Im Alsergrund

Anfang Oktober ist es, mehr noch, es ist genau der erste, und ich komme endlich ins Hotel. So gegen halb sechs Uhr abends muss es sein. Ich fahre vom Schottentor eine Station mit der Straßenbahn die Währinger Straße stadtauswärts, dann gehe ich ein Stück im Regen, mit einer Mappe unter dem Arm, auf die vom Schirm das Wasser tropft. Aber die Mappe ist dicht, es dringt kein Wasser hinein. Der Stockschirm ist grün, es ist einer vom Spar, und obwohl er mich im Zug, in der Straßenbahn, in der U-Bahn stört, bin ich froh, ihn mitgenommen zu haben, so sehr schüttet es. Die Stra­ßen glänzen, auf den Gehsteigen und Fahrbahnen spiegeln sich die Lich­ter, die der Autos, die der Straßenbeleuchtung, die der Geschäfte, impressionistisch zergehen sie im Flüssigkeitsfilm und in den Pfützen. Der Regen lässt mich eine seltsame Geborgenheit fühlen, und es scheint mir, als weinte er über die verlorene Jugend der mächtigen alten Stadthäuser.

In der Währinger Straße, direkt gegenüber den Physikalischen Instituten der Universität Wien, liegt mein Hotel. Mein Gepäck habe ich schon am Morgen abgegeben, weil ich früh angekommen bin und dafür Zeit gehabt habe. Es ist ein Haus aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert oder Ende 19. Jahrhundert. Oder Anfang 20., das ist ziemlich dasselbe, und weit fehle ich nicht, bin ich mir sicher. Ich hole meine hellbraune Reisetasche, die mich schon während meiner Interrail-Reisen begleitet hat und die ich an der Rezeption habe stehen lassen dürfen. Der Lift in den 4. Stock braucht ewig, ich bekomme beinahe Angst, er würde überhaupt nicht stehen bleiben, son­dern mit mir ein Experiment zur Relativitätstheorie, zur Gravitation etwa, durchführen, mit stetig wachsender Geschwindigkeit über das Dach hinaus rasen, im­merhin sind die Physikalischen Institute nur ein paar Meter entfernt. Aber da hält er doch. Ver­winkelt orientiere ich mich an den Zimmernummern an den Wänden, ein Pfeil dahin, ein Pfeil dorthin. Schließlich stehe ich vor meinem Zimmer. Num­mer 400. Statt einer Magnetkarte gibt es einen Schlüssel, schwer liegt er in meiner Hand. Ein sympathischer Zug einer stehengebliebe­nen Zeit.
Eigentlich betrete ich eine Wohnung, kein bloßes Hotelzimmer: eine enge Diele, von der es zur Toilette geht, eine Garderobe, ein Bad, ein großes Zimmer mit drei Betten, ein Wohnzimmer fast, hoch oben über der Währinger Straße. Ein winziger Röhrenfernseher steht auf dem dunklen Schreibtisch, an dem man sitzen muss, um das Bild zu erkennen. Vom Bett aus geht da nichts. Höchstens mit einem Opern­glas. Im Vorraum, in der Garderobe steht ein alter knarrender Kasten, mit Kunststofffolie ausgelegt, die mit Röschen verziert ist. Hemden und Unterwäsche lege ich hinein. Vorher vergewissere ich mich, dass kein Staub auf den Folien liegt. Es scheint sauber zu sein. Keine Motten oder sonstiges Getier.
Ich telefoniere mit meinem Handy mit Wolfram. Es han­delt sich um einen Rückruf, den ich kurzhalten will, doch geht das bei Wolfram kaum, er hört nicht zu reden auf, selbst wenn es um nichts geht. Irgendwie schaffe ich den Ausstieg, ohne unhöflich zu sein. Er hat mir das Gasthaus „Wickerl“ zum Abendessen empfohlen, unten in der Porzellangasse. Ich werde danach Ausschau halten. Hungrig bin ich, wir haben wäh­rend der Besprechung tagsüber zwar ausreichend Brötchen bekommen, kleine Häppchen, aber keine warme Mahlzeit. Ich packe die Reisetasche aus, lege die Dinge aufs Bett, auf den Tisch, auf die Couch, einen Teil, der dort hingehört, ins Bad. Die Schuhe lasse ich an, ebenso das Sakko. Der Schirm ist in der Diele aufgespannt und gibt knisternde Geräusche von sich. Die Reiseta­sche ist jetzt leer. Morgen in der Früh kommt alles wieder hinein, was jetzt irgendwo im Zimmer liegt. Wenn ich zurückkomme, werden die Dinge geordnet, selbst wenn es nur für ein paar Stunden ist. Jetzt habe ich keine Lust dazu. So gehört es sich für einen Pedanten, würden ei­nige meiner Bekannten sagen, nämlich dass er peinlich Ordnung hält. Naja. Ich nenne mich positiv ordnungsliebend.

Ich entspanne den Schirm, gehe hinaus, sperre die Tür von außen ab, hole den Lift, steige ein, nachdem er endlich gekommen ist, drücke die Taste fürs Erdgeschoß, und er fährt tatsächlich nach unten. So lange kommt es mir jetzt nicht vor, die Schwerkraft hilft mit, wenigstens dem Gefühl nach. Eine scharfe Ana­lyse eines Physikers im Angesicht der Physikalischen Institute. Ich gehe an der Rezeption vorbei, die ein paar Stu­fen hinauf rechterhand liegt. Draußen bimmelt die Straßenbahn, die Autos verspritzen das Regenwasser der Pfützen, die Leute jonglieren sich mit ihren Schirmen über die Gehsteige, ich atme vor dem Hotel die kühle, vom Regen feuchte Luft, die erfri­schend zum Gehen hin­unter in den Alsergrund ermuntert. Die Ampel schaltet auf Grün, nach­dem ich gewartet habe und die Autos in ziemlichem Tempo vorbeigerast sind und bei Rot abrupt gebremst haben. Ihren Sprit­zern habe ich entgehen können. Am Anfang der Bolt­zmanngasse gibt es ein Gasthaus, das geschlossen ist, also weiter, entlang den Physikalischen Instituten und dann nach rechts in das letzte Stück der Strudlhofgasse. Rechts steht die schöne Villa, in der früher die Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika war und links sehe ich eine Tafel, die auf den Schauspieler Raoul Aslan hinweist, der in diesem Haus gewohnt hat.
Und dann ist sie wieder vor mir, wie schon ein paar Mal, wenn ich in Wien war und in der Nähe nächtigte, früher oft an der Ecke Alserstraße/Lange Gasse, und ihr nahe sein wollte: die Strudlhofstiege. Vor Jahren habe ich Doderers Roman gelesen, er hat einen schwarzen Einband, ich habe ihn von meinem Vater geschenkt oder nach seinem frühen Tod bekommen, ich weiß es nicht mehr. Oben ist ein Spruch auf die Mauer gesprüht: „Balkone strahlen vor Schein­freiheit“. Ich gehe hinunter, kann mich nicht recht entschei­den, nehme ich die Kehre nach links oder nach rechts, ich gehe quasi planlos, einmal so, ein­mal so. Die Stiege ist beleuchtet, klar, die Sturz-, Belästigungs- und Rutschgefahr ist nicht ohne. Ein Mädchen kommt mir entgegen, es ver­meidet meinem Blick zu begegnen.
Dann bin ich unten, überquere die Liechtensteinstraße, biege in die Fürstengasse ein, die am Palais Liechtenstein entlang­führt. Schließlich habe ich die Porzellangasse erreicht, durch die der D-Wagen nach Nussdorf fährt und bimmelt und die leuchtet und im Regen glänzt. Märchenhaft. Die Pfützen reflektieren die Lichter, und diese glänzende Nässe, die Regelmäßigkeit des Regens, die Si­cherheit im kleinen privaten Revier unter dem Schirm schaffen eine abendliche Melancholie, eine anregende Melancholie, die nicht belastend ist, im Gegenteil, sie trifft die angenehm heimelige Stimmung im Alsergrund. Fast fühle ich mich hier zu Hause.

Ich habe Hunger und halte Ausschau nach dem Gasthaus „Wickerl“. Es zeigt sich mir nicht. Da fällt mir ein: Vor Jahrzehnten, als ich in Wien an der Nationalbibliothek zu tun hatte, kam ich oft in die Porzel­langasse. Gleich in der Nähe ist die Seegasse mit dem ältesten jüdischen Friedhof in Wien, glaube ich. Und die Berggasse, in der Sigmund Freund wohnte und praktizierte, ist auch nicht weit. Ich besuchte damals Tom, der an der Universität Wien ein Doppelstudium belegte, Informatik und Recht. Beides schloss er ab. Er wohnte im „Porzellaneum“, dem Heim des Studentenheimvereins der Wie­ner Universität. Wir spielten im Garten des Heimes Schach, und wenn es kalt war oder reg­nete, spielten wir im Gasthaus „D’Landsknecht“. Ich weiß nicht mehr, wo es liegt, aber weit, wo ich vor dem Porzellaneum stehe, kann es nicht sein. Ich halte Ausschau. Zunächst erwische ich die falsche Richtung, eh klar, daher nehme ich die andere, und da ist es schon, das „D’Landsknecht“. Bäuerliches Am­biente, warme Atmo­sphäre. Schirm zuklappen, Platz suchen, im Nichtrau­cherbereich, wenn möglich. Dunkles Holz. Ein Tisch am Fenster ist frei, ich sehe draußen den grauvioletten Ton der Dämmerung und höre den Regen. Die Kellnerin bringt mir die Speise­karte und fragt mich nach meinem Ge­tränkewunsch. Nein, kein Alkohol, nicht schon wieder Kopfweh. Also kein Bier, kein Wein, ein Fruchtsaft mit Leitungswasser. Sie trägt ein weiß-blaues Dirndl, kess, hat kleine Zöpf­chen, ein bisschen lolitahaft wirkt sie. Ein Surschnitzel wird es, vorher eine Suppe, das Abendmenü. Hinter mir sitzt eine Altherrenrunde, der Schmäh rennt. Heiterkeit, Gelächter.
Ich rufe meinen Bru­der an, der mir ein Angebot für ein neues Auto per eMail geschickt hat. Nein, er ist kein Au­tohändler, aber er hat eine gute Hand für Autos, überhaupt für alles Technische, er ist ein wirklicher Ingenieur, im Gegensatz zu mir. Ich bin bloß ein Papieringenieur. Stu­denten sind nicht allzu viele hier, vielleicht ist es zu früh am Abend, die werden später das Lo­kal noch füllen.
Inzwischen ist es draußen dunkel geworden, und die Lichter und ihre Reflexionen auf den regennassen Flächen haben an Intensität gewonnen. Die deftige Portion vertilge ich mühe­los, wieder eine gute Tat für mein wachsendes Bäuchlein. Ich überlege, ein Schnäps­chen zu nehmen, unterlasse es aber. Ich will keine Kopfschmerzen provozieren, die sich bei mir nach jedem kleinen Schluck Al­kohol melden. Oft auch ohne Alkohol. Also zahlen, bitte! Und das Dirndl kommt nach eini­gem Warten.

Auf der Porzellangasse klatscht der Regen auf. Mein Schirm ver­mittelt mir wieder ei­nen kleinen Bereich individueller Beschütztheit, es ist nahezu romantisch darunter. Jedenfalls fühle ich Geborgenheit, eine gleichmäßige Gebor­genheit im Rhythmus des Regens. In einem Zielpunkt kaufe ich mir eine Flasche Mineralwas­ser, falls ich in der Nacht Durst bekomme. Das Fließwasser im Hotel, ich traue ihm nicht. Nach der Fürs­tengasse überquere ich die Liechtensteinstraße, und dann sehe ich die Strudl­hofstiege wieder vor mir, hell beleuchtet. Heute gefällt sie mir gar nicht so sehr, die Fill­grader Stiege, die von der Gumpendorfer Straße hinauf zur Mariahilfer Straße führt, ist dagegen ein architektonisches Meisterwerk. Aber durch Doderer ge­winnt die Strudlhof­stiege an inneren Werten. Und das ist doch das Wichtigere gegenüber äußeren Merkmalen. Ich steige bergan und sehe oben wieder den aufgesprühten oder aufgemalten Text „Balkone strahlen vor Schein­frei­heit“. Dann wird es dunkel in der Strudlhofgasse, die kräftige Beleuchtung ist vorbei. Ich biege links in die Boltzmanngasse ein, gehe entlang dem Phy­sikgebäude, links sind die Häu­ser niedrig und lassen mich an das alte Wien, die Pest, den lie­ben Augustin, den Gevatter Tod, die Sagen aus der Residenz- und Kaiserstadt Wien denken.
Im Hotel muss ich wieder auf den Lift warten, er ist besetzt. Endlich kommt der langsame Herr, öffnet ebenso langsam, fährt langsam an und fährt und fährt. Kurze Orientierung. Da ist mein Zimmer, Nummer 400. Ich sperre mit dem schweren Schlüssel auf.
Gegenüber sind einige Räume der Physikalischen Institute beleuchtet, wahrscheinlich manche die ganze Nacht durch. Es laufen wohl Experimente und Versuchsreihen, die überwacht wer­den müssen, möglicherweise auch von Menschen, nicht nur von Computern. Hin und wieder schaue ich hinüber. Einige Fenster werden dunkel, einige bleiben hell. Die Straße glänzt. Die Autos sind weniger geworden, ich höre ihr Fahrgeräusch auf der nassen Fahr­bahn, die nach wie vor vom Regen benetzt wird. Und in meinem Altwiener Hotelzimmer denke ich an Hernals, an die Pezzlgasse, das Gast­haus „Liebstöckl“, an die Höhnegasse. Sie alle sind weit weg vom Alsergrund und doch in ei­nem verbindenden Kreis der Stadt. Ir­gendwie ist alles gegenwärtig für mich, obwohl es die damit verbundenen Personen physisch nicht mehr gibt, außer meiner Tante, der älteren Schwester meines Vaters, die demnächst ih­ren neunzigsten Geburtstag feiert. Ich ziehe die Vorhänge zu, schalte den winzigen Fern­sehapparat ein und schaue mir ein Spiel der Champions League aus dem Bett an. Wie Zwerge fuseln die Spieler über den Bildschirm.
Meine Augen brennen. Bald schlafe ich ein, beim Geräusch des Re­gens, das durch die Vor­hänge dringt, beim zeitweiligen Hupen der Autos.

Günther Androsch

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen |Inventarnummer: 15011

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Ein Gedanke zu „Im Alsergrund

  1. robert müller

    geht mich ja nichts an, aber ein bissl fad liest sich das schon. kein schmäh, keine "action", keine pointe, kein aufschrei oder so. wie soll sich ein leser da hneinbringen?

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