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Zahnfee reloaded

Man sieht mich auf dem Sozius einer Harley sitzen. Ich bin eine kleine Person von zierlicher Statur und das ist auch auf dem großformatigen Bild zu sehen. In meinem weißen Kittel, mit aufgestecktem Haar und ohne Helm sitze ich dort. Und wer genau hinsieht, der erkennt, ich habe meine Lupenbrille auf und ein sehr sanftes Lächeln im Gesicht. Meine Hände liegen entspannt auf den Schultern des schwarzgekleideten Fahrers. Dieser trägt einen dunklen Helm mit offenem Visier und lächelt dem Bildbetrachter mit strahlend weißen Zähnen extrabreit entgegen. Das alles ist fein und naturalistisch gemalt, genauer gesagt aufgesprüht. Ein Sonnenuntergang in kräftigen Lila-Orange-Tönen, die zu den Rändern pastellig auslaufen, bildet die Kulisse für diese surreale Szene.
Meine gesammelten Schätze hängen im Eingangs- und Wartebereich: Bilder zeitgenössischer Künstler, im Laufe von Jahrzehnten erworben, präsentiere ich hier gerne meinen Patienten. So entsteht mancher Kunstdiskurs und es trägt außerdem zur Entspannung bei. Aber manches wird auch missbilligt. Es sind exzentrische und unkonventionelle Werke darunter, die Anstoß erregen oder man behauptet, das auf ihnen Dargestellte sei schlicht abstrus.
Keines meiner Bilder wird jedoch neuerdings so kontrovers kommentiert wie ebenjenes eine, surreale, das seit etwa zwei Monaten an der Wand gleich links neben der Rezeption hängt. Das Gesprayte ist in Airbrush-Technik auf ein rechteckiges Stück Blech aufgebracht.
Ich werde auf dem Motorrad erkannt und oft darauf angesprochen.

Abwechselnd in zwei nebeneinanderliegenden Praxisräumen behandle ich meine Patienten. Bei dem einen erfolgt die Anamnese und meist folgt eine Anästhesie, die einwirken muss, bevor ich mit der Therapie beginnen kann. Währenddessen wechsle ich ins Nebenzimmer zum nächsten Patienten, der die Zahnsteinentfernung, durchgeführt von meiner Assistentin Bea, dann meist schon hinter sich hat.
An einem Vormittag im Frühsommer trat Bea mit hochrotem Gesicht und ziemlich aufgebracht zu mir in die Praxis: „Stellen Sie sich vor, der Typ da drinnen hat mich einfach weggeschubst, als ich mit dem Zahnsteinentfernen beginnen wollte. Das will er nicht und braucht er nicht, hat er gemeint.“
So vorgewarnt von meiner Assistentin, betrat ich den Behandlungsraum. Mein Herz begann beim Anblick des Mannes schneller zu klopfen: ein großgewachsener korpulenter, bärtiger, etwa 40-jähriger Mann in Motorradmontur, der mit hängenden Schultern, mit seinem Helm in Händen auf dem Behandlungsstuhl saß. Allerdings schräg und nicht in der zur Untersuchung vorgesehenen Position, sondern derart, als ob er unter allen Umständen unverzüglich wieder weggehen wollte. Er sah dabei einigermaßen kläglich aus, weil seine Beine wegen der ungewohnten Sitzhöhe unbeholfen umherbaumelten, das rührte mich.
Ich stellte mich ihm vor und es war mir dabei ein wenig bang. „Guten Tag, wir beide kennen uns noch nicht, am besten ich schaue mir Ihr Problem einmal in aller Ruhe an. Legen Sie doch Ihre Jacke dort auf dem Sessel ab, es ist warm hier. Zeigen Sie mir, wo es Ihnen wehtut?“

Er erhob sich und zog schwerfällig seine Lederjacke aus, wodurch die muskulösen, dicht tätowierten Arme sichtbar wurden. „Meine Zähne sind eigentlich immer in Ordnung“, brummte und quengelte der Mann unleidlich vor sich hin und legte sich schließlich doch auf den Stuhl. „Ich bin schmerzempfindlich“, das kam griesgrämig und kaum hörbar. Ich kritzelte mit rotem Farbstift ein A für Angstpatient auf seine Patientenkartei. Dann besah ich mir das bereitgelegte Röntgenbild; allerdings nur kurz, weil ich es vermeintlich für das eines anderen Patienten hielt und einen Irrtum meiner Sprechstundenhilfe vermutete.
„So, ich werde vorerst nur hineinschauen, bitte öffnen Sie den Mund weit.“
Das was sich mir offenbarte, waren zwei gesunde, tadellos gepflegte Zahnbögen. Ich war überrascht. Bis auf den einen schmerzenden Backenzahn links unten waren seine Zähne in einwandfreiem Zustand. „Das sieht ja fast perfekt aus!“, rief ich erfreut aus. „Lediglich hier in diesem einen Zwischenraum hat sich Karies gebildet. Wo waren Sie denn bisher in Behandlung?“
„Vor Ihnen gab’s nur die Zahnfee und das ist Jahrzehnte her“, gab er mit leicht angespanntem Grinsen von sich. Mir fielen seine dunklen Augen auf.
„Ich werde Ihnen eine Spritze geben, die tut schon ein bisschen weh, ein kurzes gemeines Pieksen, aber das ist auszuhalten. Danach werde ich bohren, da spüren Sie dann nur, wie der Bohrer die Karies rotierend abträgt, aber garantiert ohne Schmerz! Und natürlich ist da noch das unangenehme Bohrgeräusch, aber da gebe ich Ihnen einen Kopfhörer mit Musik. Mozart wird Sie entspannen. Danach bekommen Sie eine Kompositfüllung, das ist weißer Kunststoff und hinterher nicht zu sehen. Keine Angst, das Ganze ist nur kurz unangenehm und rasch vorüber.“
Als vertrauensbildende Maßnahme berühre ich meine Angstpatienten immer kurz an der Schulter. Das tat ich diesmal sogar etwas länger, denn ich sah, dass sich kleine Schweißtröpfchen auf seiner Stirn gebildet hatten und er seine tätowierten Hände fest ineinander verkrampft hielt.
Erwartungsgemäß ging alles gut und der verängstigte Biker brachte zum Abschied sogar ein (anästhesiebedingt schiefes) Lächeln als Dank zustande.

Zwei Wochen später stand eines Morgens vor der Praxistür ein in Packpapier gehülltes Paket als Geschenk, das ein Gemälde beinhaltete, begleitet von einem Visitenkärtchen mit einem schlichten „Danke“. Mein damaliger Patient betreibt ein Airbrush-Atelier für Motorräder und Helme und hatte sich netterweise mit dem Bild für meine fürsorgliche Behandlung revanchiert und damit einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Die Auswahl der Kunstwerke in meiner Praxis wechsle ich zwei Mal jährlich. Wenn ich umhänge, dann folgt meist eine kleine Vernissage unter Arztkolleginnen und –kollegen. Dem gut gelaunten und situierten Publikum blieb der auffällige Neuzugang nicht verborgen. Die großformatige, fotorealistische Hochglanzabbildung meiner Person fiel ins Auge und wurde entsprechend kommentiert: dekorativ, postironisch, theatralisch, explizite Popart, angenehm unpolitisch, herrlich naiv, unverkopft kitschig, ist nur eine Auswahl des Gesagten.
„Meinen“ Airbrush-Designer hatte ich auch eingeladen und inszenierte ihn als aufstrebenden Künstler. Er dankte es mit einem makellosen Siegerlächeln.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 15055

Das Bild

Ich warte darauf, dass das Bild mir von sich erzählt. Aber noch ist es nicht so weit. Noch schweigt es. Es ist weit gereist, von Wien in die Steiermark, immerhin. Ob es mitbekommen hat, dass es nicht mehr in der Mappe seines Schöpfers liegt? Dass es ein neues Zuhause hat? Wo ist sein neues Zuhause? In meiner linken Hand, während die rechte schreibt? Ich werde es auf rotes Papier legen und dann rahmen. In meinem Wohnzimmer wird es ein würdiges Plätzchen finden.

Kohle auf dickem, weißem Zeichenpapier. Ganz laienhaft ausgedrückt. Ich verstehe nicht viel von der bildenden Kunst, kann kein Motiv in ein Bild umwandeln. So werde ich das meine beschreiben. Format A4. Ein Clowngesicht im Profil. Schwarz-grau-weiß. Verwischte Kohle. Haare, Augenbraue, Nase, Mund, Ohr. Er hält etwas nahe dem Gesicht, vielleicht ist es eine kleine Trommel. Oder ein Korb. Das Bild ist signiert und gewidmet. Roter Filzstift: Für eine Seelenverwandte. Ich habe mir diese Widmung ausgesucht. Das Bild hat mich berührt und als ich eines von den vielen wählen durfte, fiel mir dies nicht schwer. Ich sah es und wusste, was der Künstler beim Malen empfunden hat.

Der Zirkus. Sammelsurium von Menschen, die ihr täglich Brot dort verdienen, wo mit offenem Mund und voller Ehrfurcht gestaunt wird. Wo Erwachsene sich ihrer Kindheit erinnern und eine leise Ahnung von ihr finden. Einen Hauch kindlicher Seligkeit. Strahlende Augen folgen jeder Bewegung des Künstlers. Des tollpatschigen Clowns. Des waghalsigen Artisten. Beherrschung des Körpers und des Geistes. Perfekte Arbeit. Hartes Training. Kein Raum für Zirkusromantik. Draußen in der Manege urteilt das Publikum. Über Gedeih oder Verderb. Über Rampenlicht oder Verschwinden in der Versenkung. Und ständig soll die Nummer ein Magnet sein. Noch waghalsiger, mutiger, selbstloser. Und Monaco heißt der Traum, der einem wie eine Seifenblase auf der Nase herumtanzt. Einen mitunter ordentlich belästigt. Trommelt und pfeift und grinst. Weite Welt. Fremde Länder. Fremde Städte. Doch wie ungebunden ist das Herz? Und wo hat es seine Heimat? Und wo hat es sein Zuhause? Was alles muss sie ersetzen, die Manege? Wem wird etwas vorgegaukelt? Denn im Zirkus, da werden Illusionen verkauft. Hat die Welt in Ordnung zu sein. Flitter und Sternenlicht. Echte Menschen in glitzernden Kostümen. Wie heimelig ist ein Zirkuswagen?

Würde. Wir alle ringen um unsere Würde. Der Clown im Zirkusrund. Und die, die sich von ihm unterhalten lassen. Sie lachen über die komische Gestalt, die immer wieder auf die Nase fällt. Die immer wieder über die eigenen Füße stolpert. Die sich selbst im Wege ist. Die Darbietung ist ein Gaudium für Klein und Groß. Das Publikum applaudiert und hat Gefallen am Zerrbild seiner selbst. Für Geld bekommt es einen Spiegel vorgehalten. Und manch einer ist so weise, sich selbst darin zu erkennen. Einzugestehen, dass das Leben selbst ein mehr oder weniger liebenswürdiges Chaos ist, das der Weisheit eines Clowns bedarf. Einzusehen, dass die Fröhlichkeit vor einem Abgrund tanzt, musiziert, ihre Späße treibt. Dieser Abgrund nennt sich Schicksal. Versagen. Abschied. Dort, wo gelacht wird, wartet auch die Erfüllung allen Seins. Und diese Tragik ist die Triebfeder jener Menschen, die für Applaus und Lachen den Hanswurst mimen. Lebenserfahrung, so heißt ihr Spiel. Ein ewig altes, ein ewig neues Spiel.

Das Bild erzählt. Von der unumkehrbaren, festgeschriebenen Wahrheit, die ein gefälliges Gesicht zeigt – wenn es ihr beliebt. Manchmal schminkt sie sich und verbirgt das Antlitz hinter einem gnädigen Grinsen. Manchmal geruht sie zu spielen. Doch dass sie auch anders agieren kann – wer wüsste das nicht? Eine Frage drängt sich mir auf: Ist das Schicksal per se bösartig? Und was bleibt, wenn der Wind darüber gegangen ist?

Schwarz-grau. Meines Clowns Seelenfarben. Des Künstlers Wirklichkeit. Wie düster kann ein Lachen sein! Wie tragisch eine Gestalt! Tiefste Verzweiflung. Und vielleicht ein wenig Fassungslosigkeit darüber, dass das Leben genau so ist, wie es ist. Widerstand. Ein Sich-Aufbäumen gegen die Hand, die allzu hart den Zügel führt. Und doch ist ein Clown ein duales Wesen. Kennt alle Facetten menschlichen Leides. Kennt die unerschütterliche Hoffnung. Kennt die Unbekümmertheit, die ihn aus Kinderaugen freundlich anlacht. Was mag mein Clown wohl denken? Was mag er wohl fühlen? Das wird immer sein Geheimnis bleiben. Sein Gesicht ist eingefangen in einem Moment, der zur Ewigkeit geworden ist. Für ihn zur Ewigkeit. Für mich zur Ewigkeit. In dir erkenne ich meine Welt. Erkenne aber auch den tiefen Frieden, den die Akzeptanz großzügig verschenkt. Wundersame Begegnung. Wundersame Berührung, für die ich dankbar bin.

Luise Fötsch

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 15049

Allein mit Meret Oppenheim

Man fährt ja immer wieder nach Passau. Der Gründe sind genug. Zu nennen wären die Brauereien. Linz, eine Stadt mit vier Mal mehr Einwohnern, hat längst keine einzige mehr. Selig die Zeiten, da der Onkel meines Vaters, der mir nur einmal als sich den Bauch kratzender Teddybär im Pyjama begegnete, sein Bierkontingent, das ihm als Bediensteter der Linzer Brauerei zustand, gar nicht vertrinken konnte. In Passau finden sich heute noch zwei Brauereien – von ehemaligen vier, die mir seit jeher geläufig waren. Man kann aber auch nach Passau fahren, um, sagen wir, im Stadtgebiet zu flanieren. Auf einer Fläche von 70 Quadratkilometern – gerade einmal 25 Quadratkilometer weniger als es das Stadtgebiet von Linz bietet – finden sich genügend Möglichkeiten, sich die Beine zu vertreten und nach solcher die Gesundheit fördernder Betätigung in einem der Wirtshäuser herumzuhängen.

Man kann es freilich auch weniger profan angehen. Und den neuen Passauer Bischof Oster besuchen, der sich seit mehr als einem Jahr in Amt und Würden befindet und dem US-amerikanischen Schauspieler Scott Bakula aufs Haar gleicht, sodass man meinen könnte, er wäre es und gibt jetzt in einer bayerischen Reality-Soap den leutseligen Pontifex. Ebenso empfiehlt sich ein Gang in die Staatliche Bibliothek in der Michaeligasse, schon des klassischen Lesesaals wegen. Man kann sich sperrige Folianten zur Landesgeschichte ausheben lassen und das zuvorkommende Personal mit Fragen zur Vervielfältigung von Textstellen aus Zimelien triezen.

Von Ausflugsschiffen am Donaukai angelandete Touristen suchen bevorzugt die Ortspitze auf oder lassen sich unter dem Generalkommando von enzyklopädisch bewanderten Touren-Guides durch den Bratfischwinkel schleusen. Denen schließt man sich natürlich nicht an, man ist ja kein Touri.

Man könnte die als Erdsubstruktionen ins Gelände eingeprägten fortifikatorischen Hinterlassenschaften der Franzosenzeit, Ravelins, Redouten und Tenaillen abmarschieren, unmittelbar an der Stadt-, Landes- und Staatsgrenze jene Beerenbüsche besuchen, die im Garten eines Hauses auf österreichischem Territorium von ihrer Besitzerin jeweils nur im Freistaat geerntet werden. Mit Speläologenkollegen nach behördlicher Genehmigung in den Stollen an der Mühltalstraße einfahren oder im kreisrunden Ziegelteich in Rittsteig ein Maar wie in der Vulkaneifel vermuten. Man könnte im Stadtteil Haidenhof das allmähliche Zerbröseln der Backsteinkirche St. Peter bedauern, als Architektur-Aficionado, als der man sich versteht, oder am Spitzberg die ominöse Glasscherbenvilla des Exzentrikers Aristide Ostuzzi bestaunen.

Zu Mittag bin ich im „Goldenen Schiff“ am Unteren Sand und wähle eines der beiden Tagesmenüs. Schnuppere beim Weißbier ein wenig in Kurt Flasch‘ „Warum ich kein Christ bin“ hinein, blättere das Buch „10 Milliarden“ von Stephen Emmott durch, dessen Schlusssatz mir ziemlich reinfährt, und begutachte meinen dritten Erwerb, ein Stadtportrait von „Pilsen/Plzeň“ von Tobias Weger. Danach nehme ich in der Innstadt einen doppelten Espresso im Café des ehemaligen Stadtratskandidaten Stephan Bauer, tingle über Beiderwies vorm Severinstor über den Innsteg an den Universitätscampus und vergrabe mich für die Dauer einer Zeitschriftendurchsicht in der Bibliothek.

Das alles als Vorgeplänkel zur Hauptsache, der Meret Oppenheim-Ausstellung „Gedankenspiegel“ im Museum Moderner Kunst der Stiftung Wörlen. Picasso soll ja gesagt haben „Im Grunde gibt es nur Matisse“, um auf einen großen Solitär der Kunstgeschichte zu verweisen, den er natürlich selbst genauso verkörperte. Ein weiblicher Solitär ist meines Erachtens Meret Oppenheim. Was freilich ebenso auf Louise Bourgeois, Judy Chicago oder Kusama Yayoi zutrifft.

Vom Campus spaziere ich in die Bräugasse, schätze mich glücklich, wie ein Protagonist in einem von Binnie Kirshenbaums Romanen, von Radfahrern dabei nicht über den Haufen gefahren zu werden. An der Museumskassa bringe ich das Aufsichtspersonal mit der erklärten Absicht zum Schmunzeln, ich fände mich ein, um Frau Oppenheim zu besuchen. Damit wäre ich in Basel wohl besser aufgehoben, wird mir lachend versichert.

Geschenkt: An einem Freitagnachmittag lässt sich beschwingt komisch sein.

Um das Entree der Ausstellung zu erreichen, stapfe ich eine verwegen steile Treppe vom ersten in den zweiten Stock hinauf. Die Steilheit ist in dem alten, mit Bedacht renovierten Gebäude einer durch den inwärtigen Lichthof bedingten Raumnot geschuldet. Keine Baubehörde der Welt würde heutzutage eine solche Genickbruchstelle abnehmen. Na ja, in Islamabad vielleicht, nach Überreichung von reichlich Bakschisch an schlaksige Bartträger.

Den Lichthof ziert ein fünffeldriger Deckenspiegel, eine Art stationärer Prozessionshimmel. Das Haus bezeugt an allen Ecken und Enden, was man aus ursprünglich vier Häusern über identem Baugrund innert achthundert Jahren machen kann, wenn man die Offenlegungen der historischen Bauforschung einbezieht. In Linz hätte man mit der Abrissbirne saniert.

In den Ausstellungsräumen bin ich mit den Artefakten der Künstlerin allein. Eine unerwartete Wohltat, Kunst ohne lästige andere betrachten zu können. René Magritte in Wien, eine Horde ADS-Schüler und keine Eintrittsrückerstattung – das ist institutionelle Brutalität! Tamara de Lempicka und gelangweilte Gymnasiasten, zum Aufgabenbewältigen im Rahmen des Kunstunterrichts verdonnert – die Hölle ist ein Paradies mit blödelnden Quälgeistern.

Die Hängung der Objekte hält sich an die Chronologie ihrer Entstehung, was einen Lebensverlauf nachzeichnet, der mit seinen Unterbrüchen an Schaffenskraft auch anders gedeutet werden könnte denn als Stetigkeit absichtsloser Vollzüge. Einer der Ikonen des Surrealismus, der ominösen Pelztasse, zu begegnen erwarte ich freilich nicht. Befindet sich das Objekt doch im Museum of Modern Art in New York und wurde nie als Multiple vervielfältigt. Malewitsch‘ „Schwarzes Quadrat“ hat meines Wissens die Moskauer Tretjakow-Galerie auch nie mehr verlassen.

Meret Oppenheim hat ihrem beschwingten Objekt von 1936 vierunddreißig Jahre später eine pfiffige Devotionalie gewidmet: das „Andenken an das Pelzfrühstück“. Es erinnert in seiner Machart an ein Kitschsouvenir aus den Alpen, das meist die Ansicht eines berühmten Kuhdorfs mit getrockneten Edelweißblüten vor schneespitziger Gebirgslandschaft hinter konvexem Glas feilbietet. Beim „Andenken“ ist es ein besticktes Deckchen, das Löffel, Tasse und Stoffblüten zeigt. Die dort angebrachte Beschreibung unterschlägt allerdings den nicht unwesentlichen Hinweis, dass das Objekt einst in einer Anzahl von 120 Exemplaren aufgelegt wurde.

Die gleiche Unterlassung fällt am Objekt „Eichhörnchen“ auf. Selbiges wurde 1969 für die Galerie La Medusa in Rom in 100 Exemplaren angefertigt. Das Tierchen ist ein Bierglas mit künstlicher Schaumkrone und einem Fellschweif anstelle eines Henkels.

Dem Oppenheim-Humor begegne ich auch im „Tisch mit Krähenfüßen“, der kleinen Bronze, die aus einer Zeichnung von Giacomettis Ohr entwickelt worden ist oder im aufgeschlagenen „Schulheft“, das ursprünglich aus 1930 datiert und 1973 in Serie ging. Die „Termitenkönigin“ steht in der Tradition des Objet trouvé: Ein bemalter Auspufftopf wandelt sich zu neuer, durchaus doppelbödiger Bestimmung. Köstlich die Zeichnung „Eine entfernte Verwandte“, Bleistift und Rotstift auf Papier. Die „entfernte Verwandte“ steht hier nicht zwingend für die nähere Erläuterung einer Familienkonstellation, sondern kann auch als Resultat einer drastischen Maßnahme interpretiert werden.

Dieses vermeintlich unscheinbare, auf einem schmalen Podest drapierte Objekt ist mir neu, es erfreut mich besonders und entschädigt für die abwesende Skulptur „Genoveva“: „Wort, in giftige Buchstaben eingepackt (wird durchsichtig)“ aus 1970. Es besteht aus einer über einer nicht vorhandenen Schachtel zusammengezogenen Schnur und einem davor fixierten, gravierten Messingschild. Eine Skulptur, die eine Bedeutung behauptet, die sich ab jener Hälfte bestätigt findet, ab der man bereit ist, die vorgebliche Unernsthaftigkeit ernst zu nehmen. Das Kunstwerk evoziert eine bestimmte Betrachtungsweise, die, indem man ihr in Treu und Glauben folgt, gerade jene Hintergedanken austreibt, mit denen man es betrachtet – nämlich ihm durch Überprüfung der angeführten Beschreibung beikommen zu wollen.

Unaufwändig verpacktes Nichts, das die Ironisierung der ins Monumentale entrückten, prätentiösen Verhüllung vorwegnimmt, wie sie später von einem prominenten Verpackungskünstlerehepaar forciert werden wird.

Die Serigraphie „Mann im Nebel“ aus 1975 zeigt eine hinter Schwadenstreifen verzerrt in ausholender Bewegung konturierte Figur. An dieser und anderen Arbeiten paradiere ich vorüber in Vergegenwärtigung eines Satzes von Anselm Glück: „Die Bilder sehen die Menschen an“. Das unterschätzt man, dass das Anschauen eines Gegenstandes sich im Gegenstand selbst spiegelt, wir auch unser Anschauen betrachten, wenn wir schauen. Dass Spiegel zurückschauen könnten, ist ja ein altes Sujet menschlicher Vorstellungskraft und mit eine Erklärung, warum in manchen Kulturen reflektierende Oberflächen tabuisiert sind. Aber dass uns auch Bilder ertappen, fällt uns schon seltener auf.

Ein Bildkunstwerk nimmt sein Betrachtet-Werden immer schon vorweg. Insofern als es ein Maler darauf anlegt, dass es geschaut wird. Ein Bild, das zu keinem Zeitpunkt je gesehen würde, bräuchte nicht und könnte allenfalls nur von einem Blinden gemalt werden. Das einzige existierende geschaffene Bild der Kunstgeschichte, das in seiner Ausführung tatsächlich nicht betrachtet werden kann, ist meines Wissens eine von Robert Rauschenberg ausradierte Zeichnung Willem de Koonings, das „Erased de Kooning Drawing“ aus 1953, das im San Francisco Museum of Modern Art hängt: ein von einem Blattgoldrahmen umfangenes, im Passepartout-Karton gefasstes Blatt Papier, darauf sich allenfalls Spuren von Tinte und Kreide ausnehmen lassen. Wahrscheinlich eines der am wenigsten beachteten „Leitbilder“ der Moderne, das die Bildverweigerung inkarniert. Man kann die Rauschenberg-de Kooning-Arbeit eben nicht wie ein Bild betrachten, einen Inhalt auf sich wirken lassen, sondern hat im Bild lediglich das Ergebnis seiner Entfernung.

So müsste man, überlege ich, einmal einen Saal im Louvre gestalten, sagen wir im Sully-Flügel, wo Exponate von Ingres und Georges de la Tour zu finden sind: mit abgehangenen Bildern und nichts als den aus der Umgebung hell hervortretenden Flecken der Fehlstellen an den Wänden.

Klar, die Besucher würden ihr Eintrittsgeld zurückfordern und verlangen, den Kurator zu feuern.

Ein Raum der Oppenheim-Ausstellung ist Arbeiten von Künstlern vorbehalten, die als Hommage an die Künstlerin entstanden sind. Daniel Spoerri ließ immer wieder Brotteig aus Schuhen quellen. Das ist: Epigonentum, von wurmstichigem Backwerk überwölbt.

Ich kehre zu den Schwarzweiß-Photographien des Amerikaners Man Ray zurück. Sie zeigen die Künstlerin Meret Oppenheim – eine Person, die sich nie in ihrem Leben aufgebrezelt hat.

Erst als ich meinen Rundgang beende, findet sich eine weitere Besucherin ein. Das liegt wohl am Freitagnachmittag und daran, dass Passau eben eine Bierstadt ist.

Für mich ein Grund, im Zuge eines Spaziergangs über den Ludwigsteig und durch den Stadtteil Anger in Hacklberg einzukehren. Der Gastgarten vorm Bräu erstrahlt in wärmendem Sonnenlicht. Ich beobachte das Befüllen eines Heißluftballons mit dem charakteristischen Kronenemblem, der sich beim Lustschloss, dem sogenannten Fürstenbau hinter den hochragenden Ruinen der ehemaligen Brauerei allmählich zu seiner vollen Größe aufbläht. Vier, fünf unerschrockene Jugendliche klettern zum Steuermann in den brusthohen Korb. Dann steigt der Ballon mit einer Geschwindigkeit in die Luft, wie es den hochsausenden Fahrkabinen der Expressaufzüge in den Petronas-Türmen Kuala Lumpurs angemessen wäre. Mir hebt es schon beim Zusehen den Magen aus. Im Nu ist das Luftschiff am Himmel nur noch münzengroß zu sehen. So hoch oben und doch noch nicht über den Wolken, erschiene mir die wahre Freiheit vermutlich als jene, am Boden geblieben zu sein.

Bernhard Hatmanstorfer

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 15046