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Autobahn

Zurück zu dir,
jeder Kilometer bringt
mich zur alten Liebe

Eine Fahrt mit tippenden Geräuschen,
Braune kleine Augen,
blicken aus der Tasche,
er hat ein schöneres Fell als ich
Plappernde Gespräche beschallen
den fahrenden Raum,
Das gut riechende Mädchen
ist in der LED-Beleuchtung schön,
Ein Schläfer
zieht seine Haube vor die Augen,
Blind für alle,
Gesprengtes Grün,
mit Klängen und Gerede

Näher komme ich zu dir,
la la la

Neben der Lüftung
sehen orange Wimpern herab,
Word- Dokumente,
ein Fenster mit voll beschlagenen Dateien,
Scheinwerfer werden zu Giganten
in der Plastikflasche,
Seite für Seite fliegen Finger
über das Papier

Der Walter einst blau,
schaut jetzt mit weißen Lettern
auf die Fahrzeuge

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 17100

Wenn die Moka singt

Mag man irgendwo in Italien in einem noch so unterpreisigen, lausigen Bed & Breakfast abgestiegen sein, am Rande einer Vorstadt nahe der Tangente, wo einem der hitzeüberladene Augustwind unaufhörlich den Straßenlärm durch die Ritzen der herabgelassenen Rollläden spült, und beim Rundgang durch die speckige Küche ein Brotmesser vorfinden, das nicht einmal die Butter zu schneiden imstande ist, die man auf besagtes Brot zu streichen beabsichtigt; oder einen Korkenzieher, der angesichts der Flasche Wein, die man beim Greißler unten ums Eck auf seinen wahren Wert heruntergehandelt hat, in seine Bestandteile zerfällt –

Sie aber fehlt nie, die Moka, oder Espressokanne, wie man sie hierzulande etwas sperrig zu nennen pflegt; prominent, nahezu stolz behauptet sie ihren Platz, meist in der linken oberen Ecke einer etwas windschief geratenen Kredenz. Und sei es nur als kleinste Schwester der gesamten Serie, das minimalistische Modell, das gerade einmal zwei Fingerhut Espresso zuzubereiten erlaubt, abgeschabt und angeschwärzt, des Aluminiumglanzes längst verlustig gegangen, braun im Schlund von tausend und einem durchgelassenen Kaffee – aber da steht sie, in einladender Handgriffnähe, bereit zu einem weiteren Einsatz, in all ihrer Unbeirrbarkeit und Unzerstörbarkeit.

Denn genügsam ist sie, verlangt nicht nach Strom, nicht nach Batterien oder Induktion, altmodisch erfüllt sie ihren Dienst auch in freier Wildbahn, selbst im Dunkeln. Nur nach etwas Wasser gelüstet ihr, und selbstverständlich nach frisch gemahlenem Kaffee, und schließlich nach etwas, das ihr eine gehörige Hitze unter dem Hintern bereitet. Und keine sechs, sieben Minuten später beginnt sie ihr Lied zu singen – nicht das nervtötend sirenenhafte Geheul eines ungezogenen Teekessels; ihr entspringen die Töne aus den Tiefen ihrer Eingeweide, gleich dem Jazz-Bass einer Tuba, rotzig im Fauchen und Blubbern.

Dann aber verlangt sie nach ungeteilter Aufmerksamkeit, ungeduldig von der Feuerstelle will sie genommen werden, mit beleidigter Bitterkeit ihres Inhalts droht sie uns ansonsten. Andererseits, gewähren wir ihr diese Gunst, umso dankbarer verströmt sie im Vorab das verführerische Aroma dessen, was wir alsbald zu uns nehmen werden, diese Schale braunen Goldes, mit der wir es uns wieder einmal erlauben, dem Herrgott einige wertvolle Momente seiner unendlichen Zeit stehlen …

Und mögen wir auch in dem unbewussten Glauben verhaftet sein, dass die Moka bereits seit ewigen Zeiten unsere Feuerstellen geziert hat, sie sich schon bei den alten Etruskern als Grabbeigabe allgemeiner Beliebtheit erfreut hat, soll hier nachgetragen werden: Ein Kind des letzten Jahrhunderts ist sie, um genau zu sein, aus dem Jahre 1933 (ein Jahr, das auch in anderer Hinsicht schicksalhaft für die Menschheit sein sollte). Wie auch immer, ans Licht der Welt brachte sie ein gewisser Alfonso Bialetti aus dem Piemont, Inhaber einer Fabrik für Aluminiumteile. Und ihren wahren Siegeszug trat die Moka nach dem Krieg an, als der Sohn Renato Bialetti die Firma übernahm und mit einer geschickten Werbekampagne für ihre Verbreitung sorgte.

Und dass ihm dieses Unterfangen gelang, zeigt eine Umfrage dieser Tage, wonach in 98% der italienischen Haushalte (zumindest!) eine Moka steht – das ist mehr als die Italiener einen Fernseher besitzen oder den legendären Fiat 500. Und selbst die neueste, ebenso der Vergänglichkeit verschriebene Mode, Kaffee so aufzukochen, wie das Grinsen eines George Clooney es einem vorgaukelt (ein Grinsen, das wohl mehr über die Höhe seiner Werbegage aussagt), wird kaum etwas an dieser beeindruckenden Prozentzahl ändern – die mehr als achtzig Jahre Überlebensdauer dieser unverwüstlichen achteckigen Kanne dienen als Beweis:

Es gibt keine beeindruckendere billigere Methode, einen so beeindruckend guten Kaffee zuzubereiten als mit der Moka …

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 17094

 

Im Schatten des Minaretts

Nur Reisen ist Leben,
wie umgekehrt das Leben Reisen ist.
Jean Paul

 Wer sich vor dem Tod fürchtet, geht nicht auf Reisen.
J.W. Goethe, Der west-östliche Diwan

 I‘m not going to die before my time.
Lisl Steiner, Fotografin, mit 88

Seit der Jugend-Lektüre von Sven Hedins „Zu Land nach Indien“ ließ mich die Seidenstraße nicht mehr los.
Ich begann schon früh zu träumen und lernte die Namen der Orte auswendig, als könnte ich sie damit in die Landkarte einnageln, ich schlug in Lexika nach und sah mir später jede Dokumentation an. Die Musik der Seidenstraße war bei uns noch nicht bekannt. Stattdessen sagte ich mir wie eine Litanei die Namen der Wunderorte auf. Ich schob sie an meinem Gaumen herum, schliff sie glatt wie der lispelnde Demosthenes die Kiesel am Strand gegen die rauschende Brandung, ordnete sie neu und umkreiste sie meditationsartig wie Stupas im tibetanischen Totengebet. Das ägyptische Totenbuch kannte ich noch nicht. Meine Wort-Reisen gingen nach Buchara, Samarkand, Taschkent, Chiwa, Fergana, Aschchabad, Astrachan, Karaganda, Dschambul, Duschanbe, Machatschkala, Urgentsch, Osch, Alma-Ata, in die Wüsten der Kara Kum, Karakul, Ust-Urt, Kysyl Kum, Hungersteppe, zu den Flüssen und Seen Amu Darja, Syr Darja, Issyk Kul, Aral-See und zu den Gebirgen von Pamir, Tienschan und Hindukusch. Von einer wirklichen Reise durch den sowjetischen Orient, wie die früher Turkestan genannten späteren SS-Republiken Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kirgistan und Kasachstan, wagte niemand in dieser Zeit zu träumen.

Aus mir wurde kein Cook, kein Humboldt und kein Darwin. Eindeutig herrschte bei mir das literarische Gen vor. Meine Jugendliebe hat sich auf die russische Sprache geschlagen und ist dort geblieben. Aber im Mai 1971 war es so weit. Seit Jahresanfang studierte ich mit einem Stipendium an der Lomonossov-Universität in Moskau und stellte sofort nach meiner Ankunft im OVIR– der Reisestelle für westliche Ausländer, die Imperialisten, eine KGB-Abteilung – einen Antrag auf eine Reise durch die zentralasiatischen Republiken.

Meinen zwei Kolleginnen, Lisa und Schanna, und mir wurde nach vier Monaten des ständigen Drängens der Besuch der Städte Taschkent, Buchara und Samarkand genehmigt mit Ausflügen nach Chiwa-Urgentsch und Fergana-Osch. Das war zwar nur ein kleiner Teil meiner Wunschorte, aber mehr war nicht realistisch. Mir war bewusst, dass diese Route für eine Individual-Reise schon an ein Wunder grenzte. Es gab in Zentralasien sehr viele gesperrte militärische Geheimorte. Immerhin drei Wochen Studienbefreiung, drei Wochen auf der Seidenstraße.
Die Militär-Parade zum 1. Mai erlebte ich noch in Moskau und ergatterte einen ziemlich guten Ort mit Aussicht auf den Roten Platz, gestört weniger durch die gefährlich drängenden Menschenmassen als durch einen blitzschnell aufgezogenen Schneesturm. Durch einen ungewöhnlich milden April verführt, war ich für diesen Wintereinbruch zu leicht angezogen.

Auf dem Flug von Moskau nach Taschkent spürte ich erstmals ein Halskratzen und Ohrensausen, wofür ich die spartanisch ausgestattete Tupolew verantwortlich machte und was ich mit vielen Gläsern Tee zu bekämpfen versuchte. Das hauptsächliche Ablenkungsmittel war aber die Aufgeregtheit über meine erste große Reise innerhalb der Sowjetunion. Vorher hatte ich schon Leningrad besucht und die Städte des Goldenen Rings rund um Moskau. Alles war neu und spannend: von der ausgesuchten Hässlichkeit und Ruppigkeit der Stewardessen, die auf Fragen grundsätzlich nicht antworteten oder nur knurrten, die Tabletts über die Sitzreihen warfen oder sie auf die Tischchen knallten, als wären sie beim Nationalzirkus zur Schule gegangen, den ausgemergelten Sitzen, die sich entweder nicht nach hinten verlagern oder nicht mehr aufrichten ließen, von den 3500 Kilometern unter mir, bis zu meinen Versuchen, ob ich die Windungen der Wolga und das erdölerleuchtete Baku erkennen könnte, den Elbrus, das Kaspische Meer, den Ebrus und den Ural, die Wüsten Kasachstans und die Bergketten des Pamir und Tienschan.
Nach sechs Stunden und vier Zeitzonen sollten wir in Taschkent landen. Taten wir aber nicht, sondern kreisten mehr als eine Stunde über der Stadt. Anfangs meinten wir noch, dies sei ein Spezialservice, um uns einen Überblick zu verschaffen. Erklärungen des Personals gab es nicht, ebenso wenig wie auf Antworten zu hoffen war. Erst später erfuhren wir von dem Brauch, dass sowjetische Piloten dazu angehalten waren, vor der Landung ihren gesamten Sprit zu verbrauchen.

Als wir um fünf Uhr dreißig endlich aus dem Flugzeug entlassen wurden, schlug uns warme Luft entgegen, hier herrschte schon der Frühsommer, Rosen blühten, die Bäume standen in üppigstem Grün, die Frauen trugen bunte, kurzärmelige Kleider und nach hinten geknüpfte Kopftücher aus Kunstseide – im Zentrum der Seidenspinnerei eine der vielen sowjetischen Absurditäten. Wir dagegen schmachteten in unseren Moskauer Wintersachen. Den Schüttelfrost, der mich beim Verlassen des Flugzeugs erfasste, führte ich auf diesen Gegensatz zurück. Unser Hotel Inturist lag direkt am Flughafen, was wir anfangs spannend fanden, drei startende und landende Flugzeuge pro Minute aus nächster Nähe zu beobachten, und praktisch, weil wir von dort gute Busverbindungen ins Stadtzentrum hatten.

Taschkent, Hauptstadt der Usbekischen SSR, mit etwas mehr als zwei Millionen Einwohnern viertgrößte Stadt der SU, die größte Zentralasiens, gelegen in einer Oase des Syr Darja an der Seidenstraße und den Ausläufern des Tienshan (Gottes Gebirge). Seine beschneiten, in die Tiefe gestapelten Gipfelketten sind von Taschkent aus nach Nord-Osten ein traumhaft schöner Anblick. Pik Kommunisma und Pik Lenina sind mit ihren 7400 und 7100 Metern kaum niedriger als das Dach der Welt. Was der stalin‘sche Bebauungsplan von der orientalischen Altstadt übriggelassen hatte, wurde bei dem verheerenden Erdbeben am 26. 4. 1966 fast zur Gänze dem Erdboden gleichgemacht. Nur wenige Straßenzüge mit engen Gässchen und einfachen, einstöckigen Häusern aus Stampflehm und sonnengetrockneten Ziegeln blieben erhalten. Aber sofort nach der Katastrophe setzte der Neubau ganzer Satellitenstädte mit breiten, geometrisch angelegten Straßen ein, sodass Taschkent sich jetzt kaum von anderen sowjetischen Großstädten unterscheidet.

Ich erinnere mich, dass mir die dichten, schattenspendenden Maulbeerbäume und Platanenalleen an den Straßen auffielen, die gepflegten Grünanlagen mit unzähligen Brunnen, Blumenrabatten und Tamariskenhecken und dass die Stadt ausnehmend sauber war – ein Park, in den sich zufällig einige Häuser verirrt haben. Neben den obligaten Bronze-Lenins ließ man offenbar auch Tamerlan-Statuen als Zugeständnis an die Nationalgeschichte zu. Vor dem Theater fiel mir ein Springbrunnen in Form einer überdimensionalen Baumwollknospe, der Nationalpflanze, auf. Im flachen Becken darunter tobten halbnackte Kinder durch das Wasser, ein sonderbarer Anblick für uns, die gerade aus dem Schneesturm kamen. Am Vormittag hatte es schon 30 Grad, und wir suchten im Basar nach sommerlicher Kleidung.

Schon am Flughafen war augenfällig geworden, dass die Sowjetunion ein Vielvölkerstaat war: Usbeken, Tadschiken, Turkmenen, Kirgisen, Kasachen, viele davon in ihren malerischen Nationaltrachten, viele Russen natürlich, unauffällig modern gekleidet. Aber in der Stadt stachen noch mehr die Nachkommen der von Stalin verbannten Völker hervor: Tataren, Burjaten, Kalmücken, Karakalpaken, Jakuten, Japaner, Tschuktschen, blonde Balten und Wolgadeutsche, Griechen, verschiedene Kaukasusvölker und sibirische Ureinwohner – alle, die Stalin als Kollaborateure eingestuft hatte.
45 Nationalitäten sollen es sein. So hat Stalin aus einem Land einen riesengroßen, warmen Vielvölker-GULag geschaffen. Die schönsten Bilder davon erhielten wir auf dem Zentralmarkt, nicht nur von der Vermischtheit und Unterschiedlichkeit der Menschen, sondern auch von der Fülle der landwirtschaftlichen Produkte. Es war für mich der erste orientalische Markt, und ich kannte damals keinen Menschen, der aus eigenem Erlebnis einen solchen hätte schildern können außer Sven Hedin und Scheherazade. Sobald der Schnee im Pamir und Tienschan schmilzt und sich die Flüsse füllen, beginnen sie in der Ebene schon zu ernten. In meinem vom Schüttelfrost vernebelten Blick meinte ich, dass es nirgendwo so viele Geschenke der Erde gab, dass sich hier alle Buntheit und Üppigkeit der Welt mitsamt den entsprechenden Gerüchen versammelt hatte. Es herrscht ein unbeschreiblicher Lärm, alle Verkäufer schrien in höchster Lautstärke und gestikulierten wild, der Oktjabrski Rynok, der Oktober-Markt. Pyramiden von Melonen aller Art, gelbe, grüne, rote, manche groß wie Wagenräder und aufgeschnitten, das fleischige Innere zur Schau stellend. Berge von Salzgurken, Paradeisern, Granatäpfeln, Mandeln, Nüssen, Rosinen, Trauben, Obst, Gemüse, Gewürzen, Zöpfe von vielfarbigen Zwiebeln, Paprika und Knoblauch, vieles kenne ich nicht und alle Worte sind zu wenig für die Pracht; man muss es gesehen und gerochen haben.

Auf der anderen Seite des Basars haben die Handwerker ihre offenen Werkstätten, die Kupfer- und Silberschmiede, Schlosser, Tischler, Schuster, Sattler, Weber, Gerber, Schneider und Jurten- und Filzmacher. Ich verliebe mich sofort in die Stände mit Samowaren, hölzernen Kinderwiegen und Hochzeitstruhen mit Brandmalereien, alten Schlössern und bei den Töpfern in die riesengroßen flachen Keramikschüsseln mit wunderschönen vielfarbigen Dekorationen, das Geschirr für das Nationalgericht Plov. Fast nicht losreißen können wir uns von den Porzellan-Werkstätten, in denen das klassische usbekische Teegeschirr hergestellt wird, die blau-weiß-goldenen Piali, kleine Schüsselchen ohne Henkel mit Untertassen und Teekannen.
Das Kaufen muss warten bis zu unserer Rückkehr. Das Einzige, was wir sofort erstehen, sind die usbekischen Kopfbedeckungen, die runden, kunstvoll bestickten Tjubeteikas, obwohl sie nur Männer tragen. Die Haufen von Pelzmützen aus Biber-, Karakul-, Fuchs-, Otter- und Nerzfell treiben den Schweiß aus den Poren. Überall, wo wir auftauchen, erregen die drei Grazien Aufsehen, westliche Touristen gibt es hier kaum. Aber die Menschen sind höflich und dezent, sie verbergen ihre Neugier. Wir sprechen ja Russisch, wir könnten auch Sowjetbürgerinnen aus einer Hauptstadt sein.

Ich komme kaum aus dem Markt für die Lebendtiere heraus, meine zwischen Ekel und Faszination schwankenden Freundinnen müssen mich von all den zum Verkauf angebotenen Hühnern wegziehen, von den Ziegen und Schafen. Gleich angewidert sind unsere zartbesaiteten Seelen von den an den Beinen in riesigen Bündeln aufgehängten Hühnern. In geflochtenen Steigen sehe ich Fasane, Hermeline, Schlangen, Schildkröten und einige mir unbekannte Vogelarten. Der Lärm, den die Tiere zusammen mit Händlern und Käufern veranstalten, ist kaum zu beschreiben, der Gestank noch viel weniger.

Vom Revolutionsplatz über die Karl-Marx-Straße stehen in westlicher Richtung bis zur Leninstraße und zum Lenin-Prospekt viele repräsentative Gebäude: das Lenin-Museum, der Stadtsowjet, die Künstlervereinigung, die Hotels Taschkent und Usbekistan, das Schauspielhaus, das türkische Bad, das Museum des Erdbebens und das Museum der Völkerfreundschaft. Ich verschaue mich in das soz-realistische Denkmal für den Schmied Schachmed Schamachmudow und seine Frau Bachri Agramowa, die im Großen vaterländischen Krieg fünfzehn Kriegswaisen adoptierten. Das Opern-und Ballettheater haben nach 1945 japanische Kriegsgefangene erbaut, der Betonbau ist der einzige, der das Erdbeben völlig unbeschadet überstanden hat. Die siebzehn Metrostationen sind von einer Üppigkeit, die einem die Augen übergehen lässt. Sie zeugen in einer unnachahmlichen Übersteigerung jedes Klischee von den Schätzen des sowjetischen Orients.
Im Jahr 1971 gab es noch kaum privaten Autoverkehr, die Straßen waren leer wie ein Architekturmodell, aber die Stadt war stolz auf ein gut ausgebautes Metro-Netz.

An die altislamischen Baudenkmäler kann ich mich nicht erinnern; einerseits waren viele dem Erdbeben zum Opfer gefallen und fünf Jahre später noch nicht wieder aufgebaut, andererseits war Taschkent nie die schönste Perle an der Seidenstraße gewesen.
Anders als ihre berühmten Schwestern Samarkand und Buchara, in die wir nacheinander flogen. Die Beschreibung hier überlasse ich den inzwischen zahlreichen Reiseführern und Kunstbüchern.
Außerdem ergeht es mir mit den Erinnerungen an diese beiden Städte ein bisschen so wie mit Kindheitserinnerungen, von denen niemand genau sagen kann, ob es sich um Selbsterlebtes handelt oder um später Erzähltes, Gehörtes oder Gelesenes. Ich erinnere mich, dass dort meine Zweifel begannen, ob wir nicht überhaupt unsere Kopfbilder vom Orient hierher einschleppen und dann ständig auf der Suche nach ihnen sind. Verschärft wird diese Unsicherheit zusätzlich durch den ständigen Schleier, den meine aus Moskaus Schneesturm mitgebrachte Grippe erzeugte.

Wieder zurück in Taschkent, kauften wir Flugtickets nach Fergana und Osch im Osten, schon sehr nahe der chinesischen Grenze und nach Nukus, Chiwa, und Urgentsch, die Wüstenstädte am westlichen Unterlauf des Amu Darja in der Kysyl Kum, die nach Gobi und Sahara die drittgrößte Wüste der Welt. Wie schon mehrmals in dieser Gegend, bestaunte ich die Selbstverständlichkeit, mit der sich auch die einfachsten Wüstenbewohner in die Flugzeuge schwangen, genauso selbstbewusst wie auf ihre Eselskarren am Boden. Ich hatte damals erst zwei Flüge absolviert, nach der Matura einmal nach New York und zurück. Das Reisen mit Flugzeugen war für unsereins in Europa noch keine Alltäglichkeit. Auch in die Sowjetunion war ich mit der Bahn angereist, im Chopin-Express vom Wiener Ostbahnhof über Warschau, Brest-Litowsk nach Moskau, Weißrussischer Bahnhof. In diesen weiten Landschaften Zentralasiens gab es keine Überlandstraßen und kein Eisenbahnnetz, das Flugzeug war so selbstverständlich und kaum teurer als die Straßenbahn.

Eingepresst in die eng stehenden Stühle, vollgestopft mit Binkeln und Bündeln, Säcken, Körben und Kisten, flog die kleine Tupolew in geringer Höhe über die Kysyl Kum (Roter Sand), ein leicht rötliches Sandgelb ohne Erhebungen und Schatten. Der einzige Schatten war der unseres Flugzeuges, der uns manchmal schneller vorausflatterte, als wir flogen, oder links und rechts auftauchte. Diese optische Täuschung hat mir noch niemand erklären können, ob das eine Form der fliegenden Fata Morgana ist?
Plötzlich erschien im kleinen Fenster eine graue Linie, wurde zu einer Schlinge und dann zu einer zweiten und zu einer Schlange. Ein Fluss, das musste er sein, der Amu Darja! Ich presste mein Gesicht ans Fenster. Es ging ganz langsam. Wie ein Kaleidoskop machte sich ein Bildchen nach dem anderen auf, Bilder, die ich sah oder seit vielen Jahren im Kopf hatte.
Der Sehnsuchtsfluss seit meiner Sven-Hedin-Lektüre.

In meiner Jugend waren Sven-Hedin-Bücher noch immer sehr populär. Es gab unzählige Titel aus dem Brockhaus-Verlag. Im Herzen Asiens, zwei Bände, Abenteuer in Tibet, Transhimalaya, drei Bände, Zu Land nach Indien, zwei Bände, mehr als zweihundert Titel, die wissenschaftlichen nicht eingerechnet. Zu Land nach Indien – in diesem Buch floss für mich alles Fernweh zusammen, und es blieb mir am lebhaftesten in Erinnerung. Die Stelle mit der dramatischen Suche nach Wasser am Amu Darja war im Lesebuch für die dritte Klasse Gymnasium abgedruckt, und ich konnte noch die Generation nach mir für Sven Hedin begeistern. Fast noch lieber vertiefte ich mich in seine Illustrationen, Aquarelle und Fotografien. Hedin war auch ein begnadeter Topograf und Kartograf. Sein asiatischer Atlas in einer Jugendausgabe wurde mein Vademecum. Am wildesten Stück der Donau geboren und aufgewachsen, in meinem Leben persönlich bekanntgeworden mit Dimbach, Giessenbach, Enns, Salzach, Fuschler Ache, Inn, Isar, Rhein, Hudson und Moskwa, habe ich mich jugendlang hingeträumt zu Nil und Niger, Amazonas und Orinoco, Mississippi, Colorado und Amu Darja, der sagenhafte Oxus des Alexander-Iskander.

Lisa, Schanna und ich hatten bei unserer Einreise beschlossen, unsere Namen zu russifizieren. Die Wiener Liesl wurde zu Lisa, die Kärntner Susi zu Schanna, ich zu Weranika. Schanna ist die Ernsthafteste unter uns, sie studiert Russisch-Dolmetsch und Geschichte, Lisa ein bisschen Russisch, Literatur, Anglistik, von allem etwas, Psychologie und Arabistik, aber nichts wirklich akademisch. Sie holt sich, wenn sie Lust dazu hat, von allem das Beste, wie an einem reich bestückten Buffet. Dafür hatte sie Talent. Sie war in Wien mit einem Palästinenser verheiratet, der als Arzt im Elisabeth-Spital angestellt ist, sogar schon mit einer gemeinsamen Wohnung auf der Hohen Warte. Reden kann sie über alles und jeden für sich einnehmen. Ganz leicht. Ich musste feststellen, dass das ein Talent war, über das ich nicht verfügte. Sie hat recht und es richtig erkannt, worauf es ankommt.

Als Sven Hedin mit seiner Karawane, nach langer Durststrecke und völlig erschöpft – ein Begleiter und sieben Kamele waren schon gestorben – endlich auf den Amu Darja stößt, müssen sie feststellen, dass dieser vollständig ausgetrocknet ist, ein zwei Kilometer breites, flaches Band aus Sand und Geröll ohne einen Tropfen Wasser, nicht für Mensch, nicht für Tier. Hedin hatte sich bei der Durchquerung der kasachischen Wüste Ust-Urt verspätet und aus Ungeduld, schnell weiterzukommen, es an der letzten Wasserstelle verabsäumt, die Schläuche bis zum letzten Wassertropfen zu füllen. Die Spannung war kaum zu übertreffen, zusammen mit den drängenden Fragen nach der Schuld. Sie gehen in das Flussbett hinein und drehen jeden Stein um, ob da nicht doch noch in einer Kuhle ein wenig Flüssigkeit übriggeblieben war. Die Luft flirrt in der Hitze, sie können das andere Ufer nicht sehen, nur die Luftspiegelung der Tamarisken. Sie sind am Ende ihrer Kräfte und ihrer Vorräte. Sie machen Halt im schütteren Schatten eines Tamarisken-Haines, der sein Ufer säumt. Hedin lässt die Kamele lagern und überlegt mit seinen einheimischen Begleitern, ob sie den letzten Hahn in ihrem Gepäck schlachten sollen, um sein Blut zu trinken. Essen oder trinken? Was brauchen sie jetzt mehr, nachdem auch das letzte Karakul-Schaf aufgegessen war? Dabei wissen sie, dass das Blut in der Hitze sofort stockt und kaum Flüssigkeit bringt. Dazu ist der Gestank unerträglich.

Die Begleiter machen ein mageres Lagerfeuer aus trockenen Tamarisken-Zweigen. Die andere Möglichkeit wäre, den Urin der Kamele zu trinken. Das wäre aber noch schrecklicher als das gestockte Blut des Hahns, im Orient ist das eine Foltermethode. Außerdem würden sie ihre Lasttiere durch das Urin-Melken schwächen, weil die Kamele ihren Urin recyceln und sich neu zuführen können. Ein Kreislauf, der sie zu den begehrten Wüstenschiffen macht. Bei all diesen Abwägungen kauen Sven Hedin und seine Begleiter an den Blättern der Tamarisken, ungenießbar bitter, man bekommt eine raue Kehle, es regt den eigenen Speichel an, vergiftet aber den Magen. Tamariske, Brunnen der Wüste, sagen die Einheimischen.

Schon als Dreizehnjährige fieberte ich, wie sie sich entscheiden würden. Sie braten den letzten Hahn und legen sich halb hungrig und mit schmerzenden Gedärmen schlafen. Am nächsten Morgen wachen sie früh unter einem leisen Rauschen auf, und die geübten Ohren sagen ihnen: Der Amu-Darja ist da, und er hat Wasser! Es ist nur ein kleines Rinnsal in der gewundenen Mitte des Geröllfeldes, aber frisches, fließendes Wasser, welch ein Wunder! Sven Hedins Begleiter meinen, dass irgendwo weiter oben im Hindukusch vielleicht ein Gletscher abgestürzt und geschmolzen ist. Heute wissen wir, es war wesentlich unromantischer; in einer Baumwoll-Kolchose hatte jemand eine Schleuse der unzähligen künstlichen Kanäle geöffnet. Sie führen als Erstes die Tiere in das Rinnsal, dann trinken sie selbst ohne Ende. Nur Hedin gönnt sich das Vergnügen eines Wasser-Bades, die Einheimischen meiden das Wasser, dafür füllen sie die Schläuche. Die Kamele werden beladen, und sie brechen auf, weiter entlang der Seidenstraße nach Osten. Da lese ich zum ersten Mal von Chiwa, Buchara und Samarkand, Taschkent, Kokan und Fergana Hedin entdeckt den Issyk-Kul-See, den Bosten und Lot, die Karawane überquert den Hindukusch, dringt in die Gobi vor, durchwandert Tibet, immer kartografierend, fotografierend, illustrierend und notierend, entdeckt er die Quellen des Bramaputra und Indus und kommt tatsächlich nach Indien.

Wie sehr Sven Hedin, ein Verehrer der germanischen Rasse und mit Nazi-Größen von Hitler an abwärts, in das nationalistische Regime eingebunden war, erfuhr ich erst viel später während des Studiums. So widersprüchlich das war, hatte er sich auch Verdienste um die Errettung von Juden und Norwegern aus den Fängen des Verbrecherregimes gemacht. Ich kann mich nicht erinnern, dass von Hedins Nazi-Vergangenheit jemals zu Hause oder in der Schule die Rede war. Mit den Mitteilungen über die Verbrechen der Sowjets war man nicht so sparsam.
Von Hedins Forschungsreisen konnte ich mich trotzdem nicht losreißen. Die Bilder seines Orients hatten mich in ihrem Sog eingefangen, nach Osten, und immer weiter nach dem Osten.

Chiwa unter mir, die alte Tupolew kreist einige Male, ich sehe die Bremsklappen neben mir, dann wieder nicht. Wir sacken ab, streifen die Türme und Minaretts in Kurven und Schlingen, der Schatten flattert unter uns, wir kommen ihm näher, und er saust schneller als wir. Ein Schlingern in den Gedärmen, Bremsen, Sinken, es spürte sich an wie eine Faust in den Magen, ein kurzes Aufwallen wie im Lift. Dann glücklicherweise Sand, kurzes Holpern, ein kleiner, blinder Schlag, eine sachte Neigung der Schnauze nach vorne und ich mit ihr, dann Stillstand und Schweigen. Es gibt keine Nerven, nur Körperempfindungen, direkt. Wir sind gelandet, weich, aber ich sehe das Fahrgestell nicht, aber auch keine Flammen, weil ich mir schon lange die Hände vor die Augen gehalten habe, noch immer das Gesicht an die kleinen Fensterscheibe gepresst, die Nase so flach wie die Augen. Im Flugzeug war es sterbensstill. Nur die anglophile Lisa neben mir flüsterte beim Abschnallen ungeduldig: „Go on, go on, well, there we are, this is Khiwa, finally.“ Die Grande Dame unter uns war wie immer und überall cool. Die rothaarige Schanna war so bleich, dass ihre Sommersprossen violett aussahen.

Irgendetwas kann nicht so gut gelaufen sein bei dieser Landung. Nach langer Wartezeit ging eine Tür auf und kochend heiße Luft strömte herein wie aus einem offenen Ofenloch. Nur über eine schmale Strickleiter konnten wir aussteigen, für die rundliche Schanna eine extreme Turnübung, für die langbeinige Lisa ein Katzensprung. Die kleine Tupolew saß mit dem Bauch im Sand, leicht vornüber gekippt, wie ein Vogel mit gebrochenem Nacken in seinem Sandbad. Eine Bruchlandung ohne einen Bruch. Die einheimischen Mitreisenden waren noch cooler als Lisa, sie wunderten sich sichtbar über nichts, protestierten gegen nichts, holten ihr Gepäck selbst aus dem Bauch der Maschine und verteilten sich auf wartende Taxis und Eselskarren. Die einzigen Pflanzen weit und breit waren niedrige, verkrüppelte Tamarisken, gepflanzt vielleicht als Begrenzung des Pistenrandes. Die vier Propeller glänzten im knallblauen Himmel, die beiden gesenkten Schwanzsteuer ebenfalls. Flimmern der heißen Luft darüber wie flüssiges Glas. Von diesem intensiven Azurblau des Firmaments hatten die Handwerker das Glänzen und Funkeln der Kacheln abgeschaut. Ansonsten gab es in der Wüste keine Farbe.

Im Süden lugten die Gipfel-Girlanden des Kopeth-Dagh-Gebirges aus der Wüste, die Grenze zum Iran. Jetzt noch die Füße in den Sand setzen und die Grenzen von Geschichte und Geographie überschreiten, im Orient ankommen. Wenn man es genaunimmt, standen wir in der Wüste Kara Kum, am linken Ufer des Amu Darja, die Kysyl Kum lag am rechten Ufer, kurz bevor er sich in ein vielarmiges Delta aufteilt und bei Nukus in den Aralsee mündet. Dorthin wollte ich ohne Lisa und Schanna einen illegalen Abstecher wagen, denn näher würde ich vielleicht nie mehr kommen, so meine Überlegung. Das von Stalin begonnene und von Chruschtschow fortgeführte Versanden des Wüstensees wollte ich mit eigenen Augen sehen. Zur Steigerung der Baumwollproduktion hatte der Diktator die nördlichen Flüsse umleiten lassen und einen Großteil der Wassermassen zur landwirtschaftlichen Nutzung in Kanäle gezwängt.

Was wir noch nicht wussten: Es war nicht Chiwa, wo wir gelandet waren, sondern der Flughafen von Urgentsch. Man ließ uns keine Zeit, die im 1. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gegründeten Handels- und Gelehrtenstadt an der Seidenstraße zu besichtigen, sondern verfrachtete die nach Chiwa weiterreisenden Passagiere in einen klapprigen Autobus der Marke ZIL.
Nur aus der Ferne konnten wir von den Mauern von Kunja-Urgentsch träumen, von den Badehäusern, Teehäusern, Mausoleen, Moscheen, Koranschulen, Minaretten und Palästen, in denen berühmte Gelehrte wie Al-Biruni, Fachr-ad-Din-Rasi, Al-Khwarizmi und Ibn Sina, der Medicus Avicenna unter dem Emir Mahmud Gurgandsch gewirkt hatten.
1221 eroberte Dschingis-Chan die Stadt, ließ die gesamte Bevölkerung töten und siedelte seine Mongolenheere an. Im Hof der Juma-Majid-Moschee steht eine tausend Jahre alte Säule, an die Dschingis-Chan sein Pferd gebunden hat. Sie hielten sich nur rund hundert Jahre, bis die Sufi-Dynastie unter Emir Kutlug Urgentsch zu einem Machtzentrum ausbaute.

Das einzige Bauwerk, das wir vom Bus aus wahrnehmen konnten, war das Minarett Kutlug-Timur, mit 62 Metern das höchste in ganz Zentralasien. Da fällt mir auf, dass das Reiterheer mit dem größten aller je existierenden Reiche in keinem der besetzten Länder staatliche oder architektonische Spuren hinterlassen hat, nicht einmal in seiner Urheimat, der Mongolei, sollte man Grabhügel nicht zu Architektur zählen. Auch nicht in Russland, wo sich die Goldene Horde zweihundert Jahre lang niedergelassen hatte.
Hat das schon jemand untersucht, warum das so ist? Das Einzige, was mir dazu einfällt, ist das russische Sprichwort: Kratzt du an einem Russen, kommt ein Tatar hervor. Es gab also kein „Paarungsverbot“ zwischen den moslemischen Besatzern und den christlichen Untertanen. Alle tatarischen/mongolischen Elemente in der russischen Architektur und Alltagskultur stammen von den Siegern über die Goldene Horde als Ausdruck ihres Triumphs. Von der Basilius-Kathedrale am Roten Platz bis zur neo-mongolischen „Kirche am Blut“ in St. Petersburg.

Für den Besuch in Chiwa hatten wir nur einen Tag genehmigt bekommen, wogegen wir im Ovir der Universität nicht protestiert hatten, weil wir meinten, für diese 30000-Einwohner-Stadt nicht mehr Zeit zu benötigen. Es gab ja in der Sowjetunion zu dieser Zeit weder Touristenführer noch Landkarten. Lisa und Schanna waren ausschließlich meiner literarischen Schwärmerei gefolgt. Beide waren viel später und eher zufällig zum Russisch-Studium gekommen als ich. Ich brachte uralte Liebe und schäumende Begeisterung mit. Schanna, eine Kärntner Wirtstochter, war die gelassene Wissenschaftlerin, die die sowjetischen Verhältnisse unter ihr Mikroskop legte und für alles eine analytische Erklärung hatte. Lisa, die Diplomatentochter aus Wien, eine unbarmherzige Kritikerin, verglich alles im Arbeiter- und Bauernparadies im Russland des Breschnew mit Frankreich, GB und USA.
Aber immerhin hatte ich die beiden bis hierher schleppen können. Denn mir allein hätte das Ovir die Reise nicht genehmigt, obwohl mein Russisch am besten gefestigt war. Ein Kleeblatt, wie es unterschiedlicher nicht hätte sein können.

Ich habe in einem Album ein Foto, das uns drei zeigt, in unendlichem Sand. Ein Kamel, auf dem die pummelige Schanna aufrecht sitzt, die rote Lockenpracht ausgebreitet bis auf die Schultern, daneben Lisa, das Kamel fast überragend, in einem Minirock mit model-artig vorgestelltem Bein im Sand, die braune Mähne neckisch an den Hals des Tieres geschmiegt, und ich, fast unter dem Bauch, eine kleine blonde Figur, aber strahlend wie der Morgenstern. Die war am Ziel der Träume. Das Foto wird wahrscheinlich der Eselführer gemacht haben. Im letzten Viertel am rechten Rand des Fotos ist eine Formation zu sehen, ein verwaschener, rötlich-brauner Hügel. Aber ich weiß, dass es eine Lehmziegel-Burg aus dem 4. Jahrhundert ist, eine der wenigen Befestigungen entlang der Seidenstraße aus vorislamischer Zeit, die noch erhalten ist.

Chiwa, eine Kleinstadt, hat dreimal mehr Kunstschätze als Einwohner. „Cheiwak“ – ah, was für ein gutes, wohltuendes Wasser, oder auch Zufriedenheit, Gott, wie gut, steht, sagen die Legenden. Andere haben daraus Heureka gemacht, schaut mal, was für ein Wasser! Ich hab‘s gefunden. Noahs Sohn Sem hat hier schon graben lassen und aus der Quelle getrunken. Im Nordwesten der Altstadt steht immer noch der Itschan Kala. Ich habe aus ihm getrunken und meinen ganzen Kopf darin gekühlt, fast bis zum Ertrinken. Ohne Kenntnisse und Stadtplan taumeln wir drei grünen Europäerinnen durch die Altstadt, unbehelligt, aber wahrscheinlich eine Sensation. Wo immer wir auftauchen, schlüpfen die Frauen in die Häuser zurück, die Männer wenden sich intensiv ihren Pfeifen zu oder gehen in die andere Richtung weiter. Kein Lächeln, aber auch keine Abwehr, keine Zudringlichkeit und auch keine Unterwürfigkeit. Ich würde gerne mehr fotografieren als Wüstensand, Esel und Mauern, aber die Menschen lassen das nicht zu. Es wirkt hier offenbar noch immer das islamische Bilderverbot mit. Vor allem Porträts von den schönen, alten Männern würde ich gerne machen. Aber sie wackeln verneinend mit dem ausgestreckten Zeigefinger und wenden sich ab. Wer ein Bild von einem Menschen macht, der raubt ihm die Seele, heißt das Verdikt.

Fenster gibt es keine, die gehören offenbar nicht zu den Errungenschaften des Orients. Wohin wir uns auch wenden, stoßen wir auf Mauern, die Stadtmauern aus Stampflehm und Ziegeln, fast sechs Kilometer lang und bis zu sechzehn Meter hoch. Das habe ich aber erst viel später nachgelesen. Im Flirren der schon aufgeheizten Vormittagssonne sehen sie wie niedrige Gebirge aus, die sich in den Weiten der Wüste verlieren. Die zehn Meter tiefen Stadttore, die begehbaren Bastionen und Schutzwälle zeugen von Chiwas eintausendsechshundert Jahre langer Wehrhaftigkeit gegen die Eroberungsgelüste aller Potentaten zwischen dem Kaspischen Meer und China. Chiwa war in seiner Hochzeit die reichste Handelsstadt der Seidenstraße, aber auch ein gefürchtetes Räubernest, der größte Sklavenmarkt in Zentralasien. Als der Zar etwa Mitte des 19. Jahrhunderts Chiwa einnahm, fand sein deutscher General Kaufmann noch 30000 Sklaven vor, darunter dreitausend Russen. Als der Emir Islom Huia knapp vor der sowjetischen Eroberung Elektrizität, Telegraph und Telefon einführen wollte, brachte ihn die Geistlichkeit um.

Wir betraten die Stadt durch das wunderbar restaurierte doppeltürmige, von zwei Kuppeln gekrönte Ata-Darwasa-Tor. Es war so breit, dass wir uns leicht die ganze Phalanx von einmarschierende Reiterheeren und Kamelkarawanen vorstellen konnten. Dahinter breitete sich die vollkommen intakte Altstadt Itschan Kala aus, nach der wir schon so lange dürsteten. Gleich hinter dem Ausgang konnten wir schon einen Blick auf die Amin-Chan-Medrese werfen. Bevor wir hinaustraten, entdeckten wir in einer der Innenmauern ein kleines Büro von Inturist, wo wir uns mit einem Stadtplan, Karten und Broschüren ausstatten wollten. Außer verstaubten Souvenirs und einer kleinen Auswahl von vergilbten Ansichtskarten hatte das Inturist nichts Derartiges zu bieten. Der Tourismus hatte hier noch viele Entwicklungsmöglichkeiten. Pläne und Führer gab es ja aus Sicherheitsgründen von keiner sowjetischen Stadt zu erhalten. Stattdessen schlug uns der Angestellte hinter der Budel vor, einen Kamelritt in die Wüste hinein zu unternehmen. Er habe eine Tour anzubieten: mit dem Esel-Taxi ein paar Kilometer nach Westen zu einer Oase mit der Festung Gora, einer Wehranlage an der Seidenstraße aus dem 4. Jahrhundert, Besichtigung mit einem kurzen Kamelritt zu einem Nebenfluss des Amu Darja. Meine Begleiterinnen zweifelten, sie wollten eher die Stadt besichtigen, ich war sofort Feuer und Flamme und brannte lichterloh in den Bildern von Sven Hedins Schilderungen.

Man gab mir nach, und wir buchten die Tour. Sofort tauchte vor dem Tor ein Arba auf, ein zweirädriger Eselskarren mit einem Lenker in einer pittoresken Tracht. Auf diesem schwankenden Gefährt fuhren wir in die Wüste hinein, eben und ohne Ende. Das Zeitgefühl geht einem in der Wüste wahrscheinlich auch im besten Gesundheitszustand verloren. Aber wenn man sich in einer Nichtgegend, in der absoluten Leere befindet, beginnt der Raum sich zusammenzuziehen und auszudehnen. War das ein schwarzes Loch? So plötzlich wie beim Umblättern eines Märchenbuches trat ein braungebrannter Mann in langem, weißen Hemd und Tjubetejka aus dem Tamariskenhain heraus, ein einziges Kamel am Zügel mit sich führend. Offenbar das Vorzeige-Kamel zum Abfotografieren. Es war keine Rede mehr von einem Kamel-Ritt an den Nebenfluss, sewodnja nje rabotajut, sie arbeiten heute nicht, sie haben einen sanitarnij djen, einen Gesundheitstag, war die Auskunft. Also machten wir uns daran, das einzige Kamel abzufotografieren. Schanna ließ sich in den Sattel hieven, Lisa schmiegte sich in Model-Pose mit neckisch vorgestelltem Bein an seinen Hals, mir war für beides zu schwindelig, ich blieb am Boden.

Ab da finde ich bei mir kaum Erinnerungen, nur dieses Foto in meinem Album, als man seine Reiseeindrücke noch in Bücher und Mappen klebte. Ein Kamel in einer Ebene ohne Anfang und Ende, ohne Palmenoase und Festung, im Sattel die strahlende Schanna, Lisa an den Hals des Kamels gelehnt, die dieses fast überragte, zu Füßen eine unkenntliche Erhebung, die sich kaum vom Wüstensand abhob und auch eine Sanddistel gewesen sein könnte, das war ich, die zu diesem Abenteuer verleitet hatte.
Dieses Foto aus einer Schnellbildkamera hat eine ockerfarbene Patina angenommen wie ein sonnengebrannter Ziegel.

Alles Folgende sind verstreute Erzählungen im Nachhinein mit kurzen Öffnungen der eigenen Wahrnehmungen. Der Karren brachte uns offensichtlich zur Stadt zurück und lud uns am Dschuma-Minarett an der Stadtmauer ab. Meine Begleiterinnen lagerten mich bequem in den Schatten einiger Maulbeerbäume, legten mir nasse Tücher auf und labten mich mit Wasser. Unser Eselführer machte den Vorschlag, mich in das Teehaus bei der Amin-Chan-Medrese zu bringen. Er dürfe mit dem Karren nicht in die Altstadt hineinfahren. Wie es meinen Kolleginnen gelungen war, die Ohnmächtige dorthin zu befördern, kann ich nur meiner Phantasie überlassen. Sie waren zu aufgeregt, um sich danach noch genau zu erinnern. Sie durften nicht ins Teehaus, die Männer drängten sie hinaus: Geht nur, alles wird gut, kommt am Abend wieder. Ich als Ohnmächtige hatte offenbar mein Geschlecht verloren. Einmal wache ich auf und sehe mich auf einer Bank liegen. Es ist ein großer, halbrunder Raum, mit einer Bühne in der Tiefe, ein steiles Amphitheater, mit Teppichen und Kissen bedeckte Stufen. Über mir sehe ich turbanbedeckte Männerköpfe und spüre, dass man mir Tee einträufelt, die Piali mit grünem Tee immer wieder an meine Lippen hält, hinten im Hals ein kleines Rinnsal.

Einmal kommt das Bewusstsein so weit zurück, dass ich die goldverzierten Girlanden entlang der Wände wahrnehme und einige auf den Stufen lagernde Männer mit langen Bärten und in langen weißen Wallehemden.
Die Arabesken und Grafiken vermischen sich mit den sowjetischen Transparenten und Parolen, den Tafeln mit den besten Arbeitern und bei den Subotniks ausgezeichneten Genossen, die grün-weiße Majolika-Kacheln auf blauem Untergrund zerfließen mit den Blumenornamenten. Fiebrige Verzerrungen, Traumfetzen, Gefühlsreste, alles strömt ins Surreale zusammen, rauschendes Murmeln, die Luft hängt voller Geschichten, ich höre die Männer in meiner Nähe summen, Kindheitszustand, klingen so usbekische Wiegenlieder?
Sven Hedin zieht mit seiner Karawane durch meinen Kopf, das Wasser im Amu Darja donnert aus den Pamir-Schluchten in die Ebene, im weitverzweigten Fluss treiben kleine grüne Inseln in Spiralen, Ursymbole für Augen, auf dem Wasser Barken mit roten Segeln, an den Ufern weiße Zelte, dazwischen Herden von Karakulschafen, die durstigen Kamele unter den Palmen brüllen, der letzte Hahn kräht um sein Leben, und über den versandeten Aral-See pfeifen die Giftwinde. Innenwelt, Kindheitsbilder und Jenseitsgeographie bevölkert mit den Vorausgegangenen. Die freundliche Macht der Bilder verwischt alle Grenzen und löst die Zeit auf.

Lisa und Schanna buchten bei Inturist eine ungestörte Führung durch die schönste Altstadt des Orients: Sie besichtigten die Koranschulen/Medresen Schigasi-Chan und Islam Chodscha, die Mausoleen Pahlawan-Mahmuds und Sayid Alauddins, den Palast Tasch-Hauli, die Festung Kunja Ark, den Harem, das Badehaus, den Sommer- und Winterpalast und die Dschuma-Moschee, an deren Minarett meine Lebensgeister fast aufgegeben hätten.
Und wieder kam der dünne Rand einer Piali an meinen Lippen; wenn ich sie nicht öffne, netzen sie sie mit einem in grünen Tee getränkten Lappen, einen anderen legen sie mir auf Schweißstirn und Schläfen.
Was ist da drinnen, Absinth, Baldrian- und Tamarisken-Sud? Eine Hand streicht immer wieder über die Haare wie einer vielgeliebten Enkelin. Ich kannte nie einen Großvater, aber bei meiner Großmutter war es so. Ich habe das als zärtliche Gesten in Erinnerung, so fieber-vage und flüchtig sie auch sind: angenehm, friedlich, angstfrei. Fühlt es sich so in Abrahams Schoß im Paradies an? Eine Versammlung von Gelehrten und Dichtern: Abu Mansur al Saalibij, Abu Sahl al Yasihiy, Abu Nasr Mansur Ibn Irak, Abdullah Muhammad Ibn Muso al Khorezmiy. Orientalische Ur-Ur-Großväter, Patriarchen, auch meine Vorfahren. Angeblich habe ich phantasiert, unverständliche Worte hervorgestoßen und wild um mich geschlagen. Zwei Alte sitzen dicht an meiner Seite wie Grabwächter und bewahren mich vor dem Abstürzen über die steilen Stufen.

Eine eingeschleppte Grippe mit einheimischem Sonnenstich, ziemlich viel auf einmal. Seither habe ich mich oft gefragt, ob es sie große Überwindung gekostet haben mochte, gegen ihre Kultur, obwohl die gleichmachende Sowjetunion damals schon 64 Jahre gewährt hat. Bedingungslose Gastfreundschaft in Oasen lässt sich nicht so schnell austreiben. Den heimlichen Ausflug an den Aral-See musste ich vergessen, und den Rückflug nach Taschkent hat mein Gedächtnis nicht behalten.

Noch weitere drei Tage lag ich weggetreten im Hotel Inturist neben dem Flughafen, nur Fetzen von Bildern blieben im Gedächtnis hängen. Ab und zu kam ein weiß gekleideter Kartoffelsack mit hoher, weißer Mütze und verabreichte mir einen gehäuften Teelöffel Chinin, eine Büffel-Dosis, war das die Küchenchefin? Die dreimal am Tag startenden und landenden Flugzeuge flogen ausgerechnet immer durch meine Träume. Darüber wunderte ich mich schon sehr. Noch mehr, als ich einmal beim Taumeln durch die Gänge, auf der Suche nach einer Toilette, an offenen Türen vorbeikam, hinter denen weiß gekleidete, alte Männer mit weißen Bärten und weißen Turbanen im Schneidersitz auf weißen Matratzen saßen, Pfeife rauchten und Tee tranken aus weißen Schalen. Der liebe Gott hatte sich vervielfältigt. Also war ich gestorben, lag auf den Wolken im Himmel mit Sven Hedin.

Meine Freundinnen flogen währenddessen nach Fergana und ließen sich drei Tage in der sagenhaften Oase von Osch den Wind vom Hindukusch um die Nasen wehen.
Ich hatte auch ohne den Aralsee und das Fergana-Tal wahrlich viel gesehen und erfahren auf dieser Reise nach Zentralasien, die beharrlichsten und buntesten Eindrücke vom Orient kamen aber aus dem Teehaus von Chiwa.

4.3.15 – 2.2.17

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 17082

 

 

 

 

 

Der Railjetsimulator

Wenn ich nicht mehr Bahn fahre, kann ich auch nicht mehr schreiben. Ich überlege mir, eine alte Waschmaschine so umzubauen, dass ihr Schwungriemen eine Plattform rüttelt, auf der ein kleiner Schreibtisch und ein Stuhl stehen. Von einem Beamer aus werden Aufnahmen einer vorüberziehenden Landschaft auf die Wand projiziert. Ich besteige die Plattform, setze mich auf den Stuhl, vor mir auf dem kleinen Tisch – mein Laptop. Über eine Fernbedienung nehme ich die Waschmaschine in Betrieb. Die Plattform fängt an zu rütteln. Mittels einer zweiten Fernbedienung setze ich den Beamer in Gang. Ich ziehe meine Kopfhörer über. Alsbald tippe ich die ersten Sätze in den Computer. Das genaue Ziel ist ungewiss, sowohl des Schreibens als auch des Rüttelns Ende.

Und irgendwann habe ich aufgehört zu träumen.

Zurück ins Kaffeehaus. Ach, dort kommt endlich die Melange! Eine Zeitung der Herr? Nein danke, hab schon eine. Danke sehr! Ich winke ab. Wieder in die vor mir liegende Zeitung starrend. Hochwasser. Wo? Und? Was ist jetzt mit dem Hochwasser, mit dem depperten? Das geht jetzt schon seit Tagen so! Land unter, was? Gott sei Dank bin ich nicht in Bombay oder Lagos. Was sollte ich auch dort? Jedes Jahr dasselbe mit dem Wetter. Ich finde den Regen herrlich! (Er macht so schön depressiv, aussichtslose Katastrophenstimmung, passt so richtig zu meinem Inneren.) Und mit ein wenig Glück geht die Welt vielleicht doch unter (Der kleine Benedikt, Zitat aus „Der Salzbaron“), und man muss seine Kredite nicht mehr zurückzahlen oder braucht nicht mehr arbeiten zu gehen, weil alles unter Wasser ist.

Der Staat kommt für die Frühpension für alle auf. Sicher. Und das Wetter ist längst nicht mehr das, was es einmal war, sagen manche. In den Sechzigern hat es noch meterhohen Schnee gegeben. Richtige Schluchten hat der Schneepflug in die Straßen gegraben. Heutzutage kennt man sich ja nicht mehr aus mit dem Wetter. Im Sommer schneit es, im Winter hat es zwanzig Grad plus und mehr. Wer soll das ertragen? Mein Herz ist irritiert! Und erst der Kreislauf! Hilfsmannschaften bekommen Orden verliehen, typisch österreichisch! Orden verteilen. Monarchistische Altlasten. Fürs Sandsack-Legen! Ich halt’s nicht aus. Noch ein Kaffee.

Nun gut, wenn wir diese Leute nicht hätten, wer weiß? – Bitte sehr, der Verlängerte. Darf’s was dazu sein? – Danke, nein. Ich habe die Ahnenpässe meiner Eltern mitgebracht. Und Heiratsurkunden und so Zeug eben. Alles, was man für den Einstieg in eine Familienchronik eben braucht. Mein Gott, wer soll denn das alles lesen? Noch dazu in Kurrent! Also, Trauungs-Schein, Diözese Brünn. Na bitte, geht ja gar nicht so schlecht. Trauungsschein – Testimonium copulationis. Wenn man sich mit jemandem verbindet, zusammen ist, natürlich. Wurde gar nicht viel drum herumgeredet, damals. Beischlaf- oder auch Begattungslegitimation nenne ich das. Wie das klingt? Königreich Böhmen, Regnum Bohemiae. Wunderschön, nur leider längst nicht mehr wahr. Bezirksgericht Brünn. Blatt 403. Numerus currens zwölf. Der Bräutigam (sponsus) Stanislav K. Die Braut (sponsa) Frau Emilia O. Am sechsten November eintausendneunhundertsieben in Brünn. Dort drüben sitzt auch so eine aufgeputzte Yuppie-Tussi.

Was hat die andauernd zu telefonieren? Stundenlang ist die schon am Handy dran, unglaublich! Nee, so lange bin ich ja noch gar nicht hier. Aber immerhin. Wenn sie wenigstens leise spräche! Manche Menschen sind einfach nicht in der Lage, sich selbst in Relation zu den anderen zu sehen! Man kann hier ganz einfach nicht in Ruhe lesen! Seufzer. Das Leben scheint mit zunehmendem Alter wirklich ernster zu werden. Sollte es nicht leichter werden, verdammt noch eins? Wo doch ohnehin so gut wie alles bereits Vergangenheit ist. Was soll denn noch kommen, bitteschön, fragt man sich? War alles da. War alles schon einmal da. Jetzt werden die alten Hits wieder aufgewärmt, aus den Sechzigern. Auch schon was. Die Dichter schreiben Shakespeare um, anstatt sich selber was einfallen zu lassen! Die geht mir unheimlich auf die Nerven mit ihrer Telefoniererei! Ah, der Kaffee ist heiß, Donnerwetter! Die Milch hätt’ er sich sparen können. Hab ich schwarz gesagt oder nicht? Ignorant!

So ein familiärer Rückblick muss sehr genau beobachtet werden. Jede Entwicklung einzelner Personen darf nicht nur zur Routine werden. Es bedarf einer sorgfältigen Analyse der Fakten inklusive der Erläuterung diverser Auswirkungen auf andere Mitglieder der Familie, ähnlich der akribischen Arbeit, wie es Agenten tun würden. Man müsste bei der Niederschrift auch darauf achten, nicht bloß Satzellipsen stehen zu lassen oder rein rhetorische Fragen zu stellen, die letztendlich dann doch nicht beantwortet würden. Einer Überwachungskamera gleich beobachten. Insofern würden sich derartige Beobachtungen für den Unbeteiligten möglicherweise insistierend darstellen, vielleicht mit sarkastischen Zügen versehen und der logischen Frage, ob man je versucht hätte, vor solch einer Kamera beispielsweise unschuldig zu wirken?
Schließlich stellt man das Ergebnis unter den Scheffel der heutigen Gesellschaft, zeichnet ein möglichst genaues Bild derselben, dieses in ein System gedrängt, mit der Aussicht, Panik und Angst zu schüren, auf alle möglichen Bedrohungen aufmerksam zu machen, wie es heutzutage ja ein Leichtes ist, blickt man einmal kurz von seinem Boulevardblättchen hoch, und – wieder kurz zu Bewusstsein gekommen, das Ganze mit dem Nachsatz versehen, dass nämlich nichts besser würde, auch in der weiteren Zukunft nicht. Mit dieser Aussicht im Gepäck scheint es gar nicht so schwierig, die Haarnadelkurve in die Zielgerade der socalled „guten alten Zeit“ zu kriegen.

Apropos. Es ist vielleicht drei Jahre her, da fahre ich mit dem Abendzug zurück, von dort, wohin ich in der Früh immer fahre, immer hin und aus Richtung Westen. Eine Fahrt ohne Zwischenfälle, ruhig, wenig Passagiere, also kein Lärm, kein sinnloses Handygequatsche wie hallo, ich bin hier wo bist du?, und so weiter und was machst du eben – wen interessiert das bitte?, eine verfluchte Erfindung wahrlich!, und keine sonderliche Geruchsbelästigung, denn zahllose Mitmenschen halten offensichtlich nicht viel von Körperpflege und tragen das selbe Hemd und die selbe Hose, von der Unterwäsche ganz zu schweigen, offensichtlich mehrere Tage hintereinander.

Winter ist’s, auch wie immer in diesem Land, hat man den Eindruck. Ich verkable mich, und auch das wie immer, gleich nachdem ich es mir im Abteil zurechtgemacht habe und lege einen Film in den Laptop ein, damit die Zeit rascher vergehen möge. Ich weiß es nicht mehr, was es für ein Film war. Jim Jarmusch – Mystery Train – war’s nicht, das weiß ich mit Sicherheit. Egal. Er hätte mit Inhalt und Ausgang der Geschichte ohnehin nichts zu tun. Ich sehe also den Film zu Ende, während auch die Reise langsam ihrem Ende zugeht, packe meine sieben Sachen zusammen und gehe durch die zahlreichen Waggons in Richtung vorderen Zugteil, wobei ich auch durch jenen Wagen muss, der direkt hinter der Lok hängt, um dann, wenn er am Bahnhof ankommt, gleich zu allererst aussteigen und die U-Bahn erreichen zu können. Es ist ein Erste-Klasse-Waggon. Nicht, dass ich immer bloß Zweite Klasse fahre, es kommt auch vor, dass ich die Erste Klasse benutze und dann eben aufzahle, womit ich sagen will, sie ist mir ebenso vertraut wie die Zweite Klasse, jedoch benütze ich aus Kostengründen in der Mehrzahl die Zweite Klasse.

Als ich also die Schwingtüre dorthin durchschreite, kommt mir schon ein ziemlich aufgebrezelter, äußerst wohlbeleibter Schaffner entgegen, grußlos, wohlgemerkt, kein guten Abend, keine guten Irgendwas wünschend, nichts eben und schmettert mir in perfektem Meidlingerisch – He, hallo hallo, junger Mann, do kennan S’ oba net net durchgehn – entgegen. (Hier können Sie nicht durchgehen) Austria as it is – Charles Sielsfield, alias Karl Anton Postl, ausgewanderter Österreicher und Schriftsteller zahlreicher Romane und Betrachtungen, achtzehntes Jahrhundert, hätte seine wahre Freude daran gehabt, wenn er in der Gegenwart recherchiert hätte. Zuerst bin ich baff, um ehrlich zu sein, ich konnte zunächst gar nicht glauben, dass das jetzt die Wirklichkeit sein soll, in der ich mich befinde. Ich sehe ordentlich aus, keine zwanzig, fünfzig auch nicht mehr sondern – egal, den Schaffner schätze ich auf fünfundvierzig, bin schwarz gekleidet, schwarzer Mantel, Hose, Schuhe ebenso, schwarzen Trolley nachziehend. Sehe also nicht gerade wie ein Penner aus. (Ich bin wirklich froh über mein „r“ im Namen.) Habe eine intellektuelle Brille auf der Nase und bin plötzlich nicht würdig, durch einen Erste-Klasse-Waggon zu gehen.

Äh – ich gehe nur durch, sage ich anfangs schüchtern, zum vorderen Ausgang, weil ich gleich aussteige, alles in der Hoffnung, der Bahnangestellte würde sich vielleicht getäuscht, geirrt oder was auch immer haben, und der Satz sei ihm ganz einfach nur herausgerutscht, sodass ich hoffte, er würde ihm auch gleich wieder hineinrutschen. Doch da sollte ich mich irren. Nichts da. Genau – sagte er zu meinem neuerlichen Erstaunen, do däafn S’ net durchgehn, des is a Easchte Klass. (Da dürfen Sie nicht durchgehen usw.) Nun habe ich ja schon viel erlebt in diesen Zügen der sogenannten Staatsbahnen, schließlich fahre ich schon mehr als dreißig Jahre wöchentlich damit und da gibt es Mannigfaltiges zu berichten. Über spontane Halte wegen Personenschadens, Suizid auf offener Strecke. Also, dafür können die nix, das ist klar. Also zwei Stunden Wartezeit. Wegen eingefrorener Weichen ebenso wie aufgrund abzuwartender Anschlusszüge. Verspätungen wegen Betriebsstörungen bis zu Mitteilungen, Montagmorgen, man hätte keine Lok und müsse erst eine suchen. Ich habe mich, soweit es ging, nie aufgeregt deswegen, was auch sinnlos gewesen wäre, denn an der Abfahrtszeit hätte sich ohnehin nichts geändert. Auch nicht daran, dass in den Abfallkästen nahe den Sitzen der Schimmel regierte, und gar oft schon eine übelriechende Flüssigkeit, Reste aus Cola, Kaffee oder sonst was munter darin vor sich hinstank und schwappte.

Dass sämtliche Toiletten gleichzeitig kaputt waren, bis auf die im vordersten Waggon, der Ersten Klasse, dass es keinen Strom für den Computer gab oder überhaupt zu wenig Sitzplätze, weil man überzählige Waggons aus unerklärlichen Managementfehlern irgendwo anders halbleer herumkutschieren ließ, dass im Winter die Heizung nicht funktionierte und sich im Sommer in manchen Waggons nicht abschalten ließ, bis hin zu dem Satz, den einer der zahlreichen Generäle einmal abgelassen hatte, man wäre als Angestellter ja ohnehin bloß Bittsteller.

Auch wurscht. Dann aber gibt es noch die alljährlichen Sanierungsarbeiten am Gleiskörper. Die machen einen Schienenersatzverkehr nötig. Und das geht so – ich komm gleich zurück auf meinen Schaffner – also, da stehen in einem gewissen Ort Busse zur Verfügung, die die Reisenden in jene Orte bringen, die nun, über mehrere Wochen hindurch, per Bahn nicht passierbar sind. Nun fahren aber diese Busse durchs Unterholz, halten an Hütten, an denen nie jemand ein-, geschweige denn aussteigt und klettern mühsam versteckte Serpentinen hoch, um endlich mit Verspätung dort anzukommen, wo man eigentlich mit dem Zug hätte pünktlich ankommen sollen. Aber dort ist der Anschluss weg. Das bedeutet eine Stunde länger warten. Oder man ruft ein Taxi. Ist ja alles gratis. Hervorragendes Regionalmanagement, wirklich! Da gibt’s nichts zu meckern.

Nun gut, also der Schaffner verbietet mir, durch die Erste Klasse zu gehen. Jetzt komme ich ihm mit der Logik, dass es keinen Sinn mache, mich nicht durchzulassen, da ich ja ohnehin nicht Platz nehmen möchte, und wenn, könnte es ihm auch Pappendeckel sein solange ich bezahlte. Nein, das geht nicht und blablabla. Dann werd ich aber langsam grantig und fordere ihn auf, mir zu zeigen, wo dieses Verbot, hier nicht durchgehen zu dürfen, denn stehe. Weiß er nicht, aber es ist so. Ich sehe rot, das merke ich an meinen Herzrhythmusstörungen. Er soll zur Seite gehen, damit ich da durchgehen kann, und er sei ein Kasperl und solle sich nicht so aufführen. Da sieht er rot und stammelt irgendwas Wienerisches, von wegen ich solle mich aus dem Abteil entfernen, ich belästige die Gäste. Jetzt kriege ich aber meinen Anfall und niemand ist da, der mir die Schläfen massiert und mich davon abhält, ihm zu sagen, was für eine jämmerliche Figur er sei und dass er mir sofort Namen und Dienstnummer geben solle und er würde von mir hören. Das tut er auch, indem er meint, er wäre der Zugchef, Zuckscheff! (sic) 238 oder so, hähähä – schmettert und fett übers breite violett-rote Gesicht grinst.

Mir zittern die Knie vor Wut, und ich nehme meinen Koffer und ziehe mich mit den Worten – das gibt ein Nachspiel, Sie Kasperl – zum hinteren Ausgang zurück. Da hält der Zug auch schon am Endbahnhof. Wütend und rot im Gesicht klettere ich die Stiegen hinunter auf den Bahnsteig. Am vorderen Ausstieg steht der Zuckscheff und streckt seinen Bauch zur Tür heraus. Er lacht. Sie hören von mir, Sie Kasperl Sie!, rufe ich ihm zu und wende mich Richtung Ankunftshalle.

Zu Hause angekommen – meine Frau bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte, beichtete ich ihr in allen Details mein Missgeschick mit der staatsbahnlichen Obrigkeit und dass hier immer noch Hof gehalten würde wie in der Kaiserzeit, Relikt aus grauer Vorzeit, denn die Pensionen haben sich die feinen Herren gleichfalls aus diesen Zeiten zunutze gemacht, weil sie ja so wahnsinnig schwer arbeiten, sage ich giftig zu meiner Ehehälfte. Aber ich ernte wenig Verständnis. Man ist am Ende dann doch immer allein.

Tags darauf tippte ich bereits früh am Morgen heftig in die Tasten und beschwerte mich bei der für Bahnangelegenheit zuständigen Schlichtungsstelle über die bodenlose Schikane, die mir da am Tag zuvor im Abendzug wiederfahren war und forderte, dass sich dieser herrschsüchtige und amtsanmaßende Zugbegleiter schriftlich bei mir für sein offensichtliches Fehlverhalten zu entschuldigen hätte.

Die Antwort, die ich nach vierzehn Tagen erhielt, fiel jedoch alles andere als befriedigend für mich aus, wie ich sie in meinem Gerechtigkeitsstreben erwartet hatte. Der Zuckscheff war einvernommen worden und hätte zu Protokoll gegeben, dass ich in aggressiver Weise versucht hätte, mich an ihm vorbei durch den Korridor in die Erste Klasse zu drängen und er mich daran gehindert hätte, die Fahrgäste der Ersten Klasse weiterhin zu belästigen. Zack! Die halten also alle zusammen, waren meine ersten Gedanken, komme da was wolle! Allerdings räumte man mir ein, dass es kein derartiges Verbot gäbe, durch die Erste Klasse gehen zu dürfen. Ich nahm meine Brille ab und schluckte. Da gab es für mich nur einen einzigen Satz, mit dem ich die überschüssige Luft ablassen konnte – ihr könnt mich doch allemal!, schrie ich durch das Zimmer, beendete das Programm und fuhr den Computer herunter. Luft – alles was ich jetzt brauchte – war Luft!
Und einen Railjetsimulator.

Norbert Johannes Prenner
Auszug aus dem Roman „Am Ende ist man doch allein“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 17041

Ein Tag im Garten

Weiße Wolken
Mitten in der grünen Lunge
Im Blumenmeer
schwimmen Vögel
Stehende Hitze wärmt das Fleisch,
kaltes Meer spritzt,
verschwommenes Blickfeld
Zwischen den braunen Spitzen
Kokosnussgeruch
Weit dahinter,
ein Sprung in das Salz
Hawaiihemd halb offen
Braune Fäden
wehen zwischen Palmen

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg| Inventarnummer: 17028

Der Vogel und das Nest

Selbstverständlich sollen Dinge sein,
einfache, sagen sie,
Hoch oben zwischen den Kronen
schauen sie hinab zum kleinen Vogel,
Der Flug nach oben kann so leicht sein,
Oben in den Kronen bekommt man alles,
rufen sie,
Er zwitschert nur hinauf,
bis in das Morgengrauen,
dann Stunden und Tage,
sein Zwitschern wird monoton

Er fliegt hoch,
Zwischen den anderen Vögeln macht er sich Platz,
nach einer Weile bemerkt er, wie sich die Vögel
aus dem Nest werfen,
er zwitscherte ein trauriges Lied,
Warf sich aus dem Nest
und überlegte, ob er die Flügel ausbreiten
sollte oder nicht

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg| Inventarnummer: 17026

Mein Südtirol

Aurouggla – Teil 3

Als sich Tage danach der Stress um das Brautpaar gelegt hatte und der Alltag wieder seine ruhigen Bahnen zog, meldete ich mich bei Moidl (Mutter meines Schwagers, die Maria hieß) wieder zum Bardienst zurück, und ich muss sagen, ich war mit meiner Tätigkeit dort sehr zufrieden. Tagsüber kamen zahllose Italiener vorbei, denen ich Café Macchiato oder Limonata oder eben was anderes servierte. Ich war gefordert, mich mit ihnen zumindest irgendwie zu verständigen und im Laufe der Zeit lernte ich tatsächlich sogar etwas Italienisch. Ich konnte Bestellungen aufnehmen, kurze Fragen stellen und auch ein wenig antworten, wenn ich gefragt wurde, auch dann, wenn es sich dabei um Süditaliener handelte, was mit denen nicht immer einfach war.

Wenn ich Entspannung suchte und mir die Leute auf die Nerven gingen, lief ich einfach ums Haus, denn hinten, im Garten, saß oft ein zahmer Rabe auf einem Ast, der sogleich auf meinen Schultern landete, wenn ich ihn rief, und mir mit seinem kräftigen Schnabel liebevoll den Rücken klopfte. Vielleicht war er in seinem früheren Leben ein Specht gewesen, wer weiß. Ich fand das alles ziemlich aufregend, vor allem aber nicht so furchtbar langweilig wie bei uns zu Hause. Lag ich dann in meinem Liegestuhl, mit Pfeife und Karl May bewaffnet, setzte er sich ganz oben auf die Querleiste und tat, als läse er mit. Nur von der Pfeife hielt er Abstand, der beißende Rauch war dem sensiblen Tier offensichtlich nicht geheuer.

Gegen vier Uhr Nachmittag gab’s dann Marendn, also Jause. Oft kam Luis vorbei, ehemaliger Polizist, der von seinen Einsätzen gegen die Mafia in Süditalien erzählte und dem ich mit offenem Mund zuhörte, weil ich das alles nicht glauben konnte, was er so alles zu berichten hatte, denn solche Sachen kannte ich nur aus dem Fernsehen.
Manchmal, vor allem an Sonntagen, kam Frau Marie aus Meran herauf. Eine noch gut aussehende Sechzigerin mit einem eloquenten Mundwerk. Sie stelzte stets zuallererst an die Bar, beugte sich über diese und flüsterte mir leise zu, geh, Bua, gib ma an, zan Oischlenzgan. (Gib mir einen – zumeist Jägermeister – zum Hinunterspülen). Und ich gab ihr einen, aus dem rasch drei oder vier wurden.
Da war auch ein Buschauffeur, der alle Stunden hier Pause machte und entweder Kaffee oder ein kleines Bier bestellte. Er erzählte manchmal, wie die Partisanen italienische Bauern abgeschossen hatten, nur so zum Spaß, zum Zielschießen und so, auf den Feldern.

Eines Tages aber, es war schon gegen Abend, hörte ich ein furchtbares Pfeifen und Rauschen unten vom Tal her. Als ich, neugierig wie ich war, eilig auf die Veranda trat, da flogen plötzlich vier italienische Kampfjets von Meran aus den Hang entlang herauf und zischten über unsere Köpfe hinweg, dass uns die Luft wegblieb. Kaum dreißig Meter über dem Boden. Nie werde ich das vergessen, nie! Das war vielleicht ein Schauspiel. Die zahlreichen Touristen, die an der Seilbahn standen und warteten, kriegten die Münder nicht zu vor Staunen und es entfachte sich eine hitzige Debatte darüber, ob die Piloten das überhaupt durften, wo es doch viel zu niedrig gewesen wäre.

Manchmal waren die Brüder des Bräutigams meiner Schwester in der Bar. Sie hatten immer die neuesten Witze auf Lager, und ich mochte sie gut leiden, obwohl ich Probleme mit dem Verstehen ihres Dialektes hatte. Aber einen ihrer Witze hatte ich verstanden. Es ging um die Vespa, das beliebteste Verkehrsmittel für Alt und Jung hier in Südtirol.
Heute wäre alles nicht mehr so, wie es einmal war. Früher, sagte einer der beiden, wären die Vespen auf den Feigen gesessen, und sie meinten Wespen, aber heute sei alles anders, denn heute säßen die Feigen auf den Vespen, und sie meinten Mädchen damit. Ich weiß nicht, ob ich rot geworden war, aber ich musste furchtbar lachen.

Als der Luis, schon wieder einer, beinahe jeder hieß hier Luis oder Sepp, also der war ein Taxichauffeur, zum ersten Mal bei mir an der Bar gestanden ist, dachte er, ich sei Italiener, und ich dachte es auch von ihm, weil er italienisch bestellt hatte. So dauerte es eine ganze Weile, bis ich kapierte, was er eigentlich wollte, denn er hatte eine Pompelma bestellt, aber mit „aurouggla prego“. Das ging eine ganze Weile so hin und her, bis ich die Muata (Moidl) endlich fragte, was er eigentlich wolle und was denn um Himmels Willen „aurouggla“ bedeute? Bis ich endlich verstand. Aufschütteln. Er wollte, dass ich die Limonade aufschüttle, um das Fruchtfleisch gleichmäßig in der Flasche zu verteilen. Wir haben alle herzlich gelacht über unser Unvermögen, miteinander zu kommunizieren.

Als ich Jahre später wieder einmal hierher kam, mit meiner Frau, die im sechsten Monat schwanger war, machte ich eine Bergtour, alleine, und die wäre mir beinahe zum Verhängnis geworden. Die vielen Jahre, in denen ich zumindest die Sommer so oft als Piccolo in der Bar Diana verbracht und Gäste bedient hatte, kamen mir vor, als wären sie erst gestern gewesen. Damals saß hin und wieder ein älterer Mann am Stammtisch, ausnahmsweise einmal der Hubert, und kein Luis oder Sepp, der sagte, oben, am Ifinger, das ist der höchste Berg auf der Meraner Nordseite, sei am Gipfelkreuz eine Blechschachtel befestigt mit dem Gipfelbuch. Und in dieses Gipfelbuch hätte ein deutscher Tourist folgende Worte geschrieben: Alpenrose, schöne Rose, schöne Rose, Alpenrose, und er hätte mit Silbernagel unterschrieben. Und darunter soll ein Einheimischer geschrieben haben: Silbernagel, dummer Nagel, dummer Nagel, Silbernagel und mit Alpenrose unterschrieben haben.

Das musste ich natürlich einmal einfach selbst sehen. Aber niemand von den Einheimischen am Stammtisch der Bar Diana war je dort oben gewesen. Als Junge wäre es mir auch nicht möglich gewesen, aber nun war ich achtundzwanzig und hatte schon einige Erfahrung im Klettern und Tourengehen gesammelt. Also ging ich los. Aber schon nach kurzer Zeit hatte ich mich verstiegen und den Steig verloren, der zum Gipfel führte. Als ich dann auch noch abkletterte, geriet ich in einen Überhang und wäre beinahe nicht mehr von alleine hochgekommen. Der Gipfel war in Sichtweite, nur eine steile Wand von etwas sechzig Metern trennte mich von ihm. In der Wand hing eine verrostete Kette. Ich nahm all meinen Mut zusammen und hantelte mich an dieser bis zum Gipfel empor, denn ohne Sicherung, nur im Fels, hätte ich es sicher nicht geschafft. Oben, am Gipfel, saß eine Gruppe Bergsteiger, und die staunten allesamt nicht schlecht, als mein Kopf plötzlich vor ihnen auftauchte, von der steilen Südwand her. Ja wo kimmsch’n du auf amol her?, fragten sie ganz außer sich. Na, von da unten, antwortete ich gelassen, obwohl mein Herz wie verrückt schlug, teils vor Anstrengung, teils vor Angst. Immerhin ging’s unter mir beinahe tausend Meter abwärts.
Ich denke heute, ich hatte eher ihr Mitleid als ihre Bewunderung. Als ich hinterher ins Tal abstieg, erreichte ich gerade noch vor Ausbruch eines Unwetters, das seinesgleichen suchte, das schützende Haus, in dem meine besorgte Gattin bereits seit Stunden wartete. Es hagelte und schneite mitten im August und am nächsten Tag erfuhr man, dass mehrere Personen in dem Unwetter als vermisst galten.

Und noch etwas, als ich damals noch der junge Kellner in der Bar Diana war, ich erinnere mich genau an die Geschichte, gab es da einen bekannten Kunstmaler, Stampfl Rudl haben sie den genannt. Ich habe seine Aquarelle sehr bewundert. Er war ein Genie, wirklich, und ich denke, man könnte ihn zu den ganz großen Malern zählen, die im Genre des Naturalismus zu Hause sind. Er war mit einer deutschen Frau verheiratet. Und immer dann, wenn er schon zu lange am abendlichen Stammtisch gesessen war, kam seine Frau ganz aufgebracht in die Stube und rief: “Rudl, hasch an Dampf? Was sitsch allm bei die Affen?“, (Rudolf, bist du betrunken, warum sitzt du andauernd hier bei den Affen?) indem sie sich in ihrem besten Südtirolerisch versuchte, holte sie ihn mit diesen Worten zu sich nach Hause, zum Gaudium aller Anwesenden, die aus vollem Halse lachten.

Norbert Johannes Prenner

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