, oder selbst nach Havanna, alles Städte, in denen sie auch nicht vermocht hatte, jemals heimisch zu werden. Aber einen Stempel wollte ich ihr setzen, in ihrem Gedächtnis, für die Zeit, die wir miteinander verbracht hatten, hier, wo wir uns gegenseitig abgelitten und abgerieben hatten, bis uns die Wunden zum Lecken zu tief geschnitten geworden waren. Und so brachte ich diesen letzten Toast aus, mit dem Glas Champagner in der Hand, mit dem ich gegen ihres stieß, auf unser gegenseitiges Addio. Und dass sie mich verstanden hatte, konnte ich an ihrem gleichzeitigen Weinen der Versöhnlichkeit und dem Aufschluchzen ihres Lachens ausmalen, und an dem letzten feinen Kuss, den sie mir gab – dass sie ihn in all seiner Fülle verstanden hatte, meinen letzten feinen Satz:

„Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.“

– Robert Musil: „Der Mann ohne Eigenschaften“

 

Ausklang

Genug der Worte, Schluss mit den Worten, müde bin ich ihrer – wohl an der Zeit, sich die Zeit zu gönnen, sich dem Schweigen hinzugeben, beim Morgenspaziergang durch einen ausladenden Park …

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 17095

 

Konfrontation im Salzamt

1

Der Mann war unbemerkt in den Raum gekommen. Er hatte die Eingangstüre geräuschlos geöffnet und wieder geschlossen. Er stand eine Minute regungslos im Raum, dann wandte er sich um, kam an meinen Tisch und sagte: „Ist niemand hier?“
Damit meinte er, dass keine Kellnerin hinter der Bar stand und Dienst versah, und ihm dies offensichtlich missfiel.
„Das Mädchen schreibt gerade die Speisekarte“, gab ich zur Antwort.
Mein Freund Peter, der an meinem Tisch saß, musterte den Mann aufmerksamer, als er es für gewöhnlich bei fremden Menschen machte.
„Ich warte“, sagte der Mann, wandte sich zur Bar und steckte sich eine Zigarette an.

Peter sah mich fragend an. Sein Blick, das erkannte ich sofort, diente bloß einem Zweck. Ich schüttelte den Kopf und gab ihm damit zu verstehen, dass ich den Mann nicht kannte. Da ich in diesem Restaurant, das Salzamt heißt, Stammgast bin, war Peter davon ausgegangen, dass ich den Fremden kennen müsste.
Dieser stand an der Bar, sog den Rauch ein, presste ihn mit merklichem Genuss wieder aus seiner Lunge und sah sich im Raum um.
Er war um die fünfzig Jahre alt, etwa einen Meter achtzig groß und trug sein graues Haar akkurat kurz geschnitten. Seine Kleidung war von der Sorte, die man nicht in gewöhnlichen Geschäften kauft. Sie war maßgeschneidert, wie auch seine schwarzen Lederschuhe Maßanfertigungen waren. Trotz des offensichtlich hohen Preises seiner Ausstattung wirkte er keineswegs abgehoben, sondern leger. Er trug eine lockere Haltung zur Schau, die aus seinem Inneren kam und nicht aufgesetzt war, das merkte ich sofort.

„Guten Abend. Was kann ich für Sie tun?“ Die Kellnerin war mit der Speisekarte fertig und in den Raum zurückgekommen, in dem sie Dienst tat.
„Guten Abend, Fräulein“, sagte der Mann freundlich. „Ich möchte einen Tisch für Donnerstag reservieren. Wir werden fünf Personen sein. Zwanzig Uhr wäre ideal.“
Das Mädchen trug die Reservierung in den eigens dafür bereitliegenden Kalender ein.
„Vielen Dank. Bis Donnerstag“, sagte er und machte sich auf den Weg zur Türe. Bevor er sie öffnete, blickte er mich an und zwinkerte mir zu. „Wir sehen uns, Michael“, sagte er, dann verließ er das Salzamt.
Nachdem er gegangen war, sagte mein Freund Peter: „Ich dachte, du kennst ihn nicht.“
„Ich – kenne – ihn – auch – nicht“, sagte ich leise und langsam.

Es hatte etwas in den Augen dieses Mannes gelegen, als er mich das zweite Mal angesprochen hatte, das mich beunruhigte. War er beim ersten Mal freundlich gewesen und hatte ein gutmütiger, beinahe warmer Blick seine Augen erleuchtet, so hatte seine Stimme kurz darauf einen bösen, kalten Ton angenommen. Weit mehr noch als seine Stimme hatte mich der Ausdruck in seinen Augen irritiert, und sogar verängstigt.
In diesen Augen hatte etwas gelegen, das ich nie zuvor gesehen hatte. Es war ein beinahe animalischer Ausdruck, etwas Unmenschliches, das zum freundlichen Blick von vorhin nicht gepasst hatte.
Außerdem hatte dieser Mensch meinen Namen gekannt, obwohl ich nicht damit angesprochen worden war, weder von der Kellnerin noch von meinem Freund.

„Was ist los mit dir?“, fragte Peter. „Geht es dir nicht gut?“
Ich atmete tief ein und behielt die Luft zehn Sekunden in mir – das ist meine Art, mit Panikattacken fertigzuwerden. Es funktionierte, ich wurde innerlich wieder ruhig und steckte mir eine Zigarette an.
„Es ist alles in Ordnung, Peter“, gab ich zurück.
„Woher kennt der Mann deinen Namen?“, fragte er, doch ich ging nicht auf seine Frage ein.
„Sag, Peter, hast du seine Augen gesehen, als er sich an der Türe umgedreht und mich angesprochen hat?“
„Natürlich. Sie waren gleich freundlich wie zuvor, als er mit dem Mädchen gesprochen hat.“
„Hast du eine Veränderung in seiner Stimme bemerkt?“
„Nein, habe ich nicht“, sagte er. „Was war denn mit seiner Stimme?“
„Sie war verändert. Sie klang eiskalt.“
„Eiskalt?“, wiederholte Peter verwundert. „Sag, bist du betrunken?“
„Nein, bin ich nicht. Lassen wir das Thema.“

Der Abend nahm den gewohnten Lauf aller Abende im Salzamt. Ich unterhielt mich mit meinem Freund, wir tranken Bier und konnten die Kellnerin dazu überreden, an unserem Tisch Platz zu nehmen.
Peter, der, anders als ich, einer geregelten Arbeit nachging, verließ das Restaurant um Mitternacht, und ich blieb mit dem Mädchen am Tisch sitzen. Nachdem die beiden anderen Stammgäste, die jeden Abend an der Bar stehen, das Lokal verlassen hatten, fasste ich mir ein Herz und fragte die Kellnerin: „Martina, ich möchte nicht neugierig erscheinen, und ich weiß dass mich das nichts angeht, aber ich habe eine Frage.“
„Ja?“, sagte sie und sah mich erwartungsvoll an.
„Hat der Mann, der den Tisch für Donnerstag reserviert hat, seinen Namen genannt?“
„Nein, hat er nicht. Weißt du denn nicht, wie er heißt? Er schien dich jedenfalls zu kennen.“
„Ich kenne ihn aber nicht. Sag, ist dir etwas an seiner Stimme aufgefallen, als er gegangen ist?“
„Nein, gar nichts.“

Zur Sperrstunde verließen wir das Salzamt, und ich ging nach Hause. Dort lag ich noch eine halbe Stunde wach im Bett und zermarterte mir den Kopf, was es mit diesem Mann auf sich haben konnte.
Kurz bevor ich einschlief, beschloss ich, bis Donnerstag nicht mehr an ihn zu denken.

2

Am Donnerstag betrat ich das Salzamt um siebzehn Uhr und setzte mich an meinen Lieblingstisch. Ich schlug mein Schreibheft auf und begann an einer Kurzgeschichte weiterzuschreiben, die ich Tage zuvor begonnen hatte. Claudia hatte Dienst an der Bar, was mir sehr gelegen kam. Sollte sich nämlich Ähnliches zwischen dem Mann und mir ereignen wie vor zwei Tagen, hätte ich eine unvoreingenommene Person bei der Hand.
Ich schrieb bis Viertel vor acht, dann legte ich den Stift weg und wartete auf das Eintreffen des Mannes mit seiner Entourage. Pünktlich um acht betrat er in Begleitung von vier Frauen seines Alters das Restaurant. Er würdigte mich keines Blickes, ließ sich bloß zu einem knappen Gruß an Claudia herab und ging schnurstracks in den Gastraum.

Ich war ein wenig enttäuscht, doch auch erleichtert. Ich versuchte an der Kurzgeschichte weiterzuarbeiten, doch fiel mir nichts ein, das es wert gewesen wäre, niedergeschrieben zu werden. Innerlich fragte ich mich in einem fort, was ich denn erwartet hatte, welche Handlung dieses Mannes.
Gegen zweiundzwanzig Uhr verließ er das Lokal samt seinen Begleiterinnen. Als er an meinem Tisch vorbeikam, legte er wortlos und ohne mich anzusehen eine in der Mitte gefaltete Papierserviette auf diesen.
Ich nahm die Serviette und klappte sie auf. Mit schwarzer Tinte stand darauf geschrieben: ‘Wir sehen uns, Michael Timoschek. Morgen – Salzamt – 21.00 Uhr – alleine!’

Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Die Schrift hatte gleichzeitig etwas Feierliches und etwas Bedrohliches. Feierlich, denn Tinte auf einer Serviette wirkt edel, wie ich finde, und bedrohlich, weil die feinen Verästelungen in schwarzer Farbe, für die die Saugfähigkeit der Papierserviette verantwortlich war, mich an die Äste von dürren, abgestorbenen Büschen erinnerten, jenen auf Friedhöfen gleich, die auf verlassenen, ungepflegten Gräbern wachsen.
Claudia war nicht entgangen, dass der Mann mir eine Nachricht hatte zukommen lassen und dass ich diese gelesen hatte.
„Hat er dir seine Telefonnummer gegeben, Michael?“, fragte sie keck.

Ich faltete die Serviette zweimal und steckte sie in meine Hosentasche. Einen Augenblick lang war ich versucht, ihr die Wahrheit zu sagen, doch dann beschloss ich zu lügen. Ich fürchtete nämlich, die Kellnerin würde die Sache nicht verstehen und mich für endgültig übergeschnappt halten.
„Ja, Claudia, das hat er. Er hat mir auch seine E-Mail-Adresse aufgeschrieben.“
„Wer ist er?“, fragte sie. „Er scheint reich zu sein.“
„Er ist sogar sehr reich“, fabulierte ich. „Ihm gehört ein großer Verlag, und ich habe ihm einige Manuskripte geschickt.“
„Das ist gut, Michael. Wird er ein Buch von dir herausbringen?“
„Ich hoffe es, Claudia. Morgen treffen wir uns hier und werden wohl wichtige Details besprechen. Es erfordert nämlich viele Gespräche, bis so ein Projekt auf Schiene ist, musst du wissen“, sagte ich.
Ich gab mich erfahren im Literaturbetrieb, obwohl ich kaum Ahnung davon hatte und habe.
„Das freut mich ja so für dich!“, rief sie und gab mir einen Kuss auf die Wange. „Zur Feier des Tages geht dein nächstes Bier aufs Haus.“

Ich fühlte mich plötzlich mies. Ich hatte die herzensgute Claudia angelogen, weil ich zu feig war, die Wahrheit zu sagen – und als Lohn für meine Lügen sollte ich ein Freibier erhalten. Es schmeckte ausgezeichnet.
Nachdem ich das Glas ausgetrunken hatte, gesellte ich mich zu den beiden Stammgästen an der Bar und führte ungezwungen Konversation mit ihnen. Ich wollte mich von den Gedanken abbringen, die ständig durch meinen Kopf waberten – Gedanken an den nächsten Abend und an das, was der Mann von mir wollen mochte.

3

Am nächsten Tag konnte ich keine feste Nahrung zu mir nehmen, so aufgeregt war ich. Ich lief in meiner Wohnung umher, ich versuchte es mit einem Spaziergang am Donaukanal, doch nichts half. Ich überlegte, ob es Sinn machen würde, Peter anzurufen und ihn einzuweihen, doch entschied ich mich dagegen. Er hätte mir womöglich unterstellt, die Serviette selbst beschriftet zu haben. Fernsehen half ebenso wenig wie das Bügeln meiner Hemden, also verbrachte ich den Großteil des Tages im Bett und las.

Um zwanzig Uhr betrat ich das Salzamt und setzte mich an meinen Tisch. Brigitte hatte Bardienst. Sie war neu, und wir kannten uns noch nicht gut, also blieb sie an ihrem Platz hinter der Bar und setzte sich nicht zu mir. Dies war mir nur recht, denn ich war innerlich höchst angespannt und wollte meine Ruhe haben.
Um neun Uhr betrat der Mann das Lokal und setzte sich neben mich auf die Bank aus braunem Leder.
Ich schwieg, wollte ihn den Anfang machen lassen.
„Michael Timoschek“, sagte er.
„Und mit wem habe ich die Ehre?“, fragte ich.
„Mit dir selbst“, gab er zurück.

Ich blickte ihn verdutzt an, dann bedeutete ich der Kellnerin, an meinen Tisch zu kommen. Der Mann bestellte Bier. Ich machte ein paar Scherze, als Brigitte das Glas brachte, und sie lachte. Es ging mir nicht darum, das Mädchen zum Lachen zu bringen, ich wollte bloß Zeit gewinnen; Zeit, um mir eine Reaktion auf seinen Satz zu überlegen.
„Okay“, sagte ich und legte einen Tonfall in meine Stimme, als hätte ich es mit einem gefährlichen Irren zu tun, dem man mit Vorsicht begegnen sollte, um ihn nicht zu reizen.
„Schreiben, trinken, um Geld betteln. Das ist dein Leben“, stellte er fest.
„Nun“, mehr konnte ich nicht dazu sagen. Er hatte recht.
„Oberflächlichen Gören nachlaufen, faulenzen, dich in Träumereien verlieren. Auch das ist dein Leben“, fuhr er fort.
Ich schwieg.
„Wo führt das hin?“

Nun sah ich meine Chance gekommen, etwas über den mysteriösen Fremden in Erfahrung zu bringen.
„Ich vermute“, sagte ich, „dass es dahin führen wird, dass ich in etwa fünfzehn Jahren in einem Maßanzug und in Maßschuhen herumlaufen werde.“
Erst lachte er, dann trat wieder der unmenschliche Blick in seine Augen.
„Wer sind Sie?“, fragte ich. „Und woher zum Teufel wissen Sie, wer ich bin?“
„Ich bin Gustav Fischer. Und ich weiß, wer du bist. Ich weiß auch, was du bist.“
„Was bin ich denn?“
„Zur Zeit ein Poète maudit, das bist du.“
„Was sind denn Sie?“
„Ein Mensch, den du viele Jahre lang enttäuscht hast.“

Ich fühlte, wie sich eine gewisse Ungeduld in mir auszubreiten begann. Wenn ich Informationen erhalten möchte, schätze ich es nicht, auf diese warten zu müssen.
„Dann könnte ich auch ebenso gut Vater zu dir sagen“, fauchte ich. Die förmliche Anrede schien mir einfach nicht mehr angebracht. „Mein Alter ist auch von mir enttäuscht.“
„Ich bezweifle, dass er der Einzige in deiner Familie ist.“
Da wurde es mir zu bunt.
„Jetzt pass auf, du Anzugträger!“, sagte ich in aggressivem Ton. „Entweder du sagst mir sofort, wer du bist, oder zu sein glaubst, und was du von mir willst, oder ich zerre dich an deinen Ohren nach draußen!“
„Gemach, Herr Autor, gemach!“, murmelte Gustav Fischer. „Ich habe viele Jahre lang mein Talent vergeudet. Die Tatsache, dass ich heute Kleidung trage, die du dir selbst nach drei Jahren des Sparens nicht leisten könntest, sollte dir zu denken geben.“
„Ach. Und warum?“
„Weil ich eines Tages aufgehört habe, mein Talent zu vergeuden, und dann bin ich erfolgreich geworden.“
„Auf welchem Gebiet, wenn ich fragen darf?“

Es interessierte mich nicht wirklich, in welchem Bereich der Mann tätig war, doch wenn er sich schon dazu berufen fühlte, mir Vorhaltungen zu machen, sollte er wenigstens ein bisschen von sich preisgeben müssen.
„Wirtschaft, Bankvorstand“, sagte er knapp.
„Habe ich bei deiner Bank etwa auch Schulden?“, fragte ich. „Groß wundern würde es mich nicht.“
„Nein, Timoschek, hast du nicht.“
„Was willst du, Fischer?“
„Du bist der Teller, der einen Sprung hat“, begann er. „Der im Regal ganz hinten steht, weil er niemandes Augen mehr zugemutet werden kann, weil er eine Schande für die Familie ist, in deren Haus er steht. Bloß ab und zu holt man ihn hervor, um Speisereste auf ihm abzulegen.“
„Das kenne ich“, sagte ich gelangweilt. „Ich habe den Text gelesen.“
„Du bist der bis zur Krone im Morast versunkene Baum. Kennst du das auch?“
„Nein, aber sprich weiter“, murmelte ich und simulierte Gähnen. „Es klingt überaus interessant.“
„Du träumst von einem guten Auskommen, von Ruhm und Geld. Doch am öftesten träumst du von einer Person, die dich an der Hand aus deinem Morast herausführt.“

Ich schwieg. Gustav Fischers Worte hatten ins Schwarze getroffen.
„Und jedes Mal, wenn du die Hand ausstreckst nach einer solchen Person – was passiert dann?“
„Keine Ahnung“, sagte ich lakonisch. „Ich werde an der Hand herausgeführt?“
„Nein, Timoschek. Es passiert etwas anderes: Dein Traum zerplatzt.“
„Woher willst du wissen, dass es sich wirklich so verhält, Fischer?“
„Das sind doch deine Themen, an welchen du dich abarbeitest. Mit welchen du dein Talent vergeudest. Die dich dazu bringen, zu billigen Tricks und Rhetorik zu greifen.“
„Wie kommst du darauf?“, rief ich entrüstet.

Ich war keineswegs der Meinung, dass ich mein Talent vergeudete.
„Bist du dir eigentlich im Klaren darüber, dass in der Kunst alles erlaubt ist, Gustav Fischer?“, fragte ich zornig.
„Erlaubt ist alles, Timoschek. Aber es ist bei Weitem nicht alles Erlaubte auch gut!“
„Dann erzähl mal, womit du dein Talent vergeudet hast. Nachdem du heute angeblich Bankvorstand bist, kann es bei dir mit dem Talent ja nicht allzu weit hergewesen sein.“
„Das tut hier nichts zur Sache!“, knurrte er und sah mich aus seinen unmenschlichen Augen an, in welchen ich eine gute Portion Verachtung erkannte. „Es geht hier um dich!“
„Na schön!“ Ich gab auf. „Lies mir die Leviten! Sag mir, was du zu sagen hast, Fischer!“
„Du musst aufhören, dein Werk zu verpfuschen!“
„Ja, mit billigen Tricks und Rhetorik. Das hatten wir schon.“
„Warum machst du damit weiter?“
„Womit denn?“ Ich begann die Beherrschung zu verlieren.
„Mit den Tricks und dem Geschwafel!“
„Wo kommt so etwas denn vor?“, rief ich.
„Wo Schachtelsätze bei dir vorkommen? Überall!“

Ich dachte nach. Er hatte recht, doch konnte ich das nicht so einfach zugeben.
„Na und?“
„So etwas will niemand lesen! Und was soll der Schwachsinn mit den Türkentauben?“
Ich schwieg.
„Warum tauchen diese Vögel in so vielen deiner Werke auf? Wahrscheinlich weil du einem Rock nachläufst, der diese Viecher gern hat!“
Ich schwieg weiter.
„Und erst das, was du aus vorgegebenen Themen machst! Ein wenig Fantasie könnte nicht schaden! Nie versuchst du, das Unmögliche möglich zu machen! Die Vermutung, dass der Alkohol nicht ganz unschuldig daran ist, liegt weiß Gott nahe!“, herrschte er mich an.

Die Tatsache, dass ein Fremder mir Vorhaltungen bezüglich meiner Kunst machte, trieb mir die Zornesröte ins Gesicht. Dennoch war ich unfähig, etwas zu meiner Verteidigung vorzubringen.
„Denk darüber nach, Timoschek! Fantasie und kurze Sätze – mehr braucht es nicht, abgesehen von einer Änderung deiner Lebensführung, und zwar einer radikalen Änderung!“
Der Mann trieb mich zur Weißglut, doch hatte ich seinen Worten nichts entgegenzusetzen.

Ich trank den Rest meines Bieres in einem Zug, erhob mich und drückte der Kellnerin einen Geldschein von ausreichendem Wert in die Hand.
Dann ging ich zum Tisch zurück, sah dem Mann tief in die Augen und wandte mich um. Im Hinausgehen machte ich kehrt, um ihm eine letzte Frage zu stellen.
„Bevor ich gehe, habe ich noch eine Frage an dich“, sagte ich.
„Nur zu!“
„Wer bist du wirklich?“
„Dein Leser.“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei |Inventarnummer: 17059

 

 

Geschwurbelt

Die Sonne geht schon früh unter in diesen Tagen, ihr Licht hat auch nur wenig Kraft, gerade einmal genug, um den luftigen, in zartem Orange und Magenta gehaltenen Vorhang leuchten zu lassen.
Ein Leuchten, das die beiden alten Herren wieder anzieht, sie hier ihren Tee hier trinken lässt.
Es sind die Farben des Frühlings und des Sommers, die ihnen etwas Zuversicht in die Gesichter zaubern – auch wenn es bis zum Frühling noch drei Monate hin ist.

Vor drei Tagen haben sie sich hier kennengelernt, heute ist das etwa halbstündige Gespräch aber bereits Tradition. Dabei leben sie schon viele Jahre in dem Heim, ihre unterschiedlichen Gewohnheiten haben sie sich davor aber noch nie treffen lassen: Adam ist mehr der Morgenmensch, wartet jeden Tag minutenlang auf den Sonnenaufgang – es ist genau die Zeit, in der sich Bedam hinlegt; Adam speist mit den anderen im großen Saal – Bedam kennt den nicht, war da noch nie drin, hatte sich schon bei seiner Einweisung ausbedungen, das Essen in seinem Zimmer einzunehmen. Es ist stets kalt, Bedam speist jeweils zwölf Stunden nach Lieferung.

Die Jahreszeit hat es nun – als Schnittstelle – ermöglicht, dass sich die beiden jetzt eine halbe Stunde lang einander widmen.

– Im Mai war ich das letzte Mal daheim … Die Spatzen sind durch die Luft geschwirbelt … Ich bin an einem Bächlein gesessen, das vor sich hin geschwarbelt hat … –
– Das Bächlein hat geschwarbelt? … Du meinst wohl: Es hat geschwabbelt …? –
– Nein! Das Bächlein hat geschwarbelt … Ich finde, dieses Wort beschreibt es besser … –
– Na gut. –
– Also ich sitz da am Bach, plötzlich wird es dunkler. Die Wolken haben sich geschwärbelt. –
– Geschwärbelt? –
– Ja. –
– Dann ist diese Maschine gekommen und hat ein gleich nebenan gelegenes Wäldchen geschwerbelt –
– Geschwerbelt? –
– Ja. Na sicher: geschwerbelt. Dann haben sie die Bäume geschworbelt und die Stämme geschwurbelt. Damals habe ich geschwörbelt, nie mehr dahin zurückzukehren … Ja, ich habe es geschwürbelt … –

Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Sonne hinter den Bäumen auf dem nahen Hügel untergeht, ein leichter Hauch von Abendwind pludert die jetzt samtenen Farben des Vorhangs zu einem ergreifenden Schauspiel, dem beide ihre volle Aufmerksamkeit widmen.
Dann ist Bedam dran.

– Letzten Mai war ich in der buckligen Welt … Viele Ausflügler sind da herumgeschwimmelt. Das war mir aber egal, hab einfach weiter vor mich hin geschwammelt … –
– Geschwammelt? … Meinst du: Spazierengehen? … Oder: Wandern? –
– Nein, ich bin geschwammelt … Das trifft es meiner Meinung nach mehr. –
– OK. –
– Alles war gut, aber dann hat es plötzlich vor tausenden Menschen geschwemmelt –
– Geschwemmelt? –
– Ja! … Es waren wirklich sehr viele … naja, tausende waren es nicht, da hab ich ein bisschen geschwummelt –
– Geschwummelt? –
– Na sicher … es waren nur vielleicht zwanzig oder dreißig. Ein paar von ihnen sind in einem Teich geschwommelt, obwohl es sehr kalt war … Ein Pärchen hat keine dreißig Meter davon … hahaha …. miteinander geschwämmelt … Und ich bin mir sicher: Kaum wieder unten im Dorf haben sie dann in der Kirche geschwömmelt … –

Mit jeder Sekunde verliert der Vorhang an Farbe, das Orange wird zu einem Grau, das Magenta zu einem anderen, Adam und Bedam sehen die letzten Strahlen der Sonne hinter Bäumen auf einem nahen Hügel erlöschen: Adam gähnt, es wird Zeit für ihn schlafen zu gehen; Bedam streckt sich, überlegt sich, was es heute für ihn zu tun geben wird, auch wenn er weiß, dass es für ihn nichts mehr zu tun gibt.
Auf den Sonnenuntergang beim luftigen, in zartem Orange und Magenta gehaltenen Vorhang freuen sich aber schon jetzt beide.

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 17042